34. BRUTON STREET - Ravi Ravendro - E-Book

34. BRUTON STREET E-Book

Ravi Ravendro

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Beschreibung

Die Anthologie '34. Bruton Street' präsentiert eine faszinierende Zusammenstellung literarischer Werke, die sich durch eine bemerkenswerte Diversität in Stil und Form auszeichnen. Innerhalb dieser Sammlung navigieren die Autoren durch komplexe narrative Landschaften, deren Spektrum von traditioneller Erzählkunst bis hin zu experimenteller Prosa reicht. Die sorgfältige Auswahl und Zusammenstellung der Texte bieten einen tiefen Einblick in die thematischen und stilistischen Explorationen der modernen Literatur, wobei jedes Werk dazu beiträgt, das unterschwellige Thema der menschlichen Kondition und Interaktion zu beleuchten, das den Kern dieser Sammlung bildet. Die Autoren Ravi Ravendro und Hans Herdegen, beide mit beachtenswerten individuellen Karrieren, bringen in '34. Bruton Street' ihre einzigartigen Perspektiven und literarischen Fähigkeiten ein. Diese Anthologie steht nicht nur im Zeichen ihrer literarischen Errungenschaften, sondern reflektiert auch die vielfältigen kulturellen und sozialen Kontexte, aus denen diese Autoren stammen. Die Werke bieten so einen reichen Einblick in die unterschiedlichen Lebenswelten und Erfahrungen, die in der heutigen globalisierten Welt vielfach aufeinandertreffen und interagieren. Für Leser, die tiefgreifende literarische Erkundungen schätzen und ein umfassendes Verständnis verschiedener kultureller Perspektiven suchen, bietet '34. Bruton Street' eine unverzichtbare Ressource. Diese Sammlung verspricht nicht nur eine bereichernde Leseerfahrung, sondern fördert auch den Dialog zwischen den verschiedenen Stimmen und Stilen, die durch die Texte hindurch anklingen. Ein Muss für alle, die literarischen Tiefgang und stilistische Vielfalt schätzen und sich auf die Entdeckungsreise komplexer menschlicher Geschichten und Ideen begeben wollen.

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Ravi Ravendro, Hans Herdegen

34. BRUTON STREET

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Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis
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Personenverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Sir Richard Richmond,

reicher Privatmann, früher Hüttenchemiker

Jim Carley,

Eisenbahningenieur, sein Neffe

Henry Miller, Butler Evelyn Rolands, Sekretärin Ann Stoutman, Köchin Mabel Denver, Zimmermädchen

bei Sir Richard Richmond

Valery Ferguson,

frühere Sekretärin von Sir Richard Richmond

George Stetson,

Rechtsanwalt

Professor Haviland,

Spezialarzt

Alec Maxwell,

Schauspieler

Mary, seine Frau

Ria Bonati,

Artistin

Ernest Crawford, Inspektor

1

Inhaltsverzeichnis

Durchdringend und dröhnend rief die große Dampfsirene die Passagiere an Bord. Die mächtige, stolze »Manchuria« der P. und O.-Linie hatte die Rückfahrt aus Ostasien beendet und war dabei, am Pier in Southampton anzulegen. Die Fahrgäste brauchten aber nicht erst nach oben gerufen zu werden, sie standen schon alle mit ihrem zahlreichen Kabinengepäck auf den Promenadendecks bereit, begierig, endlich an Land zu gehen. Die Stewards waren eifrig tätig und brachten immer noch mehr Koffer an Bord.

Die Pfeife des Bootsmannsmaats schrillte. Malaiische Matrosen mit roten Kopftüchern liefen über das Welldeck, verteilten sich an der Längsseite des Schiffes, die dem Land zugekehrt war, und hielten sich an den großen Halteseilen bereit. Der Maschinentelegraph klingelte, und es ertönten all die bekannten Geräusche, die bei der Landung eines Ozeanriesen dem Anlandrollen der Brücken vorausgehen.

Mit viel Geschick hatte der alte, erfahrene Kapitän in kürzester Zeit das Landungsmanöver ausgeführt, und nun rasselten die schweren Anker mit ohrenbetäubendem Lärm ins Wasser.

»Haben Sie die kleine, schwere Kiste unter meinem Bett heraufgeschafft?« rief Jim Carley seinem Kabinensteward zu, der eben, mit Koffern beladen, an der Tür des Promenadendecks auftauchte und von allen Seiten bestürmt wurde.

Der Mann hatte es nicht gehört. Carley ließ seine Koffer an der Reling stehen und ging auf ihn zu, aber es dauerte einige Zeit, bis dieser alle Gepäckstücke abgeliefert hatte.

Jim wiederholte seine Frage.

»Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen. Die Kiste ist außerdem so entsetzlich schwer, als ob Blei oder Gold darin wäre.«

»Gold ist wohl kaum darin«, erwiderte Carley lächelnd. »Aber sorgen Sie vor allem dafür, daß sie nach oben kommt.«

»Ach, wie gut, daß ich Sie noch treffe«, wandte sich Eleanor McCarthy, eine hübsche junge Dame, an ihn. Ihre Augen leuchteten auf, als sie in sein sonnengebräuntes Gesicht sah. Carley war mit seinen achtundzwanzig Jahren wirklich eine schöne Erscheinung und hatte einen durch Arbeit und Sport gestählten Körper.

Eleanors Mutter hatte sich auch einen Weg zu ihm gebahnt.

»Schade, daß wir uns nur noch im letzten Augenblick sehen«, fuhr Miß McCarthy fort.

»Vergessen Sie nur Ihr Versprechen nicht, uns in unserem Landhaus in Essex zu besuchen«, sagte ihre Mutter. Sie hatte während der langen Überfahrt Carley schätzen gelernt und hätte es zu gern gesehen, wenn er sich mit Eleanor verlobt hätte.

»Ja, ich komme, wenn meine dringendsten Geschäfte in London erledigt sind«, erwiderte er hastig.

Er hatte während der Seereise ganz gern mit Eleanor getanzt, aber jetzt beschäftigten ihn andere Gedanken, und diese Störung war ihm peinlich und unerwünscht. So höflich wie möglich verabschiedete er sich.

Die erste Brücke rollte vom Promenadendeck der zweiten Klasse an Land. Gewandt und schnell wurde sie von den Matrosen befestigt, aber noch durfte kein Passagier das Schiff verlassen. Auch die anderen Landungsbrücken von der ersten Klasse und dem Zwischendeck wurden vertäut.

Der Kabinensteward war wieder verschwunden, nachdem ihm auch andere zugerufen hatten. Er hatte nur nach allen Seiten genickt, und sicher hatte er die Hälfte der Aufträge nicht gehört oder vergessen.

Ungeduldig ging Carley wieder zu seinen beiden Handtaschen und dem großen Kabinenkoffer. Er hatte sich die Rückkehr in die Heimat nach mehrjährigem Aufenthalt in Hinterindien anders vorgestellt.

Der Obermaat gab nun die Brücken frei, und es kam ein Strom von Gepäckträgern und anderen Leuten an Bord. Soweit wie möglich halfen die Schiffsstewards den Passagieren, das Gepäck zum Zollschuppen, zu bringen.

Carley wartete noch auf seine Kiste, aber als er sah, daß schon fast alle Gepäckträger beschäftigt waren, winkte auch er einen kräftigen Mann in blauer Bluse herbei.

»Bringen Sie meine drei Koffer zur Verzollung und sehen Sie, daß Sie einen Platz an der Zollschranke für mich reservieren. Ich komme sofort nach.«

»Jawohl«, sagte der Mann gemütlich, schnallte mit einem Riemen die beiden Handtaschen zusammen und schulterte den schweren Koffer.

Carley eilte nervös zum Treppenhaus und zu seiner Kabine. Unterwegs begegnete er seinem Steward, der die kleine Kiste keuchend den Gang entlangschleppte. Er kehrte sofort um, damit er ihm nicht im Weg stand. Am Fuß der Treppe, die nach oben zum Promenadendeck führte, blieb der Steward stehen und setzte seine Last auf die unterste Stufe nieder.

»Ich werde noch einen Träger vom Pier rufen. Bleiben Sie so lange hier.«

Mit schnellen Schritten eilte Carley die Treppe hinauf und war bald unten auf dem Kai, aber er bekam keinen Träger mehr. Was sollte er nun tun? Die Kiste durfte er unter keinen Umständen im Stich lassen. Sie war das wichtigste Stück seines ganzen Gepäcks, und um ihretwillen hatte er die lange Reise gemacht und vor der Zeit Urlaub genommen. Hilfesuchend sah er sich auf dem breiten Pier um, aber da er im Augenblick niemand fand, der sie tragen konnte, ging er auf den Zollschuppen zu.

»Haben Sie schon Ihren Paß visitieren lassen?« fragte ihn ein Hafenbeamter in Uniform. »Paßkontrolle, bitte, rechts.«

Jim schüttelte den Kopf und steuerte nach links auf den Zollschuppen zu.

»Halt – erst Paßkontrolle!«

Carley mußte sich wohl oder übel fügen. Er war der letzte der Passagiere und stellte sich hinten an.

»Rechts Engländer – links Ausländer!« rief ihm ein Beamter zu, der ihm ansah, daß er auf der verkehrten Seite stand.

Mit einem Seufzer der Erleichterung trat Jim nach rechts hinüber, wo die Abfertigung bedeutend schneller ging. Immerhin dauerte es noch einige Zeit, bis er seinen Paß vorlegen konnte und den Landungsstempel erhielt.

Im Zollschuppen herrschte fieberhafte Tätigkeit. Koffer wurden geöffnet, und kurz, ruhig und gemessen stellten die Beamten ihre Fragen. Diesmal war der Dampfer ziemlich stark besetzt gewesen, und es gab viel zu tun.

Nach einigem Suchen fand Carley seinen Gepäckträger, der schon verzweifelt nach ihm Ausschau hielt.

In dem Augenblick trat ein Zollbeamter auf Carley zu und reichte ihm eine Liste von zollpflichtigen Dingen.

»Haben Sie Feuerwaffen, Explosivstoffe, Munition, Konterbande in Ihren Koffern?«

»Nein. Ich bin kein Anarchist oder Bolschewist, und ich habe weder Bomben, Dynamit noch Ekrasit, um England in die Luft zu sprengen.«

Der Beamte grinste, ließ eine Handtasche öffnen und malte dann mit grüner Kreide ein sonderbar verschnörkeltes Zeichen darauf. Niemand konnte es enträtseln, aber es bedeutete soviel, daß die Revision beendet war.

»Soll ich die Koffer zum Londoner Zug bringen?« fragte der Gepäckträger.

