1981 - Eloísa Díaz - E-Book
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1981 E-Book

Eloísa Díaz

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Beschreibung

--- Platz 2 der Krimibestenliste August von Deutschlandfunk Kultur ---  "Gekonnt wirft dieser atmosphärische Kriminalroman ein Schlaglicht auf das dunkelste Kapitel in Argentiniens jüngerer Geschichte." Financial Times   Buenos Aires 1981: Inspector Joaquín Alzada hat sich geschworen, auch in Zeiten der Militärdiktatur ein anständiger Mensch zu bleiben. Gemeinsam mit seiner Frau Paula führt er ein ruhiges Leben – bis eines Tages sein politisch unbequemer kleiner Bruder Jorge spurlos verschwindet. Zwanzig Jahre später: Die Diktatur ist überwunden, und Alzada bereitet sich auf seinen Ruhestand vor. Doch dann wird nicht nur eine Leiche auf einer Müllhalde gefunden, sondern es verschwindet auch eine junge Frau aus einer der reichsten Familien der Stadt. Alzada wird auf schmerzhafte Weise an seine dunkelsten Stunden erinnert – und entschließt sich, alles daran zu setzen, dass sich seine Geschichte, in der sich die Geschichte des ganzen Landes spiegelt, nicht wiederholt.

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Eloísa Díaz

1981

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt

Hoffmann und Campe

Für Frau Holz,

die die Schriftstellerin in mir

schon vor mir erkannte.

»Ni el pasado ha muerto,

ni está el mañana – ni el ayer – escrito.«

 

»Was war, ist nicht tot, nicht erstarrt

ist das Morgen – noch das Gestern gepflückt.«

 

Antonio Machado, Campos de Castilla/Kastilische Landschaften

»Er schläft«, sagt sie, als sie das Zimmer betritt.

Von seiner Position auf dem Sofa deutet er mit einem Nicken auf das eiskalte Bier, das dort für sie bereitsteht. Bevor sie sich setzen und danach greifen kann, das Aufheulen eines Motors. Ein Auto kommt näher. Reifen quietschen. Ganz in der Nähe. Er stürzt ans Fenster. Ein artischockengrünes Auto. Mitten auf der Straße steht, mit laufendem Motor, der Ford Falcon seiner Albträume.

Vier Türen öffnen sich, und je ein Mann tritt heraus. Die Türen knallen zu.

Wums. Wums. Wums. Wums. Er dreht sich um. Es gibt nichts zu sagen. Er blickt zu Boden.

Vielleicht kommen sie jemand anderen holen.

Sie steuern auf seinen Wohnblock zu.

Scheiße scheiße scheiße scheiße scheiße.

Einer der Männer sieht auf. Ihre Blicke begegnen sich.

12001

Mittwoch, 19. Dezember, 8.30 Uhr

In jedem anderen Land wäre ein Krieg ausgebrochen.

Aber dies war nicht jedes andere Land. Dies war Argentinien. Polizeiinspektor Alzada schoss die Avenida Belgrano hinunter, den rechten Fuß aufs Gaspedal gedrückt, als ihm schummrig vor Augen wurde. Wann hatte er zum letzten Mal etwas gegessen? Oder richtig geschlafen? Du bist nicht mehr der junge Mann von früher, Joaquín, hörte er Paulas Stimme so deutlich, als säße sie auf dem Beifahrersitz. Er rückte seine Pilotensonnenbrille auf der Nase zurecht und seufzte.

Sie hatte recht. Er brauchte eine Pause. Erst letzte Woche war er freundlich in die Personalabteilung zitiert worden, wo man ihm die »Sachlage« erläutert hatte. Der Inspektor hatte sehr genau verstanden, was ihm der vielsagende Blick der geradezu provozierend höflichen Dame mit der Katzenaugenbrille sagen wollte. Trotzdem hatte er sie dazu gebracht, es laut auszusprechen: Er war zwar im pensionsberechtigten Alter, aber leider ließ die Pensionskasse der Polizei es momentan nicht zu, ihn in Rente zu schicken. Sein Traum, dem er jahrzehntelang entgegengefiebert hatte, würde warten müssen. »Bestimmt ist es bald so weit«, hatte die Dame ohne echte Überzeugung gesagt. Selbstverständlich könne er seinen Dienst jederzeit quittieren, hatte sie nachgesetzt, aber das würde sie ihm angesichts des derzeitigen politischen Klimas nicht empfehlen. Interessante Wortwahl, »politisches Klima« – Sturm der Entrüstung traf es wohl eher.

Alzada beugte sich vor und stützte sich aufs Lenkrad. Zu dieser Zeit im Sommer sollte der Himmel unverschämt lapislazuliblau leuchten; stattdessen umhüllte ein klebriger Staubschleier Buenos Aires und färbte die Luft gleichmäßig trüb grau. Definitiv kein normales Klima. Ein matt schimmernder Metalldeckel auf einem Dampfkochtopf. Am Horizont, vor den turbulenten Gewässern des Río de la Plata – dem Fluss von der Farbe eines Löwen, wie die Konquistadoren einst sagten –, standen alle Ampeln auf Grün. Alzada schaltete in den dritten Gang.

Er war mit dem falschen Fuß aufgestanden: Nachts hatte er sich im Bett hin und her gewälzt und dann verschlafen, was ihn genötigt hatte, in der knappen Zeit, die ihm noch blieb, eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen: frühstücken oder duschen. Letztlich hatte er keins von beidem getan, sondern war direkt in ein kompliziertes Gespräch mit seiner Frau hineingeraten. Wo er schon so offensichtlich vom Pech verfolgt war, hatte er beschlossen, zumindest sein Lieblingshemd anzuziehen, das hellblaue mit dem weißen Kragen, doch selbst diese kleine Freude war ihm verwehrt geblieben: Das Hemd war nicht gebügelt. Stattdessen trug Alzada jetzt ein graues, ein Impulskauf, den er fast augenblicklich bereut hatte, und er hätte bei Gott schwören können – sofern der fromme Katholik in ihm es je gewagt hätte, etwas Derartiges zu tun –, dass das Hemd in dem sengenden Dunst glitzerte.

Und dann der Anruf des Gerichtsmediziners. Alzada hatte Dr. Petacchis Stimme sofort erkannt, als das Telefon früher am Tag geklingelt hatte – wie könnte er die Stimme dieses Mannes je vergessen. Er hatte sein Bestes gegeben, um einen Besuch im Leichenschauhaus zu vermeiden, und den Gerichtsmediziner gebeten, ihm die Details am Telefon zu erläutern. Dr. Petacchi hatte sich geräuspert. »Ich weiß nicht, Inspektor. Es ist besser, Sie machen sich selbst ein Bild.« Alzada hatte geschwiegen, woraufhin der Gerichtsmediziner nachgesetzt hatte: »Aber natürlich bin ich da, um Ihnen zu helfen. Wenn es Ihnen zu große Umstände bereitet, lasse ich Ihnen den Bericht auf die Wache schicken.«

Na schön.

Anstatt also in seinem Garten Kaffee zu trinken, befand er sich gerade auf dem Weg zu dem Ort, den er in Buenos Aires am wenigsten mochte. Gut, am zweitwenigsten.

