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Dieser Band enthält folgende Romane: Jo Zybell: Lennox und die Stadt Gottes Jo Zybell: Lennox und der Finder Jo Zybell: Lennox und das Duell Dave Branford: Lennox und die anderen Erden Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen. In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf … Tim Lennox kann es kaum fassen, er trifft in Australien auf Fanlur und die beiden Marsbewohner Vogler und Clarice Paxton; sie befinden sich bei Wesen, die von einem seltsamen Glauben beherrscht werden. Doch noch immer hat er Marrela nicht gefunden. Währenddessen versuchen die Yandamaaren ihr »Projekt Yandamaar« auf andere Weise zu verwirklichen.
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
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4 Science Fiction Abenteuer Sonderband 1042
Copyright
Lennox und die Stadt Gottes
Lennox und der Finder
Lennox und das Duell
Lennox und die anderen Erden
Dieser Band enthält folgende Romane :
Jo Zybell: Lennox und die Stadt Gottes
Jo Zybell: Lennox und der Finder
Jo Zybell: Lennox und das Duell
Dave Branford: Lennox und die anderen Erden
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Tim Lennox kann es kaum fassen, er trifft in Australien auf Fanlur und die beiden Marsbewohner Vogler und Clarice Paxton; sie befinden sich bei Wesen, die von einem seltsamen Glauben beherrscht werden. Doch noch immer hat er Marrela nicht gefunden. Währenddessen versuchen die Yandamaaren ihr »Projekt Yandamaar« auf andere Weise zu verwirklichen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Das Zeitalter des Kometen #37
von Jo Zybell
Der Umfang dieses Buchs entspricht 132 Taschenbuchseiten.
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Waashton wird von den Leuten der Rev‘rends förmlich überrannt. Nun folgt eine Zeit der öffentlichen Sündenbenennung und Buße. Aber nicht alle Menschen sind bereit, den neuen Glauben anzunehmen und sich den strengen Regeln zu unterwerfen. Mr. Darker, General Crow, die Running Men und einige andere stellen sich offen gegen die Lehre, es kommt zum Aufstand in der Stadt Gottes.
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Nur dreizehn Männer zählte Sabreena, aber die gebärdeten sich wie die Sieger schlechthin. Sie drohten mit den Fäusten, brüllten, schossen in die Luft und veranstalteten einen Höllenlärm. Zwei ritten auf Horsays, einer gar auf einem Rhiffalo, und zehn lenkten Wagen mit eisenbeschlagenen Rädern und Gespannen von je sechs Zugtieren.
Darauf transportierten sie Motorräder, Kanonen und Kisten.
Auf zweien stampften Dampf speiende Maschinen, mit denen sie bei jeder neuen Runde um die Stadt Fanfaren erschallen ließen, so laut und gellend, dass Sabreena und den Verteidigern auf der Mauer beinahe die Ohren zufielen. Auch jetzt dröhnte das abscheuliche Getöse wieder vom Ufer des Potomac her über die Ruinenstadt, und dann donnerten erneut die Waffen der Dreizehn los. Pulverdampf stieg auf.
»Köpfe runter!«, schrie Sabreena. Sie und ihre Leute warfen sich bäuchlings auf die Wehrgänge. Auch rechts und links von ihnen tauchten Hunderte Männer, Frauen und Kinder hinter der Mauerbrüstung ab. Geschosse heulten über sie hinweg, Kanonenkugeln schlugen hinter ihnen in Fassaden und Dächer ein, Fensterglas splitterte, Explosionslärm donnerte, Dachgebälk stürzte ein, und das nervtötende Ratatata ihrer Maschinenkanonen vermischte sich mit dem Einschlaglärm der Geschosse im Mauergestein und mit dem Geschrei verängstigter und verwundeter Menschen.
Der Schusslärm verebbte, einmal noch heulten die Dampffanfaren auf, bevor sie verklangen, und nach und nach wagten die Leute von Waashton sich wieder aus der Deckung der Mauerbrüstung.
»Sie machen Ernst, diese schwarzen Burschen!«, zischte Sabreena. »Möchte wissen, welcher Teufel denen ins Hirn geschissen hat.« Seit dem Sonnenaufgang marschierten die Dreizehn um Waashton, seit geschlagenen sechs Stunden.
Die Augen von Sabreenas Leuten waren starr und groß, ihre Gesichtshaut aschfahl.
»Wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen«, flüsterte Taulara, ihre Edelhure.
Yanna, ihre Chefdiebin, murmelte: »Das sind Rev‘rends, die geben niemals auf.«
»Ullah Ullalah!«, schrien ein paar Männer zweihundert Meter rechts von ihnen. »Ullah Ullalah! Stellt euch dem Schwertkampf!« Sie schwangen dreizackige Spieße, langstielige Äxte und vor allem Schwerter. »Wenn ihr ein bisschen Ehre im Leib habt, legt eure Feuerwaffen weg, kommt zur Mauer und stellt euch dem Schwertkampf Mann gegen Mann, ihr Ungläubigen!«
Jamal selbst hatte das Wort ergriffen, der Führer jener frömmelnden Mörderbande, die nun schon seit fast fünfzehn Monaten die Ruinen von Waashton zu Schlachthäusern und die Straßen der Stadt zu Wegen in die Hölle machte. »Ullah Ullalah!«, brüllte er, und seine immer berauschten Männer wiederholten den Kriegsruf.
Die Männer und Frauen zweier Gruppen, die sich auf der Stadtmauer vor dem Westtor versammelt hatten, beschimpften und verspotteten die Angreifer. Andere, wie Sabreenas Leute, beobachteten einfach nur verängstigt und schweigend, wie drei schwarze Reiter sich der Stadtmauer näherten. Sabreena zog sich die Kapuze ihres dunkelblauen Mantels über den Kopf. Sie fröstelte – die Luft war kalt und feucht.
Die Angehörigen einer Horde, die sich ganz in ihrer Nähe auf der Mauer drängte, streckten die Arme in die Luft, sangen und lachten.
Eine ihrer Frauen rief: »Willkommen, ihr Gesandten des HERRN! Endlich kommt ihr, um der abgrundtiefen Bosheit ein Ende zu machen, die sich in Waashton eingenistet hat!«
Diese gläubige Horde hatte sich vor Jahren um einen Mann namens William Boothcase geschart, der einem Rev‘rend begegnet war, irgendwo tief im Nordwesten.
Boothcase hatte sich »bekehren lassen«, wie er das nannte, und nach seiner Rückkehr die Glaubenshorde gegründet.
»Hört mich an, Bewohner der sündigen Stadt!«, röhrte plötzlich eine Stimme. Das Fluchen, Schreien, Spotten und Palavern auf der Mauer verstummte jäh. »Dies sind die Worte des HERRN an Waashton, die verdorbenste der Städte an der Küste des Sonnenaufgangs!«
Fast alle duckten sich unter dem donnernden Bass und spähten über die Mauerkante. Keine dreihundert Schritte entfernt hatten die drei schwarzen Reiter ihre Tiere gestoppt. Der mittlere von ihnen, der auf dem schwarzen Rhiffalo, brüllte in einen blechernen Trichter.
»Hört den Spruch des HERRN, ihr Sünder!«
Sein Rhiffalo war höher als die Horsays der beiden Reiter an seiner Seite. Das Tier hatte langes schwarzes Zottelfell und einen wuchtigen Schädel mit gewaltigem Gehörn. Sein Reiter war groß und dürr und trug einen anthrazitfarbenen Ledermantel mit einem grellroten Kreuz über dem Herzen. Ein grauer Stahlhelm – ebenfalls mit rotem Kreuz – bedeckte sein ergrautes Langhaar. Der dicke Lauf einer Waffe ragte hinter seiner Schulter hervor. »Hört den Spruch des HERRN oder fahrt zur Gluthölle Satans!«, brüllte er in seinen Blechtrichter.
Der Reiter rechts von ihm war jünger und nicht ganz so groß, dafür kräftig gebaut, bärtig und mit schwarzem, langen Haar. Ein breitkrempiger Hut bedeckte seinen Kopf. Er trug einen offenen Mantel aus schwarzem Pelz, dazu Hosen und Stiefel aus schwarzem Leder. In seine Hüfte stemmte er eine Feuerwaffe und aus den Klingenscheiden auf seinem Rücken ragten zwei Schwerter. Sein schwarzes Horsay tänzelte unruhig. Das Nasenhorn des Tieres und seine Stirn waren mit Blech armiert.
Ein grauer Harnisch aus tellergroßen Eisenplatten schützte seine Brust, seine Flanken und sein Hinterteil.
Der Reiter links des Rhiffalo-Manns hatte dunkle Haut, einen kahlen Schädel – so weit Sabreena das auf die Entfernung erkennen konnte –, und auf seinem schwarzen Zylinder, genau wie auf seinem schwarzen Lederponcho und dem Brustharnisch seines Horsays, prangten weiße Kreuze.
»Der Spruch des HERRN ergeht an Waashton, die Verdorbene, durch den Mund des geringsten Dieners des HERRN, dem der Racheengel des HERRN den Namen Rev‘rend Blood verlieh, und so lautet der Spruch des HERRN: Tu Buße, Waashton! Tut alle Buße, ihr Bürger der Verdorbenen!«
Die anderen Gottesmänner hatten ihre Wagen angehalten und standen vielleicht vierhundert Schritte entfernt in einem Halbkreis unweit des Potomacufers.
Wolken aus Pulverdampf schwebten über ihnen. Manche sah Sabreena sich bekreuzigen, manche flehend die Hände gegen den asphaltfarbenen Himmel richten und einige die gefalteten Hände vor die Stirn des gesenkten Hauptes pressen.
