5 unveröffentlichte Romane - Ursula Hellwig - E-Book

5 unveröffentlichte Romane E-Book

Ursula Hellwig

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Special Edition 5 unveröffentlichte Romane Titel: 1 E-Book: Jessicas schlauer Plan 2 E-Book: Mutter auf Zeit 3 E-Book: Daheim in einem fremden Land 4 E-Book: Sieg auf der ganzen Linie 5 E-Book: Die brasilianische Erbschaft E-Book 1: Jessicas schlauer Plan E-Book 2: Mutter auf Zeit E-Book 3: Daheim in einem fremden Land E-Book 4: Sieg auf der ganzen Linie E-Book 5: Die brasilianische Erbschaft

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Inhalt

Leseprobe

Jessicas schlauer Plan

Mutter auf Zeit

Daheim in einem fremden Land

Sieg auf der ganzen Linie

Die brasilianische Erbschaft

Leseprobe: Mami Bestseller Nr. 42

»Ich bin schon fertig, schau mal«, rief die kleine Nicole, als die alte Kinderfrau Grete sie nach dem Nachmittagsschlaf aus dem Bett holen wollte. Strahlend deutete das flachsblonde Mädelchen auf seine Kleidung, die es zusammengetragen und angezogen hatte. »Ja mei, Dirndl, schaust ja aus wie im Fasching, aber hast es trotzdem gut gemacht, das muß ich schon sagen«, stellte Grete Hofer fest. Sie lächelte, als sie Nicole betrachtete, die zu giftgrünen kurzen Hosen lila Ringelsöckchen und ein knallrotes Hemd angezogen hatte. Kinder liebten nun einmal das Bunte, und für eine Dreijährige war es eine große Leistung, sich fix und fertig anzuziehen. Grete Hofer beugte sich aus dem Fenster und schaute zu den Bergen hinauf, über denen eilig die watteweißen Föhnwolken wie eine kleine Herde wuscheliger Lämmer dahinzogen. »Es geht ein Wind, wenn wir zur Dis­telalm hinauf wollen, dann ist es besser, etwas Warmes mitzunehmen«, sagte sie und packte eine lange Hose und eine Lodenpelerine für Nicole ein. Auf keinen Fall wollte sie ihr jetzt die Freude verderben und sie gleich umziehen, wo sich die Kleine doch so redlich geplagt hatte. Nicole plapperte vor sich hin, als sie vor Grete die Holztreppe hinunterging. Dann lief sie zum Eckzimmer im ersten Stock des großen Jagdhauses und klopfte zaghaft an die schwere Eichentür. Als keine Antwort kam, patschte Nicole kräftig mit beiden kleinen Fäusten an die Tür. »Ja, was ist denn?«, kam von drinnen eine verschlafene, mißmutige Stimme, die Nicole jedoch nicht abhielt, ins elterliche Schlafzimmer zu stürzen. »Mami, Mami, aufstehen, wir wollen doch Blumerln pflücken geh’n, aufsteh’n, bitte, komm«, rief Nicole und kletterte auf das Bett der Mutter. »Ist ja ganz finster hier drin bei dir!« »Wenn es hell ist, kann ich nicht schlafen«

Sophienlust – 1 –

5 unveröffentlichte Romane

Ursula Hellwig Clara Maria Sollner Bettina Clausen Gitta Peters

Jessicas schlauer Plan

Gelingt es ihr, ihren Onkel zu verheiraten?

Roman von Ursula Hellwig

Das seidige Fell der beiden dunkelbraunen Pferde glänzte in der Sonne. Der siebzehn Jahre alte Dominik von Wellentin Schoenecker, der im Allgemeinen nur Nick genannt wurde, ergriff die Zügel­enden, stellte den linken Fuß in den Steigbügel und saß schwungvoll auf. Sofort setzte sich sein Reittier in Bewegung.

»Langsam, Aron«, meinte Nick. »Wir müssen doch noch auf Pünktchen warten.«

Bei Pünktchen handelte es sich um ein vierzehnjähriges blondes Mädchen, in dessen Gesicht man zahllose Sommersprossen entdecken konnte. Diese kleinen Pigmentflecken hatten ihr ihren Spitznamen eingebracht. Mit richtigem Namen hieß Pünktchen Angelina. Doch das hatte sie selbst schon fast vergessen. Alle sagten Pünktchen zu ihr, sogar ihre Lehrer in der Schule. Im Laufe der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt und fand es ganz normal. Pünktchen stieg nun auch in den Sattel.

»Von mir aus können wir starten«, erklärte sie und lächelte Nick zu. »Wir sollten uns beeilen, bevor wieder jemand auftaucht und dumme Witze macht.«

Nick wusste, wovon Pünktchen sprach. Sie befanden sich beide auf dem Gelände des Kinderheims Sophienlust. Das alte Herrenhaus, das mitten in einem großen Park lag, hatte früher einmal Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, gehört. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Nick das Anwesen geerbt, das entsprechend dem letzten Willen der alten Dame zu einem Kinderheim umgebaut wurde. Nicks Mutter hatte diesen Wunsch stellvertretend für ihren damals noch kleinen Sohn gerne erfüllt und verwaltete Sophienlust heute noch. Das Heim hatte gerade erst die ersten Kinder aufgenommen, als Nick auf der Straße ein kleines, völlig verwirrtes Mädchen fand. Instinktiv hatte der Junge gespürt, dass dieses Mädchen Hilfe benötigte. Deshalb nahm er es mit nach Sophienlust. Dort stellte sich später heraus, dass das kleine Mädchen Angelina Dommin hieß. Die Eltern waren bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen, und es gab keine Verwandten, die sich um das Kind hätten kümmern können. Also blieb Angelina, die vom ersten Tag an Pünktchen gerufen wurde, in Sophienlust. Nick fühlte sich für die Kleine in besonderer Weise verantwortlich. Schließlich war er es gewesen, der sie gefunden und nach Sophienlust gebracht hatte.

Aus der zunächst kindlichen Freundschaft war im Laufe der Zeit mehr geworden. Die Beziehung zwischen Nick und Pünktchen trieb zarte Knospen der Zuneigung. Niemand zweifelte heute mehr daran, dass diese beiden jungen Menschen eines Tages heiraten würden, und der Gedanke, dass Pünktchen und Nick das Kinderheim irgendwann gemeinsam weiterführen würden, gefiel allen. Trotzdem konnten die meisten Kinder es nicht lassen, immer wieder auf die große Liebe der beiden hinzuweisen. Das taten sie besonders gern, wenn Nick und Pünktchen etwas zusammen unternahmen. Der gemeinsame Ausritt würde sicher auch wieder Anlass für entsprechende Bemerkungen sein, und die waren den beiden Jugendlichen peinlich. Sie hatten Glück und konnten das Gelände unbemerkt verlassen. Zunächst ging es in gemäßigtem Tempo durch den angrenzenden Wald. Später wurden Galoppstrecken eingelegt, an denen nicht nur die Reiter, sondern auch die Pferde ihre Freude zu haben schienen.

»Es ist ziemlich warm, und die Pferde schwitzen«, stellte Pünktchen schließlich fest. »Ich glaube, wir sollten eine Pause einlegen.«

»Einverstanden«, meinte Nick. »Da drüben am Bach ist das Gras besonders saftig. Dort können wir absitzen und die Pferde ein bisschen weiden lassen.«

Wenige Minuten später saßen Nick und Pünktchen einträchtig im hohen Gras beisammen. Die beiden Pferde hatten ihre Köpfe in die üppig wachsenden Halme gesteckt und machten einen zufriedenen Eindruck.

»Schau mal, was da hinten kommt!«, forderte Pünktchen Nick auf. »Heute scheinen noch mehr Reiter unterwegs zu sein.«

Auf der anderen Seite des Bachlaufes trabte ein Haflinger mit einer jungen Reiterin auf dem Rücken. Als das Mädchen Nick und Pünktchen erblickte, ließ es das Pferd angaloppieren, setzte über den Bach und kam auf die rastenden Reiter zu.

»Hallo, ihr zwei. Habt ihr das gute Wetter auch für einen Ausritt genutzt? Ich bin mit Palma schon seit zwei Stunden unterwegs. Übrigens heiße ich Jessica Oldenbrink. Verratet ihr mir auch eure Namen?«

Jessica stieg aus dem Sattel, beobachtete, wie Palma sich zu den beiden anderen Pferden gesellte und ließ sich dann im Gras nieder. Pünktchen und Nick stellten sich vor.

