2017 - Die neue Reformation - Fabian Vogt - E-Book

2017 - Die neue Reformation E-Book

Fabian Vogt

4,9

Beschreibung

Am 31. Oktober 2017, dem 500. Jahrestag der Reformation, tauchen im Internet 95 neue Thesen zur Zukunft der Kirche auf. Und die verändern alles ... Fabian Vogt erzählt die inspirierende und herausfordernde Geschichte von 2017 mit literarischem Feingefühl und großer Leidenschaft. Der Leser wird in die atemberaubende Dynamik eines geistlichen Aufbruchs mit hineingenommen. In eine Zeit voller Segen und Fluch, Jubel und Anfeindung, Angst und Zärtlichkeit.

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Für DiVo, von dem ich die Lust an den Worten geerbt habe.

 

 

 

Ecclesia semper reformanda.(Die Kirche muss ständig reformiert werden.)

Den hugenottischen Reformatoren zugeschrieben

 

Fantasieist wichtiger als Wissen,denn Wissen ist begrenzt.

Albert Einstein

 

 

 

Die Kirche bedarf einer Reformation –und das geht nicht nur den Papstoder die Kardinäle etwas an,sondern die ganze Welt;oder vielmehr: Gott allein.Aber den Zeitpunkt der Erneuerungkennt alleine der,der alle Zeit geschaffen hat.

Martin Luther

 

 

 

Der Gedanke einer Reform der Kircheist völlig unsinnig und für sie beleidigend,weil das unterstellen würde,sie könne überhauptschadhaft oder verdunkeltoder anderweitig beeinträchtigt sein.

Papst Gregor XVI.

Inhalt

Mittwoch, 10. September 2042

Sonntag, 14. September 2042

Montag, 15. September 2042

Dienstag, 16. September 2042

Mittwoch, 17. September 2042

Spiegel, 28. Mai 2018

Donnerstag, 18. September 2042

Freitag, 19. September 2042

Kirchenbewegung „Teamzone“

Samstag, 20. September

Sonntag, 21. September

Protokoll der 50. Sitzung des Rats von „2017“

Montag, 22. September 2042

Der Traum von der heil(ig)en Familie

Dienstag, 23. September 2042

Mittwoch, 24. September 2042

Traktat 32 – 27. Sept. 2027

Freitag, 31. Oktober 2042

Nachwort

Über den Autor

Veröffentlichungen

Mittwoch, 10. September 2042

Verehrte Festgäste,liebe Geschwister in Christus!

Unsere Bewegung hatte im Lauf der Jahre verschiedene, erstaunliche Namen: Ganz am Anfang hieß sie „Faithbook“, dann für kurze Zeit „Teamzone“, später „2017“ oder lässig „Zwanzig-Siebzehn“ (was mir immer noch am sympathischsten ist und am leichtesten über die Zunge geht) und schließlich „Lebendige Kirche“ oder kurz „LK“.

Für diesen Titel hat sich nach schier endlosen Diskussionen die Bundessynode entschieden. Im Herbst 2035. Unter anderem wegen der leichten Übersetzbarkeit: Living church. Église vivante. Chiesa viva. Levende Kerk. Iglesia viviente.

Klingt ja auch nicht schlecht. Ein Name mit Zukunft. Ein Programm. Eine Marke.

Allerdings: Mit dem, was ich ursprünglich wollte, mit meinem vorsichtigen, hoffnungsvollen, so sinnlichen Traum von einer veränderten Kirche hatte das alles schon lange kaum noch etwas zu tun. Oder doch? Ich weiß es nicht. Nicht mehr.

Noch immer bekomme ich jeden Tag unzählige Mails, Flashcalls und E-Letters, in denen Menschen sich persönlich dafür bedanken, dass ich die „Lebendige Kirche“ angestoßen habe. Es sind meist schwärmerische, begeisterte Schreiben. Voller überschäumender Begriffe wie „Neugeburt“, „Zeichen des Himmels“, „Hingabe“ oder „Erweckung“. Die Menschen sind zutiefst davon bewegt, dass ich – so formulieren sie sinngemäß – die verkrusteten, institutionalisierten, geistlich verkümmerten Alt-Kirchen überwunden und neue Wege zu einer leidenschaftlichen Spiritualität eröffnet habe.

Habe ich das? Habe ich das wirklich getan? Oder habe ich nur dafür gesorgt, dass es nun neben der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche und den Freikirchen eben auch noch die „Lebendige Kirche“ gibt? Sodass ich möglicherweise einfach als ein weiterer Kirchenspalter in die Geschichte eingehe. Ich bin mir da sehr unsicher. Oder sagen wir besser: unsicher geworden.

Eigentlich wollte ich …

Mensch, die ersten Jahre waren so … so wie ein Sog.

Was für eine unfassbare Aufbruchsstimmung! Wahnsinn …

Es war eine Revolution. Unfassbar. Eine richtige geistliche Revolution. Alles kam in Bewegung. Wirklich alles. Ich hatte frisch meine Thesen veröffentlicht. 2017. Am Reformationstag. Natürlich! Es sollte so etwas wie ein Gedankenspiel sein. Eine Anregung. Eine Reminiszenz an Martin Luther. Und unter uns: Es war auch viel Übermut dabei. Jugendlicher Übermut. Lust an der Provokation. Spaß am kreativen Experimentieren. Ich wollte die Kirche ein wenig kitzeln. Herausfordern. Sie in Fahrt bringen.

Aber die Leute haben diese Thesen, meine Thesen, ernst genommen. Viel ernster als ich. Nein, so kann man es nicht sagen. Natürlich war und ist mir die Kirche ein Herzensanliegen. Ein großes sogar. Aber ich hätte damals nie gedacht, dass sich daraus eine solche Bewegung entwickeln würde, eine Bewegung, die die religiöse Landschaft inzwischen von Grund auf umgekrempelt hat. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – ja, auf der ganzen Welt. Offensichtlich war die Zeit reif für eine Erneuerung.

Nun, jedes Mal, wenn ich wieder die euphorische Mail eines zur „Lebendigen Kirche“ konvertierten oder frisch in ihr bekehrten Menschen lese, muss ich an diese turbulenten frühen Jahre denken. Das ist und bleibt ein Glücksgefühl.

Allerdings werde ich meist ganz schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dann, wenn ich – was mindestens genauso häufig vorkommt – eine Nachricht mit wüsten Beschimpfungen oder gar mit Morddrohungen öffne. Ja, seit mehr als 20 Jahren stehe ich unter Personenschutz. Kein Wunder. Fanatische Gläubige aller Konfessionen verunglimpfen mich als „Satan“, als „Häretiker“ oder als „Antichristen“. Und mit dem, was man mir schon alles antun wollte, könnte ein geschickter Regisseur mehrere Horrorfilme bestücken. Nein, ganze Serien. Passend für RTL3.

Das Schrecklichste an diesen meist ungehobelten, wütenden Pamphleten ist aber, dass ich die Absender verstehen kann. Nicht ihre garstigen Formulierungen, aber ihre Not. Ihre Angst. Ihre Verzweiflung. Ihre unsagbare Verwirrung. Sie fürchten sich vor dem freiheitlichen Ansatz unserer Kirche …

Christian van Haewen las noch einmal durch, was er bislang geschrieben hatte. Mit zunehmendem Groll. Dann drückte er Strg + A, markierte damit den gesamten Text und löschte ihn mit einem trotzigen Tastendruck.

Entf

Weg!

Weg damit.

So nicht. So ging das auf keinen Fall. Ein derart unstrukturierter Mischmasch aus nostalgischem Rückblick, melancholischen Zweifeln und unverhohlenem Ärger war unbrauchbar.

Er trank den kalt gewordenen Kaffee und starrte missmutig auf den Bildschirm. Lange.

Er konnte und wollte nicht heucheln. Nicht mehr. Nicht jetzt. Und vor allem nicht an diesem Tag. Darum sollte er sein Grußwort nicht so … so allgemein … so anbiedernd … so scheu formulieren.

Aber wie dann?

25 Jahre „Lebendige Kirche“.

Das war eine Chance. Seine Chance.

Vielleicht die letzte.

Beim feierlichen Festakt war es eventuell möglich, noch einmal das Ruder rumzureißen. Mit einer großen Rede, einer Rede, die Augen und Herzen öffnen würde. Mist.

Da saß er, der für seine die Realität verändernden Predigten gerühmte Kirchengründer, der Formulierungskünstler, der theologische Poet – und suchte ziellos nach Worten. Nach den richtigen Worten. Nach Worten, die das Unheil würden aufhalten können. Wenn das möglich war. Und wenn es denn überhaupt ein Unheil war.

Schluss mit den trüben Gedanken. Think positive. Mann! Wo ist das Vertrauen hin? Der Glaube? Dein Glaube? Vertraue, vertraue einfach … So, und jetzt konzentrier dich!

Leichter gesagt als getan.

Sollte er ehrlich erwähnen, wie sehr es ihn verletzt hatte, dass man ihn zwar anstandshalber als spirituellen Grußonkel eingeladen hatte …ja, man hatte ihn eingeladen … zur Jubiläumsfeier der Kirche, die er selbst gegründet hatte … was für eine Farce …dass er aber in den Leitungshierarchien der Organisation kaum noch etwas zu melden hatte? Zumindest nicht in den vielen neu gegründeten Gremien und Arbeitsgruppen.

Christian war so lange, für manche viel zu lange, der Vordenker der Bewegung gewesen – doch in den letzten Jahren prägten andere, machthungrigere Gestalten die Entwicklung der Kirche. Seiner Kirche.

Also: Was, bitteschön, sollte er verkünden beim Jubiläum? Beim „Großen Festakt der LK“?

Sollte er, wie es die anderen Grußworte zweifellos machen würden, mit euphorischen Bildern die Erfolgsgeschichte der „Lebendigen Kirche“ in Form einer vorgezogenen Heiligenlegende zelebrieren? Schwärmend? Hingegeben? Mit leicht zitternder Stimme?

„Schaut, wie uns Gott gesegnet hat. 25 Jahre voller Glanz und Gloria. Mit Jesus an unserer Seite. Wir machen alles so viel zeitgemäßer als die anderen Kirchen. Wir sind auf dem richtigen Weg. Hört: So wurde aus einer Vision eine neue Wirklichkeit. Halleluja. Preist den Herrn!“

Auf keinen Fall. Er würde ihnen nicht nach dem Mund reden. Obwohl das dem Rat sicher gefallen hätte. Die glaubten nämlich daran. Ernsthaft. Ja, die waren aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass sie, und zwar nur sie, das Heil gefunden hatten. Die kamen gar nicht mehr auf die Idee, die Bewegung an sich infrage zu stellen. Seltsam. Sehr seltsam sogar. Und vor allem so ganz und gar unprotestantisch. Aber das passierte ja immer wieder. Also musste er Klartext reden.

Andererseits: Es wäre schon verwegen, wenn er beim Festakt all seine existenziellen Zweifel ausbreiten würde. Ein Stimmungstöter. Der alt und grau gewordene Gründungsvater, der sich auf einmal als Gewissen der Nation aufspielt. Dessen Schwung und Leidenschaft umgeschlagen sind in Sorge. Natürlich würden sie tuscheln: „Wahrscheinlich ist er beleidigt und nutzt das hier für eine billige Retourkutsche. Schade. Früher war er mal wichtig. Schaut euch den müden Miesepeter an.“

Nein. Niemand möchte an einem solchen Feiertag auf die Schwachpunkte seiner Gemeinschaft hingewiesen werden. Oder doch? Wohl kaum. Die wollten feiern. Einfach nur feiern.

Und sie hatten ja auch nicht ganz unrecht. Natürlich gab es etwas zu feiern. Für viele Millionen Menschen. Für den Glauben, für die Liebe, für Gott …

Die „Lebendige Kirche“ hatte die Welt verändert. Das durfte man auch sagen. In aller Öffentlichkeit. In alle Kameras. Mit einem freudigen Lächeln. Mit einem sakralen Strahlen in den Augen. Hört her: Die „Lebendige Kirche“ hat die an vielen Stellen müde gewordene Glaubensgemeinschaft der westlichen Welt wieder aufgeweckt. Sie hat die Kultur, die Gesellschaft, den Alltag und die Perspektiven ganzer Nationen neu geprägt. Und das geben inzwischen sogar ihre ärgsten Gegner zu: Die phänomenale Entwicklung dieser jungen, begeisterten Glaubensgemeinschaft zwingt seither auch die alten Institutionen, ihre spirituellen Angebote zu überdenken. Bis heute. Ein Segen für die Welt.

Christian von Haewen überflog noch einmal die Einladung und musste unwillkürlich grinsen.

Was für ein langweiliges Programm!

Stinklangweilig sogar.

Puh.

Alles hochzeremoniell: Grußworte, Festgottesdienst, Festvortrag. Wahrscheinlich würde auch die neue Bundeskanzlerin noch sprechen. So was Ödes. Ein zuckersüßes, risikofreies Konzept. Gut, sie hatten eine leicht extravagante Popgruppe in den Gottesdienst eingebaut. Wow! Aber deren jüngstes Mitglied war bestimmt auch schon über 50. Wahrhaft innovative Musik also.

2017, da hatten sie andauernd darüber nachgedacht, wie sie den in der Tradition erstarrten Gemeinden stabile Brücken in die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts bauen konnten.

„Raus aus dem Ritual. Rein in die Realität.“

Das war einer der ersten Slogans gewesen. Stimmt, den gab es damals sogar als Armband. Und als Anstecker. Und als Bildschirmschoner. Sie hatten den Neugierigen Lust gemacht, mit den Kommunikationsformen des postmodernen Alltags auch den Glauben zu gestalten.

Und jetzt spielten beim Festakt der „Lebendigen Kirche“ die Berliner Philharmoniker. Noch immer Weltklasse, ohne Zweifel. Aber nicht gerade mitreißender Mainstream. Eine eigenartige Re-Traditionalisierung, die allen Idealen der LK widersprach.

Der hagere Mann schüttelte sich. Er musste sich etwas einfallen lassen. Nur was?

Betreff:

Hilferuf

Datum:  

11.09.2042 14:35:58 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Hallo Gregor,

ich weiß gar nicht, wo du gerade lebst. Nicht mal im Institut hatte jemand deine aktuelle Adresse. Hey, tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Aber ich brauche deine Hilfe. Und zwar dringend.

Du weißt sicher, dass die LK ihr 25-jähriges Jubiläum feiert. Und ich soll beim Festakt das amtliche Grußwort sprechen. Welch eine Gnade. Nur … ich bin damit irgendwie überfordert. Zumindest im Augenblick. Was soll ich bloß sagen? Und auf „Frommes Blabla als klerikaler Kleiderständer“, wie du es immer genannt hast, habe ich wahrlich keine Lust. Das wäre auch falsch.

Also, es geht nicht etwa darum, dass ich einen Ghostwriter bräuchte. Schöne Sätze drechseln, das kann ich noch selbst. Aber in mir ist zurzeit alles stumm. Um das hässliche Wort „tot“ zu vermeiden. Ich habe keine Ahnung, was Gott will. Und ich weiß auch nicht mehr, was ich will. Du hast sicher mitbekommen, dass ich vor einigen Jahren schon mal ein Burnout hatte. Genauso fühlt sich das wieder an. Alles sinnlos.

Erkennst du mein Dilemma? Ich bin ein glaubensschwacher Glaubensgründer. Ein ungetrösteter Tröster. Ein Zweifler. Ein hoffnungsloser Fall. Wie soll ich da den Millionen Gläubigen unserer Bewegung Hoffnung schenken? Denn das Ganze wird selbstverständlich weltweit auf allen Kanälen übertragen.

Nun, um es mal klar zu sagen: Du hast mir das alles eingebrockt. ;-) Natürlich: Deine Vorlesungen über die „Zeitlosen Perspektiven der Reformation“ waren schließlich ein wesentlicher Anstoß für meine Thesen und damit für die ganzen Umwälzungen damals.

Vielleicht klammere ich mich wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm – aber ich würde dich gerne treffen. Noch mal von dir angeregt und ausgerichtet werden. Wie damals. Du warst und bleibst mein Lieblingsprof. Jetzt kannst du zeigen, was in dir steckt.

Dein Christian

Betreff:

Re: Hilferuf

Datum:  

12.09.2042 10:12:14 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Lieber Chris,

was für eine Mail. Klingt echt strange. Dafür würden mir die Medien sicher sofort eine saftige Prämie zahlen. Ich meine, ich sehe dich doch immer von den Titelseiten der Magazine strahlen: „Mr. Believe“, „Der zweite Luther“, „Der einzigartige Kirchenerneurer“, „Der heilige Christian“ „Die charismatische Lichtgestalt des 21. Jahrhunderts“, „Die Hoffnung für das gebeutelte Christentum“. Und nun das.

Tja, und es stimmt: Du hast dich wirklich lange nicht gemeldet, du treulose Tomate. Das ist doch bestimmt 15 Jahre her. Klar, die Welt auf den Kopf stellen, kostet eben Zeit. Allein für diese Ignoranz gegenüber deinem alten Freund sollte ich dich öffentlich an den Pranger stellen: „Van Haewen verliert Glauben!“ Geile Schlagzeile. Findest du nicht?

Aber Flachserei beiseite: In 15 Jahren passiert viel. Auch bei mir hat sich so manches geändert. Ehrlich gesagt: Alles! Das heißt – um es kurz zu machen: Ich kann dir nicht helfen. Sorry. Ich will mit diesem ganzen paranoiden Kirchenkram nichts mehr zu tun haben. Damit bin ich fertig. Tut mir leid. Außerdem wohne ich gar nicht mehr in Deutschland. Schon lange nicht mehr.

Ich wünsch dir alles Gute, Gregor

Betreff:

Re: Re: Hilferuf

Datum:  

12.09.2042 11:20:01 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Was? Wo steckst du? Kann ich etwas für dich tun? Melde dich!!!!!!

Betreff:

Re: Re: Re: Hilferuf

Datum:  

13.09.2042 22:15:38 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Alles gut. Nur habe ich einfach kein Interesse mehr an euren bescheuerten kirchenpolitischen Spielchen. Die machen mich krank. Dieser ganze Ego-Scheiß, der sich in den sakralen Gremien andauernd abspielt: „Ich habe mehr Recht. Ich habe mehr Einfluss. Ich glaube richtiger. Ich bestimme.“ Für mich hat dieses Machtgetue mit geistlicher Leitung und wahrhaftem Glauben nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun ...

O Mann, jetzt fange ich schon wieder an, mich aufzuregen. Dabei wollte ich genau das nicht mehr. Weißt du: Ich habe zu lange gebraucht, um meinen Frieden zu finden. Oder lass es mich besser so ausdrücken: Du hast deine Probleme, ich habe meine. Dabei sollten wir es belassen.

Um dich aber zu beruhigen: Ich schaue gerade aus meinem Fenster hinaus aufs Meer. Aufs Mittelmeer. Davon haben wir beide doch immer geträumt: Wenn wir mal alt sind, ziehen wir in ein Haus am Meer. Mein Refugium steht in einem kleinen Fischerort namens Dalyan. An den Dardanellen.

Wenn du irgendwann wieder mehr Ruhe hast, kannst mich gern mal besuchen. Ist eine traumhafte Urlaubsregion hier.

Herzlich, Gregor

Betreff:

Re: Re: Re: Re: Hilferuf

Datum:  

13.09.2042 23:10:30 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Lieber Gregor, wirklich eine sehr gute Idee. ;-) Ich komme morgen mit der Abendmaschine in Çanakkale an. Hier halte ich es ohnehin nicht mehr aus. Und weißt du was: In die Türkei wollte ich ohnehin schon lange mal wieder. Das letzte Mal, als ich da war, gehörte sie noch gar nicht zur EU. Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, alter Freund. Bis morgen!

Betreff:

Re: Re: Re: Re: Re: Hilferuf

Datum:  

13.09.2042 23:19:22 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Spinnst du? Natürlich tust du das. Du bist noch immer so bescheuert wie früher. Ich hab doch deutlich gesagt, dass ich das nicht will. Mann. Dass einer nach all der Zeit der gleiche sture Dickkopf bleibt. Und jetzt hör gut zu: Wage es ja nicht, hier einfach aufzutauchen. Kapiert?

Betreff:  

Re: Re: Re: Re: Re: Re: Hilferuf (Auto-Replay)

Datum:  

13.09.2042 23:19:23 Westeuropäische Normalzeit

Von:

[email protected]

An:

[email protected]

 

 

Ich bin zurzeit nicht in meinem Büro. In dringenden Fällen erreichen Sie meine Sekretärin, Frau Diers, unter [email protected].

 

Christian van Haewen

SMS

Absender unbekannt

 

Ich finde dich, Haewen.

Ganz gleich, wo du dich versteckst.

Jan Le Fuet

Da sprach er: Lasst uns wieder aufbrechen …

Apostelgeschichte 15,36

Sonntag, 14. September 2042

Die kleine Linienmaschine vom Esenboga Airport in Ankara hatte bei ihrer Ankunft auf dem Çanakkale Havaalani mehr als 40 Minuten Verspätung. Christian van Haewen nahm dankbar das Erfrischungstuch, das ihm die Stewardess lächelnd entgegenhielt. Er war müde. Richtig müde. Sogar zu müde, um zurückzulächeln.

Natürlich war das eine Schnapsidee: ein Spontanbesuch in der Türkei. Bei einem Mann, den er fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hatte. Wahrscheinlich und mit vollem Recht würde Gregor ihn erbost wieder nach Hause schicken. Andererseits hatte Christian seit seiner Kindheit alle wichtigen Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen. Und das mit Erfolg. Fand er zumindest.

Als er wenig später im Hybrid-Shuttle saß und ins Stadtzentrum von Çanakkale fuhr, wäre er beinah eingeschlafen. Die Luft war trocken und stickig, fast mehlig, und in dem verbeulten Bus saßen und standen sicher 20 Personen mehr, als die Betriebszulassung erlaubte.

Was erhoffte er sich von einer derartigen Reise? Nun, immerhin fühlte er sich in diesem Moment erstaunlicherweise so, als fiele eine unbeschreibliche Last von ihm ab. Als ließen sich sein Geist und sein Körper gemeinsam in eine wohltuende Mattigkeit gleiten. Er war zumindest erst einmal draußen. Raus aus den frustrierenden Strukturen, die ihm seit einer halben Ewigkeit den Brustkorb zuschnürten.

Er atmete so laut aus, dass ihn seine Sitznachbarin, eine sichtlich geliftete Frau, erstaunt anschaute. Dann erreichte der Shuttle den Busbahnhof, den Otogar Otobüs Duragı.

Während Christian auf den Anschluss nach Geyikli wartete, kaufte er sich bei einem Straßenhändler ein von Fett triefendes Irgendwas, das nicht nur unglaublich gut roch, sondern auch so schmeckte. Besser als all die Haute Cuisine, die er andauernd bei überflüssigen offiziellen Festessen kredenzt bekam. Und dass es eine Cola Turka gab, hatte er vorher auch nicht gewusst. Gar nicht so übel.

Als er einen Blick in das spiegelnde Schaufenster eines Gemüsemarktes warf, musste Christian grinsen: Er sah aus wie einer der alten knorrigen Türken, die auf den Bänken vor dem Busbahnhof saßen und rauchten.

Moritz, der hauptverantwortliche Leibwächter des Kirchengründers, hatte sich erst dann bereit erklärt, seinen Chef ohne Begleitung verreisen zu lassen, als der zustimmte, sich zu tarnen. Und die dunkle Perücke wirkte mit dem nach unten gebogenen Schnäuzer wirklich großartig. Als wäre Christian im tiefsten anatolischen Hinterland aufgewachsen. Chrüstiün.

Mit seinem Taschentuch wischte er sich den Schweiß ab. Die Sonne strahlte heiß hier. Zu heiß.

Der E-Bus nach Geyikli war zum Glück herrlich klimatisiert. Und Christian, der sich in öffentlichen Verkehrsmitteln noch nie wohlgefüllt hatte, betrachtete trotz aller Müdigkeit zunehmend neugieriger die Landschaft, die ockerfarben am Fenster vorüberzog. Vor allem hoffte er, bei der Station „Troja“ einen Blick auf die weltberühmten Ruinen werfen zu können, doch die Ausgrabungsstätte lag hinter mit Blättern bestäubten Hügeln verborgen.

Immerhin erspähte er am Weltkulturerbe-Parkplatz den Nachbau des Trojanischen Pferdes. Nun, vielleicht ergab sich ja in den nächsten Tagen die Gelegenheit, den Schauplatz von Homers grandiosem Epos in Ruhe zu besichtigen.

In Geyikli selbst fand Christian am dortigen Busbahnhof ziemlich schnell einen Dolmuş, einen Kleinbus, der nach Dalyan fuhr. Allerdings musste er fast 40 Minuten warten, ehe das auf allen Seiten abenteuerlich beklebte Fahrzeug mit so vielen Passagieren gefüllt war, dass der Fahrer sich bereit erklärte aufzubrechen. Dafür sprach er ein wenig Deutsch und schwärmte die ganze Zeit mit leuchtenden Augen von seiner Zeit als Möbelpacker in Wanne-Eickel: „1. FC Köln. Super! Beste Team von Welt.“

Und dann endlich, nachdem der Dolmuş mehrfach auf feldwegartigen Kleinstraßen Menschen an Höfen und Scheunen abgeliefert hatte, stand Christian auf dem offensichtlich gerade neu gestalteten Marktplatz des Fischerdörfchens Dalyan.

Wow!

Das mit schmalen Blumenrabatten umgebene Oval des überschaubaren Stadtzentrums wirkte seltsam futuristisch. Fast schon künstlich. Schillernd und gleichzeitig matt.

Natürlich. Da es deutschen und Schweizer Ingenieuren vor etwa zehn Jahren gelungen war, Fotovoltaik kostengünstig in elementare Baustoffe zu integrieren, wurden neuerdings alle Straßen, Gebäude und Dächer direkt mit Solar-Surfacing© gestaltet. Das aber verlieh diesen Örtlichkeiten ein seltsam metallenes Glitzern, das Christian van Haewen nach wie vor irritierte. Und gerade dieser Platz funkelte wie ein frisch polierter Diamant. Nun, es würde nicht mehr lange dauern, bis sich das Antlitz der Dörfer und Städte überall radikal geändert hatte. Dann würde sich die Architektur weltweit in einen einzigen Sonnenkollektor verwandelt haben.

Die filigrane Uhr in der Mitte der Anlage zeigte kurz nach fünf. Ortszeit.

Na bitte!

Blinzelnd schaute der Ankömmling sich weiter um. Die drei anderen übrig gebliebenen Fahrgäste verschwanden mit ihrem Gepäck sofort in den staubigen Seitenstraßen, der Dolmuş zog kreischend davon – und Christian blieb allein zurück.

Willkommen in der Fremde. Willkommen am Meer.

„Willkommen in Dalyan“ stand in blinkenden roten Buchstaben über der Station.

Abgesehen von einem etwa vierzehnjährigen Mädchen, das auf einer alten Mülltonne herumlümmelte, war der im Abendlicht schillernde Platz jetzt leer. Einige Palmen neigten sich andächtig über die Szenerie, und Christian stellte sich in den langen Schatten einer der Kronen, um erst einmal seine Gedanken zu sortieren.

Wie würde er Gregor in diesem Dorf wohl am schnellsten finden?

Das Mädchen legte den Kopf schräg und schaute ihn missmutig an. Es trug ein ausgefranstes Baseball-Cap auf dem Kopf, das die vielen neongrün gefärbten Haare nicht bändigen konnte, die darunter hervorquollen. Fluoreszierende Tönungen waren offensichtlich auch hier neuerdings Kult.

Langsam, sehr langsam hob das Mädchen den Po leicht an, um darunter etwas zu cool ein braunes Pappschild hervorzuziehen. Das betrachtete es kurz und drehte es schließlich zu ihm hin.

„CHRISTIAN“ stand darauf – mit rotem Edding geschrieben. Der Schriftzug blinkte rhythmisch auf. Molekularfarbe.

Erleichtert lief der Reisende zu der Halbwüchsigen und streckte ihr die Hand hin. Sie hob aber nur die Augenbrauen und sagte: „Gehen Sie da drüben die Straße hoch. Am Eingang der Ausgrabungsstätte lässt Bülent Sie rein. Und dann gehen Sie bis zum Bogen. Verstanden?“

„Nee. Was für eine Ausgrabungsstätte? Was für ein Bogen?“

Sie schaute unsäglich genervt aus. „Gehen Sie einfach.“

„Und mein Gepäck?“ Christian deutete auf den Koffer hinter sich, dessen kleines grünes Blinklicht verriet, dass er bereit war, seinem Besitzer überall hin zu folgen. Es war das neuste Modell eines „Samsonite Drive“.

„Geben Sie mir Ihren Transponder. Dann folgt er mir. Wobei ich nicht weiß, ob das mit den kleinen Rollen hier auf den Straßen überhaupt funktioniert. Wehe, dass Ding ist zu schwer. Ich habe keinen Thrill, Ihren Kram zu tragen.“

„Moment … soll ich nicht erst einmal mitkommen?“

„Wieso? Und wohin?“

„Wieso ‚Wieso‘? Ich habe eine recht anstrengende Reise hinter mir und …“

„Kann ich nichts für. Da geht’s lang.“

Christian zögerte kurz, dann drückte er dem Mädchen den Mikrochip in die Hand, der dem Mobile-Koffer signalisierte, hinter wem er herzurollen hatte. „Und wer bist du … sind Sie?“

„Egal.“ Sie sprang von der Mülltonne, deutete noch einmal in die Richtung, in die er gehen sollte, und schlenderte dann Richtung Strand. Der Koffer folgte ihr piepsend.

Nach einigen hundert Metern erreichte Christian das Kassenhäuschen einer World-Heritage-Sehenswürdigkeit, an dem ein Schild darauf hinwies, dass nach Übertreten der auf den Boden gezeichneten Induktionslinie automatisch der Eintritt in Höhe von 35 Euro von seinem Konto abgebucht wurde. Dafür bekam er unmittelbar auf seinem Smart-Phone einen Video- und Audio-Guide der Ausgrabungsstätte als App installiert.

Neben dem Häuschen stand ein stämmiger Türke und hob abwehrend die Hand: „It’s already closed für today.“

Als er Christians verdutzten Blick sah, fragte er: „Are you the friend of Gregor?“

Christian nickte.

„Okay, then it’s alright. Come in. How funny: You look a little like if you are turkish. Your face – not your clothing.“

Verwundert ging der Reisende durch den Eingang und fand sich kurz darauf in einem riesigen Feld antiker Trümmer wieder, Säulen, Mauern und Podeste, zwischen deren Steinen überall kleine Buschwindröschen wucherten. Sehr romantisch. Und fast unüberschaubar weitläufig. Die Überreste einer vergangenen Zeit.

Links neben dem Eingang standen die Grundmauern eines dorischen Tempels, rechts die Umrisse eines gewaltigen Amphitheaters. Und vor ihm öffnete sich der Blick auf eine weitläufige städtische Anlage – mit einer Agora, die einmal prachtvoll gewesen sein musste. Man konnte ahnen, wie es hier vor langer Zeit ausgesehen hatte.

Nachdem Christian etwa zwanzig Minuten durch die leeren, ausgegrabenen Ruinen gelaufen war – unter anderem durch die Reste einer weiten Marmorhalle –, sah er in der Ferne tatsächlich einen Stein-Bogen. Das Ensemble stand auf einer kleinen Anhöhe und sah von unten aus wie ein magisches Tor in eine andere Welt.

Zielstrebig ging er darauf zu. Und als er schließlich darunterstand, hatte er einen berauschenden Blick auf das Meer und die untergehende Sonne. Weite pur. So etwas unfassbar Schönes. Als öffne sich der Himmel.

„Willkommen in Alexandria. Das hier ist die Therme des Herodes Atticus, das beliebteste Fotomotiv aller deutschen Touristen … Mann, ist das schön, dich wiederzusehen, Christian. Obwohl ich dich nach deiner letzten Mail am liebsten direkt ins Weltall geschossen hätte. Wo man inzwischen, wie ich gehört habe, tatsächlich Urlaub machen kann. Sag mal, wie siehst du eigentlich aus?“

Gregor stand auf den Resten einer Mauer, die als „Nymphäum“ beschildert war, hatte die Arme wie ein antiker Rhetor ausgestreckt und strahlte über das ganze Gesicht – über ein Gesicht, das Christian sofort wieder vertraut war, obwohl die vergangenen Jahre viele Linien darin deutlich tiefer eingegraben hatten; vor allem um den Mund und die Augen. Zudem wirkte Gregor zehn Kilo leichter als damals – und hatte quasi keine Haare mehr auf dem Kopf.

Mit einer theatralischen Geste zog Christian seine Perücke herunter, riss sich den falschen Schnurrbart ab, lachte und lief dann auf seinen alten Weggefährten zu.

Lange umarmten die beiden einander inniglich.

Irgendwann löste sich Gregor, neigte den Kopf und sagte: „Jetzt mal ernsthaft, Christian: Was soll das? Du Sumpfhirn. Was machst du hier? Kannst du nicht einfach aufhören, die Menschheit zu nerven?“

Christian legte seinem Gegenüber die Hand auf den Arm. „Mal langsam. Das Gleiche könnte ich dich fragen. Was machst du hier?“

Gregor stieg auf einen Stein und deklamierte launig, wie ein versierter Schauspieler: „Hier, meine Damen und Herren, sehen Sie die Überreste einer Stadt, die einmal kurz davor war, die Hauptstadt der Welt zu werden. Ja, Kaiser Konstantin der Große plante Anfang des 4. Jahrhunderts, die Stadt Alexandria zum Mittelpunkt des Römischen Reiches zu machen. Leider entschied er sich dann anders.

Aber lassen Sie uns ein wenig in der Zeit zurückspringen: Gegründet wurde diese antike Metropole um 310 vor Christus von Antigonos, einem Feldherrn Alexanders des Großen, der sie erst einmal nach sich selbst benannte: Antigonia. Doch schon zehn Jahre später, um 300 vor Christus, wurde sie von Lysimachos, einem weiteren erfolgreichen Heerführer, übernommen und in ,Alexandria‘ unbenannt. Zu Ehren des großen Machthabers.

Und weil es schon zwei andere Alexandria im Mittelmeerraum gab, erhielt die neue Stadt den Beinamen der Region: ,Troas‘. Unter der römischen Herrschaft wurde ,Alexandria Troas‘ durch seine besonders verkehrsgünstige Lage an der Zufahrt zum Schwarzen Meer eines der bedeutendsten Handelszentren der damaligen Welt … und so weiter. Blablabla.“

Christian applaudierte kräftig und registrierte erstaunt, wie sein Klatschen von den Steinen zurückgeworfen wurde. „Och komm. Du spielst hier den Reiseführer?“

„Ja, warum denn nicht?“ Gregor sprang von der Erhöhung und deutete eine höfische Verbeugung an. „Für einen emeritierten Professor in der Endlife-Krisis ist das doch ein wirklich netter Zeitvertreib. Zwei- bis dreimal die Woche führe ich bildungswütige Gruppen durch vergangene Welten: Kulturfreaks, behämmerte Geschichtsvereine, zwangsrekrutierte Jugendliche und Kampf-Senioren. Und all diejenigen, die sich ehrlich eingestehen, dass man selbst auf dem edelsten Display in der mediterranen Sonne tagsüber nichts erkennen kann. Sodass der offizielle Video-Guide völlig sinnlos ist.“

Christian schmunzelte. „Dann bist du ja ein richtiger Aussteiger. Ich meine: Häuschen am Meer. Hobby-Reiseleiter an antiken Stätten. Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Piña Colada …“

Der Professor hob abwehrend die Hände. „Na ja, also … das ist eine lange Geschichte. Richtig lang. Und sie ist keineswegs so abgefahren, wie du vielleicht denkst. Ach … passt heute nicht … vielleicht erzähle ich sie ein andermal.

Aber jetzt zu dir. Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen und in die Türkei fliegen. Du, der große Reformator. Der geistliche Retter des Abend- und des Morgenlandes. Das Luther-Update 2.0.“

Christian stellte sich mitten unter den Bogen und zuckte mit den Achseln. „Doch, ich kann. Das ist eines meiner Privilegien. Weißt du, ich bin für die LK heute eher so eine Art schillernder Repräsentant. Hübsch, aber entbehrlich. Ein historisches Aushängeschild. Ein nostalgisches Faktotum. Als die sozialen Unruhen in Deutschland anfingen, die Organisation der LK immer größer wurde und die Wirtschaft versuchte, massiven Einfluss auf uns zu nehmen, da wurde mir – aber auch anderen – klar, dass ich vielleicht ein Glaubensstifter bin, im wahrsten Sinne des Wortes ein Apostel, aber eben kein Politiker. Und weil ich keine Lust mehr hatte, andauernd zu kämpfen, andauernd im Kreuzfeuer der Medien zu stehen, wurde ich nach und nach … wie sagt man so schön: ,von der Verantwortung entbunden‘. War wohl auch besser so.“

„Das steht im Netz aber ganz anders.“ Gregor sah ihn aufmerksam und ein wenig lauernd an.

„Klar. Wir haben schließlich eine äußerst professionelle Marketing-Abteilung. Obwohl … natürlich gilt weiterhin: Wenn ich als Gründer der LK in der Öffentlichkeit etwas Richtungsweisendes sage, hat das schon gewaltigen Einfluss.“

Er straffte sich. „Und genau darum bin ich hier. Verstehst du: Meine Rede zu diesem Jubiläum soll, nein, sie muss ein Meilenstein werden, ein zukunftsweisender Appell an unsere Kirche, ein großer Aufruf, den heiteren, befreienden Geist der Anfangszeit in unserer Bewegung wiederzuentdecken.“

Er senkte den Kopf. Langsam. Zögerlich. Dann sagte er leise: „Es kann aber auch sein, dass ich einfach alt werde. Alt und lebenssatt. Ja, ich hab vieles satt. Sollte ich da lieber sagen: lebensmüde. Weil ich mich verzweifelt an eine Zeit klammere, die längst vergangen ist, ja, es könnte sein, dass ich mich nach etwas zurücksehne, was es so möglicherweise niemals mehr geben wird. Da bin ich selbst noch völlig desorientiert.

Also, um es kurz zu machen: Ich musste einfach mal den Kopf freikriegen. Und mit jemandem reden, der nicht zum System gehört. Tja, und da kamst du mir in den Sinn. Voilà, hier bin ich.“

Gregor setzte sich auf das herabgestürzte Kapitell einer Säule. Sein Lächeln verschwand in der Abendsonne. „Christian, ich mochte dich immer sehr, aber eines muss ich dir mal ehrlich sagen: Du … also, ich sage, wie ich es empfinde … du bist ein egoistischer Kotzbrocken … du benutzt Menschen für deine Zwecke. Hemmungslos. Das hast du damals getan, und das machst du auch jetzt. Besonders … na, sagen wir ‚geistlich‘ finde ich das nicht gerade.“

Der Besucher runzelte leicht die Stirn. Mit professionellem Charme. „Was heißt ,benutzen‘? Das klingt ziemlich hart. Du, lieber Gregor, hast nun mal die unbestrittene Fähigkeit, mir und anderen beim Sortieren unserer Gedanken zu helfen.“

Christian zog eine schelmische Grimasse. „Sieh es mal so: Ich möchte dich nur motivieren, deine Stärken zu nutzen …“

Gregor unterbrach ihn: „Hör auf. Bitte. Ich kann solche schleimigen Phrasen nicht mehr hören. Du hast die religiöse Welt auf den Kopf gestellt. Bravo – und jetzt … jetzt weißt du nicht mehr weiter. Auch das kann passieren. Und wenn du einen Rat von mir willst, gerne. Hier ist er: Du solltest mit deinem Herrgott ins Gespräch kommen. Nicht mit einem alten verhärmten Idealisten, dessen Träume brüchig geworden sind. So brüchig wie diese mühsam ausgegrabenen Ruinen hier. In mir rumoren seit Langem mehr Fragen als Antworten. Viel mehr Fragen. Und deswegen kann ich dir auch nicht helfen. Kapiert?“

Christian schüttelte sacht den Kopf. Er schwieg einen Moment, nickte für sich und sagte dann: „Kann ich gut nachvollziehen. Trotzdem. So ganz verstehen tue ich das alles nicht. Ich meine: Gregor, so kenne ich dich überhaupt nicht. Wo ist er denn hin, der forsche Forscher, der damals die Uni keck aufgemischt hat? Der unermüdliche Denker? Der Idealist mit dem weiten Horizont? Der innovative Wissenschaftler, der aus seinen praxisnahen theologischen Theorien so gerne eine wegweisende Realität machen wollte?“

Er sah Gregor erwartungsvoll an. Daraufhin begann der Professor plötzlich zu lachen. „Christian van Haewen, du bist und bleibst unverbesserlich. Du spielst noch immer den unermüdlichen Motivator. Sogar dann, wenn du selbst nicht weiterweißt und völlig am Ende bist. Kein Wunder, dass du die Menschen neu für den Glauben gewonnen hast.“

Seine Augen fingen mit einem Mal an zu leuchten. „Na, vielleicht ist das hier ja tatsächlich kein schlechter Ort für deine verzweifelte Suche.“ Er sprang auf. „So, mein Lieber. Jetzt schau bitte mal auf die Ebene vor uns, und sag mir, was du siehst.“

Christian drehte sich um und ließ seinen Blick schweifen. „Keine Ahnung. Was meinst du? Ich sehe eine Ausgrabungsstätte. Ruinen. Das alte Alexandria, hast du doch eben gesagt …“

Sein Gegenüber hob die Augenbrauen. „Mann, bist du oberflächlich geworden. Lass doch mal ein bisschen deine viel gepriesene Fantasie spielen. Außerdem: Was ist mit deiner Bibelkenntnis? Dem profunden Wissen in Kirchengeschichte? War das nicht dein Lieblingsfach?“

Er deutete mit dem Arm ins Tal. „Schau genau hin. Alexandria. Alexandria Troas. Troas. Na, dämmert es? Genau! Wird auch langsam Zeit. Voilà: In einem dieser Häuser hier vor uns lag vor langer Zeit … vor 2000 Jahren … ein Reisender – und dieser Reisende war genauso ratlos wie du … und wie ich … wie wir beide heute.“

Ein schiefes Schmunzeln trat auf sein Gesicht. „Sag mal: Findest du das nicht erhebend, dass du gerade auf einem Stein stehst, auf dem höchst wahrscheinlich auch schon Paulus gestanden hat? Damals vor zwei Jahrtausenden.“

Christian sah verblüfft zu Boden. „Echt?“

Gregor zog ihn am Arm Richtung Stadtzentrum. Dabei sprach er aufgeregt weiter. „Stell dir vor: Hier oder hier … in diesem Haus oder in jenem da … hier lag vor 2000 Jahren der Apostel Paulus auf einem Strohsack und war verzweifelt. Ratlos. Ziellos. Enttäuscht. Weil er, der erfolgreichste Gemeindegründer seiner Zeit, ja, wahrscheinlich der Weltgeschichte, weil er, der kluge Verbreiter des Christentums, nicht mehr weiterwusste. Er befand sich gerade auf seiner zweiten Missionsreise und plötzlich glückte ihm gar nichts mehr. Überhaupt nichts. Krise pur. Sackgasse. Kommt dir das bekannt vor? Mir schon.“

Er beschrieb einen weiten Kreis mit seinem Arm, als wolle er die ganze Welt in seine Gedanken einbeziehen. „Jedenfalls: All die schönen Ideale, die Paulus von der Mission der umliegenden Regionen hatte, zerbrechen mit einem Mal, und seine früher so erfolgreichen Konzepte fruchten nicht mehr. Selbst hier nach Alexandria Troas ist Paulus nicht freiwillig gekommen. Eigentlich hat er nach Bithynien reisen und vorher in der Provinz Asia predigen wollen, aber wie heißt es so schön in der Bibel: ,Der Geist Jesu erlaubte es nicht.‘

Wir wissen nicht genau, was in diesen Tagen passiert ist, aber offensichtlich bricht für den Apostel alles zusammen: Keiner hört ihm mehr zu, seine Botschaft wird verlacht, und wahrscheinlich wird er sogar bedroht. Oder schlicht vertrieben. Das Schlimmste, was einem leidenschaftlichen Missionar passieren kann.

Wahnsinn. Und vor allem: Gott selbst hat – so empfindet Paulus es – die Bremse gezogen. Hier geht es nicht weiter. Finito. Aus. Ende. Ziemlich dumme Situation.

Und jetzt stell dir vor: Da liegt ein zutiefst frustrierter Apostel auf seiner Bettstatt, einer, der so gerne an seine früheren Erfolge anknüpfen will, ein religiöser Popstar mit einem massiven Karriereknick, der nur noch eine Pleite nach der anderen erlebt. Na, kennst du das Gefühl?“

Gregor kletterte auf eine lang gestreckte Mauer hinauf, sodass er jetzt rund einen Meter über Christian lief. Sein Gesicht leuchtete in der Sonne. Oder von innen heraus.

Laut deklamierte er: „Und dann, mitten in der Nacht, hat Paulus eine Vision, wie es in der Apostelgeschichte so markant heißt. Der Apostel sieht einen mazedonischen Mann vor sich, der ihm zuruft: ,Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns.‘“

Der Professor legte die Hand an den Mund und rief mit theatralischer Stimme über die leere Ausgrabungsstätte: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“

Dann lief er weiter. Und seine Worte eilten mit ihm durch die Landschaft. „Plötzlich begreift Paulus: Er ist gar nicht gescheitert, er hat nur zu klein gedacht. Viel zu klein. Dass Gott ihm bei seiner Tätigkeit in Mysien einen Dämpfer verpasst hat, dafür gibt es einen guten Grund, ja, mehr noch: Da geht es um eine neue weltgeschichtliche Perspektive. Warum? Weil Mazedonien damals für alle Menschen des Ostens das Symbol der Grenze nach Europa war. Der Übergang zu einem neuen Kontinent. Zu einer neuen Welt. Zu einer neuen Ära der Verkündigung.

Sprich: Gott will, dass Paulus sich nicht länger in Kleinasien aufhält, sondern direkt anfängt, den europäischen Kontinent zu missionieren. Er soll anfangen, in größeren Dimensionen zu denken. Was er ja auch tut. Und das alles, dieser Wendepunkt der Weltgeschichte, der spirituelle Auslöser für den entscheidenden Sprung des Glaubens nach Europa, ist hier in diesen Mauern passiert, hier in Alexandria Troas. In einem dieser Häuser. Irre, oder?“

Gregor streckte beim Laufen kurz beide Arme in die Luft. „Tja, und jetzt stecken an der gleichen Stelle – 2000 Jahre später – wieder zwei irritierte Männer in diesen Gassen fest, zwei alt gewordene Kerle, die Gott und seine verwirrenden Aktionen einfach nicht mehr verstehen: ‚Was macht er da mit uns, der Deus abscondidus, der verborgene Gott?‘ Und auch wir warten offensichtlich beide sorgenvoll darauf, dass er uns eine … ja, dass er uns eine Vision schickt. Na, prost Mahlzeit. Ich jedenfalls warte schon fünf Jahre auf ein Zeichen. Vergeblich.“

Der Professor rannte inzwischen derart schnell, dass Christian kaum mithalten konnte. Trotzdem sprach Gregor erregt weiter. „Vielleicht ahnst du, warum ich gerade hier mein Altenteil errichtet habe. Weil es keine Zufälle gibt. Und weil ich naiver alter Sack immer noch hoffe, dass auch ich eines Tages so eine eindeutige Botschaft bekomme wie Paulus damals. Weil ich andauernd das Gefühl habe, der Geist Jesu lässt irgendwas in meinem Leben nicht zu – ohne zu wissen, was er stattdessen möchte.“

Kurz darauf war Gregor so weit voraus, dass Christian ihn zwischen den Steinfeldern aus den Augen verlor. Unsicher rannte er weiter in die Richtung, in der sein ehemaliger Lehrer verschwunden war.

Und dann, nach langen Minuten, sah er ihn am Horizont. Wie eine antike Statue. Einsam aufs Meer hinausstarrend. Eingebettet in die Vergangenheit.

Christian war völlig außer Atem, als er seinen Freund erreichte. Er stützte seine Hände auf die Knie. Keuchend sagte er: „Fünf Jahre? Seit fünf Jahren wartest … wartest du hier … darauf … dass Gott dir eine Vision … schickt … Mann. Du hast echt einen Schlag.“

Gregor deutete auf einen Salzsee vor ihnen, in den regelmäßig Wasser aus dem Meer schwappte. „Schau dir das an, Christian. Alexandria Troas war damals eine unglaublich reiche Stadt. Wegen der Salzquellen von Larissa, wegen einiger ergiebiger Bergwerke, vor allem aber wegen des regen Handels und der damit verbundenen Hafengebühren. Vor uns liegt der Rest der alten Hafenbucht. Und hier, wo wir jetzt stehen, an diesem Kai standen vor 2000 Jahren Paulus und seine Gefährten Silas, Timotheus und Lukas. Und sie wussten: Da draußen, da ist unsere Zukunft. Packen wir sie an. Begreifst du: Auf dieses beglückende Gefühl warte ich. Ich möchte hier stehen und wieder wissen, wo ich hinsoll.“

Lange schauten die beiden Männer hinaus aufs Meer. Irgendwann zog Christian seine Jacke aus und setzte sich auf die alte Kaimauer. Er betrachtete nachdenklich den Boden.

Leise sagte der Reformator: „Stell dir vor, diesen Kieselstein hier, den hat vielleicht schon Paulus vor sich her gekickt. Könnte zumindest sein. Gefällt mir, die Vorstellung. Sag mal …“

Er verzog neckisch die Mundwinkel. „… hast du in den nächsten Tagen was vor?“

„Wieso?“

„Ach, weißt du … ich dachte nur gerade: Wir beide waren doch ein echt gutes Team. Damals. Erinnerst du dich, wie wir in Heidelberg unsere Projekte manchmal beschrieben haben: ‚Du hast gedacht – ich hab gemacht.‘ Wir waren: der ‚Denker‘ und der ‚Macher‘.

Sieh mal, ich käme, nur so als Beispiel, niemals auf die abstruse Idee, fünf Jahre zwischen irgendwelchen zerfallenen Ruinen darauf zu warten, dass mir der Himmel ein Zeichen schickt. Ich bin da ganz anders. Ich bin ein Typ, der sich aufmacht, der ein Zeichen sucht, wenn er eines braucht. Sonst wäre ich ja wohl auch nicht hier. Na, egal.

Ich hab nur gerade überlegt, beziehungsweise mir kam der Gedanke, man kann … ja, man kann es auch eine ‚kleine Vision‘ nennen … wenn wir hier schon an dem Kai sitzen, von dem aus Paulus damals zu neuen Ufern aufgebrochen ist, dann lass es uns genauso machen.“

Er hob den Kopf. „Sag mal, kennst du jemanden, der ein Boot hat? Also hier, bei euch.“

Gregor starrte weiter in den Sonnenuntergang. „Was redest du da eigentlich? Ich meine: Worauf willst du hinaus? Kommt jetzt wieder einer deiner absurden Einfälle?“

Christian unterbrach ihn: „Was denn nun? Kennst du jemanden oder nicht?“

„Klar. Eine Nachbarin von mir, Nilgül, hat eine kleine Yacht. Aber ich kann dir nicht folgen. Was meinst du?“

Der erregte Gast wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Pass auf! Du und ich, wir beide, wir brechen morgen früh auf. Zusammen. Wir fahren mit dem Boot rüber nach Neapolis – so wie Paulus und seine Gefährten damals. Die hatten auch keine Ahnung, was sie erwartet. Aber sie wussten, dass es richtig ist, sich auf den Weg zu machen. Wer neue Ufer erreichen will, muss den Hafen verlassen.“

Der Professor schaute ihn über die Schulter erstaunt an. Mit scharfer Stimme sagte er: „Du spinnst wirklich. Und zwar total. Du kannst doch nicht einfach aus heiterem Himmel hier auftauchen – so mir nichts, dir nichts – und über mich verfügen. Weißt du: Ich habe keine Lust auf deine spontanen Spinnereieren … ich habe ein eigenes Leben …“

Christian malte mit dem Finger vor sich im Sand. „Ja, klasse. Ein Leben, das darin besteht, dass du dich selbst bemitleidest und vollgefressene Touris durch recycelte Trümmer führst. Mein Lieber, dafür hast du den Leipniz-Preis bestimmt nicht gewonnen. Und deine beiden Doktorarbeiten hättest du dafür auch nicht schreiben müssen. Soll ich dir was sagen: Warten ist manchmal nichts anderes als Aufgeben …“

Gregor presste die Worte durch die Lippen. „Ach, halt den Mund. Wenn du aus Deutschland gekommen bist, um mich zu beleidigen, dann kannst du gleich wieder –“

„Entschuldige.“ Christian hob beschwichtigend die Hand. „Bitte entschuldige. Aber … also: Stell dir doch mal ganz kurz vor, ich wäre …“

Er druckste. Schelmisch. „Ja, stell dir bitte vor, ich wäre das Zeichen. Dieses Zeichen, auf das du seit fünf Jahren wartest. Das Zeichen, das dich aufrüttelt und mitreißt. Man kann ja nie wissen. Vielleicht bin ich’s. Dein Zeichen. Schau mich an.“

Er grinste über beide Ohren, mit einer so grotesken Grimasse, dass selbst Gregor lachen musste.

„Du bist kein Zeichen, du bist ein Depp.“

„Na und? Was ist, wenn Gott dir einen Deppen schickt, um dir den richtigen Weg zu weisen? Die Wege des Herrn sind nun einmal unergründlich … ja, früher glaubte man, dass durch die geistlich Armen der Herr besonders intensiv redet … Du musst zumindest zugeben, dass es sein könnte …“

Sein Gegenüber ließ demonstrativ die Schultern sinken. Als Zeichen der Kapitulation. Kopfschüttelnd lief er am ehemaligen Kai auf und ab.

„Also gut. Stellen wir uns mal vor, wir machen das. Wir fahren auf den Spuren des Apostels nach Neapolis. Was erhoffst du dir davon?“

Der Besucher schnipste den Paulus-Kiesel, mit dem er die ganze Zeit gespielt hatte, ins Wasser. „Keine Ahnung. Was soll ich sagen? Letztlich geht es darum, dass ich wie Paulus – und wie du offensichtlich auch – eine neue Vision suche. Eine größere Dimension für mich, für die Kirche, ja, für meine Kirche – ich suche die Zukunftsperspektive, die meine Rede beim Festakt erfüllen könnte. Und vielleicht finde ich sie, wenn ich mich auf diesen Weg mache. Komm schon, einen Versuch ist es wert.“

Gregor trat einen Schritt zurück und wischte eine Mücke zur Seite. „Langsam, langsam. Dazu brauchst du mich nicht. Das kannst du auch alleine.“

Da erhob sich Christian. Dann legte er Gregor seinen Arm um die Schultern und schaute mit ihm ins Abendrot. „Nein, das kann ich nicht. Ich brauche jemanden … nein, ich brauche dich, du musst mitkommen, damit ich dir die Geschichte der LK erzählen kann. Die wahre Geschichte – nicht das Zeug, das in den Geschichtsbüchern landet.

Verstehst du: Ich brauche einen, der mir erklären kann, wann und wo das Ganze aus dem Ruder gelaufen ist, wieso dieser grandiose Beginn so enden konnte. Und ob es nun eine Zukunft für meine Bewegung gibt oder nicht. Du kannst das. Das weiß ich. Bitte!“

Er stockte kurz, dann murmelte er: „Vor allem hättest du auch den Schneid, mir ins Gesicht zu sagen, wenn es an mir liegt. Was ich nicht ausschließe. Gewiss nicht. Also: Dass ich einfach den Anschluss verloren habe. Dass die Geschichte an mir vorübergezogen ist.

Los, komm schon, Gregor, begleite mich. Da gibt es einfach zu viele Dinge, die ich alleine nicht verstehe. Ja? Um der alten Zeiten willen. Und um der neuen Zeiten willen. Auch um deinetwillen. Nur ein paar Tage.“

Am nächsten Morgen, um kurz nach acht, stach die 12-Meter-Jacht „Mutluluk“ in See. Richtung Neapolis. Kurs West-Nordwest. Am Bug zwei Männer. Der eine erzählte, der andere hörte zu.

Wir fuhren nun von Troas ab …

Apostelgeschichte 16,11

Montag, 15. September 2042

Manchmal glaube ich, dass man verliebt sein muss, wenn man die Welt aus den Angeln heben will. Verliebt in das Leben. In die Zukunft. In eine Überzeugung. Oder einfach in eine Frau. So wie ich, als ich anfing, von einer veränderten Kirche zu träumen.

Es mag seltsam anmuten, aber ich erinnere mich noch an jedes Detail: Es war am 7. Juni 2015. Ja, an einem Sonntag. Wir saßen auf dem Rückweg vom Kirchentag in Stuttgart im ICE, und ich streichelte Friederikes Knie. So, als würde ich es nie wieder loslassen.

Irgendwann in der vergangenen Nacht waren unsere Schlafsäcke im Gemeinschaftsquartier auf wundersame Weise immer näher aneinandergerückt. Und plötzlich hatte ihre Hand auf meiner gelegen.

Oh!

Ein Versehen?

Nein, kein Versehen!

Sehr sanft.

Eine Frage.

Und mein leichtes, vorsichtiges Streicheln war die Antwort gewesen. Eine Antwort, die sie verstand.

Und plötzlich, ich weiß nicht mehr, wie, hatten sich unsere Lippen gefunden. Im stickigen Klassenraum eines Stuttgarter Vorort-Gymnasiums. Im penetranten Geruch von alten Socken, feuchter Kreide und billigen Putzmitteln. So, als hätten unsere Münder nur darauf gewartet, all die Jahre.

Lautlos – wir wollten die anderen nicht wecken – hatten wir uns mit weichen Berührungen und sehnsüchtigen Zungen von unseren Gefühlen erzählt. Von überschäumenden Erwartungen und nicht weniger großen Unsicherheiten, von Idealen und Zweifeln, von abgrundtiefen Ängsten und der verworrenen Suche nach uns selbst – und von der drückenden Einsamkeit, die wir gerade abstreiften wie eine Schlange ihre Haut.

Dann natürlich am Morgen: die großen Augen, die kleinen, gar nicht unauffälligen Tuscheleien und die unbeholfenen Kommentare der anderen, als wir Hand in Hand beim Frühstück in der Turnhalle erschienen waren:

„O, wollt ihr das Projekt Nächstenliebe doch erst mal zu zweit angehen? Quasi als spirituelles Test-Team?“

„Natürlich, war doch klar: Was sich liebt, das neckt sich. Darum auch eure vielen Sticheleien in der Straßenbahn.“

„Ich hab ja gleich geahnt, dass da was zwischen euch läuft. Chrissy hat schon die ganze Zeit so glubschig geguckt.“

Hatte ich nicht.

Jedenfalls nicht bewusst. Natürlich war mir Friederike aufgefallen, als sie in Frankfurt mit am Bahnhof gestanden hatte. Mit kurzen Haaren, kurzem Rock und langen Ohrringen. Als Ersatz für die ziemlich biedere Jessika, eine Anthropologie-Studentin, die kurzfristig krank geworden war. Oder einfach doch keine Lust hatte, mit uns Chaoten von der Studentengemeinde das ganze Wochenende in der schwäbischen Metropole zu verbringen. Jemand hatte außerdem angedeutet, Jessica hätte einen neuen Freund.

In den drei Tagen, die wir als Gruppe durch Stuttgart gezogen waren, hatte sich dann eine erstaunliche Vertrautheit zwischen Rike, wie sie bald von allen genannt wurde, und mir eingestellt. Vielleicht, weil wir einander andauernd zum Lachen brachten. Weil wir einander inspirierten. Ohne darüber nachzudenken. Wir machten uns gemeinsam das Leben heiter. Ja, wir taten einander gut. Irgendwie. Immer mehr.

Wir hatten bei jeder Gelegenheit dem anderen schnelle Sprüche wie Bälle zugeworfen und gemeinsam die Rolle der Gruppenclowns übernommen. Eine ungezügelte Spielerei. Beim Essen. Bei den Veranstaltungen. Beim Chillen in der Sonne auf dem Messegelände. Beim ungeduldigen Warten in den Schlangen vor den Toiletten. Und es hatte unfassbar Spaß gemacht. Uns – und den anderen.

Trotzdem: Hätte mich jemand am Abend gefragt, ob ich in Friederike verliebt bin, dann hätte ich wahrscheinlich empört geguckt, irgendwas Flapsiges erwidert und mich elegant aus der Affäre gezogen. Außerdem war ich überzeugt gewesen, dass Matze ein Auge auf die stupsnasige Studentin geworfen hatte. Und weil Matze mein Freund war, hatte ich ihm auf keinen Fall dazwischenfunken wollen.

Na, vielleicht hatte ich ja gerade deshalb so ungezwungen mit Friederike herumgeflachst, weil das Thema „Beziehung“ unserem Miteinander nicht die Leichtigkeit geraubt hatte. Noch nicht. Das war alles so wunderbar unverbindlich gewesen. So leicht.

Und trotzdem war diese zärtliche Berührung in der Nacht nicht überraschend gekommen.

Doch! Sie war überraschend gekommen, aber in mir hatte sie eine Tür aufgestoßen, die ich allein wohl einfach angelehnt gelassen hätte. Und nun brach mein Liebeshunger aus. Oder so ähnlich.

Wie dem auch sei; ist nicht wirklich wichtig.

Jedenfalls saßen wir auf der Rückfahrt turtelnd nebeneinander und genossen unsere Zweisamkeit.

Und irgendwann in der Gegend von Mannheim reckte Matze die Hand. Räusperte sich demonstrativ, als wolle er eine wohl vorbereitete Rede halten, und sagte dann so laut, dass der halbe Zug mithören musste: „Sagt mal, seid ihr nach Kirchentagen eigentlich auch immer so genervt wie ich?“

Einige nickten verständnisvoll. Die Übrigen schauten ihn fragend an.

„Ja, ist doch wahr. Ich meine: Da feiert man vier Tage lang eine ziemlich steile Party – mit was weiß ich allem: Rockmusik, Pop, Jazz, Kabarett, Musical, Gospel, richtig viel guter Laune, intensiven Diskussionen, relevanten Themen, flippigen Leuten, einem starken Wir-Gefühl und vor allem mit fescher Gemeinschaft. Wie man an unserem jungen Glück hier ja sieht.“

Friederike und ich küssten uns demonstrativ – während einige heftig applaudierten.

Matze sprach weiter und erhob sich dazu, weil ein Teil unserer Gruppe am nächsten Tisch saß. „Also, Kirchentag, das ist irgendwie anders. Finde ich. Bei allem, was man daran kritisch sehen kann. Es gilt auf jeden Fall: Kirchentag, das ist … wie soll ich’s sagen … na, vielfältig, ja, eine absolute Vielfalt: bunt, lebendig, fröhlich, engagiert und kritisch. Eine Riesenbandbreite an Spiritualität. Gut, ich muss das nicht alles mögen, aber ich kann es zumindest miterleben und mich von den unterschiedlichen Facetten anregen lassen.“