30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa -  - E-Book

30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa E-Book

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Beschreibung

Ende 2019 jährte sich zum dreißigsten Mal der Jahrestag der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei. Im vorliegenden Band wird dies zum Anlass genommen, die Geschichte der politischen, kulturellen und literarischen Grenzziehungen und Nachbarschaften im Zentraleuropa des 20. Jahrhunderts neu zu sichten. Die Überblicks- und Fallstudien lassen mit großer Deutlichkeit die zentraleuropäische Interkulturalität hervortreten - als Korrektiv des scheinbar durch Nationalismen und Eiserne Vorhänge getrennten Jahrhunderts. Durch paradoxe Wendungen wie "erträgliche Unzufriedenheit" (Lukás Fasora) oder "sensible Beziehungen" (Oliver Rathkolb) auf den Punkt gebracht, wird in den Beiträgen die Koexistenz von Grenzlinien und Grenzüberschreitungen bei zentraleuropäischen "Konfliktgemeinschaften" (Jan Kren) vorgeführt. Präsentiert werden Fallbeispiele aus österreichischer und tschechischer, aber auch im weiteren Sinne (post-)habsburgischer Geschichte und Literatur.

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Wolfgang Müller-Funk / Jan Budňák / Tomáš Pospíšil / Aleš Urválek (Hrsg.)

30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa

Literatur, Kultur und Geschichte

Umschlagabbildung: Red heart and signature. Memorial to Czech president Václav Havel on the square near the national theater, Prague, Czech Republic – May 26, 2020; rudnitskaya_anna, Stock-Foto ID: 1774651409

 

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783772057236

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 1862-2518

ISBN 978-3-7720-8723-3 (Print)

ISBN 978-3-7720-0151-2 (ePub)

Inhalt

VorwortGrenze und NachbarschaftZeitliche und räumliche GrenzlinienIn der Wahrheit leben: Václav Havel, Jiří Gruša, Milan Kundera. Drei LektürenDas Ende des realen Sozialismus und das neue Europa. Besichtigung der Jahre 1968 und 1989 und LektürenDas Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“LiteraturQuellenSensible BeziehungenNationalsozialistisches TerrorregimeNachbarschaft zwischen Kontakten und Konfrontationen: Österreich und die Tschechoslowakei 1945–1948Latente Konflikte trotz Nachbarschaftspolitik 1948–1958–1967/681968–1976/77: Von der Eiszeit zur reservierten NormalisierungZwischen Entspannungsversuchen, stetigen Wirtschaftskontakten und Auseinandersetzungen um die Menschenrechte 1970–1989Sprachen trennen und verbinden1. Vorbemerkung2. Linguistische Areale und die Habsburgermonarchie3. Polyzentrische Konvergenz und Gebärdensprache in Altösterreich4. SchlussZentraleuropäische Geschichte(n) im Medium der LiteraturFigurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa (Radka Denemarková, Reinhard Jirgl, Szczepan Twardoch)Radka Denemarková oder der absentierte MannReinhard Jirgl und die SprachkryptaSzczepan Twardochs Zeit im RaumAbsentierung, Sprachkrypta, Stratifizierung von Zeit im Raum – kleine ZusammenfassungGedächtnis, Schuld und Sühne1. Radka Denemarková2. Peníze od Hitlera (Letní mozaika) (2006) / Ein herrlicher Flecken Erde (2009)3. Příspěvek k dějinám radosti (2014) / Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (2019)4. Gedächtnis, Gewalt, Schuld und Sühne – vergleichende Analyse5. ResümeeEine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen1. Die ‚goldenen‘ sechziger Jahre2. Die ‚normalisierten‘ siebziger und achtziger Jahre3. Die Jahre nach der ‚Samtenen Revolution‘Repräsentationen von GrenzenZur Darstellung von Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken1. Das Haus als Motiv der Begrenzung2. Zur Genese der Novelle Der Großmeister aller Schurken3. Zur Novelle Der Großmeister aller Schurken4. Metonymie der GrenzerfahrungLiterarische Grenzgänger im doppelten SinneKarl-Markus GaußBeppo BeyerlSchlussGrenzen in ‚Mikrokosmen‘ zentraleuropäischer RegionenRijeka/Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien1.2.Waldviertler Juden in und aus Šafov/SchaffaAuswanderungEinwanderungFischerFürnbergGuttmannHauserHerzogHirschKellnerKollmannKohnMeyerSaglSchickSchlesingerOrt – Unternehmen – Menschen1. Einleitung2. Beginn3. Jahre 1920-19454. Von 1945 bis heute5. ZusammenfassungInternationale Trajektorien und Netzwerke„Bei uns in Reichenberg.“ Autobiographien der deutschsprachigen Komiker Paul Hörbiger, Max Böhm und Fritz Eckhardt als Verhandlungsorte der IdentitätenBedeutung der Autobiographie für die TheatergeschichteKonstruktion der künstlerischen IdentitätResümeeTheodor Hartwig, proletarischer Freidenker der Zwischenkriegszeit in lokalen und translokalen ZusammenhängenProlog - Lehrer und Bildungsreformer: Wien, BrünnKosmopolit, Sozialist, Freidenker: Brünn, Prag, Tetschen-BodenbachProletarischer Freidenker im politischen Feld Zentraleuropas: Brünn, Wien, Teplitz-Schönau, Tetschen-Bodenbach, Essen, Prag usf.Epilog und FazitEuropa als Kuppelbau der nationalen SäulenLiteratur

Vorwort

Im November/Dezember 2019 jährte sich zum dreißigsten Mal der Jahrestag der Samtenen Revolution (Sametová revoluce) in der damaligen Tschechoslowakei. Die epochemachenden Ereignisse wurden damals nicht nur von politischen und diplomatischen Repräsentationen der Nachbarländer wahrgenommen und begrüßt, sondern sie brachten auch einen Wendepunkt in der Entwicklung der Grenzregionen mit sich. Der Eiserne Vorhang (Železná opona) fiel nicht nur als Sinnbild einer scheinbar unerschütterlichen Weltordnung, nicht nur als eine geopolitische Dominante, sondern auch als ein konkretes ‚Bauwerk‘, eine reale, vor kurzem noch unüberwindbare Trennlinie. Auch in dieser Sphäre der Begegnung, der unmittelbaren Kontaktzone wurde der Eiserne Vorhang überraschend schnell von Grenze und Nachbarschaft abgelöst. Ein konkretes Beispiel, eines von vielen, sei hier genannt:Bereits Ende November 1989 fanden die ersten Solidaritätsveranstaltungen in der niederösterreichischen Grenzregion Drosendorf-​Langau statt. Studentinnen und Studenten aus dem südmährischen Brünn/Brno, aber auch Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft lernten zum ersten Mal nach Jahrzehnten ihre Nachbarn im österreichischen Waldviertel kennen. Im Rahmen der Waldviertelakademie wurde das Veranstaltungsformat Grenze und Nachbarschaft ins Leben gerufen. In zahlreichen Symposien kamen Wissenschaftler_innen aus beiden Ländern zusammen, und es entstand ein breiter, grenzüberschreitender Austausch, der von Sprachkursen und Ausstellungen bis zu literarischen, sportlichen und filmischen Aktivitäten reichte.

Die heute in beiden Ländern lebenden Generationen blicken auf diese Ereignisse bereits zurück wie auf eine Geschichte, die sie selbst nicht erlebt haben. Mit dem EU-​Beitritt Österreichs und später auch Tschechiens (und der Slowakei) hat sich der Charakter von Grenze und Nachbarschaft weiter modifiziert und so kann mittlerweile zu Recht gefragt werden, ob sich die beiden Länder in den drei Jahrzehnten näher gekommen sind, wie ‚normal‘ unsere Beziehungen sind, welche Rolle dabei das europäische Projekt spielt und was uns heute trennt. Der Band Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa. Literatur, Kultur und Geschichte strebt eben einen solchen reflektierten Rückblick auf die genutzten, sowie die versäumten Möglichkeiten in dieser Nachbarschaft an.

Der Tradition der einstmaligen Symposien Grenze und Nachbarschaft folgend, wurde vom 5. bis 7. Dezember 2019 aus Anlass des 30jährigen Jubiläums von 1989 ein transdisziplinäres, wissenschaftliches Symposion veranstaltet, das Grenze und Nachbarschaft in verschiedenen Bereichen (Literatur, Sprache, Kultur, Politik, Zeitgeschichte, Region) sowie Epochen und Perioden thematisierte. Die historische Dimension, die über das kurze 20. Jahrhundert hinausgreift, war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil an ihr deutlich wird, dass sich Phänomene wie Grenze, Nachbarschaft, Zugehörigkeit und Identität ändern.

Die universitären Kooperationspartner der Veranstaltung waren die Universität Wien (Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft, Institut für Slawistik) und die Masaryk-​Universität Brünn/Brno (Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik), die lokalen Mitveranstalter waren der Waldviertler Heimatbund, die Waldviertel-​Akademie, die Stadtgemeinde Drosendorf-​Zissersdorf, der Kulturverein KuKUK und der Filmclub Drosendorf. Die Tagung wurde maßgeblich vom Land Niederösterreich unterstützt.

Die Ergebnisse der Tagung werden im vorliegenden Band in fünf Blocks mit eigenen thematischen Schwerpunkten präsentiert. Dem ersten Block Grenze und Nachbarschaft, der vier Studien synthetisierenden Charakters enthält, steht der Beitrag Wolfgang Müller-​Funks (Wien) „Zeitliche und räumliche Grenzlinien. Zwei Essays zwischen Literatur und Geschichtsphilosophie“ voran. Der Verfasser nimmt das berühmte Wort Václav Havels vom „Leben in der Wahrheit“ zum Ausgangspunkt und untersucht die Parallelitäten zu dieser – erst recht angesichts totalitärer politischer Systeme – durchaus anspruchsvollen, subversiven Existenzform in Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und Jiří Grušas Buchessay Beneš als Österreicher. Der zweite Abschnitt des Beitrags Müller-​Funks, der zweite Essay (Untertitel, im Folgenden UT), zieht den Schluss, dass im zentraleuropäischen Kontext „eine offene Gesellschaft auf Grund der Geschichte des Halbkontinents nur europäisch ausgestaltet werden [kann]. Das ist die eigentliche Botschaft einer Revolution, die eine Korrektur einer fehlgelaufenen Geschichte gewesen ist, aber noch nicht ein Projekt, das sich nicht zuletzt auch dadurch auszeichnen würde, dass seine transnationalen Akteure gelernt haben, angemessen mit Grenzen umzugehen.“ Der Umgang mit tschechisch-österreichischen Grenzen und Nachbarschaften in historischer Perspektive des ‚langen 20. Jahrhunderts‘ wird in den Beiträgen von Lukáš Fasora (Brünn) und Oliver Rathkolb (Wien) durch eine Reihe paradoxer Formulierungen ins Auge gefasst. Das nationale Zusammenleben von ‚Tschechen‘ und ‚Deutschen‘ in der späten Habsburger Monarchie wird von Fasora durch die Formel einer „erträglichen Unzufriedenheit“ charakterisiert, Rathkolb spricht wiederum im Hinblick auf die österreichisch-​tschechoslowakischen Nachbarschaft zwischen 1918 von „sensiblen Beziehungen“. In der Tat aber zeigen beide Beiträge, dass der „integrale Nationalismus“ (Fasora), d.h. ein nationales Identitätsangebot, das „alle anderen überlagerte“, eine historisch begrenzte Geltung sowie eine erhebliche Variabilität aufweist. Die österreichisch-​tschechoslowakische bzw. tschechische Nachbarschaft erscheint in diesem Lichte als ein Prozess, der voll von kon- und divergierenden Tendenzen, voll von Dis- und Kontinuitäten ist, die es konkret zu untersuchen gilt. Im letzten Beitrag des ersten Blocks über „Sprachliche und kulturelle Konvergenz in den linguistischen Arealen der ehemaligen Habsburgermonarchie“ (UT) werden von Stefan Michael Newerkla (Wien) die Ergebnisse einer breit angelegten Analyse von linguistisch-​kulturellen Kontakträumen in der Habsburger Monarchie vorgelegt. Diese werden als ein „linguistisches Areal“ (van Gijn/Muysken) betrachtet und zeichnen sich durch weitreichende sprachlich-​kulturelle Konvergenzen in Lexik und Syntax, in Standard- und Substandardvariäteten des (österreichischen) Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Yiddisch, Ungarisch usf. aus. Die Menge der von Newerkla aufgezeichneten Konvergenzen ist schier unendlich; sie allein straft den teleologischen, oft rückwärtsgewandten Anspruch vieler national-​kultureller Narrative Lügen.

Im zweiten Block folgen Analysen von zentraleuropäischer Geschichte bzw. zentraleuropäischen Geschichten im Medium der Literatur. Alfrun Kliems (Berlin) und Alexandra Millner (Wien) gehen von den Romanen Radka Denemarkovás aus, um die hauting memory des Holocaust und des Krieges (Kliems) bzw. die Tabus der männlich dominierten Geschichte der totalitären Regimes in Zentraleuropa (Millner) anhand von literarischen Repräsentationen zu untersuchen. Kliems hält in den Werken von Denemarková, Jirgl und Twardoch mehrere literarische Figuren fest, die die Latenz transgenerationeller Traumata aufscheinen lassen: montierendes Schreiben, sprachkryptische Ausdrucksweisen („Nach-​Auschwitz-​Sprache“), posthumanes Erzählen. Demgegenüber konzentriert sich Millners Analyse von Denemarkovás Romanen stärker auf den tschechischen Kontext: Von den kollektiven Verdrängungen, die Denemarkovás Texte deutlich machen und aufbrechen wollen, beleuchtet Millner nicht ‚nur‘ die ‚nationalen‘ (z.B. die Vertreibung), sondern deutet diese auch als genderspezifische Gewalt und Verdrängung. Gerade in diesem Aspekt erblickt Millner mit Recht das größte subversive Potential der Autorin. Literatur bedeutet aber nicht nur subversives Schreiben, sondern stellt im günstigen Fall auch Beziehungen zwischen Menschen her. Für Friederike Mayröcker, die leider unlängst (4. Juni 2021) verstorben ist, und die tschechische Autorin und Übersetzerin Bohumila Grögerová, hat sich diese günstige Situation vor bzw. im ‚Prager Frühling‘ der 1960er Jahre ergeben. Ihre durch Literatur zustande gekommene und in Literatur festgehaltene Freundschaft wird zum Abschluss des zweiten thematischen Blocks von Gertraude Zand (Wien) rekonstruiert.

Der dritte und vierte Block des Bandes befassen sich mit Repräsentationen von Grenzen bzw. mit deren realer historischer Erscheinungsform in ‚Mikrokosmen‘ einiger zentraleuropäischer Regionen. Milka Car (Zagreb) arbeitet die ausweglose, schließlich ins Groteske umstülpende Grenzlage eines zentraleuropäischen Intellektuellen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken (Veliki meštar sviju hulja) aus, dessen Grenzerfahrung in den Kontext einer nicht realisierbaren gesellschaftlichen Wandlung eingesetzt und mit dieser konfrontiert wird. Zdeněk Mareček (Brünn) befasst sich in seinem Beitrag mit zwei literarisch-​essayistischen ‚Grenzgängen‘: Karl-​Markus Gauß‘ Texten zum Thema Grenze und Peripherie, insbesondere der Anthologie Buch der Ränder, deren Vorwort und Konzept, und der Brünner Essay Der Regen von Brünn, und Beppo Beyerls literarisiertem Wanderbericht Achtung Staatsgrenze. Auf den Spuren des Eisernen Vorhangs. Bei beiden Autoren diagnostiziert Mareček eine Korrelation zwischen dem sozialkritischen Ansatz und dem ‚Unterwegssein‘ an der Grenze und in Grenzregionen, dem Interesse für Grenz- und Randlagen; er führt allerdings auch vor, wie schwierig es ist, die eigene Optik, die bei beiden Autoren und den Protagonisten ihrer Texte von der einen Seite der Grenze kommt, offen zu halten. Bewegungen entlang der Grenze, aber auch über sie hinaus werden auch in den als regionale case studies angelegten Beiträge im vierten Block des Bandes fokussiert. In allen drei Fällen wird die jeweilige spezifische Interkulturalität der jeweiligen Region bzw. deren Wandlungen und Paradoxien ins Zentrum der Betrachtung gestellt. Marijan Bobinac (Zagreb) führt die kulturelle und sprachliche Vielfalt einer Region am Beispiel der Stadt Rijeka/Fiume vor, Friedrich Polleroß (Wien) geht den Migrationswellen und Kontakten, die in beiden Richtungen über die Grenze verlaufen, von Waldviertler und südmährischen Juden im 17. bis 20. Jahrhundert nach, und Daniel Lyčka (Brünn) rekonstruiert schließlich die wahrhaft zentraleuropäische Geschichte der liechtensteinischen Tonwarenfabrik im südmährischen Unterthemenau/Poštorná, die im industriellen Milieu alle Wendungen der bewegten Geschichte Österreich-​Ungarns und der Tschechoslowakei von der geographischen Grenz- und Randlage her mitgemacht hat.

Im letzten Block des Bandes werden schließlich drei Beiträge versammelt, die Laufbahnen und Trajektorien international und oft auch mehrsprachig agierender Intellektueller und kultureller Persönlichkeiten nachzeichnen, in denen Beispiele für verschiedene intellektuelle und künstlerische Netzwerke der Zwischenkriegszeit erblickt werden können. Michaela Kuklová (Wien) rekonstruiert anhand von Schauspielerautobiographien deren internationalen Trajektorien zwischen Zentrum und Provinz, die bis zum Zweiten Weltkrieg in der Regel so verliefen, als dass sie auf einen Staat oder eine Sprache begrenzt wären. Jan Budňák (Brünn) und Aleš Urválek (Brünn) gehen schließlich den Laufbahnen zentral- bzw. gesamteuropäisch wirkender Intellektueller nach, die einmal im linken, einmal im geistesaristokratischen Segment eher rechter Prägung des politisch-​intellektuellen Spektrums angesiedelt sind: an Beispielen von Theodor Hartwig und den internationalen proletarischen Freidenkern bzw. von den Europäischen bzw. Paneuropäischen Bewegungen, gruppiert um Karl Anton Rohan bzw. Richard Coudenhove Kalergi, wird nochmal deutlich, wie stark grenzübergreifend Ideen und Impulse zirkulieren und produktiv umgesetzt werden können, solange die Nachbarschaft gefördert und nicht, wie bis 1989, durch eiserne Vorhänge gehindert wird.

 

Wolfgang Müller-Funk, Jan Budňák, Tomáš Pospíšil, Aleš Urválek

Brno und Wien, Mai 2022

Grenze und Nachbarschaft

Zeitliche und räumliche Grenzlinien

Zwei Essays zwischen Literatur und Geschichtsphilosophie

Wolfgang Müller-Funk

Abstract

In the first part of the paper, three texts by Czech authors are used as “compasses” for orientation in the country’s literary landscape: Milan Kundera’s novel Nesnesitelná lehkost bytí (1984, The Unbearable Lightness of Being), Václav Havel’s essay Moc bezmocných (1978, The Power of the Powerless) and Jiří Gruša’s book essay Beneš jako Rakušan (2011, Beneš as an Austrian). In Havel’s essay, the moral claim to live in truth is asserted and made the basis of a protest that wants to tear off the mask of a mendacious and repressive system. In Kundera’s work, “living in truth” is based on an aesthetic focus and does not give rise to a political project, but rather a longing for existential honesty against oneself, which of course ultimately brings an ethical maxim of life into play. In Gruša’s essay, the nationalistic state of mind, the sacro egoismo, stands in the way of the categorical imperative to live in truth, not only in case of Beneš himself, but for the entire community.

The second part of the article describes the European prehistory of ‘velvet revolutions’ of 1989 in Central Europe and points to the obstacles that threaten the consequences of this democratic development through divisive nationalisms. The history of the continent teaches us that an open society can only be shaped in a European way. This is the real message of a revolution that has been a correction of a history gone wrong, but not yet a project that would too be characterised by the fact that its transnational actors have learned to deal with borders accordingly. This skill is, however, crucial for the possibility of mutual respect and openness.

Keywords

essayism, Central Europe, 1989, borders, nationalism, Milan Kundera, Václav Havel, Jiří Gruša

 

In der Wahrheit leben: Václav Havel, Jiří Gruša, Milan Kundera. Drei Lektüren

Der Verfasser dieses Aufsatzes nimmt für diesen Beitrag drei Texte zur Hand, wieder zur Hand. Das Wunderbare an einem Leben mit Literatur besteht nicht zuletzt darin, Bücher wiederholt in die Hand zu nehmen. In der Wiederholung tritt eine spezifische Differenz zutage, wie uns eine wiederholte Lektüre zentraler Schriften von Jacques Derrida nahelegt. Man kann die erwähnten Texte zum Beispiel als jemand in die Hand nehmen, der berufsmäßig literarische Texte liest, oder als ein Intellektueller, der sich durch das Medium des Literarischen über Außerliterarisches verständigt und schließlich als Kulturwissenschaftler, der diese Texte auch als Formate studiert, die zu klären helfen, wo wir uns gegenwärtig historisch und kulturell befinden.

Ein literarischer oder auch ein essayistischer Text lässt sich wie ein Kompass verwenden, der einem hilft, sich in der Landschaft einer bestimmten Gesellschaft, einer konkreten Kultur zu orientieren. Dabei wurden drei Texte ausgewählt, die aufgrund ihrer Verschiedenheit ein differenziertes Bild des nördlichen Nachbarlandes ergeben, das seit 1918 Tschechoslowakei und seit 1994 Tschechien heißt.

Beginnen wir mit dem berühmtesten, jenem von Milan Kundera, bei dem manche seiner Landsleute längst bezweifeln, dass er noch ein Tscheche sei, weil er seit Jahrzehnten in Frankreich lebt und seit geraumer Zeit auf Französisch und nicht mehr auf Tschechisch schreibt, was ihm bekanntlich den Argwohn nationalistischer Kreise in unserem nördlichen Nachbarland eingetragen hat. Exilanten sind nur selten beliebt bei den Zuhause-​Gebliebenen, denen der Vorwurf der Fahnenflucht leicht über die Lippen geht.

Nesnesitelná lehkost bytí (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins) erschien im Westen und so auch in Deutschland im Jahr 1984, zu einem Zeitpunkt, als niemand davon ausgehen konnte, dass in fünf Jahren der absurd reale Sozialismus zu Ende sein würde. Der Roman des Autors, der sich eine Zeit lang federführend an der Diskussion über Mitteleuropa beteiligt hatte, lässt sich aus heutiger Sicht als ein Schluss-​Strich unter das Kapitel Sozialismus, als ein unwiderruflicher Abschied von diesem, lesen.

Sein epochaler Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins wurde vom Verfasser dieser Zeilen mehrmals gelesen und oft in der Hand gehalten. Kundera ist ein Autor, der polarisiert, entweder man mag ihn oder man lehnt ihn ab – vielleicht und gerade wegen der Leichtigkeit, zu der der Roman, ein zwiespältiges Verhältnis unterhält.

Der Prager Frühling von 1968 bildet die gar nicht so heimliche zentrale narrative Achse dieses Romans, das Schlüsselereignis, um das das Geschehen kreist. Es sind insgesamt vier Protagonistinnen und Protagonisten, die dabei ins literarische Spiel kommen, die bildende Künstlerin Sabina, der angesehene Chirurg Tomas, seine Geliebte und Frau Teresa, eine Photographin, und ein österreichisch-​französischer Arzt namens Franz, die einzige Figur außerhalb des tschechischen Kosmos. Er repräsentiert aus dem tschechischen Blickwinkel seiner zeitweiligen Geliebten Sabina das Andere des östlich-​post-​stalinistischen Europas. Sabina, die zuvor auch eine der vielen Geliebten von Tomas gewesen ist, funktioniert im Roman wie letzterer als Fokalisator-​Figur, die über weite Strecken mit Perspektiven der Erzählinstanz koinzidiert. Von den vier Hauptfiguren werden verschiedene Perspektiven auf das politische und zugleich private Geschehen entworfen.

Der Titel trägt ein verstecktes Narrativ in sich, das bis heute wirksam ist. Denn eine merkwürdige Reaktionsform auf das symbolische Ende des Sozialismus und der Energien und utopischen Kräfte, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfachte, ist in diesem musikalisch komponierten Werk die angesprochene Leichtigkeit. Sie bildet gleichsam das Leitmotiv, dem alle Personen unterworfen sind – manche wehren sich gegen diese und manche surfen in dieser neuen Zeitströmung. Sabina, die als weibliche Gegenfigur zu Tomas, als skeptisches alter ego zu ihm, fungiert, ist dadurch charakterisiert, dass sie mit der Emigration in die Schweiz, nach Frankreich und schließlich nach Amerika all den ideologischen und dramatischen Ballast abwirft. Sie ist aufgeklärt über jene Form von Aufklärung, die sich historisch mit dem Sozialismus verabschiedet. Für Tomas hingegen, der nach einem kurzen Intermezzo im Schweizer Exil nach Prag zurückkehrt, weicht durch den Eintritt der ernsten Teresa in sein Leben und auch mit den russischen Panzern anno 1968 die Leichtigkeit einer Schwere, die stärker wiegt als russische Panzer. Die Pointe von Kunderas skeptischem Befund besteht darin, dass sowohl die Leichtigkeit als auch die Schwere letztendlich unerträglich sind. Was unerträglich an der geschichtlichen Situation ist, das ist nicht zuletzt jene Leere, die das in diesem Milieu antizipierte Ende der großen Erzählung des Sozialismus hinterlässt. Desillusionierung macht nicht glücklich und sie führt bei Kundera nicht zu einem zweiten politischen Leben nach dem Kommunismus. Das ist die Bürde, die jene Figuren, die im Roman keinen Platz haben, die Chartisten von 1977 und dann von 1989, ganz unfreiwillig und wohl auch übersehen, mit sich schleppen. Sie machen Geschichte nach dem Ende der Geschichte im pathetischen Sinn jener Moderne, für die es mehrere zeitliche Anfänge gibt. Régis Debray hat einen auf das Jahr 1348, als Petrarca in einem sinnbildlichen Akt den Mont Ventoux bestieg, datiert.1 Als ganz andere, aber konstitutive Anfangsdaten scheinen 1789 und 1917 gleich zu Beginn des Romans, im essayistischen Vorspiel auf, wenn die von Nietzsche reaktivierte Figur der Wiederkehr des Gleichen das große lineare Narrativ vom Fortschritt, vom Langen Marsch Maos durchkreuzt:

Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Robespierre, der in der Geschichte nur ein einziges Mal aufgetreten ist, und einem Robespierre, der ewig wiederkehrt, um den Franzosen den Kopf abzuhacken.2

Was der Roman plastisch vorführt, ist die paradoxerweise ebenfalls große, postmoderne Erzählung vom Ende der großen Erzählungen, die in dem intellektuellen Milieu, das Sabina und Tomas repräsentieren, schon vor 1968 zutage tritt. Dieses sozialistische, so bürgerliche wie antibürgerliche Milieu ist dadurch charakterisiert, dass es die fehlende Freiheit durch freizügige Lebensformen ersetzt.3 Tomas ist ein Don Juan, der damit prahlt, 200 Frauen sexuell ‚besessen‘ zu haben, weniger aus Lust, sondern vielmehr aus der Getriebenheit der Neugierde für den kleinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Sabina, die nackt und nur mit Melone am Kopf vor ihren Liebhabern posiert, ist sein Pendant. Am Ende trennen sich ihre Wege, ihre Positionen treten auseinander. Sabina wird eine erfolgreiche Künstlerin im gelobten Westen, in US-​Amerika, die ihre Heimat vergessen will, während Tomas in der Normalizace seinen Beruf verliert und sein betriebsames Liebesleben in seinem neuen Beruf als Fensterputzer fortsetzt. Am Ende kommen Teresa und er durch einen absurden und sinnlosen Zusammenprall mit einem Lastwagen ums Leben.

Versuch in der Wahrheit zu leben lautet der deutsche Titel des zweiten Textes. Er stammt von Kunderas Antipoden Václav Havel, ein wichtiger programmatischer Essay aus dem Jahre 1978, der die intellektuelle Befindlichkeit zwischen Charta 77 und der Samtenen Revolution freilegt. Der tschechische Buchtitel lautet etwas anders, nämlich Moc bezmocných, (Die Macht der Machtlosen). Der Zusammenhang zwischen den beiden Titeln ist indes evident. Denn die Macht der machtlosen Dissidenten gründet sich auf deren moralischem Anspruch, in der Wahrheit zu leben. Moc bezmocných ist eine ethische Kritik an der Zerstörung des privaten und des politischen Lebens. Obgleich niemand mehr an die schwülstigen Formeln des staatlich verordneten ‚Marxismus‘ glaubt, läuft das Programm dieser absurd gewordenen und deshalb verlogenen Erzählung wie eine Endlosschleife weiter. Die poststalinistische Gesellschaft verkörpert das Leben in der Unwahrheit. Sie ist eine in jeder Hinsicht kleine, aber hinterhältige Erzählung. In den Körpern ihrer Mitglieder ist diese Falschheit zutiefst verankert, in den Verhaltensweisen, im Denken und in den Gefühlen.