»Eine hübsche Stute hast du«, meinte Nick. »Gehört sie dir oder hast du sie dir von deinen Eltern ausgeborgt?«

»Palma gehört mir. Mein Onkel hat sie vor zwei Jahren gekauft und mir geschenkt. Eltern habe ich schon lange nicht mehr. Sie sind vor sechs Jahren beim Absturz eines Privatflugzeugs ums Leben gekommen. Ich war damals gerade erst sechs Jahre alt. Seitdem lebe ich bei meinem Onkel. Anfangs war das sehr ungewohnt, und ich habe lange um meine Eltern getrauert. Aber mit der Zeit wurde es besser. Außerdem ist mein Onkel ein netter Mensch. Er hat mir jeden Wunsch erfüllt. Ich durfte auch reiten lernen. Nachdem ich die Prüfung für mein Reitabzeichen bestanden hatte, hat er mir ein eigenes Pferd geschenkt. Palma steht ganz in der Nähe unseres Hauses in einer Reitschule. Ich fahre jeden Tag mit dem Fahrrad zu ihr. Der Weg ist nicht weit. In fünf Minuten bin ich da.«

»Es ist wirklich Glück für dich gewesen, einen solchen Onkel zu haben«, stellte Pünktchen fest. »Ohne ihn wärst du wahrscheinlich arm dran gewesen.«

»Ja, ich weiß. Onkel Arnold ist wie ein Vater zu mir. Wir beide verstehen uns prima. Er hat eigentlich nur einen einzigen Fehler. Mich hat es nie gestört, dass er nicht verheiratet ist. Jetzt hat er sich allerdings in den Kopf gesetzt, dass unbedingt eine Frau ins Haus muss. Es gibt sogar schon eine, die er heiraten will. Vera Johann heißt sie, und sie ist Grundstücksmaklerin. Auch mein Onkel ist Grundstücksmakler. Die beiden glauben, dass es eine tolle Idee ist, wenn sie ihre Betriebe zusammenlegen.«

»Der Gedanke ist gar nicht schlecht«, bemerkte Nick. »Ein großes Geschäft ist besser als zwei kleine. Finanziell gesehen könnte eine Zusammenlegung ein Vorteil sein.«

»Ach was«, erwiderte Jessica und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mein Onkel ist reich genug. Er kann sich und mir fast jeden Wunsch erfüllen. Wir haben ein schönes Haus mit großem Garten, unternehmen in den Ferien weite Reisen und haben keine Geldsorgen. Einen zweiten Betrieb brauchen wir nicht. Außerdem kann ich Vera Johann nicht leiden. Sie ist eine blöde Ziege. Stundenlang steht sie vor dem Spiegel und prüft, ob sie das richtige Make-up aufgetragen hat. Zweimal in der Woche rennt sie zu ihrer Freundin in den Schönheitssalon. Da lässt sie sich auftakeln und falsche Augenwimpern ankleben. Sie sagt, dass eine Geschäftsfrau immer gut aussehen muss. Das mag ja sein, aber Vera übertreibt die Sache. Wenn sie bei uns ist, beklagt sie sich oft darüber, dass ich nach Pferd rieche und Stalldunst ins Haus trage. Sie mag keine Tiere, und Kinder kann sie auch nicht leiden. Vera Johann ist eine schreckliche Person. Ich will nicht, dass mein Onkel sie heiratet.«

»Leider hast du das nicht zu entscheiden«, meinte Pünktchen. »Was willst du dagegen machen, dass die beiden heiraten wollen?«

»Da fällt mir schon etwas ein. Bis jetzt habe ich meinen Onkel immer um den Finger wickeln können. Ich glaube nicht, dass er Vera so sehr liebt, dass er ohne sie nicht leben kann. Wenn ich vernünftig mit ihm rede, sieht er bestimmt ein, dass sie nicht zu uns passt. Ich muss nur einen günstigen Augenblick abwarten. Jetzt habe ich euch eine Menge über mich erzählt. Von euch weiß ich nur die Namen. Wohnt ihr hier in der Nähe? Seid ihr Geschwister oder einfach nur gute Freunde?«

»Freunde«, erwiderte Pünktchen. »Nick wohnt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater auf Gut Schoeneich.«

»Stiefvater? Dann geht es dir so ähnlich wie mir. Ist dein richtiger Vater auch gestorben?«

»Er ist schon sehr lange tot«, erklärte Nick. »Ich habe ihn nie kennengelernt. Erst kurz nach seinem Tod bin ich zur Welt gekommen. Meine Mutter hat später den Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker geheiratet. Er war damals Witwer und hatte zwei Kinder. Sascha und Andrea sind heute längst erwachsen. Sascha studierte in Heidelberg, Andrea ist mit einem Tierarzt verheiratet. Sie wohnt mit ihrer Familie in Bachenau. Da ist auch die Praxis und ein kleines privates Tierheim. Zu meiner Familie gehört auch noch Henrik, mein jüngerer Halbbruder. Er ist jetzt zehn und hat lauter Dummheiten im Kopf. Meine Mutter verwaltet übrigens das Kinderheim Sophienlust, in dem auch Pünktchen wohnt.«

»Du wohnst in einem Kinderheim?«, fragte Jessica verwundert. »Wieso lebst du nicht bei deinen Eltern?«

»Meine Eltern sind vor langer Zeit durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen. Sie starben bei einem Zirkusbrand. Ich war damals noch ganz klein. Seit jener Zeit lebe ich in Sophienlust. Das Kinderheim ist meine Heimat geworden. Ich möchte nicht woanders sein. Es ist prima dort.«

»Wohnen viele Kinder, die keine Eltern mehr haben, in Sophienlust? Ist es ein großes Haus?«

»Sehr groß und sehr schön. Trotzdem gibt es nicht sehr viele Dauerkinder. Da ist Irmela, mit sechzehn Jahren die älteste von uns. Ihre Mutter hat nach dem Tod ihres Vaters wieder geheiratet und ist nach Bombay ausgewandert. Irmela wollte in Deutschland bleiben.

Vicky und Angelika haben ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren. Sie sind elf und dreizehn Jahre alt. Martin, ein elfjähriger Junge, ist nach dem Tod seiner Mutter mit seinem Vater allein gewesen. Dann starb auch der Vater, und Martin kam zu uns.

Dann sind da noch unsere beiden Nesthäkchen, Heidi und Kim. Heidi ist sechs Jahre alt. Sie hat ihre Eltern nie kennengelernt und fand schon als Baby einen Platz in Sophienlust. Kim ist ein fünfjähriger vietnamesischer Waisenjunge und landete auf Umwegen bei uns.

Mehr Dauerkinder haben wir nicht. Aber es kommen oft Gäste zu uns, die nur vorübergehend bleiben. Oft sind es Kinder, deren Eltern dringend verreisen müssen oder sich durch einen notwendigen Krankenhausaufenthalt nicht um ihren Nachwuchs kümmern können.«

»Darum ist Sophienlust also auch so etwas wie ein Hotel für Kinder«, stellte Jessica fest.

»Ganz so würde ich das nicht nennen«, meinte Nick. »Aber im Grunde genommen hast du recht. Es wird kein Kind abgewiesen, das für ein paar Wochen oder Monate eine Unterkunft benötigt. Manche Kinder bringen auch Tiere mit, mitunter sogar ein Pferd. Das ist in Sophienlust kein Problem. Wir haben selbst Pferde und Ponys und natürlich auch Ställe. Für ein Gastpferd ist meistens noch eine Box frei. Na ja, und tagsüber auf der Weide fällt es gar nicht auf, wenn ein Pferd mehr dort herumläuft.«

Jessica erwies sich als aufmerksame Zuhörerin. Nachdem Nick und Pünktchen ihr auch von den beiden Hunden, dem Bernhardiner Barri und der Dogge Anglos berichtet und das alte Herrenhaus in allen Einzelheiten beschrieben hatten, glaubte Jessica, das Haus Sophienlust schon lange zu kennen.

»Vielleicht besuche ich euch einmal«, erklärte sie. »Aber jetzt muss ich mich wieder auf den Weg machen. In einer Stunde ist es Zeit für die Fütterung. Palma soll nicht zu spät in den Stall kommen.«

Die Zwölfjährige steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff erschallen. Die Haflingerstute hob sofort den Kopf und kam angetrabt.

»Das ist ja toll«, stellte Pünktchen bewundernd fest. »Hast du ihr das beigebracht?«

»Na klar! Ich habe ihr eine ganze Menge Tricks beigebracht. Palma legt sich auch auf Kommando hin, und wenn ich ihr den Zipfel eines Taschentuches ins Maul stecke, dann winkt sie damit. Ich glaube, sie wäre ein gutes Zirkuspferd geworden. Tschüs, ihr zwei. Vielleicht sehen wir uns demnächst einmal wieder.«

Nick und Pünktchen schauten Jessica nach, wie sie mit Palma die Wiese entlangtrabte, über den Bach sprang und im nahen Wald verschwand.

»Diese Jessica ist ein richtiger Temperamentsbolzen«, stellte Nick fest. »Sie scheint vor Lebensfreude nur so zu sprühen. Hoffentlich schafft sie es, ihrem Onkel die geplante Hochzeit tatsächlich auszureden. Es täte mir leid, wenn sie eine Stieftante bekäme, die sie nicht leiden kann.«

»Diese Vera Johann täte mir aber auch leid«, entgegnete Pünktchen grinsend. »Jessica ist ausgesprochen einfallsreich und selbstbewusst. Sie würde der Frau ihres Onkels das Leben bestimmt ganz schön schwer machen.«

Nick und Pünktchen wanderten hinüber zu ihren Pferden und stiegen auf. Durch das unerwartete Zusammentreffen mit Jessica hatten sie länger Rast gemacht als geplant. Es wurde Zeit, wieder nach Sophienlust zurückzukehren.