»Sie beten«, flüsterte ein Junge namens Ozzie. Er drückte sich nahe an die furchtlose Frau mit der Augenklappe. »Ich glaube, die Spinner auf den Wagen beten alle.«
»Schon möglich.« Sabreena spuckte verächtlich über die Mauer.
»Eure Sünden sind vor den HERRN gekommen und klagen euch an!«, brüllte der Rhiffalo-Reiter namens Blood in seinen Blechtrichter. »Einer treibt Unzucht mit des anderen Weib! Einer lauert dem anderen an den Ecken der Gassen und den finsteren Toreingängen auf! Ihr sauft euch voll mit schwerem Alk, ihr raubt, was euch nicht gehört, ihr lügt einander ins Gesicht und betrügt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und die ganze Nacht hindurch!«
»Verpisst euch!«, schrie einer der Männer auf der Mauer.
»Ullah ist Gott, und nur er!«, brüllte Jamal. »Ullah Ullalah!«, echoten seine besoffenen Schlächter.
»Komm endlich zum Punkt, Rev‘rend!«, rief Sabreena.
Sie fröstelte. Eisiger Wind blies vom Atlantik her über den Potomac in die Stadt hinein. Der Himmel sah verdächtig nach Schnee aus.
»Eure Sünden klagen euch an!«, brüllte der graue Dürre auf dem Rhiffalo wieder. »Habt ihr nicht gehört von den Strafen des HERRN? Habt ihr nicht gehört, wie er Feuer und Schwefel regnen ließ fern im Osten? Habt ihr nicht gehört, dass rund um den Globus jeder Stromfluss versiegte, kein elektrisches Licht mehr aufflammte und sich keine Hitze mehr den Energieleitungen von Waffen, Heizungen oder Motoren entrang bis auf den heutigen Tag?«
Viele Leute auf der Mauer sahen einander betreten an.
Jamal schüttelte stumm die Fäuste, Sabreena winkte ab, und ein paar Frauen der Glaubenshorde riefen: »Ja, wir haben von der Strafe des HERRN gehört! Schreckliche Strafe! Die uns regierten und Ordnung und Gesetze verschafften, traf sie mit besonderer Härte! Kommt endlich in unsere Stadt und richtet wieder Frieden und Glauben und Gottesfurcht auf!«
Ein Pfeilhagel sirrte von rechts über Sabreenas Frauen und Männer; abermals zogen sie die Köpfe ein. Die Pfeile fuhren unter die Sektenmitglieder. Schmerzensschreie erhoben sich, ein paar der Gläubigen sackten getroffen auf die Planken des Wehrgangs.
»Mörderbrut!«, brüllte Rev‘rend Blood. »Das Blut, das du vergießt, wird über dich kommen!« Er schüttelte die Faust. »Hört den Spruch des HERRN! Hört das Ultimatum seiner Diener! In zwei Stunden öffnet ihr das Tor, oder die dreizehn Diener des HERRN werden unter euch fahren wie ein Wirbelsturm! In zwei Stunden ziehen wir durch das offene Tor in die verdorbene Stadt ein – oder durch die Lücke, die der HERR selbst in die Mauer reißen wird! Doch dann wird Tod und Verderben jeden dahinraffen, der die Buße verweigert! Waashton soll eine Stadt des HERRN werden oder ein brennender Trümmerhaufen voller Wehklagen und Todesgeschrei!«
»Sie meinen es ernst!«, zischte Sabreena. Sie ging hinter der Mauerkrone auf dem Wehrgang in die Knie und winkte Peewee und Ozzie zu sich. Auch die anderen Frauen und Männer ihrer Gruppe drängten sich um sie.
»Er meint jedes Wort genau so, wie er es sagt!« Sabreena legte ihre Hände auf Ozzies und Peewees Schultern.
»Lauft los! Geht zu Trashcan Kid und erzählt ihm, was sich hier abspielt! Ich wette mein Glasauge, dass er und die anderen hier an der Mauer bald dringender gebraucht werden als bei den jämmerlichen Idioten dort unten im Bunker!«
»Ein Himmel wie Leichenhaut, was?« Miss Honeybutt Hardy lehnte an der Tür zum Ruderhaus und starrte hinauf in die schmutzig-blaue Tristesse über dem endlosen Meer. Sie hatte sich in Felle und zwei Decken gehüllt. Wie ein altes Leintuch spannte sich der von Wolken schwere Himmel von Horizont zu Horizont. Von Norden her wurde er von Stunde zu Stunde grauer und dunkler. »War vorauszusehen«, sagte der Mann am Kartentisch. Er hieß Sigur Bosh und stammte aus Britana.
»Die Temperaturen sinken seit zwei Wochen, der Wind hat auf Nordost gedreht.« Auch er hatte seinen drahtigen, fast dürren Körper in Decken gewickelt. »Wir fahren in den Winter hinein.«
»Ich hasse den Winter, ich hasse die kalten Winternächte.« Honeybutt sah den blonden Britanier von der Seite an. »Aber in diesem Jahr fürchte ich sie nicht.«
Ein Lächeln flog über ihr schwarzes Gesicht, und sie flüsterte: »Ich habe ja dich.«
Der Blonde zog die Brauen hoch und sah zu der schwarzen Frau an der Tür des Ruderhauses. Einen Atemzug lang hielten sich ihre Blicke fest. Er lächelte und wusste sonst nichts zu erwidern. Diese Frau überraschte ihn jeden Tag aufs Neue. Und sie machte ihn dankbar.
Ohne sie wäre er jetzt kein freier Mann.
»Wie lange noch, was schätzt du, Großer?« Diesmal wandte Honeybutt Hardy sich an den Steuermann. Er hieß Ben-Bakr, trug einen roten Turban auf dem spitzen Schädel und einen wilden grauen Bart im Gesicht.
»Wenn der Wind anhält, sind wir in zwei Tagen am Ziel.« Ben-Bakr stammte aus einem Land, dessen Küste weit, weit weg im Südosten lag. Dorthin sehnte er sich, nicht nach dem Land, aus dem die schwarze Frau stammte, das sie Meeraka nannte und das er jetzt ansteuerte.
Miss Honeybutt Hardy fuhr seit knapp sechs Monaten auf der „Eusebia“, Sigur Bosh seit zwei Jahren, Ben-Bakr sogar seit fünf. Rudersklaven waren sie gewesen, unter der Knute erbarmungsloser Piraten. Eines Tages, in St. Petersburg, war ihr Kapitän an Land gegangen und nie wieder aufgetaucht. Eines Nachts dann war die schwarze Frau aus Meeraka an Bord gekommen, zweimal, dreimal, und irgendwann war sie geblieben. Aber das war eine andere Geschichte.
Honeybutt blickte zum Bug des Schiffs. An Steuerbord holte ein gewisser Hagenau aus Doyzland das Senkblei ein, um es sofort backbords wieder im Meer zu versenken. Völliger Blödsinn natürlich – der Atlantik war hier etwas mehr als tausend Meter tief. Das war seit Tagen, ja, seit Wochen so, und das würde sich in den nächsten dreißig Stunden auch nicht ändern.
Die Wahrheit war: Hagenau hatte sich auf Crows Seite geschlagen und beobachtete in seinem Auftrag das Schiff.
Vor allem die hintere Hälfte des Dreimasters. Dort nämlich, von den Luken des Laderaums bis zum Heck, erstreckte sich Mr. Darkers Hoheitsgebiet. Die Schiffshälfte von den Treppenabgängen in die Laderäume bis zum Bug war Arthur Crows Reich. Er und sein Sergeant, ein relativ harmloser Mensch namens Peterson, hatten das so gewollt.
Außer Hagenau gab es noch einen zweiten Mann, der es mit Arthur Crow hielt: Horstie von Kotter, ehemaliger Rudersklave wie Hagenau, wie Sigur Bosh und Ben-Bakr und die meisten Männer an Bord der Eusebia. Von Kotter hatte sieben Jahre lang angekettet auf der Ruderbank im Unterdeck gelebt, auch er war Doyzländer. Honeybutt fragte sich manchmal, was für ein Mensch sieben Jahre in Ketten auf einer Ruderbank überleben konnte. Sie hatte eine Menge erlebt, aber diese Frage konnte sie dennoch nicht beantworten.
Wenn man den Gerüchten an Bord glauben wollte, hatte Crow von Kotter den Posten des Weltrat-Militärchefs im Rang eines Colonels versprochen.
»Militärchef« und »Colonel« – das klang natürlich nicht schlecht, auch wenn von Kotter ganz gewiss nie zuvor etwas von einem Weltrat gehört hatte. Ob es etwas, das diesen Namen verdiente, überhaupt noch gab?
Honeybutt Hardy hegte da starke Zweifel.
Hagenau hatte angeblich Chancen, Crows neuer Adjutant zu werden. Hardy fragte sich, wie der treue Sergeant Peterson wohl mit dieser Aussicht zurechtkommen würde.
Aus der Luke zum Laderaum streckte Mr. Hacker seinen kahlen schwarzen Schädel. Er winkte Honeybutt zu sich. Sie stieß sich von der Wand des Ruderhauses ab.
»Die Pflicht ruft«, seufzte sie.
Hinter Mr. Hacker her stieg sie ins Unterdeck hinab.
Auch dort und sogar ein Stockwerk tiefer, in den Laderäumen, galt die Zweiteilung der Eusebia: Die Bughälfte für die Crow-Partei, die Heckhälfte für Mr. Darker, Mr. Hacker, Honeybutt Hardy und ihre Anhänger.
Der Rest der befreiten Rudersklaven, sieben Männer insgesamt, verhielt sich weitgehend neutral.
Hacker und Hardy betraten Mr. Darkers Quartier, die luxuriöse Kapitänskajüte. Darker lag auf seiner Koje, seine beiden Gefährten nahmen am Kartentisch Platz. »Wie lange noch bis Waashton, Miss Hardy?«, fragte Darker.
»Wenn das Wetter sich hält und der Wind so günstig bleibt, noch etwa zwei Tage«, sagte Honeybutt.
»Gut«, knurrte Darker. »Wie Sie wissen, hatte ich vor zwei Wochen eine Unterredung mit General Arthur Crow.« Er schnitt eine verächtlich Miene und fügte spöttisch hinzu: »Mit dem Präsidenten.« Das letzte Wort dehnte er und kostete jede Silbe.
Die Einladung zu diesem Gespräch hatte Crow durch Sergeant Peterson überbracht, gleich nachdem sie den finnischen Meerbusen verlassen hatten. Das war über ein halbes Jahr her. Zwischenzeitlich hatten Schiff und Besatzung nervtötende Monate in völliger Windstille auf dem Atlantik zugebracht und auf einer Insel der Azorengruppe ums Überleben gekämpft. Doch auch das war eine andere Geschichte. (die noch nicht erzählt wurde)
»Von was genau Mr. Crow noch Präsident ist, werden wir erst erfahren, wenn wir in Waashton an Land gegangen sind«, sagte Darker, und er klang besorgt. »Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, welche Situation wir in Waashton antreffen werden, und genau darauf sollten wir vorbereitet sein. Am Schluss unseres Gesprächs hat Crow mich um ein offizielles Treffen gebeten. Ich schlage vor, wir kommen ihm entgegen. Schließlich brauchen wir ein konkretes Konzept für unsere künftige Zusammenarbeit, sonst läuft gar nichts.«
»Ein Konzept, wie wir uns künftig gegenseitig das Leben schwermachen?« Mr. Hacker grinste. »Klingt gut, ehrlich, Mann!«
»Mir ist nicht nach Witzen zumute, Mr. Hacker«, knurrte Darker.
»Was haben Sie und Crow denn besprochen in Ihrem Gespräch unter Männern?«, erkundigte Miss Hardy sich vorsichtig. »Wenn man fragen darf, Mr. Darker.«
»Man darf, Miss Hardy.« Mr. Darker schwang sich aus der Koje, ging zum Kartentisch und ließ sich dahinter in einem knarrenden Armlehnensessel nieder. »Er hat sich nicht direkt entschuldigt, aber war immer noch ziemlich zerknirscht wegen seiner Tochter.« Darker faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch und starrte sie an. »Ich bin nicht sicher, ob er nur geschockt ist, weil Lynne ihm erfolgreich vorgelogen hat, dass Mr. Heller und ich sie damals vergewaltigt hätten, oder ob er wirklich bereut, mich wegen dieser Lüge jahrelang verfolgt und bekämpft und Heller ermordet zu haben.«
»Vorsichtig, Mr. Darker.« Hacker hob warnend den Zeigefinger. »Eher krieg ich schneeweiße Haut, als dass Crow etwas bereut.«
Darker hob die Brauen und sah fragend zu Miss Hardy.
Die zuckte mit den Schultern. »Ich traue jedem grundsätzlich alles zu«, sagte sie. »Auch, dass er sich ändert.«
»Sogar Crow?« Hacker tat überrascht.
»Sogar Crow.«
Mr. Darker brummte missmutig. »In den Krisen, die seit der Flucht aus St. Petersburg hinter uns liegen, konnten wir jedenfalls ganz gut mit ihm und Peterson zusammenarbeiten. Und je nachdem, welche Zustände wir in Waashton antreffen, werden wir wieder auf eine vernünftige Zusammenarbeit mit dem Fuchs angewiesen sein.«
»Und der Fuchs auf eine vernünftige Zusammenarbeit mit uns«, warf Mr. Hacker ein.
»Richtig«, bestätigte Mr. Darker. Er wandte sich wieder an Honeybutt Hardy. »Gehen Sie also zu ihm hinüber, Miss Hardy. Grüßen Sie ihn von mir, und laden Sie ihn und seine Leute für morgen, zwölf Uhr Bordzeit, zu einem Arbeitsessen in meine Kajüte ein. Sagen Sie ihm, es gehe um eine Koalition für die künftige Zusammenarbeit in Waashton.«
Woher kennst du den Burschen?, fragte sie sich die ganze Zeit. Sie hätte schwören können, ihn schon einmal gesehen zu haben, und dass es keine schöne Begegnung gewesen war. Er hatte weiße Haut, das dunkle Haar quoll ihm unter dem rostigen Eisenhelm hervor wie Drahtwolle. »Was ist jetzt, Brody?«, sagte er. »Übergeben Sie uns das Loch oder müssen wir es uns krallen?«
Christie Calypso, einer der beiden Leibwächter, räusperte sich. »Man spricht die Präsidentin als Dr. Brody oder als Mrs. Präsident an, Sir!«, sagte er unfreundlich. Er wies den Helmträger nicht zum ersten Mal darauf hin.
»Hör auf, mir ständig die Welt erklären zu wollen«, sagte der junge Bursche schroff.
Er redete nicht viel. Und das Wenige, das er sagte, lief im Prinzip immer auf die gleiche Frage hinaus: Kapitulation oder Krieg.
Seit zwanzig Minuten saßen sie einander in der unterirdischen Bahnhofshalle des Pentagonbunkers gegenüber und verhandelten. Dr. Alexandra Brody und dreiundfünfzig Angehörige des Weltrats auf der einen, ein bunt zusammengewürfelter und zu allem entschlossener Haufen aus den Ruinen über dem Bunker auf der anderen Seite.
Eine von elf oder zwölf Zusammenrottungen, die derzeit in Waashton um die Vorherrschaft über Straßenzüge und Ruinenblöcke kämpfte. Die Zahl wechselte, die Bündnisse auch. Seit keine Energie mehr floss, seit hier unten in der unterirdischen Stadt buchstäblich alle Räder still standen, herrschte oberirdisch das Chaos.
Der junge Bursche und das Mädchen neben Calypso waren wohl die Anführer der Rotte, die vor einer Woche ein großes Segment des WCA-Bunkers erobert hatte. Der Junge trug kniehohe Lederstiefel, einen gesteppten Lederharnisch und ein Kurzschwert. Das Mädchen war ganz in einen engen, abgeschabten Lederanzug gehüllt und hielt eine schwere Axt geschultert.
Ein paar Tage lang waren die Unterhändler zwischen den Fronten hin und her gelaufen, bis man sich über die Bedingungen eines Treffens geeinigt hatte. Und jetzt hatte diese Rotznase aus der Oberstadt nichts anderes zu sagen als: Übergeben Sie uns das Loch oder müssen wir es uns krallen?
Das Problem war folgendes: Kein Driller funktionierte mehr, kein Lasergewehr, kein Panzergeschütz. Für die wenigen antiken Revolver, die Brodys Agenten hier unten in den Waffenschränken irgendwelcher Sammler gefunden hatten, war ihnen irgendwann die Munition ausgegangen, und mit barbarischem Schlag- und Stechwerkzeug konnten die Primitiven einfach besser umgehen als die wenigen überlebenden Kämpfer des Weltrates.
Und die Wissenschaftler und Verwaltungsleute?
Hervorragende Leute an ihren Rechnern und Analysegeräten … als diese Rechner und Analysegeräte noch funktioniert hatten. Aber an Äxten und Klingen?
Hoffnungslose Fälle. Wenn Dr. Alexandra Brody wenigstens Chirurgin gewesen wäre, aber sie war Internistin und jedes Mal froh, wenn sie ein Messer weglegen konnte, ohne sich geschnitten zu haben.
»Hören Sie mir zu …«, Brodys Stimme drohte zu brechen, sie räusperte sich. »Wie war gleich Ihr Name?«
»Trashcan Kid, aber spar dir den Speicherplatz in deiner Birne.« Mit dem Daumen deutete er auf die junge Frau neben sich. »Loola ist verdammt gut an der Axt, und sie hat versprochen, dir damit den Scheitel zu bürsten, wenn du nicht kapitulierst.«
»Mrs. Präsident oder Dr. Brody, Sir!« Diesmal korrigierte ihn der zweite Leibwächter, Amoz Calypso.
»Halt‘s Maul, Mann!«
Trashcan Kid – plötzlich fiel es der Ärztin wie eine dunkle Binde von den Augen! Gemeinsam mit Collyn Hacker und dieser schwarzen Schlampe – hatte sie nicht ›Honey‹ geheißen? – war dieses Jungvolk schon einmal in den Privatbunker Präsident Crows eingedrungen!
Mindestens zwei Jahre war das her; damals funktionierten die Züge noch, und damals musste man hier unten noch nicht mit Fackeln und Öllampen in der Dunkelheit herumstochern.
Das schwarze Paar der Running Men war kurz darauf aus Waashton verschwunden, das Jungvolk hatte der Stadt angeblich vor einem Jahr den Rücken gekehrt; zusammen mit Dr. Ryan, Sergeant O‘Hara und Captain Ayris Grover. Das jedenfalls hatten die letzten Agenten berichtet, die Brody noch geblieben waren.
»Wollten Sie Ihr Glück nicht in Mexiko versuchen?«, fragte sie behutsam.