»Nein, bleiben Sie hier. Ich muß noch einmal auf den Dampfer zurück und nachsehen, wo mein letztes Gepäckstück bleibt.«

»Beeilen Sie sich aber, der Zug geht bald ab.«

Im Laufschritt überquerte Jim den Pier. Er ärgerte sich, daß die Landungsbrücke nicht frei war und er ruhig hinter einer Gruppe von Arbeitern, hergehen mußte, die es nicht sehr eilig zu haben schienen. Auf dem Promenadendeck wandte er sich nach der Treppe und stieß bei einer Biegung heftig mit einem Angestellten zusammen. Als er an der Stelle ankam, an der er seinen Steward zurückgelassen hatte, war dieser natürlich verschwunden, und von der Kiste war nichts mehr zu sehen.

Aufgeregt stürzte Carley den Gang entlang und stieg schließlich wieder zum Speisesaal hinauf, wo der Obersteward und mehrere seiner Leute Tischwäsche und Bestecke nachzählten und forträumten.

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte der Mann liebenswürdig, als er Carley sah.

Dieser trug sein Anliegen vor, und der Obersteward gab ihm jemand mit, der ihm behilflich sein sollte.

Als sie zur Treppe kamen, entdeckten sie die kleine Kiste, die in eine dunkle Ecke geschoben war, damit sie nicht im Weg stehen sollte.

Carley und der Steward hoben sie auf und schleppten sie mühsam aufs Promenadendeck. Als sie die Landungsbrücke erreichten, waren aber beide in Schweiß gebadet und mußten sie niedersetzen.

»Wie kommt das Ding überhaupt in Ihre Kabine?« fragte der Steward. »Das hätten Sie doch im Laderaum abgeben müssen!«

»Schon gut. Jetzt handelt es sich nur noch darum, sie durch den Zoll zu bringen.«

Carley erkannte, daß der schmächtige Steward ihm nicht mehr helfen konnte. Glücklicherweise entdeckte er einen Kohlentrimmer, der unten am Kai stand und anscheinend nichts zu tun hatte. Er winkte ihm, und nachdem er ihm einen Geldschein gezeigt hatte, stieg der breite, untersetzte Mann schwerfällig die Brücke hinauf. Mit seinen starken, großen Händen packte er die Kiste, hob sie auf die Schulter und ging breitbeinig den Landungssteg hinunter.

Carley folgte ihm und sah nach der Uhr. Der Anschlußzug nach London war noch nicht abgefahren, er hielt noch auf der anderen Seite des Zollschuppens.

Schließlich war Carley bei seinem Gepäck angelangt. Der Beamte, der kurz vorher Jims Koffer geprüft hatte, kam auf ihn zu. Carley war der letzte Passagier, der noch nicht abgefertigt war. Schwer setzte der Trimmer die kleine, mit Bandeisen verschlossene Kiste auf den Tisch.

»Bitte, öffnen Sie.«

»Das geht nicht so schnell.«

»Was haben Sie denn darin? Etwa doch Bomben?«

»Nein, Gesteinsproben.«

Der Beamte warf dem jungen Mann einen fragenden Blick zu.

»Ich muß unter allen Umständen den Anschlußzug nach London noch erreichen.«

»Dann können Sie die Kiste ja hierlassen und Ihre Adresse angeben. Sie geht unter Zollverschluß mit dem nächsten Zug nach London zum Zollamt.«

Die Lokomotive pfiff. Carley warf einen Blick durch die große, offene Tür und sah, daß der Zug sich langsam in Bewegung setzte.

»Schade!« meinte der Gepäckträger mitfühlend.

Carley wußte, daß das Öffnen der Kiste zu große Schwierigkeiten machen würde, und nahm den Vorschlag des Beamten an.

Eine Viertelstunde später saß er enttäuscht in einem Personenzug, der den Umweg über Portsmouth und Guildford machte und auf fast allen Stationen hielt.

2

Inhaltsverzeichnis

Carley saß allein in einem Abteil zweiter Klasse und war in trüber, fast verbitterter Stimmung. Nur unter schweren Opfern hatte er diese Reise von Rangun vor Abschluß seines ersten Vertrages möglich gemacht, und nun stellte sich ihm ein Hindernis nach dem anderen entgegen.

Zu allem Unglück war heute auch noch Sonntag! In London konnte man an diesem Tag sowieso nichts erreichen. Hoffentlich wurde ihm wenigstens morgen die Kiste ausgeliefert.

Obwohl die Jahreszeit schon weit vorgeschritten war, herrschten noch nicht die üblichen Nebel, und die englische Landschaft strahlte in hellem Sonnenschein. Carley sah einige Zeit zum Fenster hinaus. Er hatte sich darauf gefreut, saubere Dörfer, stattliche Einzelgehöfte und weite, grüne Rasenflächen mit friedlich weidenden Schafherden zu sehen, aber jetzt fehlten ihm Andacht und Ruhe dazu. Immer wieder grübelte er über die großen Pläne nach, die er ausführen wollte und die so vielversprechend begonnen hatten.

Warum hatte nur Sir Richard Richmond, sein Onkel und einziger Verwandter, nicht auf den letzten dringenden Brief geantwortet?

Das häufige Anhalten des Zuges machte die Fahrt langweilig. Jetzt war es zwei Uhr. Wenn er den Anschluß nicht versäumt hätte, könnte er jetzt längst in der Hauptstadt sein und wahrscheinlich seinen Onkel sprechen. Wohl hatte ihm Mr. Stetson, der Rechtsanwalt Sir Richards, höflich, kühl und geschäftlich auf sein Schreiben erwidert, aber damit waren die wichtigen Entscheidungen, die Carley brauchte, nicht getroffen worden.

Das gleichmäßig rollende Geräusch der Eisenbahnwagen und die taktmäßigen Stöße wirkten schließlich doch beruhigend auf ihn. Er überdachte noch einmal, was er seinem Onkel sagen wollte. Solch eine glückliche Entdeckung machte doch unter vielen tausend Ingenieuren in langen Jahren höchstens einmal einer! Und Sir Richard war zuerst freudig, ja begeistert auf die Pläne eingegangen. Carley verstand nicht, warum der Mann plötzlich eine Weltreise machen mußte, wie Stetson geschrieben hatte.

Birma lag aber auch wirklich zu weit aus der Welt. Wieviele Wochen vergingen, bevor ein Brief nach England gelangte und beantwortet wurde! Trotz der schnellen Postflugzeuge dauerte es noch immer empfindlich lange, bis man sich einmal mit London verständigen konnte.

Aber jetzt würde er ja Sir Richard sehen, und es wurde hoffentlich noch alles gut. Immerhin war es höchste Zeit, daß die Kautionssumme gezahlt wurde, sonst verfielen alle Rechte.

Als plötzlich die Tür des Abteils geöffnet wurde, fuhr er aus seinen Grübeleien auf und sah eine kleine Hand, die eine leichte Reisetasche hielt. Schnell erhob er sich, um der jungen Dame behilflich zu sein und ihr den Koffer abzunehmen, aber schon hatte sie sich gewandt über die hohen Tritte ins Abteil geschwungen und das Gepäckstück im Netz untergebracht. Dann setzte sie sich ihm gegenüber in die Ecke, und der Schaffner warf die Tür zu. Ein Pfiff, und der Zug fuhr wieder weiter.

Unwillkürlich betrachtete Carley seine Reisegefährtin, und auf den ersten Blick war er von ihrer Erscheinung gefangengenommen. Ihre dunkelbraunen Augen blickten ruhig und sicher, und ihre Persönlichkeit strahlte jugendliche Frische aus. Sie mochte einundzwanzig sein und trug ein einfaches braunsamtenes Kostüm und eine Kappe aus demselben Stoff, unter der braunlockiges Haar hervorschaute.

»In welcher Station waren; wir eben?« fragte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.

»Das war Guildford«, erwiderte sie liebenswürdig und sah ihn so freundlich an, daß er seine Sorgen ganz vergaß.

Jim Carley war ein gewandter Gesellschafter, aber im Augenblick fiel es ihm schwer, das Gespräch fortzuführen. Er schaute aus dem Fenster und schien wieder in Nachdenken zu versinken.

Interessiert betrachtete sie sein kühngeschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, dem tiefblaue Augen und schwarzes Haar einen eigenartigen Reiz gaben. Aber ein bitterer Zug um den Mund sprach von Enttäuschungen.

»Sie kommen wohl von einer weiten Reise?« fragte sie.

Er schaute sie erstaunt an, aber dann wurde ihm plötzlich klar, daß sie die Aufklebezettel des Dampfers auf seinem Gepäck gelesen haben mußte.

Nun kamen sie bald in eine lebhafte Unterhaltung. Er erzählte ihr von Land und Leuten in Birma, von den goldenen, märchenhaften Tempelbauten in Rangun und den stimmungsvollen religiösen Feiern.

Begeistert und aufmerksam, hörte sie zu. Er schilderte so anschaulich, daß sie die ehernen, bronzenen Tempelglocken und den wunderbaren Wohllaut der Gebete buddhistischer Priester zu hören glaubte.

Wie im Flug verging die Zeit.

Wieder hielt der Zug.

»Wimbledon!« rief der Schaffner.

»Noch ein paar Stationen, dann sind wir in London«, sagte Carley fast traurig.

»Ja, es ist schade, daß die Fahrt schon zu Ende geht«, erwiderte sie mit einem leisen Seufzer. »Sie erzählen so schön, daß ich Ihnen noch stundenlang zuhören könnte. Wie gern würde ich all diese Herrlichkeiten auch einmal persönlich sehen!«

»Solch ein Besuch ist doch bei unseren modernen Verkehrsmitteln nicht mehr unmöglich.«

Plötzlich hatte er den Wunsch, ihr alle Wunder und Schönheiten des Landes zu zeigen. Sie hatte ihm so dankbar zugehört, und er hatte sich in ihrer Gegenwart zufrieden und glücklich gefühlt. Gern wäre er näher mit ihr bekanntgeworden, um sie wiedersehen zu können.

»Ich heiße Jim Carley – würden Sie mir auch Ihren Namen sagen?«

»Evelyn Rolands«, entgegnete sie offen.

Durfte er sie wohl um ein Wiedersehen am Abend bitten und sie zum Essen einladen? Aber durch einen solchen Vorschlag mochte das gute Einvernehmen, zwischen ihnen getrübt werden, und so schwieg er.

Sie erzählte ihm, daß sie zum Wochenende ihre Mutter in Guildford besucht hatte.

»Sie selbst wohnen aber in London?«

»Ja. Seit einiger Zeit.«

Der Zug hielt in Vauxhall. Noch zwei Minuten, dann kamen sie auf dem Waterloo-Bahnhof an.

»Darf ich Sie um einen großen Gefallen bitten?« fragte Carley und schob entschlossen alle Bedenken beiseite.

»Ja, ich erfülle Ihnen gern einen Wunsch, wenn es mir möglich ist«, entgegnete sie und sah ihn fragend an.

»Würden Sie heute noch ein paar Stunden mit mir verbringen? Es tut so wohl, wenn man nach einem langen Aufenthalt in den Tropen nach England zurückkommt und gleich einen Menschen findet, mit dem man sich gut versteht.«

Es war, als ob ein Schatten über ihr Gesicht fiele.

»Das geht leider nicht – ich bin schon verabredet.«

Diese Worte ernüchterten ihn. Wie konnte er auch annehmen, daß ein so schönes junges Mädchen noch frei war? Trotzdem wollte er die Verbindung mit ihr nicht verlieren.

»Ich weiß noch nicht, wo ich wohnen werde. Wenn Sie heute keine Zeit haben, könnten wir uns vielleicht an einem der nächsten Tage treffen? Bitte, schreiben Sie mir postlagernd nach King's Cross.«

»Vielleicht.«

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Carley nahm ihre Handtasche aus dem Gepäcknetz und half ihr beim Anziehen ihrer Kostümjacke. Sie dankte ihm freundlich und sagte noch etwas, aber bei dem Geräusch, das der haltende Zug machte, verstand Carley nicht, ob es ein Lebewohl oder »Auf Wiedersehen« war. Schnell hob er auch seine eigenen Koffer herunter und winkte einem Träger, der zufällig vor dem Abteil stand.

Als sie die Tür öffnete, reichte er ihr die Hand zum Abschied, aber sie sah es nicht und nickte nur noch einmal, dann stieg sie aus.

Diesmal hatte er mehr Glück als bei der Ankunft des Dampfers. In wenigen Sekunden war er auf dem Weg zur Sperre, und deutlich konnte er Miß Rolands etwa zwanzig Meter vor sich in der Menge sehen. Plötzlich faßte er einen Entschluß, nahm dem Träger einen Koffer ab und trieb ihn zur Eile an, so daß er aufholte und näher an sie herankam.

»Ich möchte das Gepäck auf dem Bahnhof lassen. Wo ist die Aufbewahrung?«

Trotz aller Eile wurde er aufgehalten, da noch mehrere Leute vor ihm am Schalter standen. Endlich hatte er den Träger bezahlt und ging mit großen Schritten vor den Bahnhof. Aber so aufmerksam er sich auch umschaute, er konnte Evelyn Rolands nicht mehr sehen.

3

Inhaltsverzeichnis

Carley überlegte. Der Waterloo-Bahnhof lag am rechten Themseufer, und wahrscheinlich würde sie am anderen Ufer wohnen, mußte also über die Waterloo-Brücke gehen. Ob sie wohl eine Taxe genommen hatte, um nach Hause zu kommen?

Er glaubte es nicht, wenn er auch keinen Grund dafür angeben konnte. Zu Fuß war er selbst auch freier und hatte einen besseren Überblick über die Straße, während er in einem Wagen nur behindert war.

Geschickt bahnte er sich einem Weg durch den starken Verkehr und war bald auf der Brücke selbst. Wie oft hatte er sich abends in den Tropen ausgemalt, wie es wäre, wenn er zum erstenmal die Themse wiedersehen würde, aber nun dachte er kaum noch daran. Im Augenblick hatte er nur ein Ziel: Er wollte feststellen, wo Miß Rolands wohnte.

Und schließlich wurde er belohnt. Nach einiger Zeit, als er das andere Ufer fast erreicht hatte, sah er ihre braune Samtkappe in nicht allzu weiter Entfernung vor sich.

Nun mußte er sich vorsehen, damit sie ihn nicht bemerkte. Unter keinen Umständen durfte sie erfahren, daß er ihr nachging.

An der Ecke des Strands wollte sie nach links abbiegen, mußte aber warten, bis der Verkehr in dieser Richtung freigegeben wurde.

Carley hielt sich im Hintergrund und folgte ihr dann wieder. Unter den vielen Fußgängern fand er genügend Deckung. Einige Sekunden hatte er sie aus den Augen gelassen, da er annahm, daß sie zu der nächsten Autobushaltestelle gehen würde. Aber als er wieder nach ihr Umschau hielt, wurde er von Schrecken gepackt.

Ein großer, roter Autobus der Linie 44 hätte beinahe eine Frau überfahren, die sich entgegen allen Verkehrsvorschriften auf den Fahrdamm gewagt hatte, um auf die andere Seite der Straße zu kommen. Es blieb dem Chauffeur nichts übrig, als nach rechts auszubiegen. Dabei geriet er aber an ein Auto, das am Straßenrand parkte. Durch den Anprall wurde es auf den Gehsteig gedrückt.

Mit einem großen Satz sprang Jim Carley vor, packte Evelyn Rolands und riß sie gerade noch im letzten Augenblick zur Seite. Ihr Kleid wurde vom Kotflügel gestreift, zerrissen und beschmutzt.

Einige Frauen schrien auf, ein Mann schien, verletzt zu sein – er lag stöhnend am Boden. Es gab einen allgemeinen Auflauf.

Schnell zog Carley Miß Rolands in den nächsten Hauseingang.

»Sind Sie verletzt?« fragte er ängstlich.

Ihre Lippen zitterten, und sie brachte kein Wort hervor. Bleich und verstört schaute sie ihn an.

»Haben Sie etwas gebrochen?«

Sie machte einen Schritt zur Seite und fühlte an den Kopf.

Inzwischen waren Polizisten herbeigeeilt, um die Verkehrsstockung möglichst schnell zu beseitigen.

»Können Sie gehen, ohne daß es schmerzt?«

Carley wollte verhüten, daß ihr Name als Zeugin notiert wurde. Das hätte nur eine unliebsame Verzögerung zur Folge gehabt. Er faßte sie unter den Arm und führte sie die Straße entlang.

»Am besten bringe ich Sie in einer Taxe nach Hause, damit Sie sich von dem Schrecken erholen können.«

Sie war noch so benommen, daß sie nicht widersprach.

Schnell winkte er einem vorbeifahrenden freien Wagen und half ihr beim Einsteigen.

»Wohin darf ich Sie bringen?«

»Zum Ardmay-Hotel, Woburn Place beim Russell Square.«

Er rief dem Chauffeur die Adresse zu, dann zog er sein Taschentuch heraus.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen! ein wenig behilflich bin?« fragte er und versuchte, den Schmutz von ihrem Kleid zu reiben.

Sie sah ihn erstaunt an. Jetzt erst schien ihr klarzuwerden, daß es Carley war, der sie gerettet hatte.

»Das war ein unerwartetes Wiedersehen«, sagte sie, nachdem sie sich etwas gefaßt hatte.

Er erwiderte nichts, denn er wollte sie in dem Glauben lassen.

»Wie gut und umsichtig von Ihnen, daß Sie mich wegrissen und in Sicherheit brachten.« Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und legte eine Hand auf seinen Arm.

Er wollte nichts davon hören.

»Ich bin Ihnen aber wirklich sehr dankbar.«

Die Entfremdung, die er bei dem Abschied im Zug gefühlt hatte, war verschwunden, und weder herrschte das beste Einvernehmen zwischen ihnen.

»Wir werden gleich am Ziel sein«, sagte sie. »Sehen Sie, da sind schon die Anlagen von Russell Square, und gleich rechts liegt der Eingang zum Hotel. Ich wohne dort.«

Kurz darauf hielt das Auto. Der Portier eilte auf die Straße und öffnete den Wagenschlag. Evelyn stieg zuerst aus, während Carley den Chauffeur bezahlte und ihm ein gutes Trinkgeld in die Hand drückte.

»Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen?« wandte sie sich an ihn. »Warten Sie bitte unten im Gesellschaftssalon, ich ziehe mich nur schnell um.«

»Gern«, erwiderte er erfreut.

Sie eilte die Treppe hinauf. Ein Page nahm ihm Hut und Mantel ab und zeigte ihm dann den Weg in die Gesellschaftsräume.

Im Hintergrund wurde in einem Zimmer Tischtennis gespielt, Bridgepartien waren im Gang, und vor den beiden großen Kaminen saßen Gruppen von Gästen, die lebhaft miteinander plauderten.

Carley ließ sich an einem Tisch der Tür gegenüber nieder und wartete. Hoffentlich hatte sie sich nicht verletzt. Er wollte sie noch einmal fragen, wenn sie zurückkam.

Ob sie wohl nur zu einem kurzen Aufenthalt in London war? Vielleicht studierte sie an der Universität oder an einer Kunstschule?

Er winkte einem der Hotelangestellten, der gerade vorüberging, und ließ sich eine Zeitung geben.

»Nun, wie gefällt es Ihnen hier?« sagte plötzlich Miß Rolands neben ihm und setzte sich.

Gleich darauf servierte ein Kellner den Tee.

»Haben Sie inzwischen schon ein Hotel gewählt?« fragte sie, nachdem sie ihm eine Tasse eingeschenkt hatte.

»Nein, noch nicht.« Er wurde verlegen, denn sie sollte doch nicht erfahren, daß er ihr nachgegangen war. »Das hat Zeit bis später. Ich wollte erst einmal die Themse und den Strand wiedersehen. Deshalb habe ich mein Gepäck zunächst auf dem Bahnhof gelassen.«

»Dann haben Sie also vor Ihrem Aufenthalt in Birma auch in London gewohnt?« meinte sie und schaute ihn fragend an.

Er nickte.

»Wie geht es Ihnen denn nun nach dem Unfall? Haben Sie irgendwelche Schmerzen?«

»Es ist nicht schlimm – nur ein paar Abschürfungen am rechten Bein. Wenn ich mich zusammennehme, merkt man es mir hoffentlich beim Gehen nicht an. Aber ich habe mich sehr gestoßen und werde morgen wohl blaue und grüne Flecke haben.«

»Wir sind nun schon fast alte Bekannte. Wie wäre es – wollen wir nicht noch den Rest des Nachmittags zusammen verbringen?«

Fast tat es ihm leid, daß er die Frage gestellt hatte, denn sofort schien Evelyns heitere Stimmung verflogen zu sein.

»Das ist leider nicht möglich. Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich bereits verabredet bin. Ich habe auch jetzt nicht viel Zeit. Seien Sie mir bitte deshalb nicht böse. Ich möchte meinem Lebensretter gegenüber wirklich nicht unhöflich sein.« Sie machte eine leichte Verbeugung und lächelte eigentümlich.

Er wurde unsicher. War diese Bemerkung ironisch gemeint?

Evelyn sah, daß er sich durch ihre Antwort getroffen fühlte, und wollte es wieder gutmachen.

»Vielleicht können wir uns später wiedersehen.«

»Ja«, entgegnete er eifrig. »Wann paßt es Ihnen?«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Heute abend um acht.«

»Und wo? Vielleicht am Trafalgar Square, Nelson-Säule?« schlug er vor.

»Ach nein, dort treffen eich zuviel« Leute. Lieber an einem ruhigeren Platz.«

»Gut, dann im Eingang zum Untergrundbahnhof, gegenüber der Kirche Mary-le-Strand.«

»Einverstanden. Nun erzählen Sie mir aber bitte noch ein wenig von Ihrer Tätigkeit in Hinterindien.«

Sofort waren sie wieder in reger Unterhaltung, bis Evelyn Rolands plötzlich erschrak, als ihr Blick auf die Uhr über dem Kamin fiel.

»Es ist höchste Zeit, daß ich gehe. Jetzt müssen Sie mich entschuldigen.«

Sie gingen zusammen zur Treppe, und er drückte ihr zum Abschied herzlich die Hand.

Der Page hielt bereits Mantel und Hut bereit, und gleich darauf stand Carley auf der Straße und schlenderte zur nächsten Autobushaltestelle, die dem Hotel gegenüberlag. Nun mußte er sieh um sein Gepäck und ein Hotelzimmer kümmern.

Aber die Nummern der Autobuslinien hatten sich während seiner Abwesenheit geändert, und er fragte einen Schaffner, mit welcher Linie er zum Waterloo-Bahnhof kommen könnte.

Als er Antwort erhalten hatte, sah er, daß Evelyn Rolands aus dem Hotel trat. Ob sie auch einen Autobus nehmen wollte? Vorsichtig ging er die Straße weiter hinauf und stellte sich in einen Hauseingang. Wieder näherte sich ein Wagen der Haltestelle. Es war der Autobus, den auch er benützen mußte. Fast die Hälfte der Wartenden stieg ein, unter ihnen auch Evelyn Rolands.

Carley sprang im letzten Augenblick noch auf. Er hatte beobachtet, daß sie nach oben gegangen war, und blieb unten. Sitzplätze waren nicht mehr frei, und er stellte sich unter die Treppe, so daß sie ihn nicht sehen konnte, wenn sie herunterkam. Zufällig bot sich ihm eine günstige Gelegenheit, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, Miß Rolands wieder zu folgen.

Die Fahrt dauerte fast eine Viertelstunde, und er war gespannt, welches Ziel Evelyn hatte.

An der Ecke der Old Bond Street stieg sie aus. Auch mehrere andere Leute verließen den Wagen, und es gelang ihm, unbemerkt zu folgen.

Die Gegend kannte er gut, denn er hatte früher in dem Haus seines Onkels in der Bruton Street gewohnt.

Miß Rolands ging etwa zwanzig bis dreißig Meter vor ihm die Old Bond Street hinauf. Sie schien es ziemlich eilig zu haben. Mit wem mochte sie nur verabredet sein?

Ungefähr vierhundert Meter ging sie geradeaus, dann aber staunte er, als sie plötzlich in die Bruton Street einbog. In dieser wenig belebten Straße mußte er sich in acht nehmen, wenn er nicht gesehen werden wollte. Rechts lag das Haus seines Onkels, und er traute seinen Augen kaum, als sie davor anhielt und einen Schlüssel aus ihrer Handtasche nahm. Dann ging sie durch einen Seitengang zu einer Nebentür.

Was hatte das zu bedeuten? Er wußte nicht, ob er wachte oder träumte. Als er sie im Zug und nachher im Hotel um ein Wiedersehen gebeten hatte, war sie sonderbar zurückhaltend und ausweichend gewesen. Wußte sie vielleicht, wer er war? Hatte sein Onkel über ihn gesprochen?

Unruhig ging er auf und ab und sah nach der bekannten Fassade hinüber. In der Mitte sprang sie etwas vor, dahinter lag die große Halle, die durch zwei Geschosse ging und die Haupttreppe zum oberen Stock enthielt. Sie war dunkel, das sah er deutlich an der Öffnung über der Haustür und den oberen Fenstern. Aber im rechten Eckraum des Obergeschosses brannte Licht. Die Vorhänge waren vorgezogen, aber die Läden nicht geschlossen.

Plötzlich flammte für kurze Zeit das Licht in der Halle auf.

Jim blieb stehen und sah nach den beiden Fenstern empor. Unwillkürlich faßte er in die Tasche, aber dann besann er sich, daß er den Hausschlüssel zur Seitentür nicht bei sich hatte. Der mußte irgendwo in einem Koffer liegen.

Wieder ging er auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab, dann schaute er auf die Uhr. Es war halb sechs.

Eigentlich harte er gleich nach seiner Ankunft in London seinen Onkel aufsuchen wollen, aber es war anders gekommen. Die Bekanntschaft mit Miß Rolands hatte sein ganzes Interesse in Anspruch genommen. Aber warum sollte er nicht jetzt die Gelegenheit wahrnehmen? Vielleicht hatte es so sein sollen. – Oder würde es bei Evelyn Rolands einen zu sonderbaren Eindruck machen, wenn er jetzt unversehens wieder auftauchte?

Er überlegte noch einige Minuten, schließlich ging er zur Haustür und klingelte.

Es dauerte kurze Zeit, dann wurde es hell in der Halle, und er hörte, daß jemand die Treppe herunterkam. Ein Diener, wahrscheinlich der Butler, öffnete ihm. Carley kannte den Mann nicht, der vermutlich während seiner Abwesenheit eingestellt worden war.

»Ich möchte Sir Richard sprechen«, sagte er, nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihm.

»Es tut mir sehr leid – er ist nicht zu Hause.«

»Kommt er bald zurück? Kann ich vielleicht auf ihn warten?«

Der Butler betrachtete ihn sonderbar.

»Das hat wohl keinen Zweck. Sir Richard kommt wahrscheinlich erst spät zurück.«

Carley hatte den Eindruck, daß der Mann ihm nicht die Wahrheit sagte. Aber welchen Grund mochte der nur dazu haben?

»Ich bin sein Neffe.«

Es tat ihm aber sofort leid, daß er diese Bemerkung gemacht hatte.

Der Mann zuckte die Schultern.

»Das ändert auch nichts an der Tatsache, daß Sir Richard vorläufig nicht zurückkommt. Es tut mir leid, Mr. Carley.« Damit schloß er die Haustür wieder.

Jim war über diese Abweisung verärgert, aber schließlich sollte er ja Evelyn Rolands um acht Uhr wiedersehen. Vielleicht erklärte sie ihm, warum sie in das Haus seines Onkels gegangen war.

Inzwischen konnte er die Zeit ausnützen, ein Zimmer in einem Hotel nehmen und sein Gepäck dorthin bringen. Der Gedanke lenkte ihn ab. Bald saß Carley in einem Autobus, der nach Osten fuhr, und später stieg er in einen anderen Wagen um, der ihn zum Bahnhof brachte.

Eigentlich hatte er damit gerechnet, daß er wieder bei seinem Onkel wohnen könnte. Er läutete im Arundel-Hotel an, das am Themse-Ufer lag, und nachdem er erfahren hatte, daß noch Zimmer frei waren, fuhr er mit seinem Gepäck dorthin.

4

Inhaltsverzeichnis

Evelyn Rolands stieg an der Ecke der Old Bond Street aus. Sie wurde um fünf Uhr erwartet, und jetzt war es schon halb sechs. Mit schnellen Schritten ging sie die Straße entlang.

Sie wollte zusehen, daß sie mit ihrer Arbeit möglichst bald fertig wurde, um zur rechten Zeit am Eingang der Untergrundbahn sein zu können.

Seit einigen Wochen hatte sie durch die Vermittlung des Rechtsanwalts Stetson, ihres früheren Vormundes, eine gutbezahlte Stellung als Sekretärin erhalten. Vor Jahren hatte ihre Familie in guten Verhältnissen gelebt, aber durch den Tod ihres Vaters war Evelyn gezwungen worden, selbst Geld zu verdienen. Die große Wohnung in London wurde aufgegeben, und nun lebte die Mutter in zwei Zimmern in Guildford, weil es dort viel billiger war. Evelyn hatte auch in der Provinz als Stenotypistin gearbeitet, aber die Bezahlung war so gering, daß sie sehr sparsam und zurückgezogen mit ihrer Mutter leben mußte. Das hatte sich nun seit den letzten drei Wochen geändert. Anwalt Stetson hatte ihr eine Vertrauensstellung in London beschafft, wo sie sofort doppelt soviel verdiente wie in Guildford. Die Trennung von der Mutter war ihr zwar in den ersten Tagen schwergefallen, aber nun hatte sie sich schon daran gewöhnt, auf eigenen Füßen zu stehen.

Schnell betrat sie das Haus in der Bruton Street durch die Seitentür. Ob Sir Richard sie schon lange erwartete?

In der Garderobe legte sie Jacke und Hut ab, dann ging sie durch die Schwingtür in die große Halle.

Der Butler Miller kam gerade die Treppe herunter und begrüßte sie zuvorkommend. Er hielt sogar die Tür zur Bibliothek für sie auf, die an der entgegengesetzten Seite der Halle lag. Mit einem Kopfnicken ging sie an ihm vorbei.

»Sir Richard läßt Ihnen sagen, daß Sie die Schriftstücke, die auf dem kleinen Tisch neben der Maschine liegen, abschreiben möchten. Es sind wichtige Dokumente«, erklärte er.

Evelyn hatte ihren Arbeitsplatz bereits erreicht und bemerkte einen Zettel, der auf den Papieren lag.

»Liebe Miß Rolands«, las sie, »wie ich Ihnen schon telegraphierte, ist die Arbeit sehr wichtig. Bitte sehen Sie zu, daß Sie heute noch möglichst weit damit kommen. Morgen mittag soll sie mit einem Begleitschreiben abgesandt werden. Später werde ich selbst auf kurze Zeit in die Bibliothek kommen und noch einige dringende Briefe diktieren. R.«

Der Butler hatte also gar nicht den Auftrag gehabt, ihr etwas mitzuteilen, aber sie wußte ja, daß er sich wichtig vorkam und immer so tat, als ob er das Vertrauen Sir Richards besäße.

Sie spannte ein Blatt ein und hatte gerade zwei Zeilen geschrieben, als Miller wieder ins Zimmer trat.

Er sah hübsch aus und war für seine Stellung eigentlich noch etwas jung. Das fiel besonders auf, wenn er sich bemühte, eine würdevolle Haltung einzunehmen. Er unterhielt sich gern wohlwollend mit der Sekretärin.

Beide waren noch nicht lange im Haus, denn Sir Richard war erst vor einigen Wochen von einer Weltreise zurückgekehrt.

»Sie haben Ihr Taschentuch in der Garderobe fallen lassen«, sagte er und reichte es ihr.

Sie dankte ihm und hoffte, daß er wieder gehen würde, aber er blieb noch und strich die Decke über dem runden Tisch glatt.

»Ich finde es eigentlich nicht richtig, daß Sir Richard Sie auch am Sonntag zum Arbeiten kommen läßt. Haben Sie nicht auch den Eindruck, Miß Rolands, daß er überhaupt manchmal etwas eigentümlich ist?«