*

Nachdem Jessica Palma in den Stall gebracht und versorgt hatte, fuhr sie mit dem Rad nach Hause. Als sie in die Sackgasse einbog, an deren Ende das Haus ihres Onkels lag, kam ihr Vera Johann in ihrem feuerroten Sportwagen entgegen. Die junge Frau nickte Jessica im Vorbeifahren nur beiläufig zu, ohne dabei das Tempo zu verringern.

»Was wollte diese Vera denn schon wieder hier?«, fragte Jessica wenig später ihren Onkel. »Muss sie unbedingt andauernd bei uns aufkreuzen?«

Arnold Oldenbrink, ein sportlich wirkender Mann von dreiunddreißig Jahren, schaute seine Nichte amüsiert an. »Vera ist eben gern und oft in meiner Nähe. Das ist ganz normal. Du weißt doch, dass wir in Kürze heiraten werden. Nach der Hochzeit wird sie sogar ganz in unserem Haus wohnen.«

»Wann werdet ihr denn heiraten? Habt ihr den Termin schon festgelegt?«

»Nein, noch nicht. Das hat noch ein wenig Zeit. Wir müssen nichts überstürzen.«

»Wenn du Vera lieben würdest, könntest du es gar nicht abwarten, endlich mit ihr verheiratet zu sein. Du hast es aber überhaupt nicht eilig. Das ist ein Beweis dafür, dass du sie eigentlich gar nicht liebst. Warum willst du sie dann unbedingt zur Frau haben? Sie passt gar nicht zu dir. Vera Johann ist eine grässliche Person. Für sie ist nur ihr Geschäft und ihr Aussehen wichtig. Den ganzen Tag passt sie auf, dass ihr nur ja kein Fingernagel abbricht und dass sie mit ihrem Make-up nicht in einen Regenschauer gerät. Das wäre für sie eine Katastrophe. Vera mag weder Kinder noch Tiere. Sie ist eine Modepuppe und passt nicht in dieses Haus. Heirate sie nicht, Onkel Arnold. Mit ihr wirst du nicht glücklich. Es gibt viele andere Frauen, die weitaus netter sind. Du bist doch noch jung und musst nicht gleich die erste Frau vor den Traualtar zerren, die dir über den Weg läuft. Warte lieber, bis eine kommt, die du wirklich liebst.«

Arnold schüttelte lächelnd den Kopf. »Du irrst dich, Jessica. Ich habe Vera sehr gern. Es wundert mich nicht, dass du ein bisschen eifersüchtig auf sie bist. Wir beide sind eben schon viel zu lange allein gewesen. Es wird Zeit, dass endlich eine Frau ins Haus kommt. Du wirst dich schon an Vera gewöhnen, so wie sie sich an dich gewöhnen wird. Wenn ihr beide euch ein bisschen Mühe gebt, versteht ihr euch bestimmt bald recht gut. Vera ist nicht so oberflächlich, wie du glaubst. Das scheint jetzt nur so. Natürlich achtet sie auf ihr Äußeres. Das finde ich ganz in Ordnung. Sie wird dir ein Vorbild sein, und sie ist sicher keine schlechte Stieftante. Das heißt, für dich wird sie so etwas wie eine Stiefmutter sein, weil sie die Mutterstelle an dir vertritt. Ich mag Vera und sehe in unserer Ehe noch einen weiteren Vorteil. Bis jetzt sind unsere Betriebe Konkurrenzunternehmen gewesen. Wenn wir sie zusammenlegen, ist das die ideale Lösung.«

»Aber du kannst doch nicht nur an dein Geschäft denken«, warf Jessica ein. »Ich werde Vera nie mögen. Willst du denn auf mich gar keine Rücksicht nehmen?«

»Jessica, du weißt, dass ich für dich immer alles getan habe«, erwiderte Arnold ernst. »Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber ich habe auch mein eigenes Leben zu führen. Dazu gehört, selbst zu entscheiden, wen ich heiraten will und wen nicht. Vera Johann wird meine Frau. Das steht unwiderruflich fest. Du wirst diesen Entschluss akzeptieren müssen, und es liegt weitgehend an dir, ob das Verhältnis zwischen ihr und dir gut sein wird.«

»Ist das wirklich dein letztes Wort in dieser Angelegenheit?«, wollte Jessica wissen.

Arnold nickte. »Ja, das ist es. Es ist noch nicht entschieden, wann die Hochzeit stattfindet, aber dass sie stattfindet, ist sicher.«

Jessica seufzte hörbar auf, wandte sich ab und verließ den Raum. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und dachte nach. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass ihr Onkel es mit der Hochzeit nicht allzu ernst genommen hatte. Das war offensichtlich ein Irrtum gewesen. Durch nichts würde er sich davon abbringen lassen, Vera Johann zu heiraten. Oder gab es vielleicht doch noch eine Möglichkeit? Krampfhaft suchte die Zwölfjährige nach einem Ausweg. Noch wollte sie nicht kampflos aufgeben. Dann kam ihr plötzlich eine Idee. Mit schönen Worten konnte sie bei ihrem Onkel nichts erreichen. Möglicherweise half es aber, wenn er unter Druck gesetzt wurde und sich zwischen Vera und ihr entscheiden musste. Es war unwahrscheinlich, dass er dann der Frau den Vorzug geben würde, die er erst seit einem halben Jahr näher kannte. Jessica schmiedete einen Plan und wusste nun ganz genau, was sie unternehmen musste, um die Heiratsabsichten ihres Onkels zu durchkreuzen.

*

Schwester Regine, die in Sophienlust lebte und dort als Kinder- und Krankenschwester arbeitete, klebte ein großes blaues Pflaster auf Kims Knie. Der kleine Junge war vor dem Haus hingefallen und hatte genau die Steineinfassung eines Blumenbeetes getroffen. Zunächst hatte es dicke Tränen gegeben, die beim Anblick der bunten Pflaster jedoch schnell versiegt waren.

»So sieht dein Knie prima aus«, stellte die Kinderschwester fest. »Du hast dir ein hübsches Pflaster ausgesucht.«

Kim betrachtete nachdenklich sein Bein. Er trug dunkelblaue Shorts. Das ebenfalls blaue Pflaster fiel deshalb nicht so richtig auf.

»Blau ist schön«, erklärte er. »Aber ich glaube, ich hätte rotes Pflaster noch lieber. Rot ist besser. Können wir tauschen um? Du kannst aufheben blaues Pflaster. Das ich nehme nächstes Mal.«

»Pflaster kann man nicht verwahren«, erwiderte Schwester Regine. »Wenn man sie einmal benutzt hat, muss man sie wegwerfen, weil sie nicht mehr ganz sauber sind. Aber tauschen können wir trotzdem.«

Ein paar Minuten später wanderte Kim stolz mit dem leuchtend roten Pflaster umher, das nicht nur auffälliger, sondern auch noch ein bisschen größer war als das blaue. Sein Knie sah nun nach einer recht großflächigen Verletzung aus, die er mit würdevoller Tapferkeit ertrug. Kim sonnte sich in dem Mitleid, das vor allem Heidi ihm entgegenbrachte. Auf ihre wiederholte Nachfrage, ob er große Schmerzen hätte, schüttelte Kim den Kopf, vergaß aber nicht, etwas mehr zu humpeln, als eigentlich erforderlich war. Jeder sollte sehen, dass er als jüngstes Kind von Sophienlust nicht weniger tapfer war als die größeren.

Pünktchen schmunzelte, als sie Kim durch den Park humpeln, dann aber plötzlich losrennen sah, als er Martin mit dessen neuem Fernlenkboot am Teich entdeckte. So schlimm schien die Sache mit dem verletzten Knie also nicht zu sein. Die Vierzehnjährige blickte zur Auffahrt hinüber, als sie Hufschlag vernahm. Sofort erkannte sie die Haflingerstute Palma und Jessica, die gerade das Tor passierten. Erfreut ging Pünktchen den beiden entgegen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du uns tatsächlich einmal besuchst. Schön, dass du gekommen bist. Hast du einen größeren Ausflug vor?«

Pünktchen wies auf die prall gefüllten Packtaschen, die hinter dem Sattel lagen.