Alzada bog links ab und bewunderte die breite Avenida 9 de Julio. Ein Schlachtfeld. Der letzte Rest von Normalität war von den Straßen gewaschen worden, die jetzt vor der nervösen Energie eines unausweichlichen Kampfes vibrierten. Menschen. Überall, wo er hinsah, Menschen. Man erkannte diejenigen, die so schnell wie möglich in eine der Seitenstraßen einscheren und entkommen wollten: Sie liefen dicht an den Gebäuden entlang, an den verschlossenen Fensterläden der Geschäfte vorbei, hinter denen sich leere Regale verbargen. Sie eilten voran, die Köpfe gesenkt.

Zusätzlich zu den ausdauernden wöchentlichen Protesten der Madres de Plaza de Mayo hatte es in der Stadt in letzter Zeit zahllose Demonstrationen gegeben: Buenos Aires’ Straßen waren unablässig von Wut erfüllt. Trotzdem war heute etwas eindeutig anders. Alzada konnte nur nicht sagen, was.

Er schaltete das Radio ein. Die Regierung hielt eine weitere Krisensitzung ab, um neue Sparmaßnahmen zu beschließen. Deshalb hat die Polizei einige Straßen für den Verkehr gesperrt. Sie rechnen mit einer Revolte. Alzada sah hinter dem Meer der Autos Menschenströme ineinanderfließen. Er wusste, dass jeglicher Versuch, die Massen aufzuhalten, zum Scheitern verurteilt war: Die Blockaden würden den zähen Mob nicht davon abhalten können, langsam, aber stetig bis zur Casa Rosada vorzudringen. Die Demonstranten setzten den Strategien der Beamten ihre eigene entgegen: Sie liefen in den Verkehr hinein, wo es schwieriger war, sie unter Kontrolle zu halten, und fast unmöglich, sie zu fassen zu kriegen – insbesondere diejenigen, die so schlau waren, kein Hemd zu tragen, an dem man sie packen könnte. Im Prinzip war es ein Häuserkampf: Die Demonstranten blockierten die Verkehrsadern der Stadt, nahmen den Polizisten den Platz zum Manövrieren und machten somit deren Vorteil zunichte. Kein Zufall, sondern Absicht.

Alzada kratzte sich an der spärlichen Gesichtsbehaarung, die er zu einem Bart zu verweben versuchte. An welchem Punkt war eine Tragödie unausweichlich geworden? Er setzte seine Brille ab und drückte zwei Finger gegen den Nasenrücken. Nicht einmal die Sirene hilft mir hier raus. Er würde zu spät kommen.

Warum war es nicht zu einer Revolution gekommen? Seit Präsident Fernando de la Rúa beschlossen hatte, die Wirtschaft souverän Richtung Abgrund zu steuern, hatten die Argentinier seinen ganz speziellen Stil der Inkompetenz in mehreren qualvollen Stadien durchlitten: Zunächst war ihnen der Zugriff auf ihre Sparkonten verwehrt worden; dann hatten sie mit ansehen müssen, wie die ungezügelte Inflation das Leben beinahe über Nacht um ein Vielfaches teurer gemacht hatte; jetzt mussten sie damit leben, dass sie immer weniger Geld von ihrem Girokonto abheben durften – in einem Land, in dem man fast ausschließlich mit Bargeld bezahlte. Und bei alldem hatten die Menschen eine stoische Gelassenheit an den Tag gelegt. In Lebensmittelgeschäften und an Tankstellen war es zwar zu Plünderungen gekommen, aber es waren Einzelfälle – zurückhaltend verstreut in den ärmeren Provinzen, weit weg von der Hauptstadt. Als sie in den Abendnachrichten die Bilder gesehen hatten, hatte Paula verkündet: »Gott legt eine Schlinge um unseren Hals, aber er zieht sie nicht ganz zu.« Doch wie hatten sie es überlebt, wo man ihnen über so lange Zeit schon die Luft zum Atmen geraubt hatte? »Wir haben Schlimmeres gesehen« war ein häufig geäußerter Trostspruch, dessen Ursprung sicherlich die kollektive Erinnerung an mehrere aufeinanderfolgende Militärputsche war. Ist das der Grund dafür, dass die Leute nicht aufbegehren? Weil sie dem Militär keinen Vorwand liefern wollen, erneut die Macht an sich zu reißen?

 

Alzada hielt an einer roten Ampel. Es bestand kein wirklicher Grund zur Eile: Der Leichnam war bereits erkaltet. Dem Inspektor fielen zwei Jungen auf, die an der Ampel standen, direkt links von seinem Auto, und als Einzige nicht die Straße überquerten. Der Ältere der beiden war mitten im Teenageralter, der Jüngere war seinen Babyspeck noch nicht ganz losgeworden – ungefähr acht? Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Brüder. Träumer in Maradona-T-Shirts. Alzada kannte diese Art von Jungen: Sie glaubten, vor ihnen habe noch nie jemand versucht, die Welt zu verändern. Sie glaubten, Entrüstung sei ihre Erfindung, sie glaubten, sie wären zum Kampf bereit. Sie glauben, sie könnten ihn gewinnen. Sie waren belogen worden – von grauhaarigen, seriös wirkenden Männern, die predigten, wie die Dinge sein könnten, Männer, die sich in ihren Ledersesseln zurücklehnten und blauäugige Jungen die Drecksarbeit machen ließen. Hungrige Jungen, die mit Reis, Brot und Bohnen entlohnt wurden – und gelegentlich mit Schokolade und Zigaretten. Die Jüngeren unter ihnen standen besonders hoch im Kurs: Ihr Strafregister war noch unbefleckt, und, was noch wichtiger war, sie schnüffelten noch keinen Klebstoff, deshalb galt ihre Loyalität ausschließlich dem Höchstbietenden. Ihnen fielen Botendienste unterschiedlicher Bedeutsamkeit zu, im Dienst der Sache – welcher verfluchten Sache –, vom Nachrichtenüberbringen bis zum Waffenverteilen. Zunächst wurde ihr Potenzial auf die Probe gestellt – ein Initiationsritual an einer Straßenkreuzung: Sie sollten die Ohren offen halten, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse berichten. Und an Tagen wie diesen hatten sie eine konkretere Mission: herauszufinden, welche Straßen verbarrikadiert waren und von wem, wie viele Polizisten im Einsatz waren.

Die beiden sind eindeutig Anfänger. Sie hatten noch nicht gelernt, wie man beobachtet, ohne zu beobachten, und schenkten einer Polizeieinheit, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite einem Mannschaftswagen entstieg, definitiv zu viel Beachtung. Der Inspektor sah, wie der Ältere der beiden die Lippen bewegte – er zählte die Polizisten. Zehn. Es sind zehn. Alzada musste sich beherrschen, nicht laut zu schreien. Im Laufe seines Lebens hatte er eine Menge Dinge gezählt: seine Auseinandersetzungen mit Paula; die Dollar, die ihnen bis zum Monatsende blieben; die Toten, die er im Leichenschauhaus – und auf der Straße – gesehen hatte; die Tage, dann Wochen, dann Monate und schließlich Jahre, die sein Neffe ohne seinen Vater aufwuchs. Im Gegensatz zu anderen Argentiniern hatte er nie Polizisten zählen müssen. Das sagte mehr über ihn aus, als sich Alzada eingestehen mochte.

