33 Bogen und ein Teehaus - Mehrnousch Zaeri-Esfahani - E-Book

33 Bogen und ein Teehaus E-Book

Mehrnousch Zaeri-Esfahani

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Beschreibung

Die kleine Mehrnousch erlebt mit ihren drei Geschwistern eine privilegierte Kindheit in der schönen Stadt Isfahan im Iran der 70er Jahre - bis Ayatollah Chomeini an die Macht kommt, die Menschen aller Freiheiten beraubt und in den Krieg führt. Mehrnouschs Familie flieht über die Türkei nach Berlin und es beginnt eine Odyssee durch viele Flüchtlingsheime. Poetisch und doch einfach erzählt die Autorin aus der Perspektive des Mädchens von damals. Von schrecklichen und traurigen, aber auch von heiteren Erlebnissen in dieser Zeit. Von den Nöten der Sprach- und Heimatlosigkeit und von der Freude des Ankommens.

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MEHRNOUSCH ZAERI-ESFAHANI

33 BOGEN UND EIN TEEHAUS

Mit Illustrationen von Mehrdad Zaeri-Esfahani

Peter Hammer Verlag

Für Mehri und Hosein, meine mutigen Eltern

PROLOG

TEIL EINS IRAN

TEIL ZWEI TÜRKEI

TEIL DREI DEUTSCHLAND

EPILOG

PROLOG

Der Pripjat, ein mächtiger Fluss von fast achthundert Kilometern Länge, entspringt in der Ukraine, nahe der polnischen Grenze. Hungrig nach Abenteuern, wendet er sich nach Weißrussland und schickt seine tosenden Wasser durch die Pripjatsümpfe, die er während der Schneeschmelze in eine wilde Seenlandschaft verwandelt. Auf seinem letzten Weg fließt der Pripjat wieder in die Ukraine und mündet in den Kiewer Stausee, wenige Kilometer unterhalb des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Die Stadt, die hier liegt, trägt seinen Namen, auch wenn sie keinen Namen mehr braucht.

Pripjat wurde nur sechzehn Jahre alt. Ihr unruhiger Geist irrt umher, als hätte er noch etwas auf Erden zu erledigen. Pripjat ist eine Untote, in ihrer Jugend suchte ein unsichtbarer Feind sie heim. Die Menschen verließen sie, ohne Abschied zu nehmen, denn sie glaubten, sie würden bald wiederkommen. Zurück blieben nur ihre Häuser. Vom Wald verschluckt, hörten sie dennoch nicht auf, die Geschichten derer zu erzählen, die einst darin wohnten.

In den verlassenen Schulen liegen noch immer Hefte und Bücher aufgeschlagen auf den Tischen. In den Kindergärten liegt Spielzeug so verstreut, als wären es Teile eines noch nicht zusammengesetzten Puzzles. Ein Besucher könnte denken, die Kinder kämen gleich zurück und spielten weiter. Doch auf alles hat sich eine dicke, graue, klebrige Staubschicht gesenkt, wie bei Dingen, die seit Hunderten von Jahren auf einem längst vergessenen Dachboden dahindämmern.

Pripjat ist eine Geisterstadt.

Hier, in der heutigen Ukraine, in der damaligen Sowjetunion, ereignete sich vor dreißig Jahren die größte durch menschliches Versagen verursachte Atomkatastrophe aller Zeiten. Manche Anwohner kamen infolge des radioaktiven Niederschlags sofort ums Leben. Andere starben bald darauf einen qualvollen Tod, und viele leiden bis heute an schweren Krankheiten. In der einen oder anderen Art sind alle Einwohner Pripjats Opfer jener Katastrophe, die sich in einer milden Aprilnacht durch eine ohrenbetäubende Detonation und darauf folgende tödliche Stille ankündigte und für immer blieb.

In Pripjat lebten ungewöhnlich viele junge Familien. Die Stadt war eigens für die Ingenieure und Arbeiter des in der Nähe gelegenen Kernkraftwerks gebaut worden. Alle waren mit Hoffnungen gekommen. Sie waren von der sowjetischen Regierung auserlesene Pioniere, die mit ihrem Wissen, ihrem Können und dank modernster Technologie etwas Besonderes erschaffen wollten. Unzählige Berichte geben Kunde davon, wie fröhlich und aufstrebend die junge Stadt war. Wem es in der damaligen Sowjetunion gelang, nach Pripjat zu kommen, der hatte etwas erreicht.