»Ich mache sogar einen ziemlich großen Ausflug«, erklärte Jessica, während sie absaß. »Genau genommen sind wir beide auf Wohnungssuche. Kann ich in Sophienlust ein Zimmer mieten und für Palma eine Box bekommen? Wie lange wir bleiben werden, weiß ich noch nicht. Aber ich habe genug Taschengeld dabei. Das reicht bestimmt, um die Miete für einen ganzen Monat zu bezahlen. Mein Gepäck habe ich gleich mitgebracht.«

»Das hört sich nach einer ernsten Sache an«, stellte Pünktchen fest. »Hast du dich mit deinem Onkel gestritten? Geht es etwa um diese Frau, die er heiraten will?«

»Genau! Er lässt sich davon einfach nicht abbringen. Deshalb bin ich ausgezogen. Entweder holt er mich zurück und verzichtet auf Vera oder er heiratet sie und gibt mich auf. Ich bleibe mit Vera nicht einen Tag unter demselben Dach.«

Pünktchen griff nach Palmas Zügeln. »Pass auf, wir nehmen der Stute den Sattel ab und bringen sie zu den anderen Pferden auf die Weide. Dort ist sie vorläufig gut versorgt. Über dein Problem sprechen wir anschließend mit Tante Isi. So nennen wir Nicks Mutter. Sie weiß immer einen Rat und wird dich bestimmt nicht davonjagen.«

»Schön habt ihr es hier«, stellte Jessica anerkennend fest, als sie mit Pünktchen wenig später die Eingangshalle betrat. »So nobel hatte ich mir Sophienlust gar nicht vorgestellt. Ich glaube, dass es mir bei euch gefällt. Jedenfalls möchte ich gerne bleiben, bis mein Onkel endlich zur Vernunft gekommen ist.«

Denise von Schoenecker schmunzelte, als Jessica sie bat, ein Zimmer mieten zu dürfen und Palma gegen Bezahlung Unterkunft zu gewähren.

»Du hast da etwas falsch verstanden, Jessica. Sophienlust ist ein Kinderheim, kein Kinderhotel. Zu uns kommen junge Menschen, die in Not geraten sind. Es spielt keine Rolle, ob sie für ihre Unterkunft bezahlen können oder nicht. Wichtig ist nur, dass sie wirklich Hilfe brauchen.«

Jessica nickte verstehend. »Dann schicken Sie mich also wieder zu meinem Onkel zurück, weil ich nicht in einer Notsituation bin.«

»Nein, das werde ich nicht tun. Es gibt zwar Kinder, die sich in weitaus schwierigeren Situationen befinden als du, aber auch bei dir liegt offensichtlich ein Notfall vor. Für deine Palma ist bereits gesorgt, und auch dich schickt niemand weg. Ich muss allerdings deinen Onkel informieren. Er wird sich wahrscheinlich schon Sorgen um dich machen. Vermutlich kommt er gleich her, nachdem ich ihn angerufen habe. Dann können wir uns alle zusammen in Ruhe unterhalten und versuchen, eine Lösung zu finden.«

»Die Lösung habe ich schon«, entgegnete Jessica. »Wenn er Vera nicht heiratet, gehe ich wieder mit ihm nach Hause. Wenn er sie trotz allem heiraten will, bleibe ich hier. Das ist ganz einfach. Ich glaube übrigens nicht, dass Onkel Arnold mich in einem Kinderheim lassen will. Er wird sich die Sache mit der Hochzeit bestimmt noch einmal genau überlegen.«

Denise erkannte, dass sie eine kleine Erpresserin vor sich sitzen hatte. Aber sie konnte dem Mädchen nicht böse sein. Jessica handelte aus einer inneren Zwangslage heraus und wusste einfach keinen anderen Ausweg. Es lag bestimmt nicht nur an reiner Eifersucht, dass sie die künftige Frau ihres Onkels ablehnte. Vera Johann und Jessica schienen sich absolut nicht zu verstehen. Wer von den beiden für das schlechte Verhältnis verantwortlich war, konnte Denise nicht sagen.

»Ich telefoniere jetzt mit deinem Onkel«, entschied Denise. »Pünktchen wird dir inzwischen sicher gerne die anderen Kinder vorstellen und dir unser Sophienlust zeigen.«

»In Ordnung«, erwiderte Jessica. »Sobald mein Onkel hier ist, werde ich mit ihm sprechen und ihm erklären, was ich vorhabe. Er muss schließlich wissen, woran er ist.«

Schon lange hatte Denise kein Kind mehr vor sich gehabt, das sich so selbstbewusst gezeigt hatte. Die Verhandlungen zwischen Arnold Oldenbrink und seiner Nichte würden mit Sicherheit nicht einfach sein. Jessica war nicht bereit, irgendwelche Kompromisse zu schließen.

*

Bereits seit einer Stunde wartete Arnold auf Jessica. Unpünktlichkeit kannte er von ihr nicht. Sie hätte aus der Reitschule längst wieder zurück sein müssen. Er machte sich Sorgen und wollte gerade in der Reitschule anrufen, als das Telefon läutete und Denise von Schoenecker sich meldete. Arnold fiel aus allen Wolken, als sie ihm berichtete, was sich ereignet hatte.

Er versprach, unverzüglich nach Sophienlust zu kommen.

Jessica hielt sich mit einigen anderen Kindern gerade im Pferdestall auf, als ihr Onkel eintraf. So ergab sich für Arnold die Gelegenheit, zunächst mit Denise zu sprechen.

»Ich begreife Jessica einfach nicht«, gestand er. »Zugegeben, Vera ist nicht das, was man einen mütterlichen Typ nennt. Aber sie wird meine Nichte bestimmt partnerschaftlich behandeln. Bis jetzt hatte ich mit Jessica nie Probleme. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass sie sich nach einer Mutter sehnt.«

»Wahrscheinlich hat sie sich ein festes Bild von einer Mutter gemacht«, erwiderte Denise. »Ihre Verlobte entspricht diesen Vorstellungen vermutlich nicht. Jessica verfügt über ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Sie möchte die Dinge nach ihrem eigenen Kopf regeln, notfalls auch mit Gewalt.«

Arnold nickte lächelnd. »Ja, so ist sie schon immer gewesen. Als ganz kleines Mädchen hat sie bereits immer genau gewusst, was sie wollte. Mein Bruder und meine Schwägerin hatten manchmal ihre liebe Not mit dem Trotzköpfchen. Mir hat Jessicas Art immer gefallen. Das war auch ein Grund dafür, warum ich sie damals nach dem schrecklichen Unglück zu mir genommen hatte. Ich war ganz vernarrt in meine Nichte und bin es auch heute noch. Sie ist ein eigensinniger Wildfang, der eine Menge Wirbel ins Haus bringt. Doch gerade das gefällt mir. Jetzt weiß ich allerdings nicht, wie ich dieses Problem lösen soll. Ich möchte weder auf Vera noch auf Jessica verzichten. Beide bedeuten mir sehr viel.«

Denise empfand Mitleid mit Arnold. »Vielleicht bringt ein Gespräch hier in Sophienlust auf neutralem Boden etwas. Reden Sie mit Jessica. Eine andere Möglichkeit haben Sie im Moment nicht.«

Wenig später saß Arnold seiner Nichte gegenüber und redete mit Engelszungen auf sie ein. Denise hielt sich als stummer Zuhörer im Hintergrund und war erstaunt, wie geschickt und einfühlsam Arnold argumentierte. Doch seine Worte schienen an dem Mädchen abzuprallen.

»Ich brauche keine Stiefmutter und schon gar keine wie Vera Johann«, erklärte sie. »Wenn ich mich jetzt auf etwas einlasse, habe ich sie am Hals, bis ich erwachsen bin. Sobald ihr beide verheiratet seid, lässt sich nichts mehr ändern. Dann kannst du sie nicht mehr wegschicken, weil sie sich nicht mit mir verträgt. Legt eure Betriebe ruhig zusammen. Dagegen habe ich nichts. Aber ich will nicht, dass Vera zu unserer Familie gehört. Sie ist kein guter Mensch und kann mich nicht leiden. Wahrscheinlich wird sie mir sogar verbieten, in die Reitschule zu gehen, weil ich dann nach Pferd rieche. Wenn sie erst deine Frau ist, kann sie über mich bestimmen, und das wird sie auch tun. Ich will mich nicht nach dieser Vera Johann richten müssen. Es bleibt dabei: Wenn du sie heiratest, bleibe ich in Sophienlust.«

Arnold warf Denise einen hilfesuchenden Blick zu. Sie erhob sich und kam näher. »Ich möchte einen Vorschlag machen. Im Augenblick sind die Fronten verhärtet. Es kann bestimmt vorerst keine Einigung erzielt werden. Ich meine, Jessica sollte eine Weile in Sophienlust bleiben. Hier kann sie in Ruhe über alles nachdenken. Auch Sie, Herr Oldenbrink, können leichter klare Gedanken fassen, wenn Sie die nötige Ruhe dazu haben.«

Jessica war sofort einverstanden, und auch Arnold ging auf diesen Vorschlag ein. Bei Sophienlust handelte es sich zwar um ein beispielhaft geführtes Kinderheim. Aber vielleicht würde Jessica trotzdem erkennen, dass das Leben in einer Familie vorzuziehen war. Sie hatte keine Geschwister und war nicht daran gewöhnt, alles mit anderen Kindern teilen zu müssen. Möglicherweise würde sie das so sehr stören, dass sie bald einsah, bei ihrem Onkel und Vera doch besser aufgehoben zu sein.

Die Zwölfjährige selbst sah die Sache ganz anders. »Ich bleibe jetzt erst einmal bei euch«, verkündete sie später den anderen Kindern. »Mein Onkel überlegt sich inzwischen, ob er Vera Johann tatsächlich heiraten will oder ob ich ihm doch wichtiger bin als sie.«

Die Kinder freuten sich über ihren neuen Gast. Jessica war ein umgängliches Mädchen, das sie gerne in ihren Kreis aufnahmen. Schwester Regine zeigte Jessica das Zimmer, in dem sie wohnen sollte. Es störte die Zwölfjährige nicht im Geringsten, dass sie diesen Raum mit Pünktchen teilen musste. Sie war sogar froh, etwas Gesellschaft zu haben und nicht allein sein zu müssen.

*

Schon am nächsten Tag zeigte sich, was Arnold damit gemeint hatte, als er seine Nichte als Wildfang bezeichnet hatte, der Wirbel ins Haus bringt. Jessica steckte voller Unternehmungsgeist. Jessica stellte in ihrem Zimmer die Möbel um, weil sie fand, dass es so viel hübscher aussähe. Pünktchen ließ sie gewähren. Ihr war es egal, an welcher Stelle die Möbelstücke standen.

Jessicas nächste Handlung bestand darin, dem Papagei Habakuk, der im Wintergarten des Kinderheims wohnte, zu einem neuen Kletterbaum zu verhelfen.

»Papageien klettern für ihr Leben gern«, erklärte sie, während sie einen mächtigen, vielfach verzweigten Ast in den Wintergarten schleppte. »Habakuk freut sich bestimmt, wenn er jetzt noch ein zweites Klettergerüst hat. Das alte kann er ruhig zusätzlich behalten.«

»Wie willst du den dicken Ast denn aufstellen?«, erkundigte Vicky sich. »Der hält doch nicht von ganz allein und fällt um, wenn Habakuk darin herumklettert.«

»Daran habe ich schon gedacht«, erwiderte Jessica. »Vorhin habe ich gesehen, dass der alte Justus drüben neben dem Stall die Futterkammer ausbessert und neuen Zement gießt. Davon holen wir uns etwas. Komm mit, du kannst mir helfen.«

Jessica hatte der Köchin Magda eine flache Blumenschale abgebettelt. Damit zog sie nun zu Justus und bat ihn, die Schale mit Zement zu füllen. Gemeinsam mit Pünktchen transportierte sie die große schwere Schale in den Wintergarten, steckte den Ast hinein und befestigte ihn so an mehreren kräftigen Pflanzen, dass er nicht umfallen konnte.

»So, jetzt brauchen wir nur noch zu warten, bis der Zement richtig trocken ist. Dann steckt der Ast fest darin und kann sich nicht mehr bewegen. Habakuk kann nach Herzenslust darin herumklettern.«

Kaum hatte Jessica diese Arbeit beendet, lief sie zur Weide hinüber und pfiff nach Patina.

Die Stute kam sofort brav angetrabt und ließ sich am Halfter nehmen.

»Willst du ausreiten?«, erkundigte Pünktchen sich, die gerade in der Nähe war.

»Ja, ich muss Palma vorher nur noch putzen. Kommst du mit? Zu zweit macht ein Ausritt viel mehr Spaß. Außerdem kenne ich die Gegend hier nicht so gut. Du könntest mir alles zeigen.«

Pünktchen ließ sich nicht zweimal bitten. Eine halbe Stunde später saßen die beiden Mädchen im Sattel und machten sich auf den Weg. Unterwegs stellte Pünktchen fest, dass Jessica eine ausgesprochen gute Reiterin war, die keinerlei Probleme mit ihrem Pferd hatte. Auch als Palma vor einem plötzlich aus einem Gebüsch auffliegenden Vogel scheute, geriet Jessica nicht in Schwierigkeiten. Sofort hatte sie die Stute wieder im Griff und redete beruhigend auf sie ein.

»Schau mal, da unten liegt ein Luftballon mit einer Karte«, bemerkte Pünktchen und wies einen Steilhang hinunter, der neben dem Weg lag. »Schade, dass er gerade dort gelandet ist. Da können wir ihn nicht erreichen. Ich hätte die Karte gerne zurückgeschickt. Sie stammt bestimmt von einem Ballonwettbewerb.«

Jessica saß ab und reichte Pünktchen die Zügel ihres Pferdes. »Halte Palma bitte fest, ich hole den Ballon herauf.«

»Das geht nicht«, meinte Pünktchen. »Der Hang ist viel zu steil und zu sandig. Nach unten schaffst du es vielleicht. Aber du kommst sicher nicht wieder nach oben. Lass es lieber bleiben. Du wirst abrutschen und dich verletzen.«

»Ach was!« Jessica winkte ab und kletterte auch schon rückwärts den Abgrund hinunter. Mit angehaltenem Atem schaute Pünktchen der waghalsigen Klettertour zu. Jessica löste die Karte vom Ballon, steckte sie in die Tasche und machte sich auf den beschwerlichen Rückweg. Ihre Hände und Füße fanden in dem lockeren Sand kaum Halt. Mehrmals rutschte sie unterwegs wieder ein Stück abwärts und musste einen neuen Versuch starten. Doch schließlich hatte sie es endlich geschafft. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, als sie den festen Weg endlich erreichte und sicheren Boden unter den Füßen hatte. Doch ihr Gesicht strahlte. Sie klopfte Sand und Erde von ihrer Hose und zog die Karte hervor.

»Hier ist das gute Stück. Der Luftballon wurde von einem Mario Heimersdorf aufgelassen, und zwar in Köln. Mario ist sieben Jahre alt. Bestimmt hofft er darauf, dass sein Ballon gefunden wird und dass er bei dem Wettbewerb einen Preis gewinnt. Es wäre schade gewesen, wenn wir die Karte nicht eingesammelt hätten. Jetzt können wir sie nach Köln zurückschicken und dem kleinen Mario damit eine Freude machen.«

»Das finde ich prima«, meinte Pünktchen. »Du hast wirklich Mut. Ich hätte mich nicht getraut, diesen langen und steilen Hang hinunterzuklettern. Der fällt ja fast senkrecht ab. Hattest du denn überhaupt keine Angst?«

»Angst? Was ist das?«, fragte Jessica grinsend. »Nein, ich hatte keine Angst. So ein kleiner Hügel kann mich nicht bange machen. Komm, jetzt reiten wir zurück nach Sophienlust und schicken die Karte sofort ab.«

Insgeheim bewunderte Pünktchen Jessica. Sie nahm das Leben leicht, war immer gut aufgelegt, und es schien nichts auf der Welt zu geben, was ihr wirklich angst machen konnte. Pünktchen selbst war eher ein vorsichtiger Typ, der nicht bedenkenlos jedes Risiko einging. Die beiden Mädchen wendeten ihre Pferde und trabten zurück nach Sophienlust.

*

Zunächst war es Vera überhaupt nicht aufgefallen, dass Jessica nicht mehr im Haus ihres Onkels war. Erst nach zwei Tagen schnupperte sie prüfend, als sie das Haus betrat.

»Hat Jessica sich ein neues Hobby gesucht und geht nicht mehr in den Stall? Es riecht nicht mehr so streng nach Pferd. Das fällt mir angenehm auf.«

»Jessica wird die Liebe zu den Pferden niemals verlieren«, erwiderte Arnold. »Ihre Palma bedeutet ihr alles. Trotzdem hat deine feine Nase dich nicht betrogen. Ich hätte sowieso heute mit dir darüber gesprochen. Seit zwei Tagen

ist meine Nichte nicht mehr hier. Sie hat es vorgezogen, vorübergehend in einem Kinderheim zu wohnen.«

»In einem Kinderheim? Das verstehe ich nicht. Was will sie denn dort?«

»Es klingt wahrscheinlich albern, aber sie ist deinetwegen gegangen. Jessica will nicht, dass wir beide heiraten. Ich weiß nicht, warum, doch sie hat etwas gegen dich. Nun hat sie mich vor die Wahl gestellt. Wenn ich dich heirate, bleibt sie in Sophienlust. Gebe ich meine Heiratspläne auf, kehrt sie zu mir zurück.«

»So ein ausgekochtes kleines Luder«, bemerkte Vera. »Sie will dich eiskalt erpressen. Das lässt du dir hoffentlich nicht bieten. Immerhin hast du zu bestimmen, wo deine Nichte sich aufhält. Ob wir heiraten werden oder nicht, geht Jessica gar nichts an. Das musst du ihr deutlich machen. Sie ist ein Kind und hat sich zu fügen.«

Arnold schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Es stimmt, dass Jessica noch ein Kind ist. Trotzdem habe ich Rücksicht auf sie zu nehmen.

Schließlich wollen wir nach unserer Hochzeit ein harmonisches Familienleben führen. Das können wir aber nicht, wenn Jessica sich dagegen wehrt. Ich kenne sie. Glaube mir, sie kann dir das Leben zur Hölle machen, wenn wir sie zwingen, unsere Entscheidung zu akzeptieren.«

»Na gut, dann muss sie eben in diesem Kinderheim bleiben. Irgendwann langweilt sie sich dort. Dann wird sie froh sein, wenn wir sie nach Hause holen. Du kannst dein Leben nicht von einem kleinen Mädchen bestimmen lassen. Es geht schließlich um deine ganz persönliche Zukunft. Das darfst du trotz aller Rücksichtnahme nicht vergessen. Deine Nichte wird ihren Trotz früher oder später von ganz allein aufgeben. Lasse dich nicht von ihr zum Narren machen. Wenn du ihr jetzt nachgibst, hat sie dich in der Hand und wird immer wieder versuchen, dich unter Druck zu setzen, wenn ihr wieder einmal etwas nicht in den Kram passt.«

»Du hast ja recht«, gab Arnold zu. »Aber ich möchte, dass Jessica einsichtig wird und dich aus freien Stücken akzeptiert. Das ist wichtig für uns alle. Ich kann mir nicht erklären, was sie gegen dich haben könnte. Vielleicht weißt du mehr. Kannst du mir sagen, warum das Verhältnis zwischen euch so schlecht ist? Habt ihr irgendwann einmal Streit gehabt?«

»Nein, gestritten haben wir uns nie. Ich habe mich nur über diesen unangenehmen Pferdegeruch beklagt. Doch deswegen kann Jessica kaum beleidigt sein. Ansonsten habe ich sie eigentlich kaum beachtet.«

»Vielleicht ist es das. Es kann sein, dass du ihr nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hast.«

»Ach, Arnold, die Kleine ist deine Nichte. Ich habe im Grunde genommen nicht viel mit ihr zu tun. Dabei will ich es auch belassen. Mit Kindern habe ich eben keine Erfahrung, und Jessica ist obendrein ein fremdes Kind für mich. Ich habe nichts gegen sie, aber ich kann auch keine Muttergefühle entwickeln. Nun mache dir nicht so viel Sorgen um sie. Sie kommt von allein wieder zur Vernunft. Wir sollten uns lieber um wichtigere Dinge kümmern und zum Beispiel den Hochzeitstermin planen.«

»Nein«, widersprach Arnold. »Das geht im Moment nicht. Ich muss erst wissen, ob Jessica stur bei ihrer Meinung bleibt. Wir haben es doch nicht eilig. Auf ein paar Wochen mehr oder weniger kommt es nicht an.«

»Das nicht, aber ich sehe nicht ein, dass wir uns nach einem trotzigen Kind richten sollen. Das führt dazu, dass wir in Zukunft immer erst Jessica fragen müssen, bevor wir eine Entscheidung treffen. So habe ich mir ein Familienleben nicht vorgestellt.«

»Keine Sorge«, meinte Arnold beruhigend. »Jessica wird das Kommando nicht übernehmen. Doch jetzt steht sie vor einem schwierigen neuen Abschnitt ihres Lebens. Sechs Jahre lang ist sie mit mir allein gewesen, und nun kommt plötzlich eine Frau, die mit zur Familie gehören soll, und zu der sie noch gar keine Verbindung hat. Habe ein bisschen Geduld. Es wird sich alles finden. In ein paar Monaten sieht die Welt sicher schon ganz anders aus.«

Arnold nahm Vera in den Arm und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie erwiderte sein Lächeln. Er hatte schon recht. Auf ein paar Wochen kam es jetzt wirklich nicht an. Jessicas Trotz würde bestimmt bald gebrochen sein. Dann konnten sie und Arnold ihre Zukunft in Ruhe planen.

*

Die Kinder hatten einen Besuch im Tierheim Waldi und Co. geplant. Jessica war von der Idee sofort begeistert gewesen und hatte sich mit großem Interesse alle Tiere angesehen, die hier ein neues Zuhause gefunden hatten. Besonderes Mitgefühl empfand sie mit Felix, einem etwa einjährigen Mischlingsrüden, in dessen Adern das Blut von Pudel und Schnauzer floss. Mit großen traurigen Augen lag er auf der Terrasse und ließ sich nicht einmal von dem Dackel Waldi, dem Namenspatron des Tierheims, zum Spielen ermuntern.

»Felix trauert bestimmt um seine ehemaligen Besitzer«, meinte Jessica mitfühlend, während sie den Hund streichelte.

»Das glaube ich auch«, erwiderte Andrea von Lehn. »Er trauert um sie, obwohl diese Leute so viel Treue gar nicht verdient haben. Ihnen ist Felix nämlich lästig geworden. Sie haben ihn einfach weggeworfen.«

»Weggeworfen? Das geht doch gar nicht. Ein Tier kann man nicht wegwerfen wie Abfall.«

»Doch, in gewisser Weise schon. Felix wurde zwar nicht in eine Mülltonne gesteckt, aber viel besser erging es ihm auch nicht. Seine Besitzer haben ihn auf einem Autobahnrastplatz an einem Papierkorb angebunden und sind anschließend weggefahren. Ein Fernfahrer, der auf diesem Parkplatz eine Pause einlegen wollte, hat Felix gefunden und ihn zu uns gebracht. Er selbst konnte den Hund nicht behalten. Seine Familie besitzt schon zwei Terrier. Jetzt suchen wir für Felix ein neues Zuhause. Hoffentlich finden wir bald eins. Er braucht liebe Menschen, bei denen er dauerhaft bleiben kann.«

Jessica streichelte weiter das Fell des Rüden und blickte auf, als die Tür zur Tierarztpraxis geöffnet wurde. Hans-Joachim von Lehn kam mit einer jungen Frau heraus.

»Dieses Mittel wirkt Wunder«, erklärte er und wies auf die kleine weiße Flasche in seiner Hand. »Tragen Sie die Paste täglich auf Hals und Mähnenansatz auf. Dann wird die Sommerräude schnell verschwinden.«

Die junge Frau bedankte sich und kam auf Jessica und Felix zu. »Das ist ein schöner Hund«, stellte sie fest. »Gehört er dir?«

»Nein, leider nicht. Das ist Felix. Er wurde ausgesetzt und sucht eine neue Heimat. Bis er die gefunden hat, muss er im Tierheim bleiben. Hier geht es ihm zwar gut, aber er ist trotzdem traurig.«

Die junge Frau ließ sich neben Felix nieder. »Vielleicht hat der arme Kerl gerade ein neues Zuhause gefunden. So einen Hund habe ich mir schon immer gewünscht. Platz hätte ich für ihn, und zur Arbeit kann ich ihn mitnehmen. Was meinst du? Passt Felix zu mir?«

»Natürlich passt er zu Ihnen«, bestätigte Jessica eifrig. »Ich finde es toll, dass Sie ihn nehmen wollen. Sie haben Hunde wohl sehr gern, nicht wahr?«

»Nicht nur Hunde, ich mag alle Tiere, zum Beispiel auch Pferde. Deswegen bin ich heute auch hergekommen. Zusammen mit einer Freundin besitze ich einen Fuchswallach. Der arme Kerl leidet an Sommerräude. Wir haben schon alle möglichen Mittelchen ausprobiert. Nichts hat geholfen. Jetzt hat Doktor von Lehn mir eine Paste mitgegeben, die Wunder wirken soll. Damit wird Darius hoffentlich bald wieder gesund.«

»Ich habe auch ein Pferd. Es heißt Palma«, berichtete Jessica. »Palma ist allerdings nicht hier, sondern in Sophienlust. Ich wohne im Moment in diesem Kinderheim. Übrigens heiße ich Jessica Oldenbrink, und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Ramona Irenius. Ich arbeite als Sekretärin in einem kleinen Betrieb in Maibach und wohne am Stadtrand.«

»Haben Sie Kinder?«, fragte die Zwölfjährige frisch von der Leber weg.

Ramona schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich hätte gerne Kinder gehabt, aber mein Mann wollte keine. Er hat immer gesagt, dass wir uns irgendwann später noch Kinder anschaffen könnten. Daraus ist dann nichts mehr geworden. Wir sind nur knapp zwei Jahre verheiratet gewesen. Als ich merkte, dass er sich eine Freundin zugelegt hatte, habe ich mich scheiden lassen. Vielleicht sollte das alles so kommen. Eigentlich bin ich mit meinem Leben jetzt nämlich ganz zufrieden. Ich habe eine gute Freundin, meinen Darius und jetzt auch noch Felix. Das heißt, ich hoffe, dass Doktor von Lehn mir den Hund überlassen wird.«

»Warum sollte ich das nicht tun?«, fragte Hans-Joachim, der sich auf einem in der Nähe stehenden Gartenstuhl niedergelassen hatte. »Ich bin überzeugt, dass Sie gut für Felix sorgen werden, und der arme Bursche braucht dringend ein neues Zuhause bei einem Menschen, von dem er sich geliebt fühlt. Hier fühlt er sich auf Dauer nicht wohl. Felix scheint genau zu spüren, dass sein Aufenthalt bei uns nur eine Übergangslösung sein soll.«

»Dann nehme ich ihn noch heute mit zu mir«, entschied Ramona. »Vorher muss ich allerdings noch für ihn einkaufen. Er braucht einen bequemen Korb, Halsband, Leine, Futternäpfe und Spielzeug. Hast du Lust, mit mir in den Zooladen zu fahren und alles zu besorgen?« Fragend schaute Ramona Jessica an.

Das Mädchen ließ sich nicht lange bitten. »Natürlich habe ich Lust. Wir sollten auch eine Bürste für Felix kaufen, und Kauknochen braucht er ebenfalls.«

»Siehst du, diese Sachen hätte ich beinahe vergessen. Ich glaube, du bist eine gute Beraterin bei den Einkäufen. Dann komm, wir machen uns direkt auf den Weg. Felix soll alles bekommen, was ein Hundeherz begehrt.«

Jessica fuhr mit der jungen Frau, die ihr unterwegs anbot, sie einfach Ramona zu nennen. Eine Stunde später kehrten die beiden wieder zurück. Ramonas Wagen war mit allen nur denkbaren Utensilien beladen, die ein Hund benötigte. Mehrere gepackte Taschen und Tüten standen neben dem Fahrersitz, und im Kofferraum befand sich ein großer Hundekorb mit einem bequemen dunkelblauen Kissen, auf dem lauter kleine Spanielwelpen abgebildet waren.

Felix begrüßte Ramona wie eine gute alte Freundin. Offensichtlich spürte er instinktiv, dass er jetzt zu ihr gehörte. Als wäre es die größte Selbstverständlichkeit, sprang er in den Wagen, nachdem Ramona die Tür geöffnet hatte. Stolz saß er auf dem Rücksitz und wartete auf die Abfahrt.

»Ich würde gerne erfahren, wie Felix sich bei dir eingewöhnt«, meinte Jessica. »Außerdem möchte ich dich wiedersehen. Du bist nämlich wirklich nett. Kannst du nicht einmal nach Sophienlust kommen und mich dort besuchen?«

Ramona lächelte verständnisvoll. »Weißt du was? Ich finde dich auch sehr nett und komme gerne. Es dauert gar nicht lange, bis wir uns wiedersehen. Am Wochenende habe ich immer Zeit. Samstag werde ich mit Felix nach Sophienlust kommen. Wenn du magst, können wir uns dort nachmittags um drei Uhr treffen.«

»Prima, ich werde auf dich warten und auf Felix natürlich auch. Ihm gefällt es dort bestimmt. Er kann mit Barri und Anglos im Park herumtoben.

Wenn du kommst, zeige ich dir auch meine Palma. Sie ist ein wunderschönes Pferd und kennt eine Menge Tricks. Die führe ich dir vor.«

Andrea und Hans-Joachim verabschiedeten sich von Ramona und Felix. Auch die Kinder, die an diesem Tag ins Tierheim gekommen waren, nahmen Abschied. Sie freuten sich für den Hund, der nun wieder ein gutes Zuhause gefunden hatte. Jessica winkte Ramona noch lange nach, als diese mit ihrem Auto davongefahren war. Die junge Frau gefiel ihr. Ramona war ganz anders als Vera Johann. Mit ihr konnte man über alles reden. Sie hörte geduldig zu und nahm auch Kinder ernst, was man von Vera nicht behaupten konnte.

*

»Woran denkst du?«, fragte Pünktchen, als sie abends im Bett lag und Jessica seufzen hörte.

»An das Tierheim«, antwortete die Zwölfjährige. »An Ramona, Felix und überhaupt an diesen Tag. Es ist ein schöner Tag gewesen, den ich bestimmt nie vergessen werde. Findest du Ramona auch so nett wie ich?«

»Sie ist eine ganz liebe Frau. Ich glaube, Felix hätte kein besseres Zuhause finden können. Bei Ramona Irenius ist er gut aufgehoben. Sie wird sich sicher nie wieder von ihm trennen.«

Die beiden Mädchen unterhielten sich noch eine Weile. Dann dauerte es nicht lange bis Pünktchen eingeschlafen war. Jessica hingegen lag noch lange wach in ihrem Bett. Sie konnte keinen Schlaf finden. Immer wieder hatte sie Ramonas Bild vor Augen. Wenn Vera doch wenigstens nur ein bisschen so wäre wie diese junge Frau. Dann hätte sie nichts dagegen gehabt, dass ihr Onkel heiraten wollte. Jessica stellte zahlreiche Vergleiche zwischen Ramona und Vera an und kam zu dem Schluss, dass Vera in jeder Beziehung weitaus schlechter abschnitt. Warum hatte ihr Onkel statt Vera nicht Ramona kennengelernt? Zugegeben, sie war keine Grundstücksmaklerin, aber er hätte sich bestimmt trotzdem in sie verliebt.

Plötzlich fiel dem Mädchen ein, dass bis jetzt noch nichts verloren war. Noch war ihr Onkel nicht verheiratet. Sowohl bei Ramona als auch bei Vera handelte es sich um ledige junge Frauen. Wenn ihr Onkel erst beide kannte, würde er gewiss Ramona den Vorzug geben. Davon war Jessica überzeugt. Es musste sich nur ein Weg finden lassen, Arnold und Ramona irgendwie zusammenzuführen. Sie mussten sich einfach kennenlernen. Jessica wäre nicht Jessica gewesen, wenn ihr zu diesem Problem keine Lösung eingefallen wäre. Sie wusste, dass Ramona am nächsten Wochenende nach Sophienlust kommen würde und kannte sogar die genaue Uhrzeit. Jetzt galt es nur noch, dafür zu sorgen, dass ihr Onkel zur selben Zeit im Kinderheim erschien. Er hatte zwar geplant, seine Nichte erst am Sonntag zu besuchen, doch daran ließ sich bestimmt etwas ändern. Jessica nahm sich vor, ihren Onkel am nächsten Tag anzurufen und ihm zu sagen, dass sie für den Sonntag einen Ausflug mit den anderen Kindern geplant hatte. Mit Sicherheit würde er sich überreden lassen, einen Tag früher zu kommen. Es würde unvermeidlich sein, dass er bei dieser Gelegenheit auf Ramona traf. Vielleicht würde er sich auf Anhieb in sie verlieben. Ramona selbst würde Onkel Arnold auch sympathisch finden. Schließlich sah er blendend aus und war ein angenehmer Typ. Jessicas Phantasie wurde regelrecht beflügelt. Sie sah schon das Bild vor sich, wie ihr Onkel Ramona Irenius auf einem Blütenmeer entlangschreitend durch den breiten Mittelgang der Kirche zum Traualtar führte. Zahlreiche Hochzeitsgäste verfolgten das junge Paar mit wohlwollenden Blicken. Auch die Kinder von Sophienlust gehörten zu den Gästen. Nur Vera Johann war nicht anwesend. Für sie gab es in Jessicas Phantasie keinen Platz. Bis vor kurzer Zeit hatte das Mädchen keinen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, irgendwann eine Art Stiefmutter zu bekommen. Jetzt sah Jessica darin sogar etwas Gutes und Positives. Mit Ramona würde sie sich immer gut verstehen. Ihr Plan musste einfach funktionieren. Mit dem Gedanken, ihre Zukunft selbst beeinflussen und sie in eine glückliche Richtung lenken zu können, schlief Jessica ein.

*

Der erste Schritt war gelungen. Arnold hatte nichts dagegen, seine Nichte einen Tag früher als geplant zu besuchen. Jessica hatte mit den Kindern gesprochen und ihnen erklärt, was sie vorhatte. Ihr Plan war auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Die Kinder kannten Vera Johann zwar nicht, waren nach Jessicas Schilderung jedoch überzeugt, dass Ramona eine weitaus bessere Stiefmutter abgeben würde als Vera.

Am Samstag blieben alle Kinder in Sophienlust. Sie wollten persönlich erleben, ob Arnold Oldenbrink sich tatsächlich mit Ramona Irenius anfreundete.

»Sie müssten eigentlich bald kommen«, stellte Pünktchen mit einem Blick zur Uhr fest. »Ich bin schon richtig aufgeregt.«

Wie Pünktchen erging es auch allen anderen Bewohnern von Sophienlust. Sogar Nick hatte es sich nicht nehmen lassen, diesen Tag im Kinderheim zu verbringen.

»Ich drücke dir sämtliche Daumen, Jessica«, versicherte er. »Aber du musst auch damit rechnen, dass dein Plan nicht aufgeht. Es kann zwar sein, dass dein Onkel Frau Irenius ganz nett findet, in ihr aber eine völlig fremde Frau sieht, zu der er sich nicht besonders hingezogen fühlt. Auf jeden Fall solltest du den beiden Gelegenheit geben, zwischendurch auch einmal allein miteinander zu sein. Dann kommen sie zwangsläufig ins Gespräch.«

»Mir ist schon klar, dass ich sie nicht zu sehr stören darf«, erwiderte Jessica. »Es gibt eine Menge Kleinigkeiten, die ich zwischendurch dringend erledigen muss. Außerdem muss ich auch mit Felix spielen und darauf achten, dass er sich mit Barri und Anglos verträgt. Mein Onkel wird genug Zeit haben, sich ungestört mit Ramona zu unterhalten. Darauf kannst du dich verlassen.«

Jessicas Herz schlug höher, als sie schließlich Ramonas Wagen erblickte. Die junge Frau nahm das Mädchen in den Arm und begrüßte auch die anderen Kinder. Felix streifte in der Gegend herum und hatte sich schon bald mit Barri und Anglos angefreundet. Allerdings kam er von Zeit zu Zeit immer wieder zu Ramona zurück. Offensichtlich fürchtete er, seine heißgeliebte neue Besitzerin wieder verlieren zu können.

»Da kommt mein Onkel«, teilte Jessica Ramona mit und wies auf das Fahrzeug, das sich näherte. »Komm mit, wir werden ihn begrüßen.«

Während Jessica die beiden einander vorstellte, warf sie einen kurzen Blick hinüber zur Freitreppe. Dort hatten die Kinder sich wie zufällig versammelt. Die kleine Heidi hob beide Fäuste, in die sie ihre Daumen fest eingeklemmt hatte, und Pünktchen zwinkerte der Zwölfjährigen aufmunternd zu.

»Kommt ihr mit in den Wintergarten?«, fragte Jessica. »Ich habe für Habakuk einen neuen Kletterbaum gebaut. Den möchte ich euch zeigen. Tante Isi hat mich gelobt und gesagt, das Bauwerk sei mir gut gelungen. Habakuk hat jedenfalls großen Spaß daran.«

Im Wintergarten angekommen, fiel Jessica plötzlich ein, dass sie ganz dringend noch rasch etwas mit Pünktchen zu besprechen hatte. Sie entschuldigte sich und verließ den Raum mit dem Versprechen, bald wieder zu erscheinen. Ein wenig unsicher saßen sich Ramona und Arnold gegenüber.

»Ihre Nichte ist ein reizendes Mädchen«, bemerkte Ramona schließlich. »Als wir zusammen einkaufen waren, hat sie mir von dem tragischen Tod ihrer Eltern erzählt. Aber sie sagte auch, dass Sie sie bei sich aufgenommen hätten. Wieso wohnt sie jetzt in diesem Kinderheim?«

»Wir haben ein paar Meinungsverschiedenheiten«, erwiderte Arnold. »Jessica ist mit meiner Freundin nicht einverstanden. Sie versteht sich einfach nicht mit ihr.«

Arnold wusste selbst nicht, warum er Vera, die Frau, die er demnächst heiraten wollte, lediglich als Freundin bezeichnete. »Jessica und Vera sind wie Feuer und Wasser. Jedenfalls hat meine Nichte es vorgezogen, vorläufig in Sophienlust zu wohnen. Das ist ihr eigener Wunsch gewesen. Ich habe ihn akzeptiert und hoffe, dass sie von den Problemen bald Abstand gewinnt und nach Hause zurückkehrt. Der Umgang mit Kindern ist manchmal nicht einfach. Wahrscheinlich haben Sie diesbezüglich selbst hinreichend Erfahrungen gesammelt.«

»Dazu hatte ich bisher leider keine Gelegenheit. Meine Ehe ist kinderlos geblieben und wurde geschieden, bevor sich Nachwuchs einstellte. Ich bin nur zwei Jahre verheiratet gewesen.«

»Das tut mir leid. Eine Scheidung muss ein schreckliches Erlebnis sein. Ich kann mir vorstellen, dass sie mit großen Enttäuschungen verbunden ist.«

Ramona lächelte bitter. »Die Enttäuschungen haben sich schon lange vor der Scheidung eingestellt. Als ich erfuhr, dass mein Mann mit einer Freundin in den Urlaub gefahren war und sich nicht auf einer Messe befand, wie er mir gesagt hatte, bin ich enttäuscht und gedemütigt gewesen. Niedergeschlagen fühlte ich mich auch, als er mir später erklärte, dass ich mich mit solchen Liebschaften abfinden müsse. Die Scheidung selbst ist dann nur noch eine reine Formsache gewesen.«

»Die Einstellung mancher Ehemänner ist wirklich unglaublich«, stellte Arnold kopfschüttelnd fest. »Es muss eine schlimme Zeit für Sie gewesen sein. Vielleicht ist es gut, dass Sie noch keine Kinder hatten. Sie leiden nämlich am meisten, wenn die Ehe ihrer Eltern zerbricht.«

»Ich weiß. Deshalb bin ich in gewisser Weise auch froh, dass meine kurze Ehe kinderlos geblieben ist. Trotzdem fühle ich mich zu Kindern hingezogen, ganz besonders zu Ihrer Nichte. Hoffentlich sind Sie überhaupt damit einverstanden, dass ich Jessica hier in Sophienlust besuche.«

Ramonas dunkle Augen ruhten fragend auf Arnolds Gesicht. Sie fürchtete offensichtlich, dass er sie bitten könnte, in Zukunft nicht mehr nach Sophienlust zu kommen. Dieser Blick, der eine Mischung aus kindlicher Unsicherheit, stummer Bitte und Hoffnung enthielt, beeindruckte Arnold. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Ramona eine Frau von natürlicher Schönheit war. Nichts an ihr wirkte gekünstelt, und sie strahlte Güte und Wärme aus. Insgeheim verglich er diese junge Frau mit Vera, der tüchtigen Geschäftsfrau, die immer geschmackvoll nach der aktuellen Mode gekleidet war, äußerst gepflegt wirkte und trotzdem einen etwas oberflächlichen Eindruck machte.

»Ich habe nichts dagegen, dass Sie Jessica besuchen. Sie brauchen sich deswegen keine Gedanken zu machen.«

Jessica erschien wieder im Wintergarten und nahm erfreut zur Kenntnis, dass ihr Onkel sich mit Ramona angeregt unterhielt. Das war in ihren Augen der erste Schritt in die richtige Richtung.

»Palma braucht einen neuen Sattelgurt«, teilte Jessica ihrem Onkel mit. »An dem alten sind schon zwei Strippen gerissen. Das kann gefährlich werden. Wenn der Gurt irgendwann unterwegs ganz reißt, lande ich im hohen Bogen im Graben. Heute ist langer Samstag. Können wir nicht zusammen nach Maibach fahren und einen neuen Gurt besorgen?«

»Na ja, wenn es nötig ist, bin ich einverstanden«, meinte Arnold. »Aber ich weiß nicht, ob Frau Irenius Zeit und Lust hat, uns zu begleiten.«

»Das trifft sich eigentlich ganz gut«, erklärte Ramona. »Ich muss für Darius sowieso einen neuen Nasenriemen kaufen. Das könnte ich bei dieser Gelegenheit erledigen.«

»Prima, dann fahren wir zusammen mit unserem Auto«, entschied Jessica. »Mit einem Wagen findet man in der Innenstadt leichter einen Parkplatz als mit zwei.«

Diesem Argument konnte sich weder Arnold noch Ramona entziehen. So rollte Arnolds Wagen eine halbe Stunde später auf den Parkplatz des Maibacher Marktes. Jessica stieg aus und lief schon voraus zu dem Fachgeschäft, das sich auf Reitbekleidung und Reitsportzubehör spezialisiert hatte. Arnold und Ramona folgten dem Mädchen in gemäßigtem Tempo.

»Manchmal ist Jessicas Temperament einfach nicht zu zügeln«, meinte Arnold entschuldigend.

»Das macht doch nichts«, erwiderte Ramona. »Gerade dieses erfrischende Naturell ist es, was ich an Ihrer Nichte so sehr mag. Sie liebt das Leben und verbreitet überall Frohsinn. Wenn ich eine Tochter hätte, dann müsste sie so sein wie Jessica. Sie können auf Ihre Nichte wirklich stolz sein, Herr Oldenbrink.«

»Das bin ich auch. In den letzten Jahren habe ich beinahe vergessen, dass sie nicht meine Tochter, sondern nur meine Nichte ist. Jessica ist mir sehr ans Herz gewachsen. Ein Leben ohne sie könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen. Kommen Sie, wir wollen den kleinen Wirbelwind nicht warten lassen.«

Es geschah ganz von selber, dass Arnold sich bei Ramona einhakte. Beide beschleunigten ihre Schritte und gingen auf das Reitsportgeschäft zu. Sie merkten nicht, dass sie beobachtet und von den Blicken einer jungen Frau verfolgt wurden, die am Tisch eines Straßencafés saß. Diese junge Dame zog nachdenklich die Stirn kraus.

»Sