3 Rotlicht Krimis - Martin Barkawitz - E-Book

3 Rotlicht Krimis E-Book

Martin Barkawitz

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Der Inhalt dieses E-Books entspricht ca. 400 TaschenbuchseitenEs enthält folgende Romane:- Reeperbahn Blues- Raubhure- MessermädchenDer AutorMartin Barkawitz schreibt seit 1997 unter verschiedenen Pseudonymen überwiegend in den Genres Krimi, Thriller, Romantik, Horror, Western und Steam Punk.  Er gehörte u.a. zum Jerry Cotton Team. Von ihm sind fast dreihundert Heftromane, Taschenbücher und E-Books erschienen.Aktuelle Informationen, ein Gratis-E-Book und einen Newsletter gibt es auf der Homepage: Autor-Martin-Barkawitz.de

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Martin Barkawitz

3 Rotlicht Krimis

Reeperbahn Blues, Raubhure, Messermädchen

Elaria81371 München

Reeperbahn Blues - 1

 

Ein Mord gehörte zweifellos nicht zum Erlebnisprogramm der geführten Bustouristiktour »St. Pauli bei Nacht«. Und doch erlebten die Teilnehmer dieses »Bummels über die sündigste Meile der Welt« schon nach weniger als einer halben Stunde ein solches Gewaltverbrechen mit.

Es war früher Abend. Der bunte Neonhimmel über dem Amüsierviertel erstrahlte in seiner allnächtlichen Pracht. Der doppelstöckige Reisebus fuhr langsam die Reeperbahn hinunter Richtung Millerntor. Aus den Lautsprechern drang die dunkle und wohltönende Stimme des Stadtführers.

»Auf der linken Seite sehen Sie nun die Einmündung zur Großen Freiheit. Diese Straße hat durch einen Film mit Hans Albers große Berühmtheit erlangt. Nach dem bekannten Volksschauspieler ist übrigens auch ein Platz hier auf St. Pauli benannt. In der Großen Freiheit findet man damals wie heute unzählige Amüsierbetriebe mit Showprogramm. Und auch wir werden später am Abend eine echte Striptease ...«

Der Mann am Mikrofon unterbrach sich selbst. Und das aus gutem Grund, wie die meisten Tourteilnehmer nun beobachten konnten.

Der Bus hatte seine Geschwindigkeit verringert, um im Radfahrertempo an der Großen Freiheit vorbeizufahren. In diesem Moment wurde er von einem Taxi überholt und ausgebremst. Der Busfahrer stoppte, hieb wütend auf seine Hupe.

Doch die Aufmerksamkeit der Taxi-Insassen galt überhaupt nicht dem doppelstöckigen Reisebus. Ein junger Mann in einem modischen Lederblouson kam gerade von der Großen Freiheit herüber, wollte die Reeperbahn überqueren.

Da fielen zwei Schüsse!

Der Fußgänger brach blutüberströmt zusammen. Das Taxi beschleunigte mit radierenden Reifen. Der Busfahrer schaffte es geistesgegenwärtig, sich das Kennzeichen zu notieren. Jede Lücke im Verkehr nutzend raste das Taxi Richtung Millerntor, bog mit ausbrechendem Heck in die Hein-Hoyer-Straße ein und war einstweilen verschwunden.

Der Bus stand immer noch.

»Machen Sie die Tür auf!«, rief einer der Passagiere. »Ich bin Arzt!«

Der Allgemeinmediziner Dr. Arnold Müller aus Reutlingen wollte eigentlich nur zusammen mit seiner Frau ein verlängertes Wochenende in Hamburg einlegen. Mit Musicalbesuch, Hafenrundfahrt und der St. Pauli-Tour. Doch nun sprang er aus dem Bus, um sich des Opfers anzunehmen.

Es war vergeblich. Dr. Müller konnte nur noch den Tod des jungen Mannes feststellen. Eine Kugel hatte ihn in die Brust, die andere in den Kopf getroffen.

Innerhalb von vier Minuten war die Polizei am Tatort und sperrte ab, um die Schaulustigen zurückzuhalten. Der Busfahrer nannte den Beamten das amtliche Kennzeichen des Taxis. Wie sich herausstellte, war der Mercedes-Benz wenige Stunden zuvor in einem Taxibetrieb in Barmbek gestohlen worden.

Eine Fahndung wurde sofort ausgelöst. Zweiundzwanzig Minuten nach den tödlichen Schüssen wurde das Taxi gefunden. Es stand auf dem Gehweg vor dem Museum für Hamburgische Geschichte und war leer.

2

Die Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord der Kripo Hamburg hatte in dieser Nacht Tatortdienst. Sie kam vom Polizeipräsidium in Alsterdorf und brauchte daher fast eine halbe Stunde, bis sie an der Reeperbahn angelangt war.

Heike stieg aus dem zivilen Dienst-Audi, den sie für die Fahrt benutzt hatte. Sie fuhr sich durch ihre blonde Kurzhaarfrisur. Dann bückte sie sich unter dem Absperrungsband hindurch, wobei sie ein paar Neugierige zur Seite drängte.

Die Schutzpolizisten erkannten sie sofort, obwohl sie ihren Dienstausweis nicht vorzeigte.

»Sönkes Tochter kommt!«, raunte einer der blau uniformierten Beamten einem seiner Kollegen zu. Obwohl er halblaut sprach, hatte Heike seine Worte wohl gehört.

Sie seufzte. Für viele Hamburger Polizisten würde sie immer nur »Sönkes Tochter« bleiben. Hier auf St. Pauli war es besonders extrem. Denn ihr Vater, die Hamburger Polizei-Legende Sönke Stein, war vor seiner Pensionierung Dienststellenleiter des 15. Polizeikommissariats gewesen. Weltbekannt war diese Polizeistation unter ihrem Namen »Davidwache«. Hier wurden jede Nacht mehr Gewalttaten zu Protokoll genommen als auf allen anderen Hamburger Revieren zusammen genommen. Der Kiez war ein hartes Pflaster und würde es wohl auch immer bleiben.

Heike ging auf einen Obermeister zu, der unmittelbar neben der Leiche stand. Er war ein sehniger, durchtrainierter Beamter Anfang dreißig und hieß Andreas Behn.

»Hallo, Andi. Habt ihr Tatzeugen?«

»Jede Menge, Heike. Praktisch einen ganzen Bus voll. Außerdem noch ein paar Passanten, die bei der Tat in unmittelbarer Nähe waren. Drei von ihnen haben einen Schock erlitten und mussten ins Krankenhaus.«

Andreas Behn deutete mit einer Kinnbewegung auf einen blau-silbrigen Polizei-Bulli, in dem zwei Kollegen die Personalien der Zeugen aufnahmen. Leichter Nieselregen setzte unvermittelt ein. Heike kehrte schnell zu ihrem Dienstwagen zurück und nahm die blaue Einsatzjacke mit dem in weißen Blockbuchstaben gesetzten Wort POLIZEI heraus. Sie zog das Nylonteil über ihren anthrazitfarbenen Nadelstreifen-Hosenanzug. Sehr kleidsam war die Einsatzjacke zwar nicht, schützte aber ganz gut vor Regen.

Als sie zum Tatort zurückkehrte, war auch ein Arzt vom gerichtsmedizinischen Institut eingetroffen. Er redete mit einem Zeugen.

»Dieser Herr ist ebenfalls Mediziner und war zufällig in dem Touristenbus, als die Schüsse fielen«, sagte der Obermeister zu Heike. Diese bedankte sich mit einem Lächeln und ging auf die beiden Ärzte zu.

»Ich bin Hauptkommissarin Stein, Kripo Hamburg. Wie ich höre, sind Sie Mediziner und haben das Opfer gleich nach der Tat untersucht?«

»Ja, ich bin Allgemeinmediziner.« Dr. Müller wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es an diesem Frühlingsabend nicht besonders warm war in Norddeutschland. »Der Tod muss sofort eingetreten sein. Das kann ich auch ohne Laboruntersuchung sagen. Mein Gott, wir wollten uns nur einen lustigen Abend machen, meine Frau und ich ... und nun so etwas! Kommt ... das öfter hier vor?«

»Öfter, als uns lieb ist«, gab Heike zurück. Sie suchte den Blick des Gerichtsmediziners.

»Wir müssen natürlich die vorschriftsmäßige Obduktion vornehmen«, sagte dieser. »Aber ansonsten kann ich nur bestätigen, was der allgemeinmedizinische Kollege schon festgestellt hat. Der Tod wurde durch die Kugel in die Brust verursacht. Die Entfernung zwischen Täter und Opfer lässt sich schwer einschätzen. Zu groß kann sie nicht gewesen sein.«

»Das wird die kriminaltechnische Untersuchung ergeben«, meinte Heike. »Was wissen wir über das Opfer?«

Obermeister Behn hatte die Frage gehört.

»Das Opfer ist auf St. Pauli bekannt wie ein bunter Hund. Er hieß Karl Meier, wurde aber von allen nur Charly gerufen. Auf der Davidwache haben wir eine Akte von ihm, die ist fast so dick wie der erste Band vom Hamburger Telefonbuch.«

»Kleinkrimineller?«

»Du sagst es, Heike. Charly hat alles gemacht, was irgendwie illegal war und schnelles Geld bringen konnte. Ich nehme an, dass wir ihn bei vielen dunklen Geschäften gar nicht packen konnten – leider. Aber er hat auch so genügend Verurteilungen und Haftstrafen hinter sich. Mit Bewährung, ohne Bewährung – alles, was du dir vorstellen kannst.«

»Wenn du wüsstest, was ich mir alles vorstellen kann«, witzelte Heike düster. Sie spürte jetzt schon, dass es ein schwieriger Fall werden würde. Die meisten Leute auf St. Pauli waren nicht gesprächiger als Austern, wenn ein Krimineller ums Leben kam. Niemand wollte sich mit den Kerlen anlegen, die ihn auf dem Gewissen hatten. Das waren nämlich in aller Regel ebenfalls Verbrecher.

Der Stadtteil St. Pauli war immer schon ein Hort für Ausgestoßene und Randgruppen gewesen. Als sich das Viertel noch außerhalb der Hamburger Stadtmauern befand, wurden Handwerker, die schmutzigen oder übel riechenden Tätigkeiten nachgingen, gern von der Obrigkeit nach St. Pauli verbannt. Ähnliches galt für Prostituierte, die das Straßenbild der sauberen Bürgerstadt nicht trüben sollten. Aufgrund dieser Entwicklung fühlten sich die St. Paulianer ausgegrenzt und von den Behörden im Stich gelassen. Das machte die Polizeiarbeit in diesem Stadtteil natürlich nicht einfacher. Die Udels, wie die Polizeibeamten in Hamburg traditionell genannt wurden, wurden auf St. Pauli als Eindringlinge und Fremdkörper empfunden.

Diese Tatsachen führte sich Heike noch einmal vor Augen, während sie über den bisherigen Ermittlungsstand nachdachte.

»Sönke würde jetzt ...«, begann der Obermeister. Heike tat, als fühlte sie sich nicht angesprochen. Sie wollte gar nicht wissen, was ihr Vater in dieser Situation unternehmen würde. Heike konnte tun, was sie wollte – man legte an ihr immer den Maßstab des beliebten und gefürchteten Superpolizisten Sönke Stein an.

Heike konzentrierte sich auf die Leiche. Charly Meier sah beinahe überrascht aus. Seine Gesichtszüge waren mit einem Ausdruck der Verblüffung erstarrt. Wahrscheinlich hatte der Angriff ihn völlig überraschend getroffen.

»Hatte er eine Waffe bei sich?«

Heikes Frage war an niemanden Bestimmten gerichtet. Aber ein Mann vom Spurensicherungsteam, das inzwischen eingetroffen war, wandte sich ihr zu.

»Fehlanzeige. Der trug noch nicht mal eine Nagelfeile im Schulterholster!«

Heike nickte. Sie nahm sich vor, die Wohnung des Opfers zu durchsuchen, sobald sie dafür eine richterliche Verfügung hatte. Zunächst waren die Zeugenaussagen dran. Und von denen existierten nicht gerade wenige.

Doch das Ergebnis war nicht ermutigend, wie sie bald erfahren musste. Die zuverlässigste Beobachtung kam noch von dem Busfahrer, der das Taxi-Nummernschild notiert hatte. Aber auch er konnte sich nur an die Hinterköpfe zweier Personen auf den Vordersitzen erinnern. Ob Männer oder Frauen, war unmöglich zu sagen.

»Ich habe das Fahrzeug ja praktisch nur von hinten gesehen, Frau Kommissarin!«, beteuerte der Fahrer.

»Können Sie mir denn sagen, ob der Fahrer oder der Beifahrer geschossen hat?«, wollte Heike wissen.

»Nein, völlig unmöglich. Ich habe ja nicht einmal gesehen, dass geschossen wurde. Ich hörte nur zwei Knallgeräusche, und dann fiel der Mann um. Da erst dämmerte mir, dass ihn jemand niedergeknallt hat! Mann, wie im Fernsehkrimi ...«

Wie im Fernsehkrimi war es nun nicht, wie Heike fand. Ihr fehlte jedenfalls im Gegensatz zu den TV-Kommissaren die geniale Eingebung. Aber andererseits ermittelte sie ja auch erst seit einigen Minuten. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie sich unter einen solchen Erfolgsdruck setzte. Doch sie konnte nicht aus ihrer Haut.

Wenn sie diesen Fall nicht löste, brauchte sie sich zumindest auf dem 15. Revier nie wieder sehen zu lassen. Heike konnte sich so richtig die Gespräche im Pausenraum der Davidwache vorstellen.

»Tja, die kleine Tochter von Sönke hat’s ja nun nicht gepackt, was?«

»Wundert dich das? Sönke, der hatte es im Blut. Aber so was vererbt sich nicht. Schon gar nicht an ein Mädchen ...«

Heike schüttelte ihre eigenen Fantasien ab wie einen bösen Traum. Sie warf noch einen Blick auf den Leichnam, der gerade in einen Blechsarg gehoben wurde. Charly Meier war teuer gekleidet, mit Designer-Lederblouson, Chinos, Budapester Schuhen und einigen Goldkettchen um Hals und Handgelenk. Ein Ganove, der seine illegalen Einkünfte offenbar in modische Kleidung umgesetzt hatte.

Nun, da der Tote verschwunden war, zerstreuten sich auch die Gaffer fast schlagartig. Die meisten von ihnen waren gewiss nach St. Pauli gekommen, um sich auf die eine oder andere Art zu amüsieren. Heike würde allerdings nie verstehen, warum es Menschen gab, die bei Verbrechen oder Unglücksfällen Mäuschen spielen wollten.

Immerhin konnte Heike davon ausgehen, dass zwei Personen in dem Taxi gesessen hatten. Vielleicht ergab ja die kriminaltechnische Untersuchung des Benz weitere Anhaltspunkte. Aber das würde in dieser Nacht nichts mehr werden.

Heike begleitete ihre uniformierten Kollegen auf die Davidwache. Dort ließ sie sich die Akte von Charly Meier geben. Einen verwaisten Schreibtisch stellte man ihr ebenfalls zur Verfügung. Während um sie herum der allnächtliche Davidwachen-Reigen von Prostituierten und Betrunkenen, von Verbrechensopfern und Schlägern begann, vertiefte sich Heike in das Dokument.

Charly Meier war ein typischer St. Pauli Ganove. Vor zweiunddreißig Jahren im Krankenhaus Altona geboren, begann er seine kriminelle Karriere schon als Jugendlicher. Seine erste Verurteilung hatte er mit 16 Jahren, wegen Autodiebstahls. Schon bald wurden aus den Jugendstrafen reguläre Freiheitsstrafen. Bei den Delikten ließ sich kein typisches Muster erkennen. Von sexueller Nötigung über Erpressung, Diebstahl, Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz bis zu Körperverletzung war alles dabei. Charly Meier hatte offenbar zu den Kriminellen gehört, die sich mit allen Mitteln Geld verschafften. Dabei hatten seine Intelligenz und seine Energie aber niemals für den großen Wurf gereicht. Er war immer das geblieben, als das Heike ihn charakterisiert hatte.

Ein Kleinkrimineller.

Die junge Hauptkommissarin klappte die Akte zu. Es würde wirklich kein Zuckerschlecken werden, den Täter zu ermitteln. Vermutlich hatte jeder zweite Bewohner von St. Pauli etwas gegen Charly Meier gehabt. Wer so viele Verbrechen beging, der hatte natürlich auch viele Opfer. Und manche von denen waren vielleicht besonders rachsüchtig?

»Kann ich die Akte mitnehmen?«, fragte Heike.

»Sicher«, erwiderte eine gestresst wirkende junge Polizeimeisterin. »Mach’ nur einen Vermerk, dass sie im Präsidium abgeblieben ist.«

»Klar doch. Bei uns kommt nichts weg.«

Heike bedankte sich bei den Kollegen und ging hinaus. Als sie die Davidwache verlassen wollte, schleiften zwei Streifenpolizisten gerade einen betrunkenen Schläger herein. Der Kerl röhrte wie ein Hirsch und breitete seine mächtigen Arme aus, um nicht durch die Tür geschoben werden zu können. Die beiden Beamten konnten ihn kaum bändigen.

Heike stieß drei ausgestreckte Finger ihrer rechten Hand gegen zwei Punkte am Oberkörper des Mannes. Daraufhin erschlafften die Arme sofort.

»Ey, was soll das?!«, lallte der Kerl. »Meine Arme sind gelähmt!«

»Das gibt sich nach einer halben Stunde von selbst«, sagte Heike zu den uniformierten Kollegen. »Alter Kung-Fu-Trick!«

Heike lernte nämlich in ihrer Freizeit die jahrtausendealten KampfsPORT-Xstile in der Kung-Fu-Schule eines alten Chinesen.

»Super, vielen Dank«, sagte der jüngere von den beiden Kollegen. Nun konnten sie den Festgenommenen problemlos in den Wachraum bringen.

»Siehst du«, hörte Heike noch die Stimme des anderen Polizisten, als sie schon davonging, »das war eben Sönkes Tochter! Sie gibt sich alle Mühe, so gut zu werden wie ihr Vater.«

Heike biss die Zähne zusammen. Für diese Nacht hatte sie die Nase voll von St. Pauli.

Immerhin schaffte Heike es trotzdem noch, in ihrer gemütlich eingerichteten Altbau-Wohnung in Eppendorf ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Am nächsten Morgen fuhr sie dann voller Tatendrang zum Präsidium in Alsterdorf.

Bei der Morgenbesprechung mit den anderen Kollegen aus der Abteilung berichtete sie vom bisherigen Ermittlungsstand.

»Wie wollen Sie weiter vorgehen, Frau Stein?«, fragte Dr. Clemens Magnussen. Der Kriminaloberrat war der Leiter der Sonderkommission Mord und daher auch Heikes direkter Vorgesetzter. Dr. Magnussen hatte seine Tabakspfeife im Mund. Daran nahm selbst der härteste Nichtraucher keinen Anstoß, denn Dr. Magnussen war selbst kein Nikotinfreund. Die Pfeife blieb stets unangezündet, er stopfte noch nicht einmal Tabak hinein. Der Kriminaloberrat hatte sich die Pfeife als Attribut zugelegt, um trotz seines völlig austauschbaren Dutzendgesichtes wenigstens etwas Unverwechselbares an sich zu haben. Er schaute Heike fragend an.

»Ich habe einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Opfers beantragt, Herr Kriminaloberrat. Vielleicht ergibt sich daraus ein Hinweis auf den Täter. Ansonsten wollte ich im direkten Umfeld des Opfers ermitteln.«

»Kommen Sie einstweilen allein zurecht, Frau Stein? Ich kann Ihnen Herrn Wilken natürlich erst zur Seite stellen, wenn er aus dem Urlaub zurück ist. Oder ich muss ihn von dort abberufen!«

»Auf keinen Fall, Herr Kriminaloberrat! Ich meine, ich schaffe das alleine! Herr Wilken soll seinen Urlaub ruhig auskosten.«

Heike wurde fast panisch. Dr. Magnussen würde es fertig bekommen und Ben aus dem Urlaub zurückholen. Das war nun wirklich nicht nötig. Erstens fühlte sich Heike dem Fall durchaus gewachsen, wenn er auch knifflig zu sein schien. Und zweitens gönnte sie Ben Wilken von ganzem Herzen die zwei Wochen, die er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem Ferienhaus in Dänemark verbrachte.

Böse Zungen im Präsidium bezeichneten Heike und Ben, der ihr Dienstpartner war, als »Traumpaar vom LKA« (Landeskriminalamt). Das war wirklich eine Gemeinheit, denn privat lief zwischen den beiden Kollegen absolut nichts. Ben war zwar ein gut aussehender, hoch gewachsener und dunkelhaariger Mann, aber eben auch verheiratet. Und darum für Heike absolut tabu. Es gehörte zu ihren Prinzipien, sich niemals in eine Ehe zu drängen. Abgesehen davon, dass die Auswahl an interessanten Junggesellen wahrhaftig groß genug war ...

»Sehr lobenswert, Frau Stein. Wie Sie wissen, haben Ihre anderen Kollegen sämtlich an mehr oder weniger zeitraubenden Fällen zu knacken.«

Mit diesen Worten wandte sich Dr. Magnussen Heikes Kollegin Melanie Russ zu. Der Charly-Meier-Fall war für ihn einstweilen erledigt.

Heike hingegen stürzte sich unmittelbar nach der Besprechung in die Arbeit. Sie bekam von der Technischen Abteilung ein ernüchterndes vorläufiges Ergebnis der Taxi-Untersuchung. Wie schon befürchtet war die Ausbeute gleich Null. Unzählige Menschen hatten Fingerabdrücke, Haare, zum Teil auch Blut oder Schmutz auf den Taxisitzen hinterlassen. Wer davon geschossen haben konnte, war nicht zu ermitteln.

Dafür war wenigstens die ballistische Untersuchung von Erfolg gekrönt. Beide Geschosse stammten aus derselben Waffe, einer Faustfeuerwaffe. Man konnte also davon ausgehen, dass der Mord mit einem Revolver oder einer Pistole verübt worden war. Die Patronen wiesen das Kaliber .45 auf.

Heike überlegte, ob sie nun zu Charly Meiers Wohnung fahren sollte. Den Durchsuchungsbeschluss hatte sie inzwischen bekommen. Da klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch.

»Stein, Sonderkommission Mord!«

»Hier ist Kommissar Delken vom 15. Revier. Wir haben wahrscheinlich den Mörder von Charly Meier hinter Schloss und Riegel!«

Heike war so überrascht, dass sie schwieg. Der St. Paulianer Kollege redete ohnehin weiter.

»Vorige Nacht hat eine Funkstreife den Kerl aufgelesen. Er lag an der Silbersackstraße im Rinnstein und war sturzbesoffen. Und er hatte eine Schusswaffe in der Tasche.«

»Eine Fünfundvierziger?«, hakte Heike nach.

»Exakt, Frau Kollegin. Eine Ruger KP 90 D, um ganz genau zu sein. Es lag nichts gegen ihn vor, wir haben ihn ärztlich untersuchen lassen und dann in die Ausnüchterungszelle gesteckt. Normal hätten wir ihn heute wieder laufen lassen. Aber die Waffe musste natürlich überprüft werden.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«, fragte Heike ungeduldig.

»Die Ruger ist die Mordwaffe«, sagte Kommissar Delken. »Charly Meier ist mit dieser Pistole erschossen worden und mit keiner anderen. Das haben die Kriminaltechniker inzwischen rausgefunden. Auf der Waffe sind die Fingerabdrücke von dem Beschuldigten, der sie in der Tasche hatte.«

»Was sagt der Beschuldigte zu der Tat?«

»Angeblich kann er sich an nichts erinnern. Filmriss. Er beteuert nur, dass er niemanden erschossen hat. Aber das würde ja wohl jeder tun.«

»Sicher. Ist er schon wieder so nüchtern, dass man ihn vernünftig vernehmen kann?«

»Dem Blutalkoholspiegel nach schon. Sollen wir ihn gleich mal zu euch schicken? Für eine Anklageerhebung reichen die Indizien auf jeden Fall.«

»Das will ich meinen«, erwiderte Heike eifrig. »Vielen lieben Dank. – Ach, wie heißt denn der Beschuldigte eigentlich?«

»Dirk Freder.«

3

Dirk Freder war eigentlich ein gut aussehender Mann. An diesem Morgen im Hamburger Polizeipräsidium zeigten seine Gesichtszüge allerdings die Folgen heftigen Alkoholkonsums. Der Mordverdächtige wirkte so verkatert, dass er kaum die Augen aufbekam.

Freder trug eine verwaschene Jeans sowie ein T-Shirt und eine Lederweste ohne Ärmel. Daher war sein kräftiger Bizeps nicht zu übersehen. Außerdem waren seine beiden Arme tätowiert, wie man es von einer echten St. Pauli-Type wie ihm erwarten konnte.

Nachdem die uniformierten Kollegen Freder in den Verhörraum gebracht hatten, begann Heike damit, ihn über seine Rechte zu belehren.

»Den Schmus können Sie sich sparen, Lady«, stöhnte Freder und griff sich an den vermutlich schmerzenden Kopf. »Kenn’ ich alles in- und auswendig.«

»Den Schmus werde ich mir nicht sparen«, sagte Heike resolut.

»Außerdem bin ich nicht Ihre Lady, sondern Hauptkommissarin Stein!«

»Schon gut, schon gut, Lady. Dann sagen Sie mal Ihr Sprüchlein auf. Ich werde dann auspacken.«

Heike ließ Kaffee kommen, außerdem einen Aschenbecher für Freder. Obwohl sie selbst Tabakgeruch verabscheute, wollte sie den Beschuldigten bei Laune halten. Und nach seinem Nikotindunst zu urteilen musste Freder ziemlich zigarettensüchtig sein.

Als der Beschuldigte erst einen Kaffeebecher zwischen den Fingern und eine Zigarette im Mund hatte, schienen sich sein Zustand und seine Laune schlagartig zu bessern.

»Sie wollen also zur Sache aussagen, Herr Freder ...«

»Mein’ ich doch die ganze Zeit, Lady!«

Freder sprach mit schwerem Hamburger Akzent. Mit einem langen Blick seiner blassblauen Augen taxierte er Heike. Die Hauptkommissarin trug an diesem Morgen einen weinroten Longblazer zum knielangen schwarzen Rock mit Gehschlitz. Ihr maschinengestrickter Rollkragenpulli war ebenfalls schwarz, die Strumpfhose dunkel.

Im Vergleich zu Freders derbem Auftreten wirkte Heike tatsächlich damenhaft. Insofern lag er mit seiner Bezeichnung »Lady« gar nicht mal so falsch.

»Sie wissen, weshalb Sie heute hier sind, Herr Freder?«

»Nicht genau. Hab’ wohl mal wieder Mist gebaut. Die anderen Bull ... äh ... Beamten meinten, man würde mir hier im Präsidium alles verklickern.«

»Ihnen wird vorgeworfen, gestern Abend um 20.33 Uhr an der Reeperbahn Ecke Große Freiheit Karl Meier erschossen zu haben. Er war auf St. Pauli unter dem Namen Charly besser bekannt.«

Dirk Freder fiel aus allen Wolken.

»Was? Ich soll Charly Meier abgeknallt haben? Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«

»Sie leugnen also die Tat?«

»Darauf können Sie wetten! Ich war das nicht, Lady! Der Charly war ein mieser Knochen, okay. Aber ich bin doch kein Killer!«

Heike schaute in ihre Unterlagen.

»Herr Freder, gegen zwei Uhr morgens wurden Sie von einer Funkstreife an der Silbersackstraße gefunden. Sie waren ohnmächtig, volltrunken und hilflos. Und in Ihrer Tasche steckte die Pistole, mit der Charly Meier erschossen wurde. Die Waffe trägt auch Ihre Fingerabdrücke, die wir ja sowieso in unserer Kartei haben.«

Freder schaute Heike an, als hätte die Hauptkommissarin den Verstand verloren. Dann tastete er mit beiden Händen über seine Lederweste.

»Ich besitze überhaupt keine Bleispritze, Lady! Das müssen Sie mir glauben!«

»Es war also nicht Ihre Waffe, mit der Charly Meier erschossen wurde, Herr Freder?«

»Richtig! Ich habe keinen Ballermann, und ich habe Charly nicht abgeknallt!«

Heike blätterte wieder in ihren Unterlagen.

»Sie könnten es aber, wenn Sie es wollten, Herr Freder.«

»Wie? Was soll das denn nun schon wieder heißen, Lady?«

»Ich will damit sagen, dass Sie mit einer Faustfeuerwaffe umgehen können. Sie waren als Zeitsoldat bei der Bundesmarine. Und dort sind Sie zum Kampfschwimmer ausgebildet worden. Ich bin keine Militärexpertin. Aber ich weiß, dass die Kampfschwimmer eine Elitetruppe sind, die mit allen möglichen Waffen umzugehen versteht.«

»Was Sie alles wissen, Lady ... Wissen Sie auch, dass ich aus dem Verein rausgeflogen bin?«

»Ja, wegen Disziplinarvergehen. Aber das ändert nichts daran, dass Sie damals eine professionelle Schießausbildung gehabt haben.«

»Aber Sie können mir doch nichts anhängen, nur weil ich beim Bund mit allen möglichen Knarren hantieren musste. Klar, ich kann immer noch ein M 16 Sturmgewehr innerhalb von fünf Minuten auseinander und wieder zusammenbauen, wenn es sein muss. Aber deshalb bin ich doch kein Killer!«

»Kommen wir einmal auf Ihr Verhältnis zu dem Opfer zu sprechen. Sie kannten Charly Meier? Mochten Sie ihn?«

»Was heißt mögen«, wich Freder aus. »Ich bin keiner von den Typen, die Männer mögen.«

»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind!«, sagte Heike scharf. »Das habe ich nicht gemeint. Es ist doch so, dass man die meisten Menschen entweder mag oder nicht mag. Jedenfalls, wenn man öfter mit ihnen zu tun hat.«

»Irgendwie mochte ich Charly schon«, nuschelte Freder. »Er war doch ein lustiger Typ.«

Heike spürte, dass er log.

»Vorhin haben Sie noch gesagt, Charly Meier wäre ein mieser Knochen gewesen. Was denn nun?«

»M ... mieser Knochen? Ich hab’ wohl harter Knochen gemeint, Lady. Man muss ein harter Knochen sein, wenn man auf St. Pauli überleben will. Also, ich fand den Charly schon nett.«

»Das wird sich zeigen«, sagte Heike. Sie nahm sich fest vor, alle möglichen Zeugen zu dem Verhältnis zwischen Freder und Charly Meier zu befragen. »Herr Freder, erzählen Sie mir doch bitte mal aus Ihrer Sicht, was Sie gestern Abend so gemacht haben.«

»Äh, wann soll ich anfangen?«

»Sagen wir, ab 18 Uhr.«

»Ab sechs ... mal nachdenken ...« Freder legte seine Stirn in Falten. Er zündete sich eine frische Zigarette an. Bereits die dritte seit Beginn des Verhörs. Heike beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie einen Balkon besaß. Dort würde sie nach Feierabend ihre Kleider zum Auslüften hinhängen. »Ich war mit ein paar Kumpels im Sieben Meere. Da haben wir ein paar Biere gezischt. Und dann tauchte da ein Fremder auf, der behauptete, einen erstklassigen schottischen Whisky zu Hause zu haben. Er lud uns auf einen Drink zu sich ein.«

»Wie sah dieser Mann aus, Herr Freder?«

»Normal. Also wie ein Spießer, so mit Schlips und Kragen. Aber er war nett, hat uns zum Whisky eingeladen.«

»Sie sind also mit ihm in seine Wohnung gegangen? Und wer noch?«

»Manni und Arne, glaub’ ich.«

»Aber Sie wissen es nicht genau?«

»Lady, ich war breit ... ich meine, betrunken!«

»Aber an den Mann, diesen Whiskykenner, können Sie sich noch erinnern? Und wie war sein Name? Wo wohnte er?«

»Den Namen weiß ich nicht. Aber er muss seine Bude irgendwo auf St. Pauli gehabt haben. Jedenfalls sind wir zu Fuß hingelatscht.«

»Vielleicht in der Silbersackstraße, Herr Freder? Dort hat Sie die Funkstreife ja ohnmächtig auf dem Gehweg gefunden.«

»Ich weiß es nicht, Lady. Echt nicht.«

»Na schön, Herr Freder. Sie gingen also mit dem Unbekannten in seine Wohnung. Und was geschah dann?«

Der Verdächtige starrte vor sich hin und sog an seiner Zigarette. Er rauchte sie ganz herunter, bevor er antwortete.

»Ich weiß es wirklich nicht mehr, Lady. Seit heute Früh zermartere ich mir den Schädel. Aber ich kann nicht sagen, was in der Nacht geschehen ist. Ich muss ein Black-out gehabt haben. Filmriss. Als ich wieder aufwachte, war ich in einer Ausnüchterungszelle auf der Davidwache. Da fühle ich mich schon fast zu Hause.«

Er grinste ohne Humor.

»Ob mit Filmriss oder ohne – für mich gibt es keinen Grund, warum Sie Charly Meier nicht getötet haben könnten, Herr Freder. Ich nehme Ihnen nicht ab, dass Sie ihn nett fanden. Ich werde natürlich recherchieren, ob Sie einen Grund hatten, um ihm ans Leben zu wollen. Aber auf St. Pauli sitzt vielen Menschen das Schießeisen locker. Da werden Sie mir zustimmen«, sagte Heike kühl.

»Menschenskind, Lady, ich habe doch überhaupt kein Schießeisen!«, begehrte der Gefangene auf.

»Als meine Kollegen Sie aufgriffen, da hatten Sie eins. Und zwar genau die Waffe, mit der Charly Meier erschossen wurde. Und Ihre Fingerabdrücke waren auf dem Griff und auf dem Lauf. Was soll ich wohl daraus für Schlussfolgerungen ziehen, Herr Freder?«

»Dass mich einer reinreiten will«, murmelte der Mordverdächtige. Der Spaß am Rauchen war ihm vergangen. Er stützte sein Gesicht auf die Fäuste. Immer wieder schüttelte er den Kopf.

»Ich war es doch nicht ... Mist, verdammter ... den Charly hat sonst wer umgelegt, aber doch nicht ich!«

»Wenn Sie ein Geständnis ablegen, machen Sie es sich und mir leichter, Herr Freder. Das kann sich auch strafmildernd auswirken. Und angesichts Ihrer Vorstrafen wegen anderer Gewaltdelikte ...«

Auf Freders Stirn schwoll die Zornesader an. Er sprang so heftig auf, dass sein Kaffeebecher umkippte.

»Alles klar, Lady! Ihr Bullen wollt mir den Mord in die Schuhe schieben! Das war ja auch ein echter Glücksfall für euch. Wer anderen Kerlen die Nase blutig haut, der knallt sie auch nieder. Ist doch logisch! Und so ein Dummkopf wie ich, der kann sich sowieso nicht wehren! Keine Kohle, keinen Starverteidiger ...«

»Jetzt halten Sie mal die Luft an!«, wies Heike ihn zurecht. »Ich will Ihnen gar nichts anhängen. Ich habe Ihnen nur die Tatsachen vor Augen gehalten. Und die sprechen nun mal gegen Sie. Aber deshalb sind Sie noch lange nicht wegen Mordes verurteilt. Wenn Sie zu arm sind, um einen Anwalt zu bezahlen, dann bekommen Sie vom Staat zwar keinen Starjuristen, aber einen Pflichtverteidiger.«

Sie senkte ihre Stimme etwas und brachte ein Lächeln zu Stande.

»Ich kann verstehen, dass Sie sehr nervös sind. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich alles tun werde, um die Wahrheit herauszufinden.«

Freder blickte auf.

»Das sagen Sie nicht nur so?«

»Es ist mein voller Ernst, Herr Freder. Ich habe etwas dagegen, Unschuldige ins Gefängnis zu stecken. – Trotzdem müssen Sie jetzt erst einmal in Untersuchungshaft.«

Nun grinste auch Freder ein wenig.

»Keine Bange, Lady. In der U-Haft war ich schon öfter. Deshalb breche ich mir keine Verzierung ab. Am Holstenglacis kann man es aushalten. Es ist nur ...«

»Was?«

»Ach, nichts. Ich darf doch am Holstenglacis telefonieren, oder?«

Am Holstenglacis befindet sich das Untersuchungsgefängnis. Die Strafanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel hingegen wird im Volksmund Santa Fu genannt. Dorthin werden Täter verlegt, die nach ihrem Prozess eine Gefängnisstrafe zu verbüßen haben.

»Ja, sicher. Wen wollen Sie denn anrufen?«

»Meine Freundin. Damit sie sich nicht wundert, wo ich abgeblieben bin.«

»Tun Sie das. Ihre Freundin kann nicht zufällig bezeugen, wo Sie an dem Abend waren?«

»Glaube ich nicht, Lady.«

»Ich hätte trotzdem gerne den Namen Ihrer Freundin. Für meine Ermittlungen, und ...«

Freder schüttelte den Kopf.

»Sie wollen ihn mir nicht verraten?«

»Nein. Sie muss nix mit den Bull ..., der Polizei zu schaffen haben.«

Heike seufzte. Dieser Mann machte es ihr nicht gerade leicht. Aber wenn sie einen einfachen Beruf gewünscht hätte, dann wäre die Polizeikarriere ohnehin ein Riesenfehler gewesen. Heike drückte auf einen Knopf, um den Tatverdächtigen fortschaffen zu lassen.

»Sie hören von mir, Herr Freder. Ich besuche Sie am Holstenglacis.«

Freder öffnete den Mund, als ob er noch etwas sagen wollte. Aber dann überlegte er es sich anders. Er ließ die Schultern hängen. Die beiden uniformierten Beamten nahmen ihn in die Mitte. Wie ein geprügelter Hund schlich er hinaus. Sein Wutanfall war nur ein Strohfeuer gewesen.

Heike stand ebenfalls auf. Trotz Klimaanlage ging ihr die verräucherte Luft auf die Nerven. Allerdings würde die Hauptkommissarin sich in den nächsten Tagen wohl noch oft genug in verräucherten St. Pauli-Spelunken herumdrücken müssen, um die Wahrheit herauszufinden.

Denn Heike war keineswegs von Freders Schuld überzeugt. Bisher sprachen alle Indizien gegen ihn. Aber die Kriminalistin wusste aus Erfahrung, dass gerade scheinbar eindeutige Fälle sehr verwickelt werden konnten.

Warum wollte Freder den Namen seiner Freundin partout nicht preisgeben? Wer war der spendable Whiskykenner ohne Namen und Adresse? Wie hatten Freder und Charly Meier wirklich zueinander gestanden? Das waren nur drei von vielen Fragen, die Heike schnellstens klären musste.

Und die Antworten gab es nur auf St. Pauli.

Nachdem Heike den gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss in Händen hatte, fuhr sie zu Charly Meiers Wohnung in die Hein-Hoyer-Straße. Den Wohnungsschlüssel hatten ihre Kollegen in den Taschen des Toten sichergestellt und an Heike weitergeleitet.

Charly Meier hatte in einem typischen St. Pauli-Altbau gelebt. Früher waren solche Häuser die Heimat von Werftarbeiter- und Seemanns-Familien gewesen. Heutzutage gab es diese Berufe fast nicht mehr. Wer jetzt hier hauste, war einfach nur noch arm. Auf St. Pauli lebte ein großer Teil der Bevölkerung von Hartz IV. Viele verließen die Schule ohne Abschluss. Daraufhin gerieten sie in einen Strudel der Ausweglosigkeit, dessen Stationen Billigjobs, Prostitution und Kriminalität hießen. Man musste innerlich sehr stark sein, um diesem Teufelskreis zu entkommen. Manche St. Paulianer waren es nicht.

Und da hatte Charly Meier keine Ausnahme gemacht, wie Heike schon beim Aufsperren der Wohnung klar wurde. Die Behausung war dunkel und schmutzig. Angewidert betrachtete die Hauptkommissarin die Stapel mit Pornoheften neben der durchgelegenen Matratze, die dem Ganoven als Bett gedient hatte. Seine halbwegs noble Kleidung war nur Fassade gewesen. Dahinter verbarg sich ein Mensch am unteren Rand der Gesellschaft. Charly Meier hatte es offensichtlich nicht geschafft, mit seinen Gaunereien einen halbwegs erträglichen Lebensstandard zu erlangen.

Heike zog sich Einweg-Untersuchungshandschuhe über, wie sie es immer bei Hausdurchsuchungen tat und von denen sie immer ein paar in der Tasche hatte. Die Feinarbeit wollte sie ohnehin den Kollegen von der Technischen Abteilung überlassen. Die Kriminalistin rechnete damit, dass sie auch in Sachen Drogen fündig werden würden. Immerhin hatte Charly Meier schon etliche Vorstrafen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz hinter sich.

Heike schaute sich auf dem Mehrzwecktisch um, der mit Essensresten und nutzlosem Krimskrams überladen war. Aber sie fand keinen Hinweis, der auf eine Verbindung zwischen Charly Meier und Dirk Freder hindeutete. Auch die Durchsuchung der Jacken auf der Flurgarderobe blieb ergebnislos.

Heike bestellte per Handy ein Spurensicherungsteam. Als die Kollegen anrückten, bat sie darum, die Wohnung nach getaner Arbeit zu versiegeln.

Inzwischen war es Mittagszeit. Heike ging in eine der traditionellen Fischbratküchen, wie man sie in manchen Ecken St. Paulis abseits der Touristenströme immer noch findet.

Der Inhaber war so dick, dass man sich fragte, wie und ob er jemals seinen kleinen schmalen Laden verlassen konnte. Aber vielleicht tat er das ja auch nicht. Jedenfalls servierte er Heike gebackenes Seelachsfilet mit kaltem Kartoffelsalat.

»Wohl bekomms, mein Fräulein! Du kennst mich wohl nich’ mehr, was?«

»Nicht, dass ich wüsste ...«, gab Heike zu.

»Du bist doch die Kleine von Sönke, oder nicht?«, lachte der Dicke. »Na, als du das letzte Mal bei mir warst, konntest du noch gar nicht über den Tisch gucken. Da warst du fünf oder so. Dein Vater hat dir sein Revier gezeigt, in Uniform und mit allem Drum und Dran!«

Heike war schwer beeindruckt vom Personengedächtnis des Fischbraters. Tief in ihrem Inneren wurde eine Erinnerung wach, wie sie als kleines Mädchen an der Hand ihres Vaters durch St. Pauli gestreift war. Jede Bordsteinschwalbe und jeder Türsteher hatte ihren Kopf mit den blonden Zöpfen streicheln wollen. Und die kleine Heike war beinahe geplatzt vor Stolz auf den großen Mann in der schönen Uniform, der ihr Vater war ...

»Was macht denn der Papa jetzt?«, fragte der redselige Fischbrater und riss sie aus ihren Erinnerungen. »Kann er denn ohne St. Pauli sein?«

»Schwer, glaube ich. Darum sind meine Eltern ja gleich nach seiner Pensionierung ausgewandert. Sie leben jetzt auf Mallorca, haben sich da ein kleines Apartment gekauft.«

»Sönke auf Mallorca?« Der Dicke konnte es kaum glauben. »Sachen gibt’s ... Und willst du jetzt in seine Fußstapfen treten, oder was?«

Heike musste ihren aufkommenden Ärger besänftigen. Der alte Fischbrater meinte es gewiss nicht böse. Sie versuchte, seinen Spruch locker zu nehmen.

»Klar doch. Wir Steins waren immer bei der Hamburger Polizei, seit 200 Jahren. Wusstest du das nicht? – Jedenfalls, wenn du so lange hier deine Bude hast, dann kennst du doch bestimmt auch den Charly Meier, oder?«

»Den haben sie doch abgeknallt. Bist du deswegen hier unterwegs, Heike?«

»Was dachtest du denn? Nicht nur wegen deinem Seelachsfilet – was übrigens ganz super schmeckt.«

Heike hatte kräftig zugelangt, während sie mit dem Dicken redete. Allerdings war das Essen so fettig, dass sie schon ein paar Diättage auf sich zukommen sah.

»Den Charly habe ich gekannt, Heike. War für mich nur eine Frage der Zeit, bis es den mal erwischt.«

»Wieso?«

»Weil er immer mit irgendwelchen Leuten Zoff hatte. Gerade vor einer Woche hat er sich sogar richtig geprügelt, am helllichten Tag. Da hinten, vor der Schnellreinigung.«

Der Fischbrater zeigte mit seinem fleischigen Zeigefinger auf einen unscheinbaren Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Und mit wem? Weißt du das?«

»Dirk ... Dirk sowieso. Ja, Dirk Freden oder so.«

»Dirk Freder!«, rief Heike.

»Ja, genau. Kennst du den etwa auch, Mädchen? Den und Charly Meier, die hättest du in einen Sack stecken und mit dem Knüppel draufhauen können. Da hätte man immer den Richtigen getroffen. Die sind von derselben Sorte. Arbeitsscheu, aber träumen immer von der schnellen Mark. Nee, schneller Euro heißt das ja jetzt.«

»Weißt du, weswegen die sich geschlagen haben?«

»Nee, will ich auch nicht wissen. Ich bin froh, wenn die nicht in meine Fischbratküche kommen und den ehrlichen Gästen den Platz wegnehmen. – Na, der Charly Meier kann ja jetzt sowieso nicht mehr kommen!«

Er lachte dröhnend, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Heike bedankte sich und zahlte ihren Fisch.

»Grüß’ den Herrn Vater von mir!«, rief der Dicke ihr nach.

Heike ging ein paar Schritte. Da bemerkte sie, dass sie einen Stein im Schuh hatte. Sie blieb stehen, lehnte sich gegen eine Hauswand und wollte den Schuh ausziehen.

Da stieß sie jemand grob in die Seite!

Als trainierte KampfsPORT-Xlerin blieb Heike trotz des unerwarteten Angriffs auf den Beinen. Sie wandte sich der Person zu, die sie attackiert hatte.

Es war eine Prostituierte, die ihre riesige Oberweite in eine zu enge Bluse gequetscht hatte. Der Po wurde nur knapp von einem Ledermini bedeckt.

»Spinnst du, dich an meinen Platz zu stellen!«, keifte die Hure los. »Du glaubst wohl, wegen deiner Nobelklamotten ... oh, Mist ...«

Noch während der Schimpfkanonade hatte Heike ihren blauen Dienstausweis gezogen und der Nutte unter die Nase gehalten.

»Eine Bullette!«, seufzte die Prostituierte. »Ich habe auch immer ein Glück ...«

»Ich bin Hauptkommissarin Stein von der Kripo Hamburg«, sagte Heike förmlich und beobachtete dabei genau das stark geschminkte Gesicht ihres Gegenübers. »Ist das hier Ihr fester Standplatz?«

»Ich will keinen Ärger«, beteuerte die Bordsteinschwalbe. »Ich gehe regelmäßig zum Gesundheitsamt, und ich ...«

»Darum geht es mir nicht«, meinte Heike mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Haben Sie die Schlägerei in der letzten Woche beobachtet?«

Die Frau lachte, als ob Heike einen guten Witz gemacht hätte.

»Wissen Sie, wie viele Schlägereien hier stattfinden, Tag und Nacht?«

»Ja, weiß ich. Daran hatte ich gerade nicht gedacht. Ich meine die zwischen Charly Meier und Dirk Freder.«

Die Prostituierte erstarrte. Heike wusste, dass sie lügen würde, bevor sie den Mund wieder aufmachte.

»Kenne ich nicht, die beiden.«

Heike stemmte ihre Fäuste in die Hüften. Sie musste offenbar schwereres Geschütz auffahren.

»Charly Meier ist tot, das wissen Sie. Das weiß jeder auf St. Pauli inzwischen. Ich will den Kerl, der ihn niedergeschossen hat. Ich kann Ihnen hier das Leben zur Hölle machen. Ich kann dafür sorgen, dass kein Freier mehr in Ihre Nähe kommt, weil wir hier alle paar Minuten eine Personenkontrolle machen. Oder ich verhänge einen Platzverweis! Oder ...«

»Okay, okay!«, seufzte die Prostituierte. »Also, ich habe die Schlägerei mitgekriegt. Was weiter?«

»Warum sind die beiden aneinander geraten?«

Nun schien die Bordsteinschwalbe ernsthaft nachzudenken.

»Warten Sie mal ... es ging um ein Mädchen, glaube ich. Auf jeden Fall hat Freder angefangen. Er hat Charly voll eins auf die Zwölf gehauen.«

»Und warum?«

»Ich überlege ... ja, dieses Mädchen. Freder brüllte so was wie: ›Wenn du noch einmal mit deiner Mistdroge in Jasmins Nähe kommst, dann bist du tot!‹ – Hören Sie, von mir haben Sie das aber nicht, okay?«

Heike wusste, dass die Leute auf St. Pauli ungern in den Zeugenstand gingen. Andererseits hatte die Kriminalistin der Hure massiv gedroht. Die Frau musste befürchten, um ihre gesamten Einkünfte gebracht zu werden. Aber das war oft der einzige Weg, in diesem Amüsierviertel etwas aus den Leuten herauszubekommen.

»Waren das seine exakten Worte: ›Wenn du noch einmal mit deiner Mistdroge in Jasmins Nähe kommst, dann bist du tot?‹ Hat Dirk Freder das so gesagt?«

Die Bordsteinschwalbe wand sich wie ein Aal.

»Hören Sie, Frau Kommissarin. Ich will keinen Ärger ...«

»Sie kriegen Ärger mit mir, wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten«, sagte Heike resolut. »Und glauben Sie mir: Ich sitze an einem längeren Hebel als Dirk Freder!«

»Ja«, flüsterte die Prostituierte kaum hörbar. »Er hat es so gesagt. Genau so.«

Heike nahm noch die Personalien der Frau auf, die mit bürgerlichem Namen Vera Neumann hieß.

»Kommen Sie umgehend ins Präsidium, damit wir ein Protokoll anfertigen und Sie es unterschreiben können, Frau Neumann.«

Die Prostituierte nickte nur stumm. Ihr Zuhälter würde nicht gerade begeistert davon sein, dass sie etwas mit der Polizei zu schaffen hatte. Aber daran konnte Heike nichts ändern.

Die anderen aufreizend gekleideten Frauen, die ein Stück weiter standen, amüsierten sich königlich, weil ihre Kollegin zu einer Aussage gedrängt worden war. Doch bevor Heike sich den anderen Bordsteinschwalben zuwenden konnte, hatte sich der ganze Schwarm scheinbar in Luft aufgelöst. Die Mädchen würden erst wieder ihre Plätze einnehmen, wenn Heike verschwunden war.

Die Hauptkommissarin ging die Hein-Hoyer-Straße hinunter Richtung Reeperbahn. Inzwischen glaubte auch Heike nicht mehr recht an Freders Unschuld. Denn nun gab es ein überzeugendes Motiv für den Mord.

Dieser Charly Meier hatte offenbar versucht, eine gewisse Jasmin mit Drogen in Kontakt zu bringen. Vielleicht war das Mädchen ja Freders Freundin? Auf jeden Fall war sie ihm nicht gleichgültig. Freder prügelte sich mit Meier, bedrohte ihn. Aber der machte weiter mit seinen Drogengeschäften. Freder, dessen Vorstrafen die besten Beweise für seine Gewalttätigkeit waren, erschoss daraufhin seinen Feind. Bald darauf bekam er Angst vor den Folgen seiner Tat und betrank sich sinnlos. Er vergaß sogar, die Tatwaffe wegzuwerfen.

Heike nickte grimmig. Ja, so konnte es sehr gut gewesen sein. Die Kriminalistin beschloss, gleich zum Holstenglacis zu fahren. Man musste das Eisen schmieden, solange es heiß war. Wenn sie den Untersuchungsgefangenen richtig ins Gebet nahm ...

Heike war innerlich völlig mit ihren Überlegungen und ihren Plänen beschäftigt. Darum bemerkte sie das junge Mädchen erst, als es sich ihr mitten in den Weg gestellt hatte.

»Entschuldigen Sie, aber sind Sie von der Polizei?«

»Ja«, erwiderte Heike und konnte ihre Überraschung nicht ganz verbergen. »Aber woher ...?«

»Woher ich das weiß, meinen Sie?« Das Mädchen grinste schief. »Also, wie eine Nutte sehen Sie nicht gerade aus. Und auch nicht wie eine Fixerin oder so. Außerdem hat Dirk Sie mir ziemlich gut beschrieben, als er mich angerufen hat. Ich habe gehofft, Sie hier irgendwo zu treffen. So groß ist St. Pauli ja nicht.«

Dirk? Damit konnte nur Dirk Freder gemeint sein. Heike betrachtete ihr Gegenüber nun genauer. Die Kleine konnte nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre sein. Es lag noch ein etwas kindlicher Zug auf ihrem sehr hübschen Gesicht mit dem frischen, hellen Teint. Ihr langes blondes Haar hatte denselben Farbton wie das von Heike. Doch während die Hauptkommissarin eine Kurzhaarfrisur hatte, trug das Mädchen sein Haar offen. Es wallte über ihren Rücken hinab, fast bis zum Po.

Für St. Pauli-Verhältnisse war die Blonde ziemlich unauffällig angezogen. Sie trug eine ausgeblichene Hüftjeans und einen nabelfreien türkisfarbenen Pulli sowie eine Wildlederjacke im Second-hand-Look.

»Ich vermute, Sie sind Jasmin?«, fragte Heike.

»Ja, Frau Kommissarin. Ich bin Jasmin. Dirk Freders Freundin. Und ich bekomme ein Kind von ihm.«

4

Heike war ziemlich verblüfft, obwohl sie in ihrem Beruf mit den seltsamsten Dingen und Menschen zu tun hatte. Nun ist eine Schwangerschaft eigentlich eher etwas Alltägliches. Aber dass ein offensichtlich wohlerzogenes und brav aussehendes Mädchen wie Jasmin von einem St. Pauli-Schläger wie Dirk Freder schwanger war, erstaunte Heike nun doch. Zumindest im ersten Moment.

»Ich lade Sie zu einem Saft ein, Jasmin.«

»Gern, aber Sie können mich ruhig duzen. Ich hab’ es lieber, wenn es lockerer zugeht.«

Heike und Jasmin gingen in ein Eiscafé unweit vom Millerntor. Heike wusste, dass sich hier später am Abend Zuhälter und ihre »Pferdchen« trafen. Außerdem war der Laden nachts eine beliebte Anlaufstelle für Taxifahrer, die sich während der Nachtschicht mit ihresgleichen austauschen oder einfach nur reden wollten.

Das Taxifahren war in der Hansestadt ein hartes Gewerbe, denn es gab mehr als genug Wagen, die auf der Suche nach transPORT-Xierwilligen Kunden durch die Straßen kurvten. Selbst ein Touristenmagnet wie die Hansestadt an der Elbe zog nicht genug auswärtige Besucher an, um sämtlichen Taxi-Chauffeuren ein annehmbares Einkommen sichern zu können. Daher mussten viele von den hoffnungsvollen Männern und Frauen stundenlang hinter dem Steuer herumlungern und auf eine Fuhre warten. Oder sie steuerten eben dieses Café an, um sich ihren Frust von der Seele zu reden.

Doch jetzt, am frühen Nachmittag, war die Eisdiele beinahe verwaist. Die Reeperbahn zeigte sich im fahlen Licht der Mittagssonne von ihrer hässlichsten Seite. Diese Straße konnte ihre Faszination nur entfalten, wenn es stockdunkel war und die Leuchtreklamen eingeschaltet wurden.

Doch das interessierte Heike jetzt nicht. Sie zog sich mit dem Mädchen in eine stille Ecke zurück. Nachdem der italienische Kellner einen Kaffee für Heike und einen Fruchtsaft für die Schwangere gebracht hatte, legte Heike ihr Notizbuch auf den Tisch.

»Ich bin ganz Ohr, Jasmin.«

Das Mädchen blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Sie sehen eigentlich total nett aus, Frau Kommissarin. Dabei müsste ich eigentlich stinksauer auf Sie sein.«

»Warum?«

»Da fragen Sie noch? Sie haben meinen Freund in den Knast gebracht!«

»So einfach ist das nicht, Jasmin. Man kann Leute nicht hinter Gitter stecken, wie es einem gefällt. Es gibt schwerwiegende Verdachtsmomente gegen Dirk Freder.«

»Ha!«

Jasmin verschränkte die Arme vor der Brust und starrte beleidigt auf ein scheußliches Wandgemälde, das die Blaue Grotte von Capri darstellen sollte.

»Du brauchst gar keine Karpfenschnut zu ziehen.« Heike zählte an den Fingern ab, was gegen den Verdächtigen sprach. »Freder hatte die Tatwaffe in der Tasche. Seine Fingerabdrücke sind auf der Pistole. Wenige Tage vor der Tat hat er Charly Meier vor Zeugen damit gedroht, ihn umzubringen. Übrigens wegen dir. Und außerdem ist sein Alibi für die Tatzeit äußerst fragwürdig. Versetz’ dich mal in meine Lage. Ich bin Polizeibeamtin. Was hättest du an meiner Stelle getan?«

Jasmin rutschte auf der roten kunstledernen Sitzbank herum, als ob sie mit Schmierseife bestrichen wäre.

»Sie haben ja Recht, Frau Kommissarin. Aber Dirk hat Charly nicht getötet. Das weiß ich.«

»Woher weißt du das?«, fragte Heike.

»Weil er es mir gesagt hat!«

Die Kriminalistin wusste nicht, ob sie angesichts von so viel Naivität lachen oder weinen sollte. Aber so dumm, wie Heike dachte, war Jasmin offenbar nicht. Sie bekam ganz genau mit, was in Heikes Kopf vor ging.

»Sie denken wahrscheinlich, dass ich zu jung und unerfahren bin. Und dass Liebe blind macht. Das kann schon sein. Aber für mich ist sonnenklar, dass jemand meinem Dirk etwas anhängen will. Jeder Grund, den Sie mir genannt haben, entlastet meinen Freund in Wirklichkeit.«

»Wieso das denn?«

»Weil es einfach zu perfekt ist! So, als wollte jemand den Bull ... äh, der Polizei den Mörder auf dem Silbertablett servieren. Und zwar deshalb, um von seiner eigenen Schuld abzulenken!«

In Wirklichkeit hatte Heike auch schon ähnliche Überlegungen angestellt. Aber das musste sie Jasmin ja nicht auf die Nase binden.

»Auf weitere Verdächtige können wir später kommen. Ich will jetzt ganz am Anfang beginnen. Wenn ich dir helfen soll, muss ich alles wissen.«

»Was meinen Sie denn mit alles?«

»Na, zum Beispiel deinen vollständigen Namen, deinen Wohnort, deine Eltern und so weiter. Wie du Dirk kennen gelernt hast, würde mich auch interessieren.«

Jasmin rührte in ihrem Kaffee. Sie schien zu überlegen, was sie zuerst sagen wollte.

»Also, ich heiße Jasmin Koch. Im Mai habe ich mein Abi gemacht. Ich wohne bei meinen Eltern, drüben in Othmarschen. Mein Vater ist Oberstudienrat, ein Pauker also. Zum Glück nicht an der Schule, an der ich gewesen bin.«

»Wieso ist das ein Glück?«, warf Heike ein.

»Na, hören Sie mal! Bei meinem Daddy die Schulbank drücken ... das ist doch Mist!«

Für einen Moment musste Heike an ihren eigenen Vater denken. Fairerweise gestand sie sich ein, dass er sie nie bevormundet hatte, wenn es um ihre Entscheidungen ging. Auch was Polizeiangelegenheiten betraf ... ›Du musst deine Erfahrungen selber machen, Heike.‹ Das war immer sein Motto gewesen. Aber trotzdem – die Vorstellung, Sönke Stein auf der Polizeischule als Dozenten vor sich stehen zu haben, ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

»Ich verstehe, was du meinst, Jasmin. Weiter, bitte.«

»Meine Ma hat es eigentlich nicht nötig, zu arbeiten. Ich will damit sagen, dass meine Eltern nicht gerade am Hungertuch nagen. Mein Daddy ist stellvertretender Schulleiter und so. Aber meine Mutter ist ehrenamtlich bei der Kirchengemeinde tätig. Textilien für arme Familien sammeln und solche Sachen. Oder Betreuung von alten Leutchen.«

»Hast du noch Geschwister?«

»Ja, meinen Bruder Lars. Aber mit dem kann ich nicht viel anfangen. Der ist jetzt zehn und hat sich in den Kopf gesetzt, Deutschlands nächster Tennis-Superstar zu werden. Der lebt nur noch für seinen Tennisklub.«

Heike nahm einen Schluck Kaffee. Ihr Gegenüber kam aus einer bürgerlichen Familie, wie sie im Buche stand. Gewiss nicht reich, aber wohlhabend. Und außerdem geordnete Verhältnisse ... wie kam ein Mädchen aus einem solchen Elternhaus an eine schräge St. Pauli Type wie Dirk Freder?

Es war, als ob das junge Mädchen Heikes Gedanken gelesen hätte.

»Ich komme eigentlich gut aus mit meinen Eltern. Sie sind auch nett, nur ... so spießig. Ihr Leben verläuft in total geordneten Bahnen. Kein Abenteuer, keine Action. Dirk ist ein ganz anderer Typ.«

Freders Leben verläuft jedenfalls nicht in geordneten Bahnen, dachte die Kriminalistin ironisch.

Aber sie sagte: »Wo hast du denn deinen Dirk kennen gelernt?«

»Im PORT-X. Da jobbe ich nämlich, bis ich einen Studienplatz für mein Kunststudium kriege. Ich habe mich beworben, aber das kann dauern.«

»PORT-X – das ist doch diese In-Disco an der Großen Freiheit, oder? Live-Konzerte am Wochenende und so weiter.«

»Ja, genau.« Jasmin schien überrascht, dass Heike von dem Laden wusste. Die Hauptkommissarin, die Anfang dreißig war, musste aus Jasmins Teenagersicht steinalt wirken. Schließlich fand Jasmin vor sich selbst eine befriedigende Erklärung. »Schätze, als Polizistin müssen Sie über alles Bescheid wissen.«

»So ist es. Und wie lange hast du schon ein Verhältnis mit Dirk Freder?«

Das Mädchen verzog den Mund.

»Verhältnis, wie das klingt! So spießig. Also, ich bin seit ein paar Wochen mit ihm zusammen.«

»Und schon bist du schwanger?«, fragte Heike erstaunt.

»Ist halt passiert.«

Die Hauptkommissarin verzog den Mund. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie selbst als junges Mädchen geradezu perfektionistisch eine ungewollte Schwangerschaft erfolgreich verhindert hatte.

Und auch heutzutage ließ sie sich nicht mit einem Mann ein, wenn die Verhütungsfrage nicht befriedigend geklärt war.

Heike hatte daher kein Verständnis für Jasmins gleichgültige Haltung. Aber es stand der Kriminalistin nicht zu, moralisch zu urteilen. Sie wollte nur den Mörder von Charly Meier fassen. Und natürlich seinen Komplizen. Denn irgendjemand musste ja das gestohlene Taxi auch gefahren haben.

Jasmin deutete Heikes längeres Schweigen falsch.

»Ja, ich hätte besser aufpassen müssen, okay? Aber was soll’s – ich will das Kind ja haben! Eine Abtreibung kommt für mich nicht in Frage. Und Dirk freut sich auch schon sehr darauf. Hoffentlich lassen Sie ihn bald aus dem Knast ...«

Ein paar Tränen rannen über die Wangen des Mädchens. Plötzlich sah sie wieder sehr, sehr jung aus.

»Wenn Dirk Freder Charly Meier nicht ermordet hat, dann muss er auch nichts befürchten«, betonte Heike tröstend. »Dann wusste dein Freund also, dass du schwanger bist?«

»Ja, darum ist er ja so um mein Wohlergehen bemüht! Sie haben vorhin erzählt, dass er Charly Meier bedroht hätte ... Das hat er gewiss getan, damit der Kerl mich mit seinen Drogen in Frieden lässt.«

»Nimmst du Drogen, Jasmin?«

Das Mädchen schüttelte wild den Kopf.

»Fehlanzeige, Frau Kommissarin. Ich kenne viele, die das tun, aber ich nicht. Zugegeben, einmal habe ich was probiert. Aber danach ist mir so schlecht geworden, dass ich die halbe Nacht über dem Klo gehangen habe. Nein, ich habe höchstens mal einen Sekt getrunken. Und jetzt in der Schwangerschaft auch das nicht mehr.«

»Und was war mit Charly Meier?«

»Er gehört zu den Typen, die regelmäßig im PORT-X rumhängen. Da ich fast jeden Abend da arbeite, sah ich ihn auch regelmäßig dort, okay? Er ist nur ein Gast, mehr nicht. Manchmal habe ich ein paar Takte mit ihm gequatscht.«

»Was war er für ein Mensch, Jasmin?«

»Ein Widerling war er. Ich konnte ihn nicht ausstehen, mit seinen ewigen kleinkarierten krummen Geschäften, Drogen, Omas beklauen, Autos aufbrechen und so weiter.«

»Und trotzdem hast du mit ihm geredet?«, fragte Heike einigermaßen verblüfft.

»Das hier ist St. Pauli«, sagte das Mädchen altklug. »Wir leben schließlich alle von den Gästen. Das sagt der Geschäftsführer vom PORT-X auch immer. Da kann man nicht so wählerisch sein. Ich habe mich ja Charly Meier nicht an den Hals geworfen. Nur so ein bisschen geplaudert, von wegen tolle Musik oder coole Typen da heute Abend und so weiter.«

»Wusste denn dein Dirk, dass zwischen Charly und dir nichts lief?«

»Keine Ahnung, Frau Kommissarin. Neulich stand ich mit Charly Meier an der hinteren Theke im PORT-X. Ich hatte gerade Pause und trank einen O-Saft. Da kam Charly wieder mit der Tour, dass er mir gerne eine von seinen Drogenpillen in den Saft reinschmeißen würde. Dann käme ich gleich viel lockerer drauf. Und das bekam mein Freund mit, weil er genau in dem Moment neben uns auftauchte.«

»Wie reagierte Dirk Freder?«

Jasmin druckste herum, wollte nicht recht heraus mit der Sprache. Sie wich Heikes Blick aus, spielte nervös mit einer Haarsträhne, die ihr ins Gesicht hing, und blieb stumm.

»Jasmin«, sagte Heike eindringlich. »Wenn ich dir helfen soll, musst du mir die Wahrheit sagen.«

»Dirk ist ausgerastet«, flüsterte Jasmin kaum hörbar. »Er packte Charly am Kragen. Was ihm denn einfiele, mir Drogen unterjubeln zu wollen. Und wenn Charly sich noch einmal an mich ranmachen würde, dann ... dann ...«

»Was dann, Jasmin?«

»Dann würde ein Unglück passieren. – Aber Dirk meint das nicht so«, fügte das Mädchen schnell hinzu. »Er ist eben sehr impulsiv. Aber im Grunde kann er keiner Fliege etwas zu Leide tun.«

Heike nippte an ihrem Kaffee. Sie fragte sich, ob Jasmin wirklich so naiv oder blind vor Liebe war. Dirk Freder hatte als Kampftaucher der Bundesmarine gelernt, mit Waffen und ohne Waffen zu kämpfen. Diverse Vorstrafen wegen Gewaltdelikten bewiesen, dass er nicht nur einer Fliege, sondern einem ganzen Fliegenschwarm etwas zu Leide tun konnte.

Andererseits war es natürlich denkbar, dass er sich vor seiner Teenager-Freundin in ein möglichst positives Licht gerückt hatte. Jedenfalls würde er ihr wohl kaum sein Vorstrafenregister heruntergebetet haben. Die Hauptkommissarin fragte sich jedenfalls, ob Jasmin klar war, dass sie ihren Freund soeben schwer belastet hatte.

»Wo warst du eigentlich zu der Zeit, als Charly Meier ermordet wurde?«

»Wieso wollen Sie das wissen? Denken Sie jetzt, ich hätte den Kerl erschossen?«

»Das ist eine Routinefrage«, antwortete Heike ruhig. »Im Übrigen haben laut Zeugenaussagen zwei Personen in dem gestohlenen Taxi gesessen. Wir gehen im Moment davon aus, dass der Täter auf dem Beifahrersitz war. Also muss es noch eine weitere Person geben, die den Wagen gefahren hat.«

»Logisch. Wann in etwa wurde der Charly denn erschossen?«

Heike schaute in ihre Aufzeichnungen.

»Um 18.29 Uhr.«

»Also kurz vor halb sieben? Da habe ich mit meinen Eltern und meinem Bruder noch am Abendbrottisch gesessen. Meine Schicht im PORT-X fängt ja erst um zehn an. Vorher ist da sowieso nichts los.«

»Was sagen deine Eltern eigentlich dazu, dass du auf St. Pauli arbeitest?«

Jasmin lachte und warf sich ihr langes Haar aus dem Gesicht.

»Also, begeistert sind sie davon nicht, obwohl sie ja ganz schrecklich tolerant und weltoffen und so was alles sind. Aber andererseits sind sie sogar auch ein bisschen stolz auf mich, glaube ich. Weil ich nämlich überhaupt arbeite und mir mein Geld selber verdiene. Was meinen Sie, wie viele von meinen alten Schulfreundinnen sich einen lauen Lenz machen, während sie auf einen Studienplatz warten!«

Heike machte sich ein paar Notizen. Sie konnte das Alibi natürlich checken, aber sie ging davon aus, dass die Angaben stimmten. Ihr lag jetzt eine ganz andere Sache am Herzen.

»Jasmin, bisher ist dein Dirk unser einziger Verdächtiger. Wenn – oder falls – er unschuldig ist, muss ich den wahren Täter finden. Dafür brauche ich aber deine Hilfe.«

Das junge Mädchen nickte, stützte ihr Kinn auf ihre Hand und beugte sich gespannt vor.

»Was soll ich tun, Frau Kommissarin?«

»Wer könnte ein Interesse an Charly Meiers Tod haben? Kannst du mir Namen nennen?«

»Halb St. Pauli hätte den Kerl gerne tot gesehen!«, platzte Jasmin heraus. Doch als sie Heikes unwirschen Blick bemerkte, fügte sie schnell hinzu: »Okay, das war ein dummer Spruch. Ich muss einen Moment nachdenken. So gut kannte ich ihn ja auch wieder nicht ...«

Die Kriminalistin zuckte mit den Schultern.

»Ich brauche Anhaltspunkte. Wenn nichts für einen anderen Täter spricht, dann werden sich die Ermittlungen eben weiterhin auf Dirk Freder konzentrieren ...«

»Ich denke ja schon nach, okay?«

Das junge Mädchen wirkte nun halb ärgerlich, halb verängstigt. Gedankenverloren blickte sie hinaus auf die Reeperbahn. Noch war es helllichter Tag, aber draußen hasteten schon deutlich mehr Männer auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer vorbei.

Nach einer Weile brach Jasmin ihr Schweigen.

»Da wäre zunächst einmal Ralf Bruns, Frau Kommissarin.«

»Wer ist das?«

»Ihm gehört so eine Kneipe in der Bernhard-Nocht-Straße. Zum Lotsen heißt sie, glaube ich.«

»Was hatte er gegen Charly Meier?«

»So genau weiß ich das nicht. Charly meinte mal, der Ralf wäre nicht gut auf ihn zu sprechen.«

Heike nickte. Sie würde schon selbst herausfinden, was die beiden Männer für einen Ärger miteinander gehabt hatten. Die Hauptkommissarin notierte den Namen und die Wörter Zum Lotsen.

»Fällt dir noch jemand ein, Jasmin?«

»Da wäre noch Isi Mertens.«

»Seltsamer Name. Ist das ein Mann oder eine Frau?«, wollte Heike wissen.

Das Mädchen kicherte.

»Eine Frau – und was für eine! Sie lässt nämlich allabendlich im Cat Klub an der Großen Freiheit die Hüllen fallen.«

»Eine Stripperin also.«

»Genau, Frau Kommissarin. Charly und Isi haben sich neulich mal mitten auf der Großen Freiheit gezofft. Das war echt die Attraktion für alle Touristen. Action auf St. Pauli! – Aber im Ernst, Charly Meier hat Isi mit Drogen beliefert. Kann sein, dass es da Ärger gab. Und ihr Name ist übrigens nur eine Abkürzung. Sie heißt nämlich richtig Isabel. Und als Stripperin nennt sie sich sowieso Chantal.«

»Du kennst dich ja ziemlich gut aus.«

Das Mädchen lächelte geschmeichelt.

»Das ist eben St. Pauli, Frau Kommissarin. Hier ist immer was los. Es gibt nichts, was es nicht gibt.«

Darauf erwiderte Heike nichts. Als Polizistin hatte sie die Schattenseite von St. Pauli kennen gelernt. Beruflich bekam sie es immer nur mit den Menschen zu tun, die an St. Pauli gescheitert waren. Leute, die hier ihr ganzes Geld verloren hatten, ihre gute Gesundheit – oder sogar ihr Leben.

Aber Heike wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, Jasmin eine Moralpredigt zu halten. Damit würde sie nur das Gegenteil erreichen. Stattdessen stellte sie lieber weiterhin ihre Fragen.

»Isi Mertens erreiche ich also im Cat Klub auf der Großen Freiheit. – Kommen dir noch weitere Verdächtige in den Sinn?«

Jasmin legte nachdenklich ihren linken Zeigefinger an die geschürzten Lippen.

»Auf Anhieb fällt mir noch Albert Panning ein. Das ist so ein Gentleman-Typ, jedenfalls vom Äußeren her. Aber er ist total süchtig ...«

»Heroinabhängig?«, warf Heike ein. Sie wusste, dass Junkies manchmal zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigten.

»Nein, das nicht, Frau Kommissarin. Panning ist so ein Spielertyp. Black Jack, Roulette, Poker – das sind Sachen, auf die er abfährt.«

»Woher kennst du ihn?«, wollte Heike wissen.

»Kennen ist zu viel gesagt. Ich habe ihn mal auf der Straße gesehen. Charly Meier hat ihn mir gezeigt. Wir sind gerade aus dem PORT-X gekommen, als dieser spießig gekleidete Kerl in Richtung Reeperbahn gehetzt ist. Er hat uns nicht bemerkt. Aber Charly hat ihn gesehen. Er stieß mich an und meinte: ›Siehst du den Lackaffen da? Der steht bei mir mit 50 Riesen in der Kreide!‹«

Dieser Albert Panning sollte also Charly Meier 50.000 Euro schuldig sein? Nach der Durchsuchung der Wohnung des Opfers hatte Heike nicht den Eindruck, als ob Charly Meier überhaupt nur fünfzig Euro hätte verleihen können. Aber so ein Eindruck konnte natürlich auch täuschen. Gerade Rauschgifthändler wohnten oft in Bruchbuden, hatten aber andererseits alle Taschen voller Geld.

»Kannst du mir diesen Albert Panning beschreiben, Jasmin?«

»Hm, er war groß und schlank. Ging, als ob er einen Stock verschluckt hätte. Dann hatte er so einen dunklen Anzug mit Weste an. Sein Haar war kurz geschnitten, dunkelbraun mit Seitenscheitel. Sieht voll peinlich aus, die Frisur. Und dazu trägt er einen Schnurrbart.«

»Wie alt schätzt du ihn?«

»Der muss schon total alt sein. Vierzig oder so.«

Heike wusste aus Erfahrung, dass Altersschätzungen von Teenagern selten verlässlich waren. Aber sie hatte es wenigstens probiert, die Frage zu stellen. Jedenfalls war die Hauptkommissarin sicher, dass sie diesen Albert Panning auftreiben würde. Sie kannte die Spielhöllen von St. Pauli – die legalen ebenso wie die verbotenen.

Heike klappte ihr Notizbuch zu. Sie überreichte dem Mädchen eine ihrer Visitenkarten.

»Du hast mir sehr geholfen, Jasmin, vielen Dank. Ich werde weiter ermitteln. Für mich ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Eigentlich fangen die Ermittlungen jetzt erst richtig an.«

»Dann glauben Sie also nicht mehr, dass Dirk den Charly Meier getötet hat?«, fragte Jasmin hoffnungsvoll.

»Was ich glaube, ist uninteressant, Jasmin. Für die Polizei zählen nur Tatsachen. Je eher ich den Täter finde, desto besser ist es jedenfalls.«

Trotzig verschränkte das Mädchen die Arme vor der Brust. »Mein Dirk ist kein Mörder!«

Heike seufzte innerlich. Sie legte das Geld für den Kaffee auf den Tisch.

»Bitte ruf’ mich sofort an, wenn dir noch etwas einfällt. Selbst die scheinbar unwichtigsten Kleinigkeiten können helfen, einen Mordfall aufzuklären.«

Immerhin steckte Jasmin die Visitenkarte in ihre Wildlederjacke. Heike verließ die Eisdiele, ohne sich noch einmal umzudrehen. Nun hatte sie einige Verdächtige, bei denen sie ansetzen konnte. Sie beschloss, zunächst einmal die Namen durch das Verbrecherkartei-Programm laufen zu lassen. Aber dafür musste sie natürlich ins Präsidium zurück.

Obwohl allmählich der Feierabendverkehr einsetzte, schaffte die Hauptkommissarin die Strecke nach Alsterdorf in einer halbwegs erträglichen Zeit. Privat nahm sie lieber die U-Bahn oder ihr Mountainbike, aber im Einsatz war der Dienstwagen mit der Funkanlage einfach nicht zu ersetzen.

Sie hatte das Gerät leise gedreht, hörte aber automatisch mit einem Ohr auf den Funkverkehr, wie es ihr seit ihrer Zeit bei der Schutzpolizei und der Einsatzhundertschaft in Fleisch und Blut übergegangen war.

Im Präsidium hatte sie kaum ihren Computer eingeschaltet, als schon Dr. Magnussen aus seinem Büro geschossen kam.

»Frau Stein, kommen Sie doch bitte einmal zu mir!«

Heike atmete tief durch. Sie kannte diesen Tonfall ihres Vorgesetzten. Das ließ nichts Gutes ahnen. Aber sie ging in sein Büro und machte ein Gesicht, als wäre alles in Butter.

»Mir scheint, dass Sie diesen Mordfall auf St. Pauli zügig abschließen können, Frau Stein«, sagte der Kriminaloberrat, nachdem er Heike gnädigerweise einen Platz angeboten hatte.

»Wie Sie wissen, sind wir personell momentan mehr als knapp besetzt. Ich brauche Sie für das Tötungsdelikt in Lokstedt ...«

Heikes Gehirn arbeitete fieberhaft. Wenn sie jetzt wieder aufmuckte, würde Dr. Magnussen sie nicht nur zur Schnecke machen, sondern ihr den Fall so oder so entziehen. Schließlich war der Mord an Charly Meier nach Indizienlage geklärt, wie es so schön im Beamtendeutsch hieß. Und auf den ersten Blick sprach nichts gegen Dirk Freder als Täter.

Doch Heike hatte ein ganz undienstliches mieses Gefühl bei der Sache. Sie konnte das verzweifelte Gesicht von Jasmin nicht vergessen. Dieses Mädchen, das einerseits ein halbes Kind, aber andererseits schon eine werdende Mutter war. Und bei aller offensichtlichen Unreife des Mädchens hatte Heike doch an einer Sache keinen Zweifel. Nämlich daran, dass Jasmin ihren Dirk wirklich liebte.

Die Hauptkommissarin musste jetzt mit weiblicher List vorgehen, wenn sie noch eine Schonfrist für sich und ihre Ermittlungen herausschlagen wollte.

Kleine Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, so sehr setzte sie sich selbst unter Druck. Und dann fiel ihr die Lösung ein.

»Ja, Herr Kriminaloberrat.« Heikes unschuldiger Augenaufschlag war filmreif. »Ich wollte Sie ohnehin noch wegen eines Gesichtspunktes um Rat fragen ...«

»Fragen Sie nur, Frau Stein«, sagte Dr. Magnussen gönnerhaft und nahm seine kalte Pfeife aus dem Mund. »Dafür sind erfahrene Vorgesetzte schließlich da!«

»Also, wir haben zwar den Täter. Doch die Ermittlungen zeigen, dass Täter und Opfer in das Organisierte Verbrechen verwickelt waren. Wie können wir es hinbekommen, dass die Medien davon nichts mitkriegen? Vor allem das Fernsehen ... die sind doch ganz wild auf Reportagen, in denen es um Organisiertes Verbrechen geht!«

Dr. Magnussen war ganz Ohr.

»Sie meinen, das Fernsehen hat Interesse an dem Fall?«, fragte er und beugte sich so weit über den Tisch, dass seine Tabakspfeife beinahe Heikes Nase berührt hätte.