Er wandte den Blick nach rechts. Der Mannschaftswagen der Polizei, der an der Ecke parkte, bot Platz für insgesamt vierundzwanzig blutrünstige Bestien, wenn man sechs in jede Sitzreihe pferchte. Doch wenn man den aktuellen Nachrichten des Radio Nacional glauben durfte, rotteten sich zeitgleich in mehreren Teilen der Stadt große Gruppen von Demonstranten zusammen, was bedeutete, dass die Polizeieinheiten aus weniger Einsatzkräften bestehen würden, weniger, als jedem Polizeipräsidenten lieb war. Die Mindestanzahl lag bei zehn Männern, also waren es zehn.

Bei der Bereitschaftspolizei machte es ohnehin keinen Unterschied, zu wissen, wie viele es waren, wenn sie erst einmal ihre Viking-Visiere herunterklappten und »Angriff!« brüllten. Nicht einmal die goldenen Boca-Juniors-Streifen auf ihrer Brust würden die Jungen schützen.

Alzada kurbelte das Fenster herunter. Es klemmte. Er kämpfte mit dem Griff und schraubte es schließlich bis zur Hälfte hinunter.

»¡Hijo!« Er bedeutete dem älteren der Jungen, sich dem Auto zu nähern.

Der Teenager rührte sich nicht vom Fleck. Kluger Junge.

»¡Hijo!«, rief er noch einmal.

Der Junge wandte Alzada nur den Kopf zu. Er musterte den Polizeiinspektor, als wollte er sich sein Gesicht einprägen, das gleiche rebellische Funkeln in den Augen wie Jorge, wann immer man ihn herausgefordert hatte. Jeder Versuch, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, wäre zum Scheitern verurteilt.

»Warum bringst du deinen Bruder nicht nach Hause?«

Der Jüngere aß ein Eis. Ein Luxus in diesen Zeiten. Diese Straßenecke scheint für sie von strategischer Bedeutung zu sein. Alzada nahm die Kreuzung in Augenschein. Tatsächlich ermöglichte ihnen die außergewöhnlich lange Ampelphase, ihre Truppen in Stellung zu bringen und sich unbemerkt unter die Menschenmenge zu mischen. Bauern in einem menschlichen Schachspiel.

Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte der ältere Junge: »Verpiss dich, Alter.«

Auch eine Art, um jemandes ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen. Alzadas hatte er jetzt jedenfalls. Er war um die sechzehn, sein durchdringender, angriffslustiger Blick passte nicht zu seiner schlaksigen Statur, wegen der ihn seine Altersgenossen zweifellos verspottet hatten. Er sollte in der Schule sein. Daran erkennst du, dass du alt wirst: Revolutionäre machen dich rührselig. Um seine schmächtige Gestalt wettzumachen, plusterte der Junge seinen Brustkorb auf wie eine Taube. Sein linker Arm lag auf der Schulter seines Bruders – zwei Otter, die sich aneinanderklammerten, damit das Hochwasser sie nicht auseinanderriss. Sein rechter Arm hing schlaff herunter, die weiße Hand umklammerte rachedurstig einen Pflasterstein. So lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, dachte Alzada und schmunzelte.

Moment mal – ein Pflasterstein? Offenbar eine Ablenkung von … Da ist sie. Eine nicht besonders gut getarnte Ausbeulung am Bund seiner lässig weiten Jeans. Du musst sie hinten reinstecken, boludo. Wahrscheinlich hatte er das in einem Film gesehen. Deshalb rührst du dich nicht vom Fleck: Du hast Angst, dass sie rausrutscht.

Vor zwanzig Jahren hätte Alzada nicht gezögert. Er wäre aus dem Wagen gestiegen, hätte selbstgefällig den Schlüssel in der Zündung stecken lassen, dem Jungen am Laternenpfahl den Kopf aufgeschlagen, die Pistole konfisziert und wäre weitergefahren. Das Eis wäre auf dem Straßenpflaster zerronnen.

Die Ampel sprang auf Grün.

22001

Mittwoch, 19. Dezember, 9.05 Uhr

»Wenn das nicht der berühmte Polizeiinspektor Alzada ist!«, rief der Gerichtsmediziner mit der hochtrabendenden Gestik eines Zirkusdirektors. Doch statt eines scharlachroten Fracks mit Goldknöpfen trug er einen weißen Laborkittel mit verschlissenen Ärmeln und dem gestickten Schriftzug »Dr. E. M. Petacchi« auf der Brusttasche. Vermutlich das Werk seiner Mutter. Darunter einen Anzug und eine schwarze Krawatte.

Alzada schüttelte Petacchi die Hand und begann, an ihm vorbei die Stufen hochzugehen, doch Petacchi hielt ihn an der Schulter fest, überraschte den Inspektor mit seiner Energie und mit der Herzlichkeit, die von ihm ausging. Alzada setzte die Sonnenbrille ab und lächelte.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Petacchi.

»Ich versuche, das nicht als Beleidigung aufzufassen, Elías«, sagte Alzada. Er stieg die Stufen wieder hinunter und blieb auf einer Höhe mit Petacchi auf dem Gehweg stehen, der durch schlechte Stadtplanung und übermäßigen Fußgängerverkehr mittlerweile absurd voll war. »Und waren Sie nicht derjenige, der mich angerufen hat?«

»Ich muss sagen, ich war auch überrascht, als ich auf der Wache anrief und man mir sagte, ich solle mich bei Ihnen melden. Ihr letzter Besuch im Leichenschauhaus liegt eine Weile zurück, oder?«

»Ja, ich war nicht mehr hier, seit ich zum Diebstahl versetzt worden bin.«

»Wie lange ist das jetzt her … zwanzig Jahre?«

Alzada ließ sich mit der Antwort einen Moment Zeit. Als wüsste ich das Datum nicht auf den Tag genau. »So um den Dreh. Aber wie es aussieht, ist heute jede Hand gefragt. Man stelle sich das vor: Erst eine Revolution lockt mich vom Schreibtisch weg. Und wie sieht es bei Ihnen aus? Viel zu tun im Moment?«

»Die Ruhe vor dem Sturm. Das wird sich ändern, sobald die Nacht hereinbricht …«

Alzada räusperte sich. Selbst Small Talk ist mit diesem Mann etwas Düsteres.

Das flappende Geräusch von Rotorblättern ließ den Inspektor aufblicken. Das alte Gebäude der medizinischen Fakultät. Trotz seiner beachtlichen Höhe mangelte es ihm an Erhabenheit: Jemand hatte beschlossen, italienischen Renaissancestil mit den nüchternen, klar umrissenen Formen des deutschen Neoklassizismus zu kombinieren. Das Ergebnis wirkte wie ein armer Verwandter der Haussmann’schen Architektur. Es könnte problemlos in einer Pariser Seitenstraße stehen. Im Gegensatz zu dem blühenden Jakarandabaum neben dem Eingang.

»Wie geht es Ihrem Neffen, Inspektor?«

»Sorolla?« Ihn überraschte, dass sich jemand nach seiner Familie erkundigte. »Gut, gut«, sagte er zerstreut.

»Er spielt Schach, oder? Hat er Sie schon geschlagen?«

Alzada musterte Petacchi argwöhnisch. Harmlos. Der Inspektor entspannte die Schultern. »Davon träumt er.«

Worauf warteten sie eigentlich? Je früher sie die Sache hinter sich brachten, desto besser.