In jenem April warteten die Bewohner voller Freude auf den nahenden Frühling, dessen Vorboten sich schon längst überall angekündigt hatten. Denn die Menschen hatten einen besonders harten und strengen Winter hinter sich. Ohne zu ahnen, dass dieser Winter der letzte in ihrer geliebten Stadt sein würde, freuten sie sich auf den Jahrmarkt, der im Mai eröffnet werden sollte. Das Riesenrad mit seinen zitronengelben Gondeln stand bereits seit Wochen in der Stadt, wie ein gutmütiger Riese, mit tausend Armen und in jeder Hand ein Versprechen für die kältegeplagten Menschen.

Keiner ahnte, dass auch dieser Riese nichts gegen das unvorstellbar grausame Schicksal, das sie alle erwartete, ausrichten konnte. Keiner ahnte, dass sie ihre Stadt fluchtartig verlassen würden, noch bevor das Riesenrad seine erste Runde drehte. Keiner hätte sich vorgestellt, dass manchen von ihnen nur noch wenige Wochen oder Monate zum Leben blieben.

Als die Katastrophe aus dem Nichts über die Einwohner von Pripjat hereinbrach und wie ein gigantisches Ungeheuer Qual und Schmerz über sie brachte, hatten nicht nur sie Todesangst. Die Krallen des schrecklichen Geschöpfs griffen weltweit nach Millionen Menschen. Die Menschen fragten sich, ob auch sie nuklear verseucht werden würden. Die Kinder stellten ihren Eltern Fragen, auf die es keine Antworten gab. Manche sahen das Ende der Welt kommen. Verzweifelte nahmen sich das Leben.

Und nicht einmal Experten konnten sagen, was diese Tragödie für den Planeten Erde bedeutete. Die Menschen weltweit rückten näher zusammen, wie ein einziges Wesen, das zitternd vor Angst und Schrecken den Atem anhält. Das tödliche Schweigen und allgemeines Entsetzen hatten die gesamte Welt in ihre Gewalt gebracht.

Die gesamte Welt, nur nicht mich. Obwohl diese gewaltigen, übermächtigen Bilder der Nuklearkatastrophe durch die flimmernde Fernsehscheibe drangen und auch mir vor Augen kamen, wurden sie in meinem Kopf wie von unsichtbarer Hand zu einem einzigen winzigen Pixel komprimiert und in der Schublade der Bedeutungslosigkeit abgelegt. Denn meine Welt war zu jener Zeit klein. Sehr klein. Aber ungeheuer dicht. So dicht wie ein schwarzes Loch in der Galaxie, das alles in sich hineinzieht und absorbiert, bis nichts mehr übrig bleibt.

In meiner Welt existierten nur meine Eltern, meine zwei älteren Brüder, meine kleine Schwester und ich, Pilger aus Isfahan, gefangen in unserer eigenen unermesslichen Katastrophe.

Im Moment der Katastrophe hatten wir gerade Deutschland erreicht. Nach vierzehn Monaten Flucht hatten wir endlich einen Ort gefunden, wo wir uns ausruhen durften. Wir versteckten uns unter einer Glasglocke. Sie war unser sicheres Heim, eine kleine Dreizimmer-Sozialwohnung in Heidelberg. Wir schotteten uns von der Welt ab, um neue Kraft zu tanken, um endlich Zeit zu finden für den Abschied von unserer Heimat und um zu begreifen, was mit uns geschehen war.

Für mich galt es, jeden Tag aufs Neue in der unbekannten Straßenbahn den weiten Weg zur Schule zu bestehen und Tausende gesprochene fremde Worte aufzunehmen. Es galt, eine neue Sprache zu lernen. Es galt, eine neue Welt zu entdecken, die Welt des von uns leidenschaftlich und lang ersehnten Europas. Es galt, eine gute Fee zu finden, die mich bedingungslos begleitete und mir Trost und Hoffnung gab. Es galt, all die komischen Dinge zu verstehen, die die komischen Fremden in diesem komischen Land taten.

Für mich galt es, die vielen Schulbriefe und Informationen zu verstehen und den Eltern zu übersetzen. Es galt, die verletzenden Anfeindungen und Lästereien der Mitschülerinnen und Mitschüler auszuhalten, ohne dass ich darauf antworten konnte.

Für mich galt es, mich und meinen Magen an das ungewohnte, eintönige Essen zu gewöhnen, das es in der Schulkantine gab. Mich an all das schöne, aber geschmacklose Gemüse und Obst, an den Reis, der nicht duftete, an die vielen Kartoffeln und an die viel zu süßen Getränke zu gewöhnen.

Es galt, zwischen Behördenpost und Werbepost unterscheiden zu lernen. Es galt, Behördensprache und Behördensystem der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen und täglich Formulare durchzuarbeiten, die wir fristgemäß abgeben mussten. Es galt, keine Unterschrift an die falsche Stelle zu setzen.

Es galt, die Schimpftiraden älterer Menschen auszuhalten, die uns dorthin wünschten, wo der Pfeffer wuchs. Es galt, die aufdringlichen, aber freundlich gemeinten Streicheleinheiten anderer älterer Menschen schweigend zu erdulden.

Mir und meiner Familie blieb schlicht keine Zeit für eine Jahrhundertkatastrophe.

So verpassten wir Tschernobyl.

TEIL EINS IRAN

Von oben sieht Iran aus wie eine sitzende Katze, die ihren Kopf zu uns dreht und uns betrachtet. Auf ihrem Rücken trägt die Katze das gigantische Kaspische Meer. Zwischen den Vorderpfoten, an ihrem weichen Bauch, erstreckt sich das gewaltige Zagrosgebirge. Hier entspringt ein mächtiger Strom, den die Perser „Zayandeh Rud“ nennen, „Leben spendender Fluss“. Tausende Meter schießt der reißende Fluss den Berg hinab. In der Ebene angelangt, durchquert er die stolze Stadt Isfahan. Die Liebelei zwischen Stadt und Fluss dauert nicht lang, denn der Leben spendende Fluss stirbt, sobald er die Stadt verlässt. Wie eine Wildbiene nach dem Liebesakt mit ihrer Königin. An der Stelle verwandelt sich die weite Erde in gefährliche Sümpfe und einen riesigen Salzsee, den strahlend weißen Fleck, an dem das Herz der Katze schlägt.

Vor mehr als hundert Jahren saß ein viel beschäftigter junger Mann mit dem schönen Vornamen Abbas-Ali in seinem Büro. Er war ein stolzer Isfahani und soeben Chef der größten Salzfirma Isfahans geworden. Rund um seinen Schreibtisch stapelten sich Säcke voll Salz. Als einer der wenigen Menschen, die lesen und schreiben konnten, wurde Abbas-Ali von allen hoch geachtet. Eines Tages traten Beamte des Kaisers in sein Büro und überbrachten ihm eine Nachricht: „Sehr geehrter Abbas-Ali, wir sind Botschafter des Kaisers, Reza Schah Pahlavi, Schah von Persien, des Großen. In seinem Auftrag verkünden wir, dass von diesem Tage an auf Befehl des Kaisers, Reza Schah Pahlavi, Schah von Persien, des Großen, alle Bürger Persiens neben ihrem Namen auch einen Nachnamen zu tragen haben. Zu diesem Zweck bekommen sie ein Familienstammbuch ausgehändigt.“

Der junge Abbas-Ali, den seine Urenkel eines fernen Tages liebevoll Baba Abbas-Ali rufen würden, verwunderte sich sehr und fragte höflich: „Verzeiht mir meine große Unwissenheit und meine unwürdige Frage. Was aber ist ein Familienstammbuch?“

Die Beamten erläuterten, dass dies ein Buch sei, worin für alle Zeiten festgeschrieben stehe, wie jeder Einzelne sowohl mit Vornamen als auch mit Nachnamen heiße und wessen Kind er sei: „Dadurch können die Menschen besser auseinandergehalten werden, oh würdiger Abbas-Ali. Daher bitten wir Euch nun, denkt Euch rasch einen Nachnamen aus. Wir haben einen weiten Weg hinter uns und einen noch weiteren vor uns, und die erbarmungslose Sonne geht bald unter.“

Darauf war Abbas-Ali nicht vorbereitet, und er musste erst einmal nachdenken. Er schaute sich um, überlegte mit geschürzten Lippen und rieb sich spielerisch die Nase. Dann sprach er zu den abgehetzten Beamten: „Nun ja, wenn ich mich so umsehe, ist alles, was ich erblicke, Salz. Mein Vater handelte mit Salz und mein Großvater ebenso. Ich ernähre heute meine Kinder durch den Handel mit dem wunderbaren Salz. Nun, ich möchte ‚Sohn des Salzes‘ genannt werden, der ‚Salzgeborene‘ – Namakizadeh. Und da ich aus Isfahan stamme, möchte ich Namakizadeh-Esfahani heißen.“

So entstand der Familienname meiner Mutter. Noch heute erinnert sie sich daran, wie ihr Großvater, Baba Abbas-Ali, diese Geschichte erzählte.

Die Isfahani nennen die Sümpfe an jenem Salzsee „Gav Khuni“. Das Wasser hier ist nicht tief, aber tödlich. „Ein falscher Schritt, und du verschwindest für immer im moorigen Boden. Halte dich bloß fern vom Gav Khuni! Und komm dem Fluss nicht zu nah, denn er muss das Gav Khuni füttern“, sagen die Mütter zu ihren Kindern.

Der Zayandeh Rud führte so viel Wasser durch Isfahan und schwoll oft so sehr an, dass Menschen darin ertranken. Immer wieder hörte man von diesem oder jenem, der vom Fluss mitgenommen worden und im Gav Khuni für immer verschwunden war. Gleichwohl liebten die Isfahani den Fluss. Er brachte ihnen Freude und war ein Ort, an dem sie sich trafen. So manche der vielen Brücken, die diesen Fluss überspannen, haben in Hunderten von Jahren viele Menschen kommen und gehen sehen. Die schönste unter ihnen ist vierhundert Jahre alt und heißt Si-o-Se-Pol, die Dreiunddreißig-Bogen-Brücke. Dreiunddreißig Bogen in den Wänden führen über Stufen direkt zum Wasser. Auf der breiten, überdachten Brücke laden Teehäuser zum Verweilen ein. Hier feierten, schlenderten, sangen, trommelten und tanzten die Isfahani. Hier trafen sich Verliebte, wenn nachts die Bogen von unten angestrahlt wurden und die Brücke sich im Wasser spiegelte, das wie Tausende zitternde Pailletten glitzerte.

Auch meine Eltern verbrachten verliebte Stunden auf dieser Brücke und in den Parks am Ufer, als mein Vater als junger Arzt und meine Mutter als junge Krankenschwester sich im Krankenhaus kennenlernten.

An der Brücke war es am frühen Abend noch menschenleer. Dann kamen immer mehr Menschen aus ihren Häusern, alle herausgeputzt und in Flanierlaune. Die Straßenhändler sahen ihre Stunde gekommen. Sie priesen in lautem und immer gleichem Singsang ihre Waren an. Sie sangen: „Baghaliiiiii“, „Djigaaaaaar“ oder „Ballaaaaaaaali“ – der Duft von dicken Bohnen, gegrillter Leber und gebratenen Maiskolben trieb die Leute zu den Essensständen. Und je heller die Straßenlaternen und der Sternenhimmel um die Wette leuchteten, desto lauter wurde das fröhliche Kindergeschrei. Manche Familien schlenderten gemeinsam durch die Nacht, und die Erwachsenen kauften den Kindern das begehrte Eis. Dann erwachte das Leben am Zayandeh Rud, dem „Leben Spendenden“. Ich war vier Jahre alt, und die Brücke war mein liebster Platz in unserer Stadt.

Eines Tages waren meine Lieblingstante und ihr Mann zu Besuch bei uns. Sie waren gekommen, um mit meinen Eltern zusammen Radio zu hören. Es war das erste Mal, dass sie nicht miteinander Karten spielten. Nach der Nachrichtensendung schaltete mein Vater das Radio aus.

„Dieser Schah hat unsere Geduld wirklich überstrapaziert“, sagte er. Er meinte den iranischen Kaiser, der sich selbst den Namen „Mohammad Reza Schah Pahlavi, Schahinschah, der letzte Herrscher auf dem Pfauenthron“, gegeben hatte. Die Erwachsenen waren stolz darauf gewesen, dass ich seinen vollen Namen auswendig aufsagen konnte. Heute redeten sie lange über ihn. Aber sie sprachen schlecht von ihm. Ich hatte den Schah immer toll gefunden. Seine Frau, Farah Diba, war für mich die schönste Kaiserin der Welt, und sie hatten beide wunderschöne Kronen. Ich hatte sie und ihre Kinder, die Prinzen und Prinzessinen, schon oft gemalt.

„Der Schah hat es zu weit getrieben. Er lebt in Saus und Braus, während auf den Straßen Armut herrscht. Schaut euch nur mal seine Paläste an“, sagte meine Mutter.

„Wir müssen etwas dagegen tun. Geredet wurde genug. Jetzt müssen Taten folgen“, sagte meine Tante und stand auf. „Wer geht mit? Ich gehe jetzt gleich auf den Schah-Platz und erhebe meine Stimme.“

Mein Vater erhob sich ebenfalls. „Ja, genau. Jetzt oder nie!“, sagte er entschieden. Dann schaute er zu mir. Ich lag bäuchlings auf dem Boden, stützte den Kopf in meine Hände und hatte den Erwachsenen zugehört. „Du kommst mit. Zieh deine Schuhe an“, sagte er zu mir.

„Aber ist das nicht zu gefährlich?“, fragte meine Mutter.

„Du hast es doch im Radio gehört. Es sind Familien auf dem Platz. Sie werden doch nicht auf Kinder schießen.“

Wir liefen zum Schah-Platz. Ich liebte den Platz, weil ich hier in die Ferne schauen konnte. Der Platz war riesig. Der jüngere von meinen beiden älteren Brüdern hatte einmal zusammen mit unserem Vater ausgerechnet, dass der Platz so groß sein musste wie dreizehn Fußballfelder. Ich hatte noch nie ein Fußballfeld gesehen. Aber ich wusste, dass ein Fußballfeld sehr groß war, weil dieser Bruder es mir gesagt hatte. Was er sagte, glaubte ich. Ich konnte ihm vertrauen. Er war nur ein Jahr älter als ich, aber er begleitete mich überallhin, wie ein unsichtbarer Schutzengel. Er war schmächtig, flink, fröhlich, sportlich und beliebt. Mit Bedacht und ansteckendem Elan setzte er sich gegen Ungerechtigkeiten in seiner Umgebung ein. Seine Gegner bezwang er durch seinen Witz und Charme. Und er war sehr klug. Ich bewunderte ihn dafür, dass er seine Süßigkeiten nie sofort ganz aufaß. Oft fragte ich ihn: „Warum isst du nicht alles auf einmal?“

Diese Frage beantwortete er mir ein ums andere Mal mit so viel Geduld wie Verstand: „Ich hebe mir den Rest auf für knappe Zeiten.“

Das beeindruckte mich sehr, und ich nahm mir vor, beim nächsten Mal ebenfalls etwas aufzuheben für die „knappen Zeiten“, obwohl ich nicht wirklich begriff, was „knappe Zeiten“ eigentlich waren.

Der Platz also, der ohne Zweifel so groß wie dreizehn Fußballfelder war, war an jenem Tag voller Menschen. Sie riefen laut Worte, die ich nicht verstand.

„Papa, ich sehe nichts. Ich hab Angst“, sagte ich und zog an der Hand meines Vaters.

Er stand mit glänzenden Augen da und schaute in die Menge. Er bemerkte meine kleine Hand nicht.

„Papa, nimmst du mich auf die Schultern? Bitte!“

Da wachte er auf. „Ach, natürlich!“

Er nahm mich mit seinen großen Händen und setzte mich auf seine Schultern, die mir immer wie ein kraftvolles Schiff vorgekommen waren, das niemals untergehen würde.

Ich roch die Haare meines Vaters und hatte keine Angst mehr. Ich steckte die Nase in seine schwarzen, weichen Haare und riss die Augen weit auf. So weit, wie die Augen eines fünfjährigen Kindes werden können.

Ich blickte auf ein Meer aus Menschen. Ich schaute nach rechts und nach links und sogar nach hinten. Überall waren Menschen. Man sah keine Straßen, keine Bäume und keine Autos mehr. Denn die Menschen waren auf alles geklettert, was auf dem Platz stand. In den Bäumen hingen mehr Menschen, als sie eigentlich tragen konnten. Auf den Autodächern tanzten und trommelten die Leute. Und immer wieder ging eine Welle durch die Menge. Auch mein Vater und ich wurden wiederholt von einer Welle erfasst.

Ich erinnerte mich an unseren letzten Urlaub, als wir alle zusammen mit meinen Cousins, ihren Eltern und unseren Großeltern ans Kaspische Meer gefahren waren. Wir hatten eine Fahrt mit einem schnellen Boot unternommen. Der Lärm des Motors war für meine Ohren zu laut gewesen, sodass ich sie hatte zuhalten müssen. Ich hatte gesehen, wie das Wasser an die Bootsspitze geklatscht und mit viel Schaum an den Seiten entlanggeschossen war. Dann plötzlich hatte der Bootsführer den Motor angehalten, und das Boot blieb lautlos stehen. Nach einer Weile war das Wasser ganz ruhig geworden, und die Erwachsenen hatten gesagt, alle sollten einmal still sein, damit wir die Meeresstille hören könnten. Da hatte das Boot angefangen zu schaukeln. Jede Welle, die das Meer ans Boot schob, hatte es mit einer sanften Bewegung angehoben und wieder gesenkt. Mein großer Bruder hatte gesagt, ich solle die Augen schließen, und ich hatte das Schaukeln des Boots auf dem Meer gespürt. Ich war traurig gewesen, als die Erwachsenen wieder zu sprechen begannen und der Bootsführer den Motor startete.