»In Meko. Wollten wir.« Trashcan Kid streckte die Beine aus und zog die Nase hoch. »Aber lenk nicht ab. Kapitulierst du, oder sollen wir den Laden hier auseinandernehmen?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie wieder in der Stadt sind.« Dr. Alexandra Brody zwang sich zu einem Lächeln. »Warum sind Sie zurückgekommen?«
»Wir sind nicht nur wieder in der Stadt, Frau, wir sind jetzt sogar hier unten bei euch!« Die junge Frau, diese Loola, ergriff das Wort. »Und wenn du noch einmal dumme Fragen stellst, statt zu antworten, werden wir furchtbar nervös!« Sie bleckte die Zähne, ihre dunklen Augen funkelten amazonenmäßig. Brody verging das Lächeln.
»Geht dich einen Scheiß an, warum wir zurückgekommen sind!«, zischte Trashcan Kid.
»Kapitulation oder Kampf bis aufs Blut. Ich geb dir noch eine Minute Zeit für die Antwort, danach geht‘s los.« Er drehte sich nach seinen Kriegern um, lauter junge Burschen und Frauen, die irgendwo im Halbdunkeln gegen die Wände lehnten, aus den Zugfenstern hingen oder auf dem Gleisbett hockten. »Zähl mal einer langsam bis sechzig, okee?«
»Hören Sie mir zu, Trashcan Kid!« Dr. Brody beugte sich vor und schlug einen beschwörenden Tonfall an. »Wir sollten zusammenarbeiten! Nur wenn wir uns miteinander verbünden, haben wir eine Chance! Nur wenn wir Seite an Seite kämpfen, können wir der marodierenden Haufen auf den Gassen Waashtons Herr werden! Lassen Sie uns einen Vertrag machen! Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein!«
Trashcan Kid lachte laut und schlug sich auf die Schenkel. Gekicher und Gelächter drang auch aus dem Halbdunkeln hinter ihm. »Zusammenarbeiten, hört ihr das? Seite an Seite kämpfen – ich werf mich weg!«
Übergangslos wurde sein schmales Gesicht ernst und kantig. Er beugte sich vor und stach mit seinem Zeigefinger nach Brody. »Hältst du mich für blöd, Frau? Glaubst du, ich weiß nicht, wie bescheuert eure Lage ist? Eure Fuck-Laserstrahler und eure Fuck-Driller haben nur noch Schrottwert! Von euren Rechenmaschinen springen nicht mal mehr die Bildschirme an! Wie Steinzeitfreaks müsst ihr mit Fackeln rumlaufen! Wie man ein Schwert und eine Axt hält, könntet ihr vielleicht sogar lernen – wenn euch genug Zeit bliebe. Aber weil ihr null Saft habt, brauen eure Fuck-Maschinen auch keinen Tropfen von eurem Fuck-Serum mehr, und in längstens einem Jahr seid ihr sowieso alle verreckt! Aber wir brauchen eure Löcher jetzt und nicht erst nächstes Jahr, und deswegen zum letzten Mal: Kapitulierst du, oder bringen wir‘s hinter uns?«
»Sechzig!«, rief ein schwarzhäutiger Bursche von über zwei Metern Körpergröße aus dem Halbdunkel des Bahnhofs. »Die Zeit ist um, machen wir sie alle!«
»Wartet noch!« Trashcan Kid hob die Rechte. »Fang noch mal an zu zählen, Dirty! Ich leg eine Minute drauf, okee?« Und dann an die Adresse der Präsidentin: »Also, Brody, was is jetzt?«
Dr. Alexandra Brody war wie aus weißem Kalkstein gemeißelt. Sie stand auf. »Wir müssen uns beraten.«
Zusammen mit ihren beiden Leibwächtern, dem farbigen Zwillingspaar Christie und Amoz Calypso, zog sie sich zu ihren Leuten zurück. Die Soldaten und Agenten unter ihnen waren mit Schwertern, Prügeln und Spießen bewaffnet. »Was meinen Sie, General?«, wandte die Präsidentin sich an ihren Armeechef. Sie gab sich sachlich, doch ihre Knie waren weich und ihr Herz galoppierte.
»Der Kerl hat ein großes Maul«, antwortete General Diego Garrett. »Stopfen wir es ihm.« Die Frauen und Männer um ihn herum nickten grimmig, und Amoz Calypso knurrte Hände reibend: »Au ja.«
»Sind Sie sicher, dass unsere Kampfkraft gegen diese Primitivlinge ausreicht?«, fragte Alexandra Brody.
Obwohl sie sich größte Mühe gab, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Stimme vibrierte.
»Ganz sicher.« General Garrett ballte die Faust.
Brodys Chefwissenschaftlerin ergriff das Wort, Hannah Sirwig. »Und selbst wenn wir sie nicht vertreiben sollten – lieber will ich tot sein, als Tag für Tag von diesen Wilden drangsaliert zu werden!« Wieder beifälliges Nicken von allen Seiten.
»Also gut.« Dr. Alexandra Brody schluckte. Flankiert von den Captains Christie und Amoz Calypso ging sie zurück zu Trashcan Kid.
»Hören Sie unsere Entscheidung, Trashcan!« Sie sprach sehr laut. Ihre Stimme sollte sicher und entschlossen klingen. »Wir kapitulieren nicht. Wir wählen den Krieg!«
Zwischen den schwarzen Brauen der Axtträgerin grub sich eine Zornesfalte ein, der junge Bursche runzelte nur die Stirn. »Dann eben Krieg.« Er sprang auf. »Wie du willst.« Seite an Seite stapfte das Paar ins Halbdunkel des Bahnhofs zu seiner Kriegsrotte. Die Männer und Frauen stiegen aus den Waggons und aus dem Gleisbett.
»Krieg, Alta?«, rief der schwarze Hüne ihnen entgegen. »Na, supa! Bin schon ganz scharf aufs Knochenbrechen!«
Dr. Alexandra Brody spürte, wie ihr Nackenhaar sich aufrichtete. Ihre Augen wurden feucht.
Aus der Dunkelheit näherten sich rasche Schritte.
Zwei Gestalten huschten aus einem der Tunnel. Vor dem Zug blieben sie stehen, ließen sich auf dem Bahnsteig nieder und schnappten nach Luft. »Ozzie und Peewee?«, rief Trashcan Kid. »Was ist los mit euch? Is Ärger angesagt?«
»Und wie!« Das Mädchen namens Peewee kam als Erste wieder zu Puste. Brody schätzte es auf höchstens siebzehn. »Sabreena schickt uns, Trashie! Du musst kommen! Verrückte sind vor dem Westtor! Schießen mit Kanonen und Kurbelgewehren! Reiten auf Horsays und Rhiffalos! Quatschen vom HERRN und von Sünde! Wollen die Mauer einreißen und alles kurz und klein schlagen, was nicht kuscht! Du musst kommen, sagt Sabreena!«
»Wie viele?«, wollte Trashcan Kid wissen.
»Zwanzig, dreißig, vierzig – keine Ahnung.«
»Nur?«, rief Dirty Buck, der schwarze Hüne.
»Sind aber gefährlich!«, rief Ozzie. »Saugefährlich! Ihr müsst kommen!«
Trashcan Kid drehte sich um und kam zurück zu Brody und ihrer Leibgarde; allein. »Haste gehört?« Vor ihr blieb er stehen.
»Ich bin nicht taub.« Die Präsidentin schöpfte Hoffnung.
»Schätze, wir sollten den Krieg verschieben und uns vorübergehend gegen diese Spinner verbünden, die da oben vor der Stadtmauer aufgetaucht sind.«
Innerlich atmete Brody auf. »Wir werden über Ihr Ansinnen beraten«, sagte sie scharf, machte kehrt und ging zu ihren Leuten. Ein paar Minuten später setzten sich die Anführer beider Parteien zusammen und setzten einen Bündnisvertrag auf.
Auf den Wehrgängen der westlichen Stadtmauer und darunter, auf der Gasse, die innen an der Mauer entlang führte, drängten sich die Menschen. Bis auf die Säuglinge, die Kranken und die Greise schien die gesamte Bevölkerung aus den Häusern geströmt und hierher ans Westtor gekommen zu sein; mindestens neunhundert Männer, Frauen und Kinder, schätzte Sabreena.
»Ob diese dreizehn Verrückten wirklich die Stadt stürmen wollen?«, sagte Taulara, Sabreenas Edelhure.
»Keine Ahnung, wie sie das anstellen wollen, aber wenn‘s dabei ähnlich laut und explosiv zugeht wie bei ihrem Kanonendonner, wird das noch mächtig gefährlich hier.«
»Lasst uns lieber verschwinden und die Angelegenheit von Weitem beobachten«, schlug Yanna vor, Sabreenas Chefdiebin. »Von diesen Rev‘rends habe ich schon die übelsten Dinge gehört.«
Sabreena nickte. »Okee. Geht ihr, nehmt die anderen mit und warnt die Leute unten an der Mauer. Ich traue diesen schwarzen Burschen nicht.«
»Und du, Sabreena?«, fragte Taulara. »Was machst du?«
»Ich bleibe hier. Will wissen, was die noch für Karten ausspielen. Und ich will auf Trashcan Kid und die anderen warten.«
»Das kann dauern, bis die kommen.« Taulara und Yanna winkten die anderen hinter sich her und drängten sich durch die Menge auf dem Wehrgang bis zur nächsten Stiege, die hinab auf die Straße führte.
Sabreena spähte über die Mauer hinweg zum Potomac. Die Rev‘rends hatten aufgehört, um die Stadt herumzuziehen. Etwa dreihundert Schritte entfernt hatten sie ihre Wagen nebeneinander gestellt und fütterten und striegelten ihre Tiere. Einige waren damit beschäftigt, Kisten von den Wagen zu holen und ein großes buntes Gestell zusammenzubauen. Was genau da entstand, konnte Sabreena auf die Entfernung nicht erkennen.
Sie blickte sich um: Unten auf der Straße sah sie Menschen miteinander palavern. Sie entdeckte Taulara und Yanna und ein Dutzend ihrer Huren und Diebe und Diebinnen. Die Männer und Frauen gestikulierten mit den Schaulustigen. Nur wenige Leute ließen sich überzeugen und machten sich auf den Weg zurück in die Innenstadt.
Jamal und seine Gottesschlächter versuchten, junge Männer für den Kampf gegen die Rev‘rends zu rekrutieren. Jamal behauptete, die schießwütigen Frömmler vor der Stadtmauer wären die Strafe Ullahs dafür, dass man in der Stadt nicht längst auf sein Kommando hörte.
Viele widersprachen ihm heftig, vor allem Louis Stock, der größte Schnaps- und Tabakhändler von Waashton.
»Was bist du doch für ein blasierter Schwätzer, Jamal!«, rief er laut. »Auf dein Kommando hören? Hab ich das richtig verstanden? Wir sollen also nicht mehr weglaufen, wenn deine Wegelagerer uns auflauern, ja? Wir sollen uns freiwillig die Bäuche aufschlitzen lassen, ja? Und am besten verzichten wir in Zukunft darauf, unsere Hütten und Häuser abzuschließen, damit dein räuberisches Ullahgesindel hereinspazieren kann, hab ich das richtig verstanden?« Die Leute klatschten Beifall.
»Und unsere Töchter und Frauen liefern wir am besten auch gleich freiwillig bei dir ab, was?«
Seine schwerbewaffnete Schutzgarde umgab den massigen Händler mit den goldenen Ohrringen und den zu Zöpfen geflochtenen roten Haaren. Nur deswegen riskierte Stock derart starke Worte, und nur wer sich in Begleitung bewaffneter Hordengenossen, Familienmitglieder oder gekaufter Leibwächter befand, wagte es, dem Schnapshändler zuzustimmen.
Jamals Krieger aber fluchten und schimpften. Jamal selbst stand mit zornesrotem Kopf auf dem Wehrgang.
»Das hast du nicht umsonst gesagt, du ungläubige Staubflocke!«, schrie er. »Dafür werde ich dir die Haut bei lebendigem Leib abziehen!«
»Habt ihr gehört, Bürger Waashtons?« Louis Stock wandte sich an die Menschenmenge. »Die Haut will er mir abziehen, ihr seid meine Zeugen! Bestätigt er nicht das, was ich über ihn und sein Gesindel sagte?« Mit ausgebreiteten Armen und im Gestus eines Predigers stand er auf dem Wehrgang und rief in die Menge auf der Straße hinab. »Wenn ihr solche Mörder und Wegelagerer loswerden wollt, dann rate ich euch: Lasst die Rev‘rends in die Stadt hinein!«
Sabreena horchte auf. Was um alles in der Welt war in das versoffene Schlitzohr Stock gefahren?
»Wenn ihr eure Frauen wieder nach Anbruch der Dunkelheit allein auf die Straße schicken wollt, wenn ihr euer sauer verdientes Geld ohne Angst zu Louis Stocks Schnapshandlung tragen wollt, wenn ihr wieder ein gesegnetes Alter bei guter Gesundheit erreichen wollt, dann öffnet den Gottesmännern das Tor!« Stock gestikulierte wild. Erregtes Palaver erhob sich. »Wenn ihr wieder Zucht und Ordnung in Waashtons Mauern erleben wollt, lasst sie ein, die Rev‘rend-Brüder!«, rief Stock, bevor seine Stimme im allgemeinen Geschrei unterging.
Sabreena staunte nicht schlecht über die Haltung des Schnapshändlers. Andererseits: Unsichere Straßen, ausgeraubte Menschen und das Klima wachsender Gesetzlosigkeit verdarben ihm seit über einem Jahr die Geschäfte. Sabreena selbst verdiente gut mit ihrer Kneipe, ihrem Bordell und ihrer Hehlerei, seit kein Strom mehr floss und die Engerlinge kaum noch etwas zu sagen hatten.
»Bürger der verdorbenen Stadt!«
Schlagartig verstummte Gefluche, Geschrei und Gezanke. Die Menge lauschte, und wer einen Platz auf dem Wehrgang hatte, spähte über die Mauer. Ein Rev‘rend auf einem Schimmel hatte sich der Stadt bis auf hundert Schritte genähert. Er trug einen weißen Fellmantel, einen weißen Hut und hatte weißes lockiges Haar. Auch er benutzte den Blechtrichter, um seiner Stimme Gehör zu verschaffen.
»In einer halben Stunde läuft das Ultimatum des HERRN ab!«, rief er. »Unser Erzbischof Rev‘rend Blood, unser Bischof Rev‘rend Rage und unser Diakon Rev‘rend Sweat schicken mich, den treuen Diener des HERRN Rev‘rend Flame, um euch daran zu erinnern!«
Aus der Wagenreihe hinter dem Weißen lösten sich vier Horsays. Zwei Rev‘rends führten das Gespann zur Mauer. Die Tiere zogen das bunte Ding, das die Gottesmänner während der letzten Stunde zusammengebaut hatten. Sabreena kniff die Augen zusammen und versuchte das Gebilde zu erkennen. Es war eine Art Statue.
»Wir lieben die Sünder, aber wir hassen die Sünde!«, erklärte der weiße Rev‘rend unten vor der Mauer. »Doch wenn ihr nicht Buße tut, werden wir nicht zögern euch Sünder mitsamt der Sünde zu vernichten! Öffnet das Tor und heißt uns Willkommen, oder der HERR wird eure Mauer auf die gleiche Weise zerschmettern, wie er dieser sündigen Welt den Fluss und den Funken der Energie genommen hat!«
Rev‘rend Flame wendete sein Horsay und hieb ihm die Absätze in die Flanken. Auf dem Rückenteil seines weißen Mantels prangte ein orangefarbenes Kreuz in der Form züngelnder Flammen. An seinen beiden Brüdern und dem Gespann mit der Statue vorbei ritt er zurück zu den anderen Gottesmännern.
Einer der beiden Männer, die das Gespann führten, war Rev‘rend Sweat, der schwarze Kahlkopf. Er und sein dunkelgrau gewandeter Gefährte führten die vier Horsays bis zur Mauer, spannten sie dort von der Statue los, schwangen sich auf die Rücken der äußeren Tiere und ritten zurück zu dem Wagentross.
An der Stelle, wo die fast zehn Meter hohe Statue über die Mauerkrone ragte, wichen die Menschen auf dem Wehrgang nach rechts und links zurück. Das bunte Ding war ihnen nicht geheuer. Sabreena beugte sich Dutzende Meter rechts davon über die Mauer, um es genau zu betrachten.
Es war die Statue einer weißhäutigen Frau in blauen und roten Kleidern. Ihr Gesicht wirkte verhärmt, eine silberne Tränenspur zog sich über ihre bleichen Wangen, und vor der Brust hielt sie ein braunes Holzkreuz fest, an dem ein goldener Mann mit verzerrten Zügen und einer Dornenkrone auf dem Kopf hing. Blutstropfen bedeckten sein goldenes, schmerzverzerrtes Gesicht und seinen nackten goldenen Körper. Nie zuvor hatte Sabreena eine derart hässliche und zugleich bedrückende Statue gesehen.
»Rührt es nicht an!«, sagte sie. Es war ihr Instinkt, der sie zwang, diese Worte auszustoßen. »Keiner soll das verdammte Ding anrühren!« Sabreena hatte es plötzlich sehr eilig, zur Stiege zu kommen und zur Straße hinunter zu klettern. Keinen Atemzug länger wollte sie hier auf der Mauer bleiben, in der Nähe dieser traurigen Frau mit dem gekreuzigten Goldmann!
»Sabreena hat vollkommen Recht!«, rief Louis Stock, der Schnapshändler. »Rührt das Ding nicht an, macht lieber das Tor auf!« Sabreena, schon unten auf der Gasse angekommen, blickte zurück. Das Kreuz und der Goldmann überragten die Mauerkrone. Einige Mitglieder der Glaubensrotte dort oben auf dem Wehrgang fielen auf die Knie und fingen an zu beten und zu singen.
»Was redest du, Schnapswucherer!«, brüllte Jamal.
»Ich bringe jeden eigenhändig um, der das Tor auch nur anrührt!« Er riss einem seiner Schlächter das Beil aus der Hand. »Und diese verfluchte Statue hauen wir jetzt in Stücke!« Er winkte seine Leute hinter sich her. »Los, ihr Krieger Ullahs, folgt mir!«
Es war warm in Mr. Darkers Kajüte. Öllampen brannten, Kerzenflammen flackerten, Rauchschwaden aus Ben-Bakrs Wasserpfeife schwebten zwischen der Kajütendecke und der Tafel. Die Teller und Schüsseln waren leer, auf der Platte lagen nur noch der spitze Kopf und das weiße Grätenskelett eines Aals, den Hagenau aus dem Wasser gezogen und Sigur Bosh zubereitet hatte. Auf ein paar Tellern häuften sich die Schalen von Muscheln und die leeren Hülsen von Krabben und Langusten. In den Gläsern funkelte roter Wein.
Mr. Darker hatte das letzte Fass öffnen lassen, das er im geräumigen Laderaum der Eusebia gefunden hatte. Und auch sonst hatte er an nichts gespart an diesem Abend.
Das Essen mit seinem ehemaligen Todfeind war ein Wendepunkt seines Lebens, ein Wendepunkt vermutlich sogar in der Geschichte Waashtons. Entsprechend verschwenderisch hatte er es gestaltet.
Sein Gast, Präsident General Arthur Crow, hatte sich an diesem Nachmittag und Abend ähnlich wortkarg gezeigt wie Mr. Darker auch. Die wesentlichen Eckpunkte des vorbereiteten Bündnisvertrages hatten Peterson und Hardy ausgehandelt. Die beiden Häuptlinge brachten nur noch den einen oder anderen Nachbesserungswunsch an und unterzeichneten nach vier Stunden zähen Verhandlungspokers. Seitdem wurde nur noch gefeiert.
Sigur Bosh rezitierte Verse aus den Heldendichtungen seiner britanischen Heimat. Ben-Bakr sang Liebeslieder aus dem Orient vor und schaffte es sogar, der Tischgesellschaft eines der Lieder beizubringen.
Laurenzo, der Heiler aus dem Südland, sog kräftig mit an der Wasserpfeife Ben-Bakrs und porträtierte Darker, Crow und Honeybutt mit Kohle. Hacker und Hardy waren sich nicht ganz im Klaren über den weißhaarigen Alten. Wie es schien, hatte Crow ihn zu seinem medizinischen Berater gemacht. Von Kotter und Hagenau flirteten mit Honeybutt. Dabei erzählten sie schlüpfrige Witze, und von Kotter, der viel zu viel Wein trank, forderte sie auf, ihn nach Euree in seine Heimat zu begleiten. Miss Hardy lachte laut, und Hagenau drohte ihm mit der Faust.
Irgendwann stand Darker auf, nahm das Pergament mit dem Bündnisvertrag in die Linke und sein Glas in die Rechte. Mr. Hacker und Miss Hardy warfen sich verstohlene Blicke zu. Beide fürchteten das Gleiche: eine Rede ihres Chefs. Sie fürchteten es zu Recht.
»Morgen um diese Zeit werden wir die Ostküste Meerakas erreichen und am Ufer des Potomac vor Anker gehen«, begann er. »Wir wissen nicht, was uns in unserer Heimat erwartet. Wir wissen nicht, wie die Nuklearexplosionen und der EMP sich auf Waashton und den Pentagonbunker ausgewirkt haben. Wir wissen aber eines!« Mit diesen Worten hob er den Vertrag über den Kopf. »In Zukunft werden die Running Men und der Weltrat nie wieder Krieg gegeneinander führen!«
»Jawoll!«, entfuhr es Mr. Hacker, und Sergeant Peterson rief: »Bravo!« Die ehemaligen Rudersklaven, die ja nur eine vage Vorstellung von Waashton, dem Weltrat und dem Pentagonbunker hatten, klatschten höflich in die Hände.
»In Zukunft werden wir an einem Strang ziehen und unsere Kräfte gemeinsam in den Dienst an unserer Heimat stellen! Und es müsste doch mit Orguudoo zugehen, wenn diese Ansammlung brillanter Köpfe Waashton nicht in eine in jeder Hinsicht blühende Landschaft verwandeln sollte!«
Wieder Hochrufe und Applaus. Und dann schnappte sich Crow sein Glas und stand. »Ich bin tief gerührt, Lady und Gentlemen«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Hätte mir vor einem Jahr jemand vorausgesagt, dass ich einmal mit Ihnen, Mr. Darker, Miss Hardy und Mr. Hacker am selben Tisch speisen werde, dass ich einmal einen solchen Bündnisvertrag unterzeichnen werde, ich hätte ihn für verrückt erklärt!« Er atmete ein paar Mal tief durch. »Nun aber ist es Wirklichkeit, und ich kann es kaum fassen. Lassen Sie uns anstoßen! Auf den Frieden, auf die Zusammenarbeit und auf eine glorreiche Zukunft!« Er hob sein Glas. »Auf eine gemeinsame glorreiche Zukunft!«
Applaus und Hochrufe erhoben sich, Gläser klirrten, Augen schimmerten feucht, und dann wurde getrunken.
Später, als Miss Hardy aufs Oberdeck stieg, um frische Luft zu schnappen, wäre sie fast ausgerutscht. Im letzten Moment hielt sie sich an der Reling fest und staunte die dünne Schneedecke an, die das Ruderhaus, die Aufbauten und die Deckplanken bedeckte. Lautlos rieselte der Schnee auf das Schiff herab. Sie balancierte ans Heck und blickte nach Osten. Dort zeigte sich bereits der erste rötliche Schimmer des neuen Tages.
Schritte näherten sich hinter ihr. »Ein paar Stunden noch, dann sind wir zu Hause, Kareen Schätzchen. Kann es sein, dass wir vorhin einen Bündnisvertrag mit dem Weltrat unterzeichnet haben?«
»Schon möglich, Collyn Schätzchen«, knurrte Honeybutt Hardy.
Hacker lehnte sich neben sie gegen die schneebedeckte Reling. »Kann es sein, dass wir da unten den Frieden mit dem Fuchs Arthur Crow begießen?«
»Schon möglich.«
»Ich glaub, ich träume.« Er legte den Arm um sie. »Sei so lieb und kneif mich mal eben.«
Äxte schwingend und ihre Schwertklingen zum Schlag erhoben stapften Jamal und seine Männer über den Wehrgang dorthin, wo längst niemand mehr stand – zu der Stelle, an der die Statue von außen die Mauerkrone überragte. »Ullah Ullalah!«, brüllten sie. Immer wieder: »Ullah Ullalah!«
Zwei Stimmen stritten sich in Sabreenas Brust. Weg hier, forderte die eine, lass dir das bloß nicht entgehen, raunte die andere. Sie hörte auf beide zugleich und bewegte sich rückwärts in die schmale Gasse hinein, die vom Westtor weg in die Innenstadt führte, und blickte zurück auf das Geschehen oben auf dem Wehrgang. Die Menschen machten ihr Platz, Männer wie Frauen. Fast jeder kannte die wild und verwegen aussehende Frau mit der schwarzen Augenklappe. Selbst von hinten erkannte man sie an ihrer schwarzen, wilden Haarpracht, ihrer braunen Lederkleidung und dem großen Dolch an ihrem Hüftgurt.
Obwohl man in der Ruinenstadt hinter vorgehaltener Hand über die Diebestouren von Sabreenas Leuten munkelte und über ihr Bordell die Nase rümpfte, respektierten die meisten Bürger die Spelunkenwirtin doch, oder fürchteten sie wenigstens.
Jetzt standen Jamal und seine frommen Hohlköpfe direkt an der Stelle, hinter der das Kreuz mit dem goldenen Schmerzensmann aufragte. Jamal kletterte auf die Mauerkrone, wies seine Männer an, ihn festzuhalten, und holte mit der Axt aus. Sabreena hielt den Atem an.
»Lass es bleiben, du Idiot!«, schrie Louis Stock. Auch er war inzwischen von der Mauer geklettert. Unten auf der Straße drängte er sich durch die Menge auf das nächststehende Haus zu. Er schien es plötzlich sehr eilig zu haben.
»Lass dich bloß nicht wieder hier blicken, Schnapsschwuchtel!«, geiferte Jamal.
Oben auf dem Wehrgang streckten die Frauen und Männer der Glaubensrotte flehend die Arme aus. »Tu es nicht, Jamal!«, riefen sie. »Es ist doch ein Bild des HERRN!«
Jamal verharrte für einen Moment und blickte nach links und rechts. »Ein Bild des HERRN?« Er schnitt eine grimmige Miene. »Einer nur ist der HERR, und von dem gibt‘s kein Bild! Ullah!«
»Ullah Ullalah!«, brüllten seine Männer. Jamal holte abermals aus und schlug zu.
Ein greller Lichtblitz zuckte über Mauer, Menschen und Häuser bis in den grauen Himmel hinauf. Sabreena schloss geblendet die Augen.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, ein ohrenbetäubender Knall erfüllte die Welt, eine mächtige Faust packte Sabreena und schleuderte sie gegen die Leiber anderer, irgendwohin auf den Boden. Sie barg ihren Kopf in den Armen, und dann ging ein Hagel von Gesteinssplittern rechts und links von ihr nieder.
Sie hörte Menschen schreien, weinen, stöhnen, fluchen und husten. Sie blieb auf dem Boden liegen, bis sie merkte, dass auch ihr Körper von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Sie hob den Kopf: Die Welt versank in Nebel und Rauch. Sie stemmte sich auf die Knie und blickte zur Mauer. Staub senkte sich über eine Mauerlücke von der Breite eines großen Hauses. In Schutt und Geröll und zwischen reglosen Körpern wälzten sich Verwundete. Sabreena hörte sie um Hilfe rufen.
Irgendjemand rief irgendeinen Gott an, irgendjemand verlangte das Tor zu öffnen, und jemand schrie: »Feuer!«
Aus den Dachstühlen einiger Häuser nahe der Mauer schlugen Flammen. Und plötzlich ertönten die Dampfdruckfanfaren der Rev‘rends. Sabreena hielt sich die Ohren zu.
Rev‘rend Blood, der mit weltlichem Namen Gnatius Yola hieß, blickte andächtig zur Stadtmauer. »Es ist vollbracht, meine lieben Brüder.« Der Erzbischof der Rev‘rends lächelte milde. »Das Heilige Nitro hat seinen Dienst getan und ein Loch in die Mauer und auch eine Menge Feinde des HERRN in den Schlund der Hölle gerissen.«
»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.« Der ernste, meist wortkarge Marty Luder – er trug den Kampfnamen Rev‘rend Rage – stieg auf sein schwarzes Horsay. »Lasst uns gehen, um die Sünde und die Dämonen aus der verdorbenen Stadt zu vertreiben!« Er klopfte auf den Kolben seiner Feuerwaffe. Der Bischof der Gottesmänner winkte seine Brüder und den Erzbischof hinter sich her und gab seinem schwarzen Tier die Sporen.
Rev‘rend Rage fiel rasch in einen gestreckte Galopp.
Der kahlköpfige Diakon Rev‘rend Sweat ritt neben ihm.
»Preiset den HERRN!«, rief er. »Die Hölle soll zittern!«
Dicht hinter ihnen preschte der Schimmel des weißgekleideten Rev‘rend Flame, und neben ihm donnerte der Rhiffalo des Bischofs über den Grasboden.
»Vertraut dem HERRN, meine Brüder!«, rief Rev‘rend Blood. »Die Feinde des HERRN mögen viele sein, doch ER streitet auf unserer Seite!«
Hinter dieser Vorhut jagten sechs Gespanne der Mauer entgegen. Die Dampffanfaren auf den beiden Maschinenwagen dröhnten, die Kurbelgewehre brüllten ihr Ratatata, und die Gebetsrufe der Gottesmänner erfüllten die feuchtkalte Luft.
Die Erde zitterte unter dem Hufschlag der schweren Reittiere und dem Rattern der eisenbeschlagenen Räder.
Von der Stadtmauer her sirrte den Himmelskämpfern kein Pfeilschwarm entgegen, nicht ein einziger Wurfspieß bedrohte die Rev‘rends, und in der Mauerlücke und auf dem Wehrgang zeigte sich auch nicht ein Verteidiger, nicht ein Schwertkämpfer, Bogenschütze oder Speerwerfer.
Und dann geschah es: Das Westtor wurde aufgezogen.
Rev‘rend Rage riss sein Pferd herum und galoppierte der unverhofften Einladung entgegen. Frauen und Männer strömten aus dem Tor, riefen: »Willkommen!«, »Endlich!« und »Heil den Befreiern von Waashton!«
»Vorsicht, Brüder!«, brüllte Rev‘rend Blood vom Rücken seines Rhiffalos aus. Mit seinem Feuerrohr zielte er auf den Mauerabschnitt über dem offenen Tor. »Denkt an das Wort des Apostels: Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann!«
Der Erzbischof der Rev‘rends traute dem Frieden nicht.
»Seid vorsichtig, es könnte eine Falle sein!«
Rev‘rend Rage zügelte sein Horsay und setzte seine Waffe ab. Sicher, er war überrascht, doch die Mienen der Menschen, die ihm da entgegenliefen, überzeugten ihn schnell: Das waren keine Betrüger, das waren ehrlich erleichterte Gesichter; Menschen, die reinen Herzens nach Rettung und Erlösung dürsteten.
Marty Luder, der Gottesmann mit dem Kampfnamen Rev‘rend Rage, hob die Rechte. »Macht langsam, Brüder!«, rief er. »Diese Menschen meinen es ehrlich! Sie haben uns das Tor aus lauteren Motiven geöffnet!«
Die Rev‘rends stoppten ihre Horsays und Wagen.
Immer mehr Männer und Frauen versammelten sich vor dem Westtor der Stadt. Ein rothaariger dicker Mann mit goldenen Ohrringen verbeugte sich vor der Vorhut der Rev‘rends. Rev‘rend Rage hatte ihn zwei Nächte zuvor vom Wagen des Erzbischofs steigen sehen. »Es ist alles bereit, Rev‘rend Blood und Rev‘rend Rage. Im alten Rund der Spiele werden die Menschen euch erwarten!«
Sie benutzten den Schacht, der zum alten Ausstieg in der Bibliotheksruine führte. Dort gab es eine der wenigen Schleusen, die sich nach dem Energieausfall vor fünfzehn Monaten noch manuell hatten öffnen lassen. Alexandra Brody war nervös; sie war lange nicht mehr an der Erdoberfläche gewesen. Früher, vor dem Energieausfall, hatte sie solche gefährlichen Ausflüge gemieden. Nur im Notfall den Schutz des Pentagonbunkers verlassen, das war ihre Devise gewesen. Jetzt aber wollte sie sich persönlich ein Bild von der Lage in der Stadt machen.
Trashcan Kids wilder Haufen drängte sich durch die alte Schleuse und benutzte Fenster und Maueröffnungen, um sich draußen im Innenhof beim Stabschef der Truppe zu sammeln. Dr. Alexandra Brody nannte den schwarzen Hünen bei sich selbst »Stabschef«, Trashcan Kid nannte ihn einfach nur »Dirty« oder »Buck, du Sau«.
»Buck, du Sau!«, rief er dem schwarzen Hünen von der Schleuse aus zu. »Schick ein paar Späher zur Mauer und zu Sabreena! Sie sollen die Lagen peilen!«
»Aber nur, weil du es bist!«, grölte Dirty Buck quer durch das alte Foyer, bevor er durch eine Fensteröffnung sprang und in das Wäldchen abtauchte, in den sich der Innenhof der Bibliothek im Lauf der letzten Jahre verwandelt hatte. General Garrett rümpfte die Nase über so viel Disziplinlosigkeit, und seine Offiziere zogen die Brauen hoch.
Den Namen »Sabreena« hörte Brody nicht zum ersten Mal. Diese Frau schien eine wichtige Rolle für die Bande zu spielen.
Die Soldaten der WCA verteilten sich im zerfallenen Foyer der Bibliotheksruine. Neunzehn Männer und elf Frauen hatte General Diego Garrett mit auf diesen Feldzug genommen; den ersten und zugleich wohl letzten, den der Weltrat in Koalition mit einer Truppe der Oberirdischen durchführte. Mit einer Bande aus Straßenräubern, korrigierte Dr. Alexandra Brody sich selbst. Die Präsidentin konnte und wollte sich einfach nicht vorstellen, wie man sich auf Dauer mit diesem wilden Haufen arrangieren sollte. Sie hoffte, die bevorstehenden Kämpfe mit dem noch unbekannten neuen Feind würden Trashcan Kids Banditen empfindlich dezimieren. Jedenfalls hatte Garrett seine Offiziere angewiesen, sie bei ernsthafter Feindberührung im Stich zu lassen. Unten im Pentagon arbeitete eine Strategiegruppe bereits an Plänen zur Befreiung des von den wilden Kids eroberten Bunkersegments.
»Wir gehen in Kleingruppen und bleiben in Sichtkontakt«, schlug Garrett vor. Trashcan Kid und Loola waren einverstanden. Der General kommandierte zwei Soldaten ab, die gemeinsam mit der Präsidentin und ihren Leibgardisten Christie und Amoz Calypso in die Stadt gehen sollten. Trashcan Kid und seine Amazone schlossen sich ihnen an. Der General, sein Adjutant sowie Ozzie und Peewee bildeten die nächste Gruppe, und so weiter.
Die Haupttruppe der WCA und der Straßenbande sollte in der Bibliothek auf weitere Befehle warten. Dirty Buck organisierte eine Kette aus Boten und Kundschaftern, sodass die Kämpfer mit den Kleingruppen und Spähern in Verbindung blieben.
Dann verließen sie die Ruine. Alexandra Brodys Herz schlug, als sie ins Freie traten. Wie lange schon hatte sie den Himmel nicht mehr gesehen! Er war grau und dunkle Wolken hingen tief über der Stadt, sodass sie schnell überzeugt davon war, nichts versäumt zu haben.
Als sie sich über Schutthügel und durch Gestrüpp hindurch dem nächsten bewohnten Straßenzug Waashtons näherten, schwebten kleine weiße Flocken auf den schmutzigen Mantel der Präsidentin. Sie musste zweimal hinschauen, bis sie begriff: Es begann zu schneien.
Der abgetragene Mantel war nicht viel mehr als ein Lumpen. Wie alle ihre Leute trug Brody so ein Teil, um ihre Uniform zu tarnen. In diesen Zeiten war es nicht ratsam, auf den Gassen Waashtons als Bewohner des Pentagonbunkers erkannt zu werden; als »Engerling«, wie die Barbaren hier oben zu sagen pflegten.
Schutzanzüge trugen Garretts Leute schon lange nicht mehr, wenn sie auf Aufklärungsmissionen in der Stadt unterwegs waren. Erstens funktionierten die Systeme nicht mehr, zweitens hätten die Barbaren von Waashton sich auf jeden Helmträger gestürzt, und drittens machte das Serum die Anzüge überflüssig.
Das Serum. Dr. Alexandra Brody fröstelte. Nicht, weil es kalt war, sondern weil sie an den neuralgischen Punkt der Bunkergesellschaft unter der Pentagonruine dachte.
Die Kämpfe und das Chaos, das vor fünfzehn Monaten nach dem Versiegen der Energiequellen ausgebrochen war, hatten einen hohen Blutzoll gefordert.
Nur noch hundertsiebenundachtzig Menschen lebten im Bunker. Und wöchentlich wurden es weniger. Niemand wagte eine Prognose, wann die Produktion des Serums wieder anlaufen würde. Vielleicht nie mehr. Ohne Energie keine Serumproduktion, ohne Serum keine Zukunft der Bunkergesellschaft – so einfach war das.
Viele waren schon an Infektionen gestorben, nachdem die Barbaren in den Bunker eingedrungen waren; Alte und Kranke zumeist. Brody sorgte dafür, dass die Serumvorräte gerecht aufgeteilt wurden; so gut es ging, jedenfalls. Natürlich war ihr klar, dass viele WCA-Leute Serumbeutel aus Regierungsdepots beiseite geschafft hatten. Auch sie selbst hortete sieben Beutel mit dem kostbaren Präparat in ihren Privaträumen. Niemand wusste davon, und das war gut so.
Die offiziellen Vorräte reichten – dank der hohen Verluste – noch für etwa zwei Jahre, die inoffiziellen vielleicht für drei oder vier. Hierüber konnte man natürlich nur Schätzungen anstellen. Sollte bis dahin immer noch keine Energie fließen, war das Schicksal der Pentagongesellschaft sowieso besiegelt. Doch die Hoffnung starb zuletzt, und die Präsidentin hoffte, dass ihr ähnliches Glück beschieden sein würde wie ihren beiden Leibgardisten: Die Brüder Calypso waren inzwischen weitgehend immun gegen die üblichen Krankheitserreger. Sie mussten keine Serumbeutel mehr auf der Brust tragen.
Schnell erreichten sie den ersten bewohnten Straßenzug. Brody blickte sich um: Die Gruppe mit dem General hielt sich knapp fünfzig Schritte hinter ihr. Die Straße war menschenleer. Auch an den Fenstern, Türen und Gartenzugängen zeigte sich niemand. »Gefällt mir nicht«, knurrte Loola.
Sie bogen in eine Gasse ein, die zur Stadtmauer führte.
Von fern hörten sie Stimmengewirr und ein Geräusch, das Brody noch nie gehört hatte und nicht einzuordnen wusste. »Hufschlag«, sagte Trashcan Kid, der ihren fragenden Blick bemerkte.
Aus einem Hofeingang huschte eine Gestalt in einem Pelzmantel und lief ihnen entgegen. Ein Späher aus Trashcan Kids Bande. »Die Rev‘rends haben ein Loch in die Stadtmauer gesprengt. Jemand hat das Tor geöffnet. Jetzt ziehen sie zum alten Rund der Spiele.«
»Was bei Orguudoo sind ›Rev‘rends‹?« Trashcan Kid runzelte die Stirn.
»Quatschen ständig von Buße und Sünde, und von und einem Gott namens HERR. Haben was gegen uns, wollen Waashton zur ›Stadt Gottes‹ machen. Gefährliche Burschen alles in allem.«
Trashcan Kid schnitt ein ungläubiges Gesicht, und Loola tippte sich an die Stirn. »Das klingt irgendwie nach Jamals Geschwätz.« Inzwischen hatten sich drei weitere Kleingruppen um den Späher versammelt.
»Jamal ist tot«, sagte der. »Und viele seiner Kämpfer auch. Die Hohlköpfe sollen die Explosion an der Mauer überhaupt erst ausgelöst haben.« Er berichtete von den Vorfällen.
»Wie sind die Rev‘rends bewaffnet?«, wollte General Garrett wissen.
»Pulver und Blei. Schießprügel, mit denen man das Zeug verballern kann«, erklärte der Späher. »Auch zwei oder drei große Kanonen haben sie dabei, übles Gerät. Und zwei Maschinen, die Blei spucken, wenn man an ihnen herumkurbelt.«
»Antike Maschinengewehre«, murmelte Amoz Calypso, Er und alle WCA-Leute, die den Bericht des Spähers hörten, waren wie elektrisiert. Mechanische Feuerwaffen! Genau die Bewaffnung, die ihnen fehlte, um die Barbaren aus dem Bunker zu vertreiben!
»Wie viele Rev‘rends sind in der Stadt?«, wollte Dr. Brody wissen.
»Dreizehn.«
»Nur?«, entfuhr es dem General, Trashcan Kid und seiner Amazone fast gleichzeitig. Brody glaubte sich verhört zu haben, doch der Späher bestätigte die Zahl.
Dreizehn Männer schickten sich an, die Stadt zu erobern?
Die Präsidentin konnte es nicht glauben.
»Also los!«, schnaubte der General. »Gehen wir und schmeißen sie raus!«
Trashcan Kid und Garrett schickten Boten zurück in die Bibliothek. Sie sollten die Haupttruppen informieren.
Beide hielten es für das Vernünftigste, den frommen Eroberern keine Zeit mehr zu lassen, um sich in Waashton einzunisten, beide wollten sofort losschlagen.
Brody war einverstanden. Dreizehn Männer entwaffnen und festnehmen – wo war das Problem? Sie machten sich auf den Weg zum »Rund der Spiele« – dem alten Footballstadion.
Nicht lange, und sie trafen auf Menschen, die das gleiche Ziel hatten. Bald fielen sie gar nicht mehr auf unter den vielen Gruppen, die unterwegs zum Stadion waren. Loola und Ozzie hörten sich um.
Im Vorübergehen blickte Brody in die Gesichter der Leute. Ausgezehrte, grobe oder brutale Gesichter waren es zum größten Teil. Auf manchen lag der Glanz freudiger Erwartung. Inzwischen schien man schon Wunder von den Fanatikern zu erwarten. Manchmal berührte ein Vorübergehender die Präsidentin versehentlich. Jedes Mal zuckte sie dann zusammen.
»Die Leute von Boothcase und Louis Stock haben den Rev‘rends das Tor geöffnet.« Ozzie kam zurück und berichtete, was er gehört hatte. »Sieht so aus, als denkt hier keiner an Widerstand.«
»Zeit, dass wir auftauchen, was?«, grinste Trashcan Kid.
General Diego Garrett bestätigte: »Allerhöchste Zeit! Je schneller wir dem Spuk ein Ende machen, umso besser!«
Als sie dann das Stadion erreichten, war Garrett auch der Erste, der sein Schwert zog. An die fünfhundert Menschen hatten sich bereits auf dem Feld vor der Südtribüne versammelt. Dort erkannte Brody Gestalten in wehenden, meist schwarzen Mänteln – die Rev‘rends.
Einer von ihnen hielt eine Art Megaphon an den Mund und sagte irgendetwas, das die Präsidentin nicht verstand.
»Schnappen wir sie uns!«, rief Garrett. Er blickte sich um. »Los, ihr Bürger von Waashton! Folgt mir! Werfen wir die Fremden wieder aus der Stadt!« Er drängte sich durch die Menge.
Trashcan Kids Kämpfer und einige Soldaten der WCA machten Anstalten, ihm zu folgen. Doch ein paar Männer unter den Versammelten drehten sich um, packten den General und stießen ihn zu Boden. Danach legten sie den Zeigefinger auf die Lippen und machten »Psst!«. Von allen Seiten trafen sie böse Blicke, und eine Frau fauchte:
»Idioten! Hört ihr nicht, dass Rev‘rend Blood spricht?«
Dr. Alexandra Brody war wie vor den Kopf gestoßen.
Christie Calypso half dem General wieder auf die Beine, und ein bärtiger, abgerissen wirkender Bursche hielt dem sprachlosen Trashcan Kid eine Flasche hin. »Hey, Trashcan«, flüsterte er. »Du stehst doch auf ein gutes Tröpfchen. Was gibst du mir dafür?«
Trashcan Kid nahm ihm die Flasche ab. »Was ist das?«
»Whisky«, sagte der Mann. Leute drehten sich um, schnitten unwillige Gesichter und machten wieder
»Psst!«.
Trashcan Kid betrachtete die Flasche und reichte sie dann Brody. Die Präsidentin bestaunte das Etikett. Es zeigte einen schwarzen Büffel vor einem roten Kreuz.
Holy Blood, hieß die Whiskymarke.
»Woher hast du den?«, wollte Trashcan Kid wissen.
»Von einem von Stocks Dealern«, sagte der Mann.
»Und woher haben Stocks Dealer so einen Whisky?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Schüsse peitschten plötzlich über das Stadion. Dr. Alexandra Brody zuckte zusammen.
Immer mehr Bürger der verdorbenen Stadt strömten in das alte Stadion. Gnatius Yola alias Rev‘rend Blood bekreuzigte sich. Lautlos murmelnd dankte er dem HERRN. An der Spitze seiner Brüder war er in die verdorbene Stadt eingezogen. War es nicht schon ein kleiner Triumphzug gewesen?
Jetzt stand der hochgewachsene, dürre Mann mit dem langen Grauhaar und dem Ledermantel auf einem der mittleren Ränge einer Tribüne und blickte über eine Menge von gut und gern sechshundert Menschen, die sich unten auf dem Spielfeld versammelt hatten. Viele waren noch skeptisch, einige feindlich gesinnt, sicher, doch der HERR würde die sündigen Herzen schon noch berühren. Und die sich nicht berühren lassen wollten, die Starrsinnigen, die Unverbesserlichen, die Verlorenen – die würde Rev‘rend Bloods Regiment aus der Mitte ihres Volkes tilgen, wie man Unkraut aus einem Blumengarten tilgte. Er winkte den Menschen zu und lächelte milde auf sie herab.
»Hört das Wort des HERRN, ihr Bürger von Waashton«, begann er seine Predigt. »Der HERR hat uns nicht geschickt, um Waashton zu bringen, was Waashton verdient, nämlich Feuer und Schwert, nämlich Höllenglut und Angstgeschrei, denn das habt ihr verdient, oder seid ihr etwa anderer …«
In den ersten Reihen der Zuhörer drohten ein paar Männer mit den Fäusten, irgendjemand spuckte aus, eine Frau fing laut zu schimpfen an. In der hinteren Reihe stürmte ein Mann mit gezückter Klinge in die Menge.