Havel macht seine Sicht der Dinge an einem Tableau plastisch, das auch von Roland Barthes stammen könnte. Der Leiter eines Gemüseladens platziert im Schaufenster seines Geschäftes zwischen Zwiebeln und Karotten das Spruchband „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“4 In einer semiotischen Analyse, die ein wenig an Roland Barthes’semiotische Methode in den Mythologies erinnert, legt Havel den Hinter-​Sinn dieser Manifestation des Gemüsehändlers frei. Gewiss, dem Gemüsehändler ist dieser Spruch völlig gleichgültig, aber er hat eine Meta-​Bedeutung, die Havel freilegt: Die Parole hat die Funktion eines Zeichens. Als solches enthält sie eine zwar versteckte, aber ganz bestimmte Mitteilung. Verbal könnte man sie etwa so formulieren:

Ich, der Gemüsehändler XY, bin hier und weiß, was ich zu tun habe, ich benehme mich so, wie man es von mir erwartet; auf mich ist Verlaß, und man kann mir nichts vorwerfen; ich bin gehorsam und habe deshalb das Recht auf ein ruhiges Leben. Diese Mitteilung hat selbstverständlich einen Adressaten. Sie ist ‚nach oben‘ gerichtet, an die Vorgesetzten des Gemüsehändlers und ist zugleich ein Schild, hinter dem sich der Gemüsehändler vor eventuellen Denunzianten versteckt.5

Dieser wahre Sachverhalt, den auszusprechen subversiv wäre („Ich habe Angst und bin deshalb bedingungslos gehorsam“), muss versteckt werden. Das Plakat ist ein „Schleier, mit dem der Mensch seinen ‚Existenzverfall‘, seine Verflachung und seine Anpassung an die Lage verschleiern kann.“6 Denn sie würde die Bedeutung des Plakats im gegebenen gesellschaftlichen Kontext einer posttotalitären Gesellschaft als politischen Kitsch, als Mythologie des ‚realen Sozialismus‘ oder als Ideologie entlarven, als eine Ideologie, an die freilich die Mehrheit der Menschen schon anno 1978 nicht mehr glauben. Es ist im Nachhinein erstaunlich, dass Havel von der intakten ideologischen Macht des posttotalitären Systems eigentlich überzeugt ist, welches das Maß des Menschlichen so unerträglich herabsenkt und beschädigt. Totalitäre Systeme haben es in sich, dass sie alle zu Mittätern machen und sich in den Köpfen und Leibern der ihnen unterworfenen Menschen einnisten.

Die Unterschiede zwischen Kundera und Havel sind gewaltig, zwischen dem Tableau mit dem Gemüsehändler und, wie wir noch sehen werden, Sabinas Abgestoßen-​Sein von den nämlichen Parolen am Ersten Mai besteht indes ein überraschender Zusammenhang. In Havels Essay wird gegenüber dem Leben im Falschen der moralische Anspruch, in der Wahrheit zu leben, und damit anders zu leben als die vielen Gemüsehändler, geltend und zur Basis eines Protestes gemacht, der einem verlogenen und repressiven System die Maske herunterreißen will und in dem der moralische Einspruch gegenüber der Gesellschaftskritik ins Zentrum rückt.

Kunderas Befund des politischen Kitsches ist sehr viel vorsichtiger, er basiert auf einem ästhetischen Fokus und es entsteht aus ihm kein politisches Projekt, sondern die Sehnsucht nach existentieller Aufrichtigkeit gegen sich selbst, womit freilich am Ende doch eine ethische Lebensmaxime ins Spiel kommt. Was bei Kundera subversiv sein mag, ist, dass seine zumeist in Kunst und Bohème angesiedelten Figuren auf ihrem Eigenleben beharren. Kitsch und Ideologie gibt es nicht nur in dem absurden Sozialismus der verlassenen Heimat, sondern auch in der schönen neuen Welt des Westens, wie Sabina in den USA erfährt, wenn sie einen hochrangigen Politiker bei Wahlveranstaltungen begleitet, der andauernd irgendwelche Kindergesichter küsst. Diese Situation ruft ihre Erinnerungen an den realen Sozialismus wach:

Auf seinem Gesicht lag nämlich genau dasselbe Lächeln, das kommunistische Staatsmänner von ihrer Tribüne herab auf die Bürger richten, die im Umzug vorbeiziehen und ebenfalls lächeln.7

Kunderas Roman hält in seiner Suche nach der Wahrheit des Lebens die Option zwischen Leichtigkeit und Schwere in einer raffinierten Balance. Die Wahrheit des Essayisten ist nicht zuletzt Redlichkeit gegenüber sich selbst und auch deshalb entgehen seiner Protagonistin Sabina weder die Tartüfferien der liberalen Demokratie noch der große Schwindel des Konsumismus, die Gegenstand späterer Romane Kunderas sind. In dem 1990 erschienenen Roman Die Unsterblichkeit (Nesmrtelnost) wird das „Zeitalter der Tragödie“ durch die „Revolte der Frivolität“ beendet, in der ein neues Parfum mit Trakten aus Beethovens Neunter vermischt wird.8

Die falsche Totalität des realen Sozialismus bedeutet im Gegensatz zur westlichen Frivolität indes die Zerstörung aller positiven humanen Möglichkeiten und Ressourcen. Um diese Zurichtung der Menschen durch ein totalitäres System dreht sich Havels Essay, in dem im Gegensatz zu Kundera die Hoffnung anklingt, es könnte einen gesellschaftlichen Zustand nach dem Kommunismus geben, in dem ein Leben in der Wahrheit möglich ist, jenseits der falschen ideologischen Schwere und der problematischen Leichtigkeit eines Lebens, das in seiner Struktur eskapistisch ist wie jenes von Sabina und auch jenes von Tomas, bevor er Teresa trifft, die Frau, das Findelkind, das zu ihm gekommen ist wie das kleine Moses-​Kind, ein Vorläufer Jesu, zur Tochter des Pharao.

Festzuhalten bleibt, dass bei beiden Autoren die Formel, in der Wahrheit zu leben, eine ganz zentrale Rolle spielt. Sie führt bei Havel nicht bloß, ganz in der Tradition des Essayismus, zur Sehnsucht nach Redlichkeit, sondern zu einem neuen politischen Projekt einer menschenrechtlich liberalen Gesellschaft, die alle Formen von Autoritarismus und Nationalismus hinter sich lässt.

Kundera nimmt etwa im ersten Drittel des Romans Kurs auf diese Formel und benennt auch jenen Prager Autor, der sie, übrigens nach Novalis, in Umlauf gebracht hat:

Das ist auch eine Formulierung, die Kafka in seinem Tagebuch oder in einem Brief verwendet hat. Franz kann sich nicht mehr genau erinnern, wo. Die Formulierung hat ihn gefangengenommen. Was heißt das, in der Wahrheit leben? Eine negative Definition ist einfach, es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu verstecken, nichts zu verheimlichen. Seit Franz Sabina kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt seiner Frau von einem Kongreß in Amsterdam, der nie stattgefunden, von Vorlesungen in Madrid, die er nie gehalten hat, und er hat Angst, mit Sabina in den Straßen von Genf spazierenzugehen. Es amüsiert ihn zu lügen und sich zu verstecken, denn er hat es sonst nie getan.9

Franz, der den gleichen Vornamen trägt wie der berühmte Prager Autor deutscher Zunge, beschließt diesem unwahren Leben ein Ende zu bereiten und seiner Frau die Wahrheit zu sagen, um sodann ein ‚wahres‘ Leben mit Sabina zu beginnen. Aber dazu kommt es nicht. In einer ironischen Volte verlässt ihn die bislang heimliche Geliebte. Denn für die antibürgerliche Sabina wiederum wäre ein Leben im bürgerlichen Hafen der Ehe kein Leben in der Wahrheit. Während sie den Geliebten leidenschaftlich umfängt, hat sie für sich beschlossen, den Mann zu verlassen, um ein Leben in ihrer Wahrheit fortzuführen.

Auch Tomas kommt der Imperativ, in der Wahrheit zu leben, gleichsam in die Quere. Aus dem kurzen Exil aus Zürich zurückgekehrt, sieht er sich mit der Forderung konfrontiert, einen kritischen Essay, den er seinerzeit geschrieben hat, zu widerrufen, andernfalls würde er seine privilegierte Stelle als Chirurg verlieren. Zunächst gibt er sich nachgiebig, zumal ihm der aus der Zeit gefallene, völlig inaktuell gewordene Text gleichgültig geworden ist. Als es aber darum geht, sich öffentlich zum Regime der Normalizace zu bekennen, verweigert er die von ihm abverlangte Reue- und Loyalitätsbekundung und beschließt, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Fortan bestreitet der Akademiker und Schriftsteller sein Leben als Hilfsarbeiter – das war eine jener perfiden Strafen, die sich das totalitäre Regime für jene Intellektuellen ausgedacht hatte, die es immer schon gehasst hatte. Dessen Charakter kommt auch in den Verhörmethoden zum Tragen, die strukturell noch immer dem stalinistischen Kalkül folgen, dass der Verhörte seinem Peiniger recht geben soll.10

In Kunderas Roman gibt es noch eine weitere Variation zum Thema des ‚wahren‘ Lebens. Und das ist der Kitsch, der im Gefolge von Hermann Brochs Überlegungen zu diesem Thema – für Kundera ist Broch ein großes Vorbild – als eine besonders prekäre Form von Unwahrheit angesehen wird. Im Unterschied zu Broch, der den Kitsch als ethischen Skandal angeprangert hat, ist für Kunderas Protagonistin der Kitsch ein zunächst ästhetisches Phänomen:

Sabinas erste innere Auflehnung gegen den Kommunismus war nicht ethischer, sondern ästhetischer Natur. Was sie als abstoßend empfand, war weniger die Häßlichkeit der kommunistischen Welt (die in Kuhställe umgewandelten Schlösser), als die Maske der Schönheit, die sie sich aufgesetzt hatte, anders gesagt, der kommunistische Kitsch. Das Modell für diesen Kitsch ist die Feier des Ersten Mai.11

Die Unwahrheit des Kommunismus wird an dieser Stelle existentialistisch gewendet, nämlich als falsche Affirmation des Gegebenen:

Die Feier des Ersten Mai wurde aus dem tiefen Brunnen des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein getränkt. Die ungeschriebene, unausgesprochene Parole des Umzugs lautete nicht ‚Es lebe der Kommunismus!‘, sondern ‚Es lebe das Leben!‘ Die Stärke und die List kommunistischer Politik lagen darin, sich diese Politik zu eigen gemacht zu haben.12

Kitsch, das wäre dieser Lesart zufolge die falsche Beschwörung des Positiven, die Ausklammerung der dunklen Seiten des Seins, der buchstäblichen wie der metaphorischen Scheiße, die das Leben mit sich bringt. Der Kitsch hat viele Seiten, es gibt ihn kommunistisch wie faschistisch, aber auch in der Propaganda demokratischer Parteien vor allem aber auch in der Religion. Der Kitsch ist integraler Bestandteil des Seins, seine Stärke liegt darin, dass er das unerträgliche Moment des Seins mildert bzw. kompensiert.

Der Gauchist Franz, der zeitweilige Geliebte jener Frau, die den Kitsch durchschauen will, um in ihrer Wahrheit leben zu können, ist, wie es heißt, kein übermäßig kitschiger oder sentimentaler Mensch, aber seine intellektuelle Befindlichkeit ist wie im Falle vieler westlicher linker Intellektueller in den späten 1970er oder frühen 1980er Jahren noch immer von einem kitschigen linken Narrativ getragen, das in Kunderas Roman einigermaßen gründlich verabschiedet wird:

Die Vorstellung des Langen Marsches, von der sich Franz berauschen läßt, ist der politische Kitsch, der die Linken aller Zeiten und aller Richtungen vereinigt. Der Lange Marsch, das ist der großartige Weg vorwärts, der Weg zur Brüderlichkeit, zur Gleichheit, zur Gerechtigkeit, zum Glück und noch weiter über alle Hindernisse hinweg, denn Hindernisse muß es geben, damit der Marsch ein Langer Marsch ist.13

Ironisch und bis heute unsichtbar ist die nur auf den ersten Blick absurde Situation, dass diese Erzählung im westlichen Teil Europas noch immer zum kulturellen Archiv von Erzählungen zu gehören scheint, während sie im östlichen Teil des Halbkontinents jegliche legitimatorische Kraft eingebüßt hat. Darin besteht die politische Bedeutung von Kunderas Roman, dass er das Ende des Sozialismus im Medium der Literatur antizipiert und die Tiefenstrukturen, die ihm zugrundelagen, freigelegt hat. Längst haben sich die einstigen Kommunisten in stramme Nationalisten verwandelt. Denn auch die alten wie neuen nationalen und nationalistischen Rituale und Gesten sind Kitsch im Sinne Kunderas und Brochs, auch wenn der tschechische Romancier diesen nationalistischen Kitsch nicht ins Blickfeld gerückt hat, weil wohl kaum einer mit der Wiederkehr des Nationalismus gerechnet hat. Apropos Wiederkehr: Das skeptische Denken im Roman schließt eine solche Wiederkehr nicht aus. Ganz im Gegenteil, wie der Anfang des Romans unmissverständlich deutlich macht. Dieses Narrativ ist schrecklich und deprimierend, aber zugleich ein Korrektiv zum linken Kitsch des Langen Marsches, einer Erzählung, die noch dem schlimmsten Ereignis eine positive Wendung geben kann, als ein Umweg auf dem Langen Marsch in die Zukunft.

Die Formel, in der Wahrheit zu leben, lässt sich auf das dritte hier zu diskutierende Werk beziehen, Jiří Grušas streitbaren Essay Beneš jako Rakušan, Beneš als Österreicher. Pikant an diesem Helden vieler Tschechen ist, dass er, wie sein kritischer Porträtist vermerkt, amtlich als Eduard geboren worden ist.14 Mit ein wenig Zufall hätte aus ihm auch ein Deutschnationalist werden können, ein Nationalist für bzw. auf alle Fälle. Der psychohistorisch konturierte Text geht weit darüber hinaus, ein nationales Monument seines Landes zu stürzen, das Denkmal eines durch und durch nationalistischen Politikers, der nicht nur der Architekt des Odsun, der gewaltsamen Vertreibung von Millionen von Menschen, sondern auch der Kopilot jenes totalitären Systems war, unter dem die Tschechoslowakei mehr als vier Jahrzehnte zu leben hatte. Dass der Mit- und Gegenspieler Masaryks noch immer im Pantheon der Nation steht, ist für den streitbaren Landsmann Symptom eines ungebrochenen Nationalismus, der im Kühlschrank der kalten kommunistischen Kultur erhalten wurde. Das Unwahre an dieser Erzählung, die Beneš noch immer als einen vorbildlichen Staatsmann preist, ist, dass sie am Selbstbild des unschuldigen Opfers festhält und jedes Eingeständnis von Täterschaft leugnet.

Viel wichtiger ist aber vielleicht, dass sie die Abgründe des Nationalismus, des eigenen wie des fremden, unterschlägt. Zum Kitsch des Nationalismus gehört jenes lichtumflorte Selbstbild des Kollektivs, das Kunderas Figur Sabina im Roman anprangert. An diesem Punkt haben die nationalen Aufmärsche mit dem linken Kitsch des Ersten Mai sehr viel zu tun.

Aber es geht bei dem provokanten Essay, der Beneš als Geistesverwandten und kulturellen Nachbarn von Hitler vorführt („der gescheiterte Student in Linz als auch der Streber aus Südwestböhmen“15, nicht nur um die sogenannte kritische Aufarbeitung der jeweils eigenen Vergangenheit, sondern auch darum, dass mit der nationalistischen Sturheit etwas ins Spiel kommt, was einem redlichen und freundschaftlichen nachbarschaftlichen Umgang oder anders formuliert dem transnationalen europäischen Gedanken im Wege steht. Die nationalistische Befindlichkeit, der sacro egoismo, das Ich zuerst steht dem lebensphilosophischen kategorischen Imperativ, in der Wahrheit zu leben, unübersehbar, unüberhörbar im Weg.

Und so schließt sich vielleicht der Kreis der Lektüre. Der post-​kommunistische Nationalismus, der scheinbar unerwartet aus den Untiefen der Archive aufgetaucht ist, lässt sich auch als ein Kompensat für jene Leere begreifen, die der reale Sozialismus schon zu seinen Lebzeiten hervorgebracht hat. Insofern ist, wenn man die Texte der drei tschechischen Autoren übereinanderlegt, der Nationalismus des Ostens die Antwort auf jene unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die Kundera so unnachahmlich ausgelotet hat. Als Neubewohner in Frankreich hat er diese unerträgliche Leere auf andere Weise kennengelernt, etwa in der Welt von Konsum und Mode, wenn das neue Parfüm mit der Musik Beethovens angepriesen wird. Auch wenn der Nationalismus unserer Tage nicht mehr jenes schwere Gewicht besitzt wie noch zu Zeiten Beneš´ und seines Widersachers, so verspricht er neben Sicherheit auch einen Ernst, der in der Welt nach der Erzählung vom Langen Marsch abhandengekommen ist.

Das Ende des realen Sozialismus und das neue Europa. Besichtigung der Jahre 1968 und 1989 und Lektüren1

Der Prager Frühling 1968, der für die heutigen jungen Tschechinnen und Tschechen ein fernes und verschwommenes, eigentlich unbekanntes Ereignis ist, das mehr an eine alljährliche Gartenschau als an eine historische Wegmarke in der Geschichte ihres Landes erinnert, ist das verdeckte, vergessene und verdrängte Datum in der Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts. Es ist zweifach verschattet, von Paris 68 und von der Sametová revoluce, der Samtenen Revolution im November 1989.

Eine Erinnerungsspur führt zurück an eine Straßenecke im Frühjahr 1968, an der ein ganz junger politisierter Mensch (der Autor dieses Textes) mit zwei anderen über die Hoffnungen eines demokratischen Sozialismus sprach als des unmöglichen Dritten zwischen den damaligen Frontlinien des Kalten Krieges. Jahre später schrieb Oskar Negt, seit 1968 eine Leitfigur eines libertären Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland:

Bloch hat gegen die Lukács‘sche Feststellung, der schlechteste Sozialismus sei immer noch besser als der beste Kapitalismus, mit Recht eingewandt, daß der schlechteste Sozialismus eben kein Sozialismus sei – durch ihn würden nämlich die Idee der sozialistischen Demokratie und ihre Moral politisch insgesamt korrumpiert.2

Was die Neue Linke in Westeuropa von den Reformern im östlichen Teil des Halbkontinents trennte, war ganz offenkundig die Reihenfolge. Der Titel von Negts Aufsatzsammlung (Keine Demokratie ohne Sozialismus) suggeriert, dass Demokratie ohne Sozialismus leer und unbefriedigend bleiben muss, während der Prager Frühling doch ganz offenkundig unter der Prämisse stand, gegen einen Sozialismus aufzustehen, der ganz offensichtlich ohne Demokratie auskam. In diesem Spalt, der sich zwischen beiden Parolen auftut – keine Demokratie ohne Sozialismus/ kein Sozialismus ohne Demokratie – ist offen geblieben, ob Sozialismus und Demokratie überhaupt kompatibel sind und wenn schon, dann auf welche Weise. Das ist bis heute eine eher verdrängte Frage geblieben, die aber im Hinblick auf mögliche postkapitalistische Zukünfte ganz erheblich ist.

Im Sinn einer alternativen Weltgeschichte sei es gestattet, sich zu überlegen, was geschehen wäre, wenn damals in Moskau statt Breschnew ein Politiker von Typ Gorbatschow regiert hätte und der Prager Frühling sein Reformprojekt hätte ungehindert realisieren können. Die Welt – und vor allem Europa – würde heute anders aussehen. Die Transformation der Wirtschaft war von den damaligen Reformern, überwiegend gemäßigten Linken, viel behutsamer ins Auge gefasst geworden als in den Jahren nach 1989. Der ökonomische Abstand beispielsweise zwischen Österreich und seinem nördlichen Nachbarn war seinerzeit unerheblich.

Stattdessen lebten Österreichs nördliche Nachbarn noch eine weitere Generation in einem Regime, das Kafkas Welt mit einer abstoßenden Version eines geistig eingerosteten Marxismus-​Leninismus verband. Von Dissidenten abgesehen, hat er kaum etwas zu einer kreativen Weiterentwicklung Marxscher Ideen beigetragen. Auf dieses soziale und symbolische Gemisch antwortete Václav Havel mit dem Anspruch, in der Wahrheit zu leben. Wenn man so will, dann wurde der Sozialismus mit menschlichem Antlitz nicht in den realsozialistischen Obrigkeitsregimen jenseits des Eisernen Vorhangs, sondern ironischerweise im Österreich Bruno Kreiskys und im Schweden Olof Palmes oder auch im compromesso storico der italienischen KP im Geiste der von den meisten linken Intellektuellen verschmähten Sozialdemokratie verwirklicht.

1978, also fünf Jahre nach Enrico Berlinguers Parole vom historischen Kompromiss, schrieb der wieder einmal von Inhaftierung bedrohte Dramatiker Václav Havel in dem schon erwähnten Essay Moc bezmocných (Die Macht der Ohnmächtigen):

Zwischen den Intentionen des posttotalitären Systems und den Intentionen des Lebens klafft ein Abgrund. Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit. Das posttotalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit.3

Havels außerordentlich optimistische Sicht des menschlichen Lebens, das einer Utopie innerer und äußerer demokratischer Verfasstheit sehr nahe kommt, hat das Lebensgefühl vieler Menschen in der realsozialistischen Staatsgesellschaft literarisch formatiert und zum Ausdruck gebracht, und zwar mehr als zehn Jahre vor der kläglichen Implosion des Regimes.

Deutlich skeptischer gibt sich 1984 Václav Havels literarischer Kollege und Antipode, der im Pariser Exil lebende Milan Kundera:

Ein Skandal ist etwas, das uns schockiert; jeder spricht über die schockierenden Methoden der Bürokratie und des kommunistischen Systems, die den Gulag, politische Prozesse und stalinistische Säuberungsaktionen hervorgebracht haben. Das alles wird als politischer Skandal bezeichnet. Aber man vergißt die öffentliche Tatsache, daß ein politisches System nie mehr ausrichten kann als die Menschen, die in ihm leben: Wären die Menschen unfähig zu töten, könnte kein politisches System einen Krieg führen.4

Zum Beleg für Kunderas Befunde und seine skeptische politische Anthropologie ließe sich übrigens auch Havels fiktiver Gemüsehändler anführen, der am 1. Mai in seinem Untertanengeist eifrig seine Loyalität für das Regime bekundet und damit nicht seiner Überzeugung folgt, sondern wie die vielen Anderen seiner Angst entsprungenen Unterwürfigkeit Ausdruck verleiht.

Es hat freilich zweier Jahrzehnte bedurft bis der Abgrund, von dem Havel 1978 sprach, das verlogene System zum Einsturz gebracht hat, der fingierte Gemüsehändler seiner verlogenen Loyalität überdrüssig geworden ist und sich jene pathetische Formel erfüllte, die Milan Kundera am 19.12.1968 in der Wochenzeitung Listy beschworen hatte:

Ein Volk mit solchen Fähigkeiten hat das volle Recht, mit großem Selbstbewusstsein in die Unsicherheit des nächsten Jahres zu treten. Am Ende des Jahres hat es darauf mehr Recht als je zuvor.5

Im November 1989, über zwei Jahrzehnte später, befand sich der Autor dieses Textes in Begleitung seiner Frau auf der Fahrt von der kleinen Waldviertler Stadt Drosendorf an der Thaya (die in Franz Grillparzers Drama König Ottokars Glück und Ende über den Machtkampf zwischen Habsburgern und Przemysliden Eingang gefunden hat) nach Brünn/Brno. Es war kurz nach dem Beginn der späten kollektiven Unbotmäßigkeit der Tschechen, der mit dem 17. November begann und mit der Bestellung Havels zum Staatspräsidenten zur Jahreswende endete. Die ortsunkundigen Gäste der Geschichte parkten das Auto am Stadtrand, stiegen in die Straßenbahn um und ließen sich zum Streikkomitee an der Universität bringen. Solch manifesten und sichtbaren Revolutionen, die Ereignisse und nicht Prozesse sind, wohnt ein ungeahntes Beschleunigungspotenzial inne. Binnen kürzester Zeit organisierten wir zusammen an der österreichisch-​tschechischen Grenze, in dem Grenzort Langau eine Solidaritätsveranstaltung mit einigen hundert Beteiligten. Drei Kilometer weiter nördlich, in Schaffa (Šafov) wurde übrigens 1889, also hundert Jahre vor der Sametová revoluce der Schriftsteller und Publizist Ludwig Winder geboren, ein Freund Kafkas und Mitglied des Prager Kreises, dessen psychologische Gesellschaftsromane, die um das Thema Macht kreisen, heute verdientermaßen eine breite Leserschaft finden.

Kurze Zeit später saßen Studenten in einem österreichischen Gasthaus an der Grenze und lauschten wie gebannt den Worten ihres frischgebackenen Präsidenten, der vor noch gar nicht langer Zeit ihr prominentester Gefangener gewesen war. Das war die Zeit überschwänglicher Hoffnungen. Wie in allen Revolutionen sollte die ‚Hochzeit‘ nicht anhalten. Der Alltag mit seinen Problemen und Querungen sollte sich nur allzu schnell einstellen.

Über die Euphorie dieser Tage ist viel geschrieben worden und doch kamen diese Ereignisse für nicht wenige überraschend und ungelegen. Schon damals begann sich der Niedergang der demokratischen Linken im Westen wie im Osten am historischen Horizont abzuzeichnen, er wurde aber offenkundig durch die Ereignisse von 1989 beschleunigt. Damit komme ich noch einmal auf das Jahr 1968 zurück, in dem nicht zuletzt alte und neue Linke in Westeuropa wie gebannt auf die Ereignisse von Prag blickten, während ihnen, von Ausnahmen abgesehen, um einen so berühmten wie prekären Satz von Karl Kraus zu bemühen, zu 1989 nichts einfiel.

Nicht verschwiegen werden soll, dass die Revolutionäre von 1989 nur wenig mit ihren linken Vorgängern von 1968 anfangen konnten. Die neue weltgeschichtliche Situation, das war und bleibt das Ende des realen Sozialismus, der von einem dogmatischen Marxismus getragen wurde. Das Scheitern des posthistorisch gewordenen realen Sozialismus lag schon vor 1989 auf der Hand, wie die Transformation des Partito Communista Italiano in eine mehr oder minder sozialdemokratische Partei zeigt, die sich programmatisch vom Erbe der Oktoberrevolution lossagte. In England machte sich eine konservative Politikerin erfolgreich daran, den von Labour geschaffenen Sozialstaat einzustampfen.

Bis heute fällt es schwer, die Umwälzungen von 1989 philosophisch zu deuten, etwa unter Zuhilfenahme des theoretischen Bestecks eines Karl Marx. Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash, einer der wenigen westlichen Tatzeugen und Interpreten der samtenen Revolutionen und runden Tische, hat 1990 davon gesprochen, dass ein Jahrhundert abgewählt wurde, und betonte damit die epochale Bedeutung dieser Ereignisse. Er stellte die Ereignisse in eine bemerkenswerte Traditionslinie, indem er zwischen 1848 und 1989 eine mehr oder minder direkte Linie zog. 1989 war – im Gegensatz zu 1968 – die Rückkehr zu jenen bürgerlichen Revolutionen, deren Format und Rahmen anno 1848 ein neues Gebilde war: der Nationalstaat. Was dem russischen post-​imperialen Spätstalinismus 1989 abgerungen wurde, war – freilich unter völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – das Glück der eigenen, selbstgenügsamen Staatlichkeit, die nach so vielen Irrungen und Wirrungen dem narrativen Prinzip Umweg gemäß endlich Wirklichkeit geworden war: 1989 als die Erfüllung der politischen Träume von 1848.6 Ash spricht an einer Stelle von der überraschenden Ähnlichkeit zwischen den Akteuren von 1989 und 1848 und erwähnt dabei die intellektuelle und akademische Zusammensetzung der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche oder des Slawischen Kongresses in Paris im Revolutionsjahr 1848 und fügt hinzu:

Wie 1848 war der gemeinsame Nenner ideologischer Art. Die innere Geschichte dieser Revolutionen ist geprägt von Ideen, deren Zeit gekommen, und von Ideen, deren Zeit vorbei war. Auf den ersten Blick mag diese Aussage überraschen. Hat denn die Ideologie nicht schon viele Jahre früher gezeigt, daß sie keine wirksame Kraft ist? Glaubten die Machthaber selbst noch ein Wort all ihrer Phrasen, oder erwarteten sie etwa noch von ihren Untertanen, diese Phrasen zu glauben, oder sogar daran zu glauben, daß ihre Machthaber noch daran glaubten?7

Aber obschon Ash diese rhetorisch gestellte Frage verneint, betont er mit Blick auf Zensur und Medienmonopol, dass auch die zutiefst beschädigte Ideologie des realen Sozialismus noch immer eine gewisse Bedeutung besaß: „Was diese Revolutionen uns aber ex post facto zeigen, ist, wie wichtig der zerschlissene ideologische Deckmantel noch immer war.“8

Die mit den Revolutionen von 1989 verbundene nationalistische Hypothek hat Ash in seinen Reportagen und Essays aus den 1980er Jahren, wie andere freilich auch, grob unterschätzt, etwa wenn er 1990 schreibt:

Es war ein Frühling der Nationen, nicht unbedingt aber des Nationalismus; ein Frühling der Gesellschaften mit dem Wunsch, Zivilgesellschaften zu sein. Vor allem aber war es ein Frühling der Bürger.9

Der britische Historiker beschreibt in seinem Buch zu den Umwälzungen im Osten Europas den Eifer des jungen Victor Orban, der so schnell wie möglich aus dem Warschauer Pakt austreten will, er erwähnt gewisse nationalistische Tendenzen, aber die Rückkehr zu einer nationalistischen Politik eines sacro egoismo hat er nicht voraussehen können. Wie denn auch? Waren doch die Helden dieser Revolution wie Havel, Michnik oder Konrad urbane liberale Intellektuelle, die mit dem Chauvinismus ihrer späteren, oft post-​kommunistischen Nachfolger gar nichts zu tun hatten. Sie erlebten für einen ganz kurzen Moment ihren Kairos, ein Momentum, das sie in die Lage versetzte, das unrühmliche Ende des Regimes einzuläuten, ohne übrigens wirklich ein Konzept für eine Transformation einer autoritären Staatseigentumsgesellschaft von Taschengeldbeziehern in eine – soziale – Marktwirtschaft zu besitzen. Im Gegensatz zu den sozialistischen Reformern anno 1968 verfügten sie über keine ausgereifte Strategie einer gesellschaftlichen Transition, die insbesondere die Zentralität des Ökonomischen und, damit verbunden, des Sozialen ins Zentrum des Blickfeldes rückte.

Hinter dem Pathos einer friedlich errungenen neuen Demokratie und dem Fall der sichtbaren Grenzen verbergen sich bis heute all jene explosiven Altbestände und neuen Probleme, die sich nicht nur durch revolutionäre Ereignisse, sondern vor allem auch durch langwierige Prozesse verschieben und verändern lassen: der schlummernde Nationalismus und die wilde Transformation des Wirtschaftssystems, die zurückblickend eher an Marx’ ursprüngliche Akkumulation des Kapitals erinnert als an einen überlegten Übergang in eine sozial und ökologisch gerahmte marktkapitalistische Ökonomie.

Der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus beschreibt die ursprüngliche Akkumulation als den „historischen Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel“. Das „Kapitalverhältnis“ setzt Marx zufolge dabei „die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus.“10 In seinen Überlegungen hat Marx selbstredend die Feudalgesellschaft im Auge, die auf den ersten Blick kaum etwas mit der kommunistischen Staatseigentumsgesellschaft gemeinsam zu haben scheint. Nichtsdestotrotz sind deren Abhängigkeitsstrukturen eklatant und ebenso die erzwungene etatistische Einheit von „Produzent und Produktionsmittel“. Der Sozialismus, der sich zuerst in Stalins Plan- und Zwangswirtschaft auskristallisierte, war demnach – und das unterscheidet ihn wiederum vom historischen Feudalismus – eine krude Mischung von vormodernen Gesellschaftsstrukturen und durchaus modernen Herrschaftstechniken. Er bedeutete eine Anknüpfung an vormoderne Herrschaftskonzepte unter historischer Umgehung einer kapitalistischen Ökonomie. Diese Form einer repressiven, anti-​individualistischen Vergemeinschaftung war der missliche Ausgangspunkt, von dem aus die Länder der Revolutionen von 1989 gestartet sind.

Die anhaltende, nicht bloß ökonomische Ungleichheit zwischen Ost und West, aber auch innerhalb der nachkommunistischen Gesellschaften bildet einen idealen Nährboden nicht nur für die erfolgreichen Karrieren kommunistischer Kader in der postkommunistischen Ära, sondern auch für die autoritären Tendenzen in Ländern wie Ungarn, Polen und eben auch den beiden Ländern, die aus der Tschechoslowakei entstanden sind: Tschechien und die Slowakei. Aus dieser Schieflage speist sich der erstaunlich hartnäckige, mittlerweile ideologisch verfestigte anti-​europäische und anti-​linke Affront in den Visegrád-​Staaten.

Der neue Nationalismus wurde indes schon bald nach den unschuldigen Anfängen der Revolutionen im Osten Europas sichtbar, etwa in Gestalt von Figuren wie Vladimír Mečiar oder später Václav Klaus. Was Ash übrigens vollkommen ausspart, aber was doch in das Panorama von 1989 gehört, ist der Zerfall nicht nur der Tschechoslowakei sondern auch – ungleich bedeutsamer – jener Jugoslawiens. Die Anknüpfung an die Nationsbildungsprojekte von 1848 setzte einen nationalen Revisionismus in Gang, der im Europa der EG/EU, die sich als transnationales Projekt, als ein work in progress verstand, wenigstens programmatisch nicht vorgesehen war.

Zum Pathos der revolutionären Umwälzungen von 1989 gehört auch der Fall der sichtbaren Grenzen, der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs. Deutschland und Europa sollten nach 50 oder gar 70 Jahren Trennung wieder zusammenwachsen. Verdächtig ist an dieser Formel im Nachhinein nicht nur die organische Metaphorik, sondern auch die durch nichts belegbare Behauptung, dass dieser Raum vor dem Kalten Krieg harmonisch gewachsen war. Ganz im Gegenteil war Zentraleuropa in einem ungeahnten Ausmaß und vielleicht nur mit dem Dreißigjährigen Krieg vergleichbar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Schlachtfeld von Toten, Vertriebenen und Ermordeten – nicht zuletzt angetrieben von jenem Nationalismus, den das nach 1945 erschöpfte Europa zu überwinden trachtete und der nunmehr in der EU wieder unfröhlich einkehrte, so als wäre nichts geschehen.

Die sichtbaren Grenzen sind gefallen, die ehemaligen Warschauer-​Pakt-​Staaten Teil der mittlerweile heillos zerstrittenen europäischen Familie geworden. Aber der Friede nicht nur des Kalten Krieges sondern auch des europäischen Projektes beruht auf dem fast magischen Verbot, Grenzen zu verändern. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die friedliche und einvernehmliche Scheidung der Tschechoslowakei und der blutige Zerfall Jugoslawiens haben in einem gewissen Sinn Grenzen verändert. Sie haben die staatlichen Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten beseitigt und sie haben neue staatliche Grenzen auf dem Gebiet der einstigen Tschechoslowakei und des ehemaligen Jugoslawien aufgerichtet. Die Rückkehr zum verdeckten Datum von 1848 hat zu einer Renaissance eben jenes Nationalismus geführt, der sich dadurch auszeichnet, dass er strikte Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen ziehen möchte. Was schon bald nach 1989 aufgebrochen ist, das ist das Erbe von Postimperialismus, Nationalismus und – nicht weiter verwunderlich – von autoritären Bestrebungen. Es wäre unfair, darin nur einen erfolgreichen Export von Ost nach West zu erblicken, hat doch jede der heutigen autoritären Nationalismen in Europa seine eigene Geschichte. Im Hinblick auf das Thema Grenze lässt sich konstatieren, dass all diese Regime darauf abzielen, Grenzen vielleicht nicht geographisch zu verändern (obschon etwa der Nationalismus in Ungarn damit spielt), wohl aber zu stärken, um sich gütlich und ungestört im eigenen Post-1848er-​Nationalstaat einzurichten. Biedermeier im Modus der Aggression. Fein sein, beinander bleiben, heißt es in einem einschlägigen deutschen Liedgut. Mit der Rückkehr nach Europa, das die Intellektuellen in Warschau, Budapest und Prag im Sinn hatten, hat das kaum etwas zu tun, eher mit der Abkehr. Die jüngsten europäischen Krisen, der Finanzkrach von 2008, die Migration von 2015 und die Corona-​Pandemie von 2020 haben diese Entwicklungen begünstigt und verschärft, auch wenn absehbar ist, dass die Dimension dieser Probleme und ihrer Nachwirkungen eine Lösung im nationalen Rahmen als völlig illusionär erscheinen lässt.

Die West-​Deutschen und die nach 1945 geschwächte grande nation waren wie geschaffen für den Aufbau jenes Europas, dessen Idee schon in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückreicht und das nun durch die vielfältige Katastrophe von 1945 plötzlich eine ungeahnte Chance erhielt. Dass der musikalisch mit Haydns österreichischer Kaiserhymne unterlegte Text der deutschen Nationalhymne Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt – ein Dokument von 1848 – nach Hitler, einem verheerenden Weltkrieg und der Shoah eigentlich ausgedient hatte, war ungeachtet des Nachtrauerns über verlorene Größe und Reputation nach 1945 eigentlich klar. Insbesondere für die Bundesrepublik, das geteilte Land, wurde die Europäische Gemeinschaft zum Ersatz für den verlorenen Nationalstaat und die Einbußen an realer und symbolischer Macht. Insofern bedeutet 1989/90 einen Einschnitt: die Wiederherstellung eines ‚normalen‘ Nationalstaates unter Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete und selbstredend ohne Österreich, das sich nach 1945 und 1955 zunächst behutsam und vorsichtig auf den Weg zur eigenen Staatlichkeit machte und heute in vielen Bereichen (Ökonomie, Kunst und Wissenschaft) zunehmend unter dem Einfluss seines großen westlichen Nachbarn steht.

Insofern lässt sich behaupten, dass sich dadurch die europäische Dynamik und Machtkonstellation nachhaltig verändert hat. So verständlich die Freude über den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik (und nichts anders war es doch und ganz gewiss nicht die Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten), auch sein mag – selbst am Wiener Rathaus ließ Bürgermeister Zilk gar die deutsche Fahne hissen – , so hat dieses Ereignis vielleicht unbeabsichtigt der Renaissance des Nationalen im Osten wie im Westen des Halbkontinents zum Durchbruch verholfen. Denn schon damals im Jahr 1989 schillerte der deutsche Begriff des Volkes (Wir sind das Volk), der bekanntlich das Subjekt der Demokratie, demos, meint, aber auch auf ethnos, das unverzichtbar Essentielle alles Nationalen, verweist. Diese Doppeldeutigkeit war auch vor dem sich abzeichnenden Zerfall Jugoslawien zum Greifen nah, philosophisch und gewiss verkürzt gesprochen bedeutete es den Sieg Herders über Montesquieu und Rousseau.11 Es waren avantgardistische Dichter, die sich bei den legendären Schriftstellertreffen im slowenischen Vilenica – auch das eine autobiographische Episode – für die unverwechselbare Entität Sloweniens und schon viel weniger für eine liberale Demokratie einsetzten, während ihr ehemaliger Freund Peter Handke sichtbar abseits stand und im Grunde genommen Slobodan Miloševićfür den legitimen Erben Titos hielt.

Die unsichtbaren Grenzen sind indes hier wie dort geblieben, momentan wachsen sie sich – nachgetragenes Stichwort Corona – sogar aus, bekanntlich auch zwischen der alten DDR und der alten BRD. Fälschlicherweise nehmen wir nämlich an, dass Grenzen vornehmlich sichtbar sind. Ihren Ursprung haben Grenzen indes nicht so sehr und vor allem nicht ausschließlich in sichtbaren territorial wirksamen Grenzlinien, sondern in jenen sozialen Prozessen, in denen Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und Nicht-​Zugehörigkeit wirksame Momente sind.12

Diese unsichtbaren Grenzen sind Erblasten der Vergangenheit, die nicht enden will und die auf das Ende des Ersten Weltkriegs, auf den Nationalsozialismus und die Shoah, aber auch auf die vielen Vertreibungen danach verweist, die doch nur ein Ziel verfolgten: die betreffenden Staaten ethnisch und sprachlich möglichst vollständig homogen zu machen, zu ‚reinigen‘.

Zu den unsichtbaren Grenzen gehört auch, dass 1968 in West und Ost vollständig verschieden stattgefunden hat, ich meine damit nicht nur den gescheiterten Prager Frühling, sondern eben auch jene westliche Kulturrevolution, die in der westlichen Hemisphäre Lebensstil und Lebensformen weiter Schichten, aber auch das Verhältnis der Geschlechter, das Selbstverständnis der Menschen radikal und nachhaltig verändert hat. Die einen wollten ein bleischweres System abwerfen, die anderen verabschiedeten eine eher konservative Nachkriegskultur und etablierten eine neue im Geist eines hedonistischen Individualismus, von der wir heute wissen, dass sich ihr Lebensstil prächtig mit einer geschmeidigen kapitalistischen Ökonomie verträgt.

Wir haben es im nicht bloß sprachlich und politisch heterogenen Europa mit Erfahrungen zu tun, die womöglich inkompatibel sind. Erfahrungsprozesse lassen sich nicht einfach nachholen, sie sind aber in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft bis heute wirksam – produktiv und öfters problematisch. Die Beliebtheit der Popmusik der 1970er Jahre in unseren Nachbarländern, konservativere Lebens- und Geschlechtermodelle oder hierarchischere Strukturen sind Symptome für einen sublimen Unterschied der Kulturen, von dem unsicher ist, wie er sich weiter entwickeln, ob er sich vertiefen oder verwischen wird.

Ungeachtet positiver Konjunktursignale ist die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den alten und den neuen Mitgliedsstaaten unübersehbar und spiegelt sich in eindimensionalen und fatalen Wanderungsbewegungen von Ost nach West und in einem noch immer erheblichen Wohlstandsgefälle. Dies führt zu unsichtbaren Grenzen, die fast automatisch Distanz erzeugen, zumal es nur eine unzureichende Bereitschaft gibt, dieses Problem transnational zu diskutieren und anzugehen. Denn ein völlig unterschätztes Motiv all der Umwälzungen von 1989 war die Hoffnung der Menschen in den kommunistischen Ländern, durch den Systemwechsel baldmöglichst zu ähnlichem Wohlstand zu gelangen wie die westlichen oder südlichen Nachbarn. Go West. Die Enttäuschung über all diese Asymmetrien treibt die Menschen in die Hände derer, die Grenzen als Schutz und Sicherheit für die Nation verkaufen und die suggerieren, sie wären imstande, aus eigener Kraft Land und Leuten zu Wohlstand zu verhelfen. Der Nationalismus der Ärmeren und der Wohlhabenderen stehen sich dabei gegenüber, vereinigen sich aber im Unbehagen an Europa.

Zu den verzwicktesten Begriffen des marxistischen und postmarxistischen Diskurses über die Moderne gehört die Kategorie der Ungleichzeitigkeit, die vielleicht eine Metapher für jene unterschiedlichen Zeitzonen ist, die mittlerweile Teil eines spezifisch europäischen Disputs sind.13 Die Ungleichzeitigkeit, von der hier die Rede ist, hat aber nicht nur mit dem quantitativen Zeitunterschied zu tun, sondern geht auch von einem unauflöslichen Nebeneinander unterschiedlicher sozialer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen aus. Ungleichzeitigkeit bedeutet mittlerweile ein Nebeneinander verschiedener Zeitordnungen. Ein solches liegt zweifelsohne auch dreißig Jahre nach jenen Revolutionen, durch die Europa zusammenwachsen sollte, vor. Diese Ungleichzeitigkeiten betreffen die Binnenstrukturen der jeweiligen Mitgliedsstaaten als auch ihr Verhältnis zueinander. Für den Zusammenhalt Europas bedarf es eines offensiven und alternativen Projektes gegen die neuen und in gewisser Weise alten nationalen Grenzziehungen. Diese haben sich infolge der Krisen seit 2008 (Finanzkrise, Migration, Corona-​Virus) sichtbar verhärtet und gefestigt, obschon die Gegner der Europäischen Union und der mit ihr verbundenen Grenzpolitik (weiche, aber sichere Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten, nachbarschaftlich ausgehandelte mit ihren Anrainern), über kein zielführendes Projekt verfügen, das über die Erosion, Schwächung und Zerstörung der Europäischen Union und die Restitution des Nationalstaates hinausweist.14

Für eine transnationale Politik sind indes die unsichtbaren Grenzen und die oben skizzierte Ungleichzeitigkeit eine Herausforderung. Um noch einmal auf Ash zurückzukommen: Die tiefere Ursache für die Ungleichzeitigkeit liegt im Charakter der Revolutionen von 1989, die sich als nachholend beschreiben lassen. In dieser Nachholung liegt das eigentliche Problem. Die Aufgabe, der sich Revolutionäre, die mit Blick auf die Negation des Sozialismus auch, ganz wertneutral, Konter-​Revolutionäre waren, gegenübersahen, war eine doppelte und eigentlich schwer miteinander zu verbinden: Sie wollten und mussten eine demokratische Gesellschaft in einem nationalen Rahmen etablieren, einem Rahmen, der fast zur gleichen Zeit in einen europäischen Kontext überführt werden sollte. Dass sich all diese Länder, mit Ausnahme der Slowakei, weigern, in den gemeinsamen Währungsraum einzutreten, ist ein gutes Beispiel für ihre Verfasstheit, für ihr vertracktes Verhältnis zum obskuren Objekt ihrer Begierde, der Nation. Dieses ist zwar auch in den westlichen Ländern nicht vollständig verschwunden, sondern verfügt über ein durchaus stattliches Potenzial, vor allem wenn man die sezessionistischen Bewegungen in das Panorama Europas mit einbezieht. Die oben skizzierten Erfahrungen und Identitätslagen, die mit der Ungleichzeitigkeit verbunden ist, unterscheiden sich doch beträchtlich. Und vergessen wir nicht eines: Die realsozialistischen Länder waren, um einen Ausdruck von Lévi-​Strauss in Anschlag zu bringen, ‚kalte Kulturen‘, die im Gegensatz zum Fortschrittspathos ein geringes Veränderungspotenzial besaßen. Die Erbschaft dieser Zeit ist in diesen Gesellschaften noch dreißig Jahre nach dem ‚Sozialismus‘ in sie und in die Körper der Menschen eingeschrieben. Auch das beschreibt eine Ungleichzeitigkeit, die die urbanen und offenen Gesichter der Akteure von 1989 verdeckten. In Tschechien war es vor allem Václav Klaus, der ganz unfreiwillig die mit dieser Ungleichzeitigkeit verbundene Zumutung in den Satz goss, dass Brüssel das neue Moskau sei. Für ihn, seinen polternden Nachfolger, aber auch für viele Tschechen ist es klar, für bzw. gegen welche Option sich das Land entscheiden soll, vor allem gegen eine zunehmende europäische Integration, die die 1989 errungene nationale Selbstständigkeit bedroht. Dass dies neuerdings mit pro-​russischen Sympathien einhergeht, ist mit Blick auf Ungarn befremdlich, aber systemlogisch.