Wie aufs Stichwort bog in diesem Moment Hilfsinspektor Estrático um die Ecke und beantwortete damit seine Frage. Mit beschwingtem Schritt kam er auf sie zu. Großartig. Natürlich haben sie ihn ebenfalls hierherbeordert. Was grinst der so blöd? Polizeipräsident Galante glaubte offenbar, dass er nicht einmal einen einfachen Besuch im Leichenschauhaus allein bewältigen konnte. Mag sein, dass ich aufsässig bin, aber ich bin immer noch ein verdammt guter Polizist.

»Guten Morgen. Ich bin Orestes Estrático«, stellte er sich vor und streckte dem Gerichtsmediziner beflissen die Hand entgegen, der sie herzlich schüttelte. Du musst deinen Dienstrang nennen, wenn du dich vorstellst.

»Morgen«, war die einzige Reaktion, die er Alzada entlockte.

»Gut. Wir sind alle da. Sie wissen ja, wo es langgeht«, sagte Petacchi ermutigend. »Ich möchte Ihnen eine Sache zeigen.«

»Eine Person, Elías. Eine Person.«

»Natürlich. Das meinte ich ja.«

 

Im Flur Fliesen vom Boden bis zur Decke. Wer auch immer mit dem Entwurf des Gebäudes beauftragt worden war, hatte dabei vergessen, dass auch Zivilisten das Leichenschauhaus betraten. Es sah aus wie in einer Tierklinik und roch chemisch-sauber. Heißes Wasser und Bleichmittel. Der Geruch legte sich auf ihren Gaumen, während sie dem Klacken von Petacchis Schuhsohlen über den schummrig beleuchteten Korridor folgten. Sie bogen nach links ab, dann nach rechts und wieder rechts. Mehrere Minuten schienen zu verstreichen. Wenn sie noch länger von diesem Gestank umhüllt wurden, würden sie nie wieder etwas anderes riechen, dachte Alzada.

Steaks auf dem Grill. Eine reife Melone. Paulas Nacken.

Petacchi stieß zwei Schwingtüren mit Bullaugen auf, und sie betraten das Reich des Gerichtsmediziners.

»Treten Sie näher, Inspektor. Sie wollen sich sicher nicht die Details entgehen lassen«, forderte er ihn auf. Seine Stimme hallte in dem Meer aus Kacheln wider. Petacchi war ganz in seinem Element, amüsierte sich beinahe. Er war um die fünfundvierzig, hatte tiefschwarzes Haar und gelte es mit unnötig viel Pomade. Seine Augen glichen denen eines neugierigen Vogels, nie blieb sein Blick länger als einige Sekunden an einem Gegenstand oder einer Person hängen. Und wenn doch, dann blinzelte er hinter seiner dicken Hornbrille hervor, den Kopf zur Seite geneigt. Seltsam, wie dieser Mann aufzublühen scheint, sobald wir die Kathedrale des Todes betreten.

Der bloße Gedanke an das, was er zu sehen bekommen würde, drehte Inspektor Alzada den Magen um. Er hielt Ausschau nach einem Eimer. Kacheln, Kacheln, Kacheln, noch mehr Kacheln, und im Zentrum, wie ein glänzender Thron, ein Opferaltar – der in Flutlicht getauchte Arbeitstisch von der Größe eines Doppelbetts. Daneben ein Metallwagen, auf dem der Gerichtsmediziner gewissenhaft die Instrumente aufgereiht hatte, die er für seine Tätigkeit benötigte; Alzada erkannte flüchtig eine Schere, ein Spekulum, einen Meißel, eine Klammer, einen makabren Zirkel, mehrere Skalpelle und eine Nadel, deren makellose Präsenz darauf hindeutete, dass Petacchi entweder genug Zeit und den Anstand besessen hatte, eine Wunde der toten Person zu vernähen und die Nadel danach zu säubern, oder es gleich tun würde, was bedeutete, dass der Leichnam vor ihnen eine große klaffende Wunde aufwies. Irgendwo.

In der Ecke entdeckte Alzada einen Metalleimer. Der würde ausreichen. Der würde ausreichen müssen. Sein Blick wanderte zurück zum Tisch. Der Leichnam darauf war mit einem weißen Tuch bedeckt. Dein Leben muss ab irgendeinem Punkt schrecklich schiefgelaufen sein, wenn man dich in einem Müllcontainer hinter dem städtischen Leichenschauhaus entsorgt hat. Er versuchte, nicht darüber zu urteilen – erfolglos. Petacchi zog das Laken zurück, legte es sorgsam über dem Oberkörper zusammen und enthüllte den Kopf und die schmalen Schlüsselbeine des Opfers. Alzada wurde augenblicklich schlecht.

»Ein echter Hingucker, wie Sie sehen«, war der erste Kommentar des Gerichtsmediziners. Was zum Teufel stimmt nicht mit dir?

Alzada griff nach dem seidenen Tuch in seiner Tasche. Jetzt war er froh, dass ihm heute keine Zeit für sein übliches Frühstück geblieben war: ein Croissant mit dulce de leche. Das Ergebnis hätte wie der Eintopf ausgesehen, den er damals in der Schulmensa hatte essen müssen – mit Bröckchen darin –, wie die Eintöpfe, die Paquita ihm vor fünfzig Jahren liebevoll auf den Teller geschöpft hatte. Glücklicherweise wäre es heute nur Galle.

Petacchis schroffe Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. Er trug seine Schlussfolgerungen mit der eifrigen Inbrunst eines Kindes vor, das seine lateinischen Verbkonjugationen aufsagt. »Eine weibliche Person. Weiß. Ende zwanzig bis Anfang dreißig. 1,65 Meter. Achtundfünfzig Kilogramm. Keine Ausweispapiere oder persönlichen Gegenstände.« Nicht einmal Kleider? Der Gerichtsmediziner wechselte in einen ungezwungeneren Tonfall: »Wie ich Ihnen schon am Telefon erzählt habe, wurde sie heute Morgen gefunden, Inspektor.«

»Wie genau hat man sie denn gefunden?«, fragte Estrático. Er trug einen zerknitterten billigen Anzug, den einzigen, den er zu besitzen schien, über einem zerknautschten Hemd. Er hatte sich sichtlich bemüht, seine Haare mit Gel zu bändigen, doch bereits zu diesem morgendlichen Zeitpunkt waren seine widerspenstigen blonden Locken entkommen und umrahmten sein Gesicht – durchaus attraktiv, wie Alzada zugeben musste.

»Seltsam, dass Sie das fragen, denn …«

»Elías.« Inspektor Alzada spekulierte nicht gern über die Lebenden und schon gar nicht über die Verstorbenen. Er hielt es für eine ausgesprochen verwerfliche Angewohnheit. Seine Stimme dröhnte ungewollt laut durch den Autopsiesaal: »Hat Ihr Kommentar bezüglich der Bergung dieser unglücklichen Seele irgendeine Bedeutung für diesen Fall?«

»Nein, aber … Es ist so ungewöhnlich. Es ist in meiner beruflichen Laufbahn das erste Mal, dass mir ein Müllcontainer als Fundort unterkommt …« Wir haben schon Schlimmeres gesehen. »Und noch dazu direkt beim Leichenschauhaus …« Petacchi kam in Schwung: »Also, wenn Sie mich fragen …«

»Besser nicht«, sagte Alzada beherrschter als zuvor. »Ich bin der Polizeiinspektor. Sie sind der Gerichtsmediziner. Wir sind beide recht gut in dem, was wir tun, meinen Sie nicht auch?« Petacchi nickte pflichtbewusst. »Und als Polizeiinspektor würde ich empfehlen, sich nicht in Spekulationen und Verschwörungstheorien zu ergehen. Zumindest noch nicht. Und jetzt berichten Sie uns bitte, was Sie entdeckt haben.«

Petacchi räusperte sich und wandte sich wieder seinen Notizen zu: »Das Opfer weist vielfache Spuren von Gewalteinwirkung auf. Gebrochenes Nasenbein. Hämatome im Gesicht, am Hals, an den Armen, am Oberkörper. Mehrere gebrochene Rippen auf beiden Seiten. Linker Knöchel verdreht. Keine Anzeichen für sexuelle Gewalt.«

»Was verrät uns das über die Angreifer, Estrático?«, wandte sich Alzada an den Hilfsinspektor, der wie gebannt war. »Machen Sie sich Notizen, oder muss ich das auch noch tun?«

»Bin schon dabei, Inspektor.« Estrático kramte einen Notizblock aus der Tasche seines Jacketts hervor. »Und um Ihre Frage zu beantworten: Die Angreifer hatten es eilig?«

»Aber nein.« Der Polizeiinspektor wischte den Vorschlag mit einer Handbewegung beiseite. »Es wird eine ganze Weile gedauert haben, all das anzurichten. Meinen Sie nicht auch, Elías?«

Der Gerichtsmediziner nickte wieder.

»Nein. Wir können aus Dr. Petacchis Bericht schließen, dass ein gewisser Widerspruch vorliegt. Auf der einen Seite haben wir Beweise dafür, dass die Täter die deutliche Absicht hatten, sie zu töten, aber gleichzeitig haben sie, auf irgendeine beschissen-verquere Weise – Verzeihung, Elías –, beschlossen, sie mit einem gewissen Respekt zu behandeln. Warum sollten sie das tun?« Anweisungen. Sie haben Anweisungen befolgt.

Estrático notierte fieberhaft.

»Zweifellos eine Menge Gewalt, um sie einer einzelnen Person zuzufügen.« Zum ersten Mal betrachtete Alzada die Frau. Und noch dazu einer so zierlichen. Sie sah entspannt aus, wie sie dort lag, sorgenfrei. Sie hatte ein sehr blasses, sehr sanftes Gesicht. Sie musste hübsch gewesen sein. Sie muss sich nach Leibeskräften gewehrt haben.

»Außerdem weist sie mehrere Prellungen auf, vermutlich alle post mortem«, fuhr Petacchi fort.

»Post mortem? Jemand hat sie geschlagen, nachdem sie bereits tot war?«, fragte Estrático.

»Nein, nein.« Der Gerichtsmediziner schüttelte vehement den Kopf. »Das nicht. Wahrscheinlich rühren sie daher, dass sie in den Müllcontainer geworfen wurde. Als sie bereits tot war.«

»Woran erkennen Sie das?«, fragte Estrático. Estrático wirkte, als wäre er zum ersten Mal in einem Leichenschauhaus: ein Streber im Naturkundemuseum. Wenn du mir schon einen Babysitter aufdrückst, dann such zumindest jemanden aus, der eine echte Hilfe darstellt.

Bevor Petacchi zu einer Erklärung anhob, wartete er auf einen zustimmenden Blick von Alzada. Meinetwegen, erklären wir es ihm.

»Solange ein Mensch lebt, fließt kontinuierlich Blut durch seinen Körper. Das ist offensichtlich. Also: Wir sprechen hier von zwei verschiedenen Arten von Traumata. Auf der einen Seite gibt es die offenen Wunden: Schnitte oder Stiche von unterschiedlicher Größe – Schnittwunden im Prinzip. Ist ein Schnitt so tief, dass er bis in das Gewebe unter der Haut eindringt, blutet die Person. Nach außen. Und dann gibt es das ›stumpfe Trauma‹ – sagen wir, es entsteht, ›wenn man ein Säugetier mit einem stumpfen Gegenstand schlägt‹: Dabei werden die Gefäße verletzt, aber das Blut tritt nicht aus dem Körper aus. Durch die innere Blutung entstehen die Prellungen. An einigen Stellen habe ich zudem Verletzungen der Haut entdeckt – an den Oberschenkeln, den Ellenbogen und am unteren Rücken –, wo kein Blut ausgetreten ist. Das zeigt mir – uns –, dass zum Zeitpunkt ihrer Entstehung kein Blut mehr im Körper zirkulierte. Demnach war sie bereits tot. Das Vorhandensein der Läsionen verrät uns, dass sie äußerst grob behandelt wurde – und zwar sowohl vor ihrem Tod als auch danach.«

»Verstehe.« Alzada schluckte. »Also, um es zusammenzufassen: Erst wird sie ermordet. An irgendeinem ruhigen Ort, wo sich die Mörder Zeit lassen, gründlich vorgehen können. Aber dann werfen sie sie achtlos in einen Müllcontainer, was nahelegt, dass sie es plötzlich eilig hatten.«

»Zwei verschiedene Tätergruppen?«, schlug Estrático vor. Im Ernst? So blöd kann er doch nicht sein. Ruhig Blut, Joaquín.

»Auf mich macht es eher den Eindruck, als wäre etwas Unvorhergesehenes passiert. Etwas, das sie gezwungen hat, ihre Pläne zu ändern und sich der Frau so schnell wie möglich zu entledigen. Der Müllcontainer war als Ablageort nicht vorgesehen: Sie haben den erstbesten Platz genommen, den sie finden konnten.« Alzada sah sich im Raum um. Ein Verlies, von der Außenwelt hermetisch abgeriegelt. So still wie in einem Aquarium. Doch auf den Straßen braute sich ein Sturm zusammen. »Sie dachten, hier wären sie unbeobachtet. In diesem Viertel stehen hauptsächlich Regierungsgebäude.«

»Wenn ich hier rauskomme, bin ich oft der Einzige auf der Straße«, bestätigte Petacchi.

»Sehen Sie?«, wandte sich Alzada an Estrático. »Die Täter sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass die Demonstranten über Nacht die Stellung halten könnten. Nicht einmal die Regierung hat das vorausgesehen. Also haben sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt. Professionell. Methodisch. Damit wäre der erste Teil erklärt. Und plötzlich gibt es Beobachter. Sie werden nervös. Planänderung. Sie sehen den Müllcontainer. Werfen sie hinein. Wie lange ist sie schon …?«

»Mal sehen«, sagte Petacchi und warf einen Blick auf seine Uhr. »Jetzt ist es 9.20 Uhr. Die Totenflecken sind noch nicht vollständig ausgeprägt, aber der Körper ist schon auf Raumtemperatur runtergekühlt.« Alzada würgte. »Irgendwann vor Mitternacht, würde ich sagen. Auf jeden Fall nach dem Abendessen –« Bitte keine weiteren Details.

»Todesursache?«, kam Alzada weiteren Ausführungen zuvor. Er würde seinen Brechreiz nicht länger unterdrücken können, wenn sie dieses Thema vertieften. Und er würde sich ganz sicher nicht vor diesem Grünschnabel übergeben. Er bedeutete Petacchi, den Leichnam zuzudecken.

»Eine perforierende Verletzung am Hinterhauptbein.«

»Übersetzen Sie«, sagte Alzada und deutete auf Estrático, der von seinen Notizen aufsah.

»Nicht nötig. Ich weiß, was das bedeutet«, sagte der Hilfsinspektor. »Ein Kopfschuss, richtig?«

»Eine Nahschussverletzung«, präzisierte Petacchi leicht gereizt. Trotzdem setzte er nach: »Sie wurde in den Hinterkopf geschossen.« Eindeutig ein Auftragsmord.

»Nur ein Mal?«, fragte Estrático.

»Insgesamt drei Mal. Noch dazu aus nächster Nähe, Entfernung maximal zwanzig Zentimeter. Aber wir sprechen nur von einer Verletzung, weil sie von dem zweiten und dritten Schuss wohl nichts mehr mitbekam.«

»Ein Auftragsmord?«, mutmaßte Estrático.

»Möglich …«, antwortete Petacchi zurückhaltend.

»Ich habe die Kugeln extrahiert. Alle drei aus derselben Waffe. Neun Millimeter. Standard.«

»Na wunderbar«, seufzte Estrático, »damit ist die halbe Stadt verdächtig.«

»Nun, man kann es zumindest eingrenzen – der Auftraggeber muss sie gekannt haben«, murmelte Petacchi.

»Was meinen Sie, Elías?«, fragte Alzada interessiert.

»Wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass es kein Unfall war: kein fehlgeschlagener Raubüberfall, keine Halbstarken, die mit einer Pistole herumgespielt haben. Jemand wollte sie um jeden Preis töten. Ich habe selbstverständlich Gewebeproben entnommen, aber ich tippe darauf, dass die Täter es nicht eilig hatten, so wie Sie vermuten«, sagte Petacchi. »Im Gegenteil: Wenn man sich so große Mühe gibt, nimmt man sich die Zeit, alle Spuren zu beseitigen. Daher gehe ich davon aus, dass die Obduktion zu keinem Ergebnis führen wird und wir auch am Müllcontainer nichts finden werden. Sie hat allerdings ein Erkennungsmerkmal …«

»Ein Erkennungsmerkmal?«, fragte Estrático.

»Oder besser gesagt, zwei: Tätowierungen. Zwei identische Schwalben, auf jeder Hüfte eine, die nach innen zeigen. Schwarze Tinte. Leicht verblichen, etwa vier Jahre alt. Vielleicht hilft das, sie zu identifizieren?«

»Warum ist der Kopf intakt?«, platzte Estrático heraus.

Alzada wand sich. Aber er hat recht. Von den Einschüssen war nichts zu sehen, und auch nicht von Petacchis nachträglichem Eingriff, um die Kugeln zu entfernen. Hat er den Zirkel dafür verwendet?

Der Gerichtsmediziner sah Alzada an und lächelte. »Da ist aber jemand wissbegierig, Inspektor …«

»Was soll ich sagen, Elías«, entgegnete er gespielt resigniert, »die Jugend von heute.«

Alzada sah, wie Estráticos Blick während ihres freundlichen Geplänkels vom einen zum anderen schoss. Du wunderst dich, dass wir uns so gut kennen, stimmt’s? »Wir kennen uns aus einem früheren Leben«, war die einzige Erklärung, die beide je dazu abgaben. Als hätten sie sich darauf geeinigt. Niemand wagte es, weiter nachzufragen. Näher darauf einzugehen wäre für Alzada schmerzhaft gewesen und für den Gerichtsmediziner beschämend, wie er annahm.

Trotzdem entging Alzada nicht, dass ihr Schweigen erst recht weitere Fragen aufwarf, besonders bei jüngeren Leuten. Aber natürlich hatte auch er sich vor langer Zeit gefragt, wie die Welt vor seiner Zeit ausgesehen haben mochte. Nicht die altertümliche Welt, angefüllt mit den Artefakten der Höhlenmenschen bis zu denen der Konquistadoren – ironischerweise war diese Welt leichter zu verstehen: Sie hatte ein zeremonielles Begräbnis erfahren und ruhte im geschlossenen Sarg der Geschichtsbücher. Nein, den Leuten fiel es schwerer, sich eine Version der Vergangenheit auszumalen, die ihnen näher war, eine Vergangenheit, in der Alzada und Petacchi jung gewesen waren, sich kennengelernt und irgendwie angefreundet hatten. Das war für sie kaum zu erfassen. Das war ihnen unbehaglicher. Weil die Vergangenheit in denen weiterlebte, die noch zugegen waren. Weil sie bedrohlich in die Gegenwart hineinsickerte.

»Also, im Gegensatz zu dem, was man im Kino sieht, was, nebenbei bemerkt, sowieso meist Unfug ist« – der Gerichtsmediziner schüttelte missbilligend den Kopf –, »wird der Kopf nicht immer von einem Schuss ›weggeblasen‹, um einen Ausdruck zu verwenden, der Ihnen geläufig sein dürfte. Es hängt weitgehend von der Projektilbreite ab, vom Abstand zur Zielperson, vom Eintrittswinkel und so weiter.« Überraschend sanft nahm Petacchi den Kopf der Frau in beide Hände, drehte ihn ein Stück zur Seite und offenbarte eine saubere Wunde, nicht größer als ein Hemdsknopf. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Kugel das Gewebe durchdringt und selbst den Knochen, ohne großen Schaden an der Struktur zu verursachen.« Mit demselben Fingerspitzengefühl brachte er den Kopf wieder in seine Ausgangsposition zurück.

»Danke, Elías. Tadellose Arbeit.« Akribisch wie immer.

»Keine Ursache. Ich rufe Sie an, sobald mir der toxikologische Bericht vorliegt, und schicke Ihnen alle Fotos und die Analyse der Fingerabdrücke vom Müllcontainer für Ihre Unterlagen zu.«

Inspektor Alzada schüttelte ihm die Hand und eilte nach draußen. Er hörte kaum noch, wie Petacchi ihm nachrief: »Einen schönen Tag noch, Inspektor.«

 

Hinter ihm versuchte Estrático, mit ihm Schritt zu halten. Hier auf der Straße war es ruhig, aber sie hörten das Lärmen einer Menschenmenge, das ein paar Straßen weiter anschwoll. Nach Westen. Zur Casa Rosada. Wie sollte irgendjemand dieses Land ernst nehmen, wenn das Regierungsgebäude »das Rosa Haus« hieß?

»Estrático.«

»Ja, Inspektor.«

Alzada hörte die Anspannung in der Stimme des Hilfsinspektors, drehte sich aber nicht um. »Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern.« Als Erstes um Kaffee. Es ist ja nicht so, als stünde dieser Fall auf unserer Prioritätenliste ganz oben. »Schaffen Sie es allein zur Wache?«

»Natürlich, Inspektor.«

Estrático verschwand auf die gleiche verstohlene Art, wie er zuvor aufgetaucht war. Alzada sah sich suchend nach einem Café um. Mist! Seine neuen Schuhe in einer dunklen Pfütze. Bitte kein Regen. Wobei – wäre Schmutzwasser doch nur sein größtes Problem.

32001

Mittwoch, 19. Dezember, 10.00 Uhr

Als Alzada auf der Polizeiwache eintraf, hatte es angefangen zu regnen. Es war kein richtiger Regen, sondern chirimiri: ein unablässiges, fast unmerkliches Nieseln, das einen irgendwann bis auf die Knochen durchnässte. Der Inspektor betrat das Großraumbüro. Ursprünglich war es die Empfangshalle gewesen, mit einem eleganten Mahagonischreibtisch und einer bildhübschen Sekretärin, die ihr Haar wie Evita trug, doch die Wirtschaftskrise hatte die Policía Federal Argentina zu umfangreichen Sparmaßnahmen gezwungen. Sie hatten die oberen Etagen des Präsidiums an eine schicke ausländische Werbeagentur vermieten müssen, und der Empfangsbereich war in der Folge in ein Büro umgewandelt worden, in dem die jüngeren Polizeibeamten wie Estrático saßen. Der Raum war beengt, in einem fragwürdigen Senfton gestrichen, und wie auf einem Tetris-Spielfeld stapelten sich darin Sperrholzschreibtische, unbequeme, klapprige Stühle, eine launische Kaffeemaschine und das Schmuckstück der Polizeiwache: eine grüne Couch, auf der jeder Unruhestifter im Viertel Monserrat schon gesessen hatte. Ihr Baumwollsamtbezug machte keinen Unterschied zwischen Polizeibeamten in Zivilkleidung und Tätern, die darauf warteten, dass man ihre Daten aufnahm, und begrüßte diejenigen, die auf ihr Platz nahmen, mit der Erinnerung an abgestandenen Zigarettenrauch und Kaffee. Dreißig Jahre nach ihrem Kauf war ihre Farbe zum Großteil verblichen, und sie hatte gelbliche Flecken wie Gras nach einem trockenen Sommer.

Darauf hockte an diesem Morgen – so wie an fast jedem anderen auch – »la Dolores«, die wieder einmal den Frieden in diesem respektablen Stadtviertel gestört hatte. Dolores war siebenunddreißig, sah aus wie siebenundvierzig und tat sich chronisch schwer damit, zu verstehen, warum dieselben Kunden, die ihr während ihrer privaten Zusammenkünfte bedingungslose Liebe schworen, danach so taten, als würden sie sie nicht kennen, insbesondere während der gelegentlichen Sonntagsspaziergänge mit ihrer Familie. Ihrer »anderen Familie«, wie Dolores sie hartnäckig nannte.

»Guten Morgen, Dolores.«

Ihr Modus Operandi belustigte Inspektor Alzada.

»Guten Morgen, Inspektor.« Sie sah aus, als hätte sie auf dem Sofa übernachtet – eingewickelt in eine Decke und mit verlaufenem Augen-Make-up.

»Ich sehne den Morgen herbei, an dem ich Sie einmal nicht hier antreffe«, sagte Alzada im Vorbeigehen.

»Ich auch, Inspektor.«

»Geben Sie mir Bescheid, falls die Jungs mehr Zeit als nötig mit dem Bearbeiten Ihrer Unterlagen brauchen. Ich weiß, sie freuen sich über Ihre Gesellschaft, aber Sie sollten längst wieder zu Hause sein. Besonders bei dem, was heute los ist.«

»Danke, Inspektor.« Sie äußerste keinen Satz, ohne darin seinen Rang zu erwähnen: die perfekte Mischung aus Ehrfurcht und liebenswürdigem Spott.

»Estrático!«, brüllte er.

Ein blonder Schopf schoss aus einer Seitentür heraus. Der Hilfsinspektor hatte, zu Alzadas großem Missfallen, sein Jackett ausgezogen – was der sich rausnimmt! – und enthüllte darunter zu allem Überfluss ein kurzärmeliges Hemd mit Button-down-Kragen.

»Nennen Sie mich ruhig Orestes, Inspektor. Wo wir doch jetzt Partner sind …«

»Estrático, ich hatte ein Mal im Leben einen Partner und suche verdammt sicher keinen zweiten.« Alzada blickte sich um, plötzlich beunruhigt. Hier sieht es aus wie an einem Sonntagnachmittag. »Sind alle Mann ausgesandt worden?«

»Ja, zur Verstärkung«, bestätigte Estrático. »Fünfundsiebzigtausend Streitkräfte und Zivilpolizisten in Bereitschaftsstellung. Eine beispiellose Maßnahme.«

Es gibt ein Beispiel, und das hat kein gutes Ende genommen. Als das Militär das letzte Mal die Kontrolle über die Straßen übernommen hatte, war die Zahl der Todesopfer in die Tausende gestiegen.

»Alle, nur wir nicht?«, kicherte Alzada. »Ich weiß, was ich getan habe, um für diese heroische Aufgabe nicht auserkoren worden zu sein, aber Sie? Ist es nicht ein bisschen zu früh in Ihrer Berufslaufbahn, um aufs Abstellgleis zu geraten?«

Estrático lächelte unbehaglich.

»Gut.« Alzada hatte einen gewissen Spaß daran, seinen Untergebenen zu verunsichern, aber genug war genug. »Ich nehme an, heute gibt es keinen Appell … Irgendwelche Neuigkeiten aus dem Leichenschauhaus?«

»Noch nicht, Inspektor. Abgesehen von der anonymen Toten war der Morgen bisher ruhig.«

»Bisher«, knurrte Alzada.

»Hier ist ein Paar, das Sie sehen möchte.«

»Mich?« Alzada ließ enttäuscht die Hände sinken. »Haben sie ausdrücklich nach mir gefragt? Sind Sie sicher, dass sie mit mir sprechen wollen?«

»Sie haben nicht nach Ihnen persönlich gefragt.« Das klingt schon besser. »Sie wollten den höchstrangigen Beamten auf dieser Wache sprechen. Und wie Sie wissen«, der Hilfsinspektor hielt inne und hüstelte gekünstelt, »ist es erst 10 Uhr … also sind das momentan Sie.«

»Und weswegen sind sie hier?« Alzada beschloss, Estráticos Anspielung auf die berüchtigt laxe Arbeitsethik des Polizeipräsidenten zu übergehen.

»Das wollten sie nicht sagen. Ich habe sie in Ihr Büro gebracht.«

Der Inspektor hatte an diesem Morgen schon genug Zeit mit dem Besuch im Leichenschauhaus und der Parkplatzsuche für seinen betagten Clio verschwendet. Nicht dass er wirklich viel zu tun gehabt hätte: Ohne Personalausweis, ohne toxikologischen Bericht und ohne Tatort blieb ihm nur zu hoffen, dass jemand anrief und eine Frau als vermisst meldete, auf die die Beschreibung zutraf. Die Vorgehensweise für heute ist klar. Der Inspektor nannte es gern »das Protokoll des geringstmöglichen Aufwands«: Alles, was aufgeschoben werden konnte, wurde aufgeschoben. Aber selbst wenn er die Zeit hatte, sich um diese Leute zu kümmern – sie mussten verrückt sein, sich ausgerechnet diesen Morgen für einen Besuch auf der Polizeiwache ausgesucht zu haben.

»Begleiten Sie mich.«

 

»Guten Morgen«, verkündete Alzada, als er sein Büro betrat.

Das Paar antwortete mit einem unverständlichen Murmeln.

Von seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes konnte sich der Inspektor mit diesen zwei Schönheitsflecken auf seinem ansonsten »makellosen« Tag befassen und dabei gleichzeitig das Großraumbüro draußen im Blick behalten: Eine große Rauchglasscheibe ermöglichte ihm, das gesamte Geschehen zu verfolgen, auch wenn seine Tür geschlossen war. So blieb ihm das hämmernde Tippen seiner Untergebenen erspart, ihre dreckigen Witze und der wahllose Klatsch über Dinge, die ihm scheißegal waren. Galantes letztes Zugeständnis. Sonst säße ich bei den Sekretärinnen.

In einer Ecke seines Büros stand ein runder, wackliger Tisch, auf dem Minarette aus unbearbeiteten Akten aufragten; der Inspektor wälzte sie gern auf die jungen Polizisten ab, die ihm abwechselnd zuarbeiteten. Ihm war durchaus bewusst, dass sie ihm nicht aus Gefälligkeit zur Seite gestellt wurden: Ihre wahre Mission bestand nicht etwa darin, als seine persönlichen Assistenten zu fungieren, wie Galante ihm versichert hatte, sondern den Polizeipräsidenten über jegliches unverantwortliche Handeln des schwarzen Schafs auf dem Revier zu informieren, idealerweise bevor es dazu kam. Kürzlich hatte der Polizeipräsident Estrático zu seinem neuesten Lakaien auserkoren. Glaubt wahrscheinlich, ich könnte mir einen solchen Arschkriecher nicht vom Leib schütteln.

Alzada machte das allgemeine Chaos dafür verantwortlich, dass die Akten im ungelegensten Moment seinen Schreibtisch verstopften – sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinn –, hässliche Fälle, die nie den Weg zu ihm gefunden hätten, wenn die Dinge ihren gewohnten Gang gegangen wären. Er wünschte, ihm fiele ein besseres Wort dafür ein – etwas Elegantes, womöglich mit lateinischem Anklang. Doch in diesem Fall war es das passende Wort: hässlich. Seinen Tag damit zubringen zu müssen, eine schlüssige Erklärung dafür zu finden, dass eine Leiche im Müllcontainer hinter dem Leichenschauhaus gelandet war. Hässlich. Unter normalen Umständen müsste sich jemand aus dem Diebstahlsdezernat niemals um eine unbekannte Tote kümmern. Aber wann waren die Umstände zum letzten Mal »normal« gewesen – in diesem Polizeirevier, in Buenos Aires?

Alzada wollte gerade seinen Regenschirm an den Garderobenständer hängen, als ihn etwas innehalten ließ.

»Wem gehört dieses Jackett?«, fragte er.

Die beiden Zivilisten blieben stumm.

»Mir, Inspektor«, murmelte Estrático.

»So hängt man keine Jacke auf. Wissen Sie das denn nicht?« Alzada griff nach dem grauen Jackett. »Sie müssen sie am Ärmel aufhängen. So«, führte er vor. »Sonst haben Sie in kürzester Zeit eine Jacke mit Buckel.«

»Ja, Inspektor.«

Alzada schob sich um seinen Schreibtisch herum, darauf bedacht, nicht gegen die abblätternde Wandfarbe zu stoßen, ließ sich auf seinen Stuhl sinken und rieb sich die Hände. »Also gut, an die Arbeit.«

Der Inspektor musterte das Paar, das so reglos dasaß wie in Blei gegossen, und war mit einem Mal dankbar für das Surren des Ventilators.

»Ich bin Inspektor Alzada. Und das ist Hilfsinspektor Estrático«, sagte er und deutete auf den Beistelltisch, an dem der junge Polizeibeamte Platz genommen hatte. »Er wird mir assistieren. Er gehört zu unseren vielversprechendsten Nachwuchskräften in der Einheit, müssen Sie wissen.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Estráticos Brustkorb vor Stolz anschwoll. Schwachkopf. Natürlich glaubt er, es ginge dabei um ihn. Man muss dafür sorgen, dass sich Zivilpersonen – selbst wenn sie aus eigenem Antrieb herkommen – erst einmal akklimatisieren. Alzada hatte es unzählige Male erlebt: Die Leute betraten die Wache, begierig, Informationen beizusteuern, nur um dann zu verstummen, als würde ihnen irgendwo zwischen dem Nicken, mit dem Wachmann Basilio sie begrüßte, und dem Moment, in dem sie sich einem Polizeibeamten gegenübersetzten, plötzlich klar, wo sie waren. Verstört wie nach dem Biss einer Jararaca-Lanzenotter.

»Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann sah aus wie ein Ingenieur – so wie jemand nach Ingenieur aussieht, selbst wenn er keiner ist: Er trug eine dicke Hornbrille und, Buenos Aires’ Sommerhitze zum Trotz, einen Pullover über dem karierten Hemd und eine passende burgunderrote Krawatte. Die Frau war farblich perfekt auf ihren Mann abgestimmt – über einem gestreiften burgunderroten Kleid lag eine cremeweiße Strickjacke auf ihren Schultern. Lehrerin. Die beiden rochen nach Geld.

»Meine Schwester ist verschwunden«, sagte sie. Unumwunden. Sachlich. Die meisten Leute brauchten vierzig Leitfragen, um an diesen Punkt zu gelangen. Direkt zur Sache. Gefällt mir. Jetzt, wo sie wieder schwieg, zitterte ihre Unterlippe leicht.

Alzada öffnete eine Schublade und schob auf der Suche nach einem Stift und einem Blatt Papier seinen Flachmann beiseite. Wie sich die Zeiten geändert haben. Vor nicht einmal zwanzig Jahren wäre das undenkbar gewesen. Die Vorstellung, dass jemand in eine Polizeiwache hereinmarschiert kommt, verlangt, mit dem höchstrangigen Beamten zu sprechen, und jemanden als vermisst meldet? Als die Beziehung zwischen der Polizei und dem Militär, das für das Verschwinden von Menschen verantwortlich war, zumindest auf stillschweigender Duldung beruhte? Nein, nicht undenkbar: leichtsinnig, gefährlich, tödlich. Und da saßen sie nun, diese beiden, und meldeten ihre Schwester offen als vermisst, ohne Angst. In demselben Häuserblock, in dem sich die Coordinación Federal befunden hatte. Wo Menschen gefangen gehalten und gefoltert worden waren. Damals hatten die Leute so große Angst gehabt, dass sie einen Umweg machten, um bloß nicht an dem Gebäude vorbeilaufen zu müssen.

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn wir eine Vermisstenanzeige hätten aufgeben können? Wenn sich ein beflissener Polizist unserer angenommen und die richtigen Fragen gestellt hätte? Alzada fragte sich, ob seine Lippe ebenfalls zitterte.

»Letztes Wochenende. Am Samstag.«

Der Inspektor musste sich schwer beherrschen, um daraufhin nicht die Augen zu verdrehen. Er wollte nicht unwirsch sein. Er wollte ihr keine Angst machen. Aber er wollte der Frau auch nicht sagen, dass sich das Zeitfenster, in dem ihre Schwester lebend aufzufinden gewesen wäre, bereits geschlossen hatte. In diesem Chaos und nach fünf Tagen … Alzada blickte an dem Paar vorbei zum Großraumbüro hinüber. Gibt es wirklich niemanden, auf den ich diese Sache abwälzen kann? Das Büro wirkte trostlos: ein einsamer Weihnachtsbaum neben dem Eingang und zwei Polizeibeamte an ihren Schreibtischen. Polizeimeister – nicht hochrangig genug für diese Sache.

Trotz Alzadas Bemühungen, Interesse vorzutäuschen, schien die Frau etwas bemerkt zu haben, denn sie versuchte sofort, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen: »Aber ich habe danach noch mit ihr telefoniert.«

»Wann?«

»Gestern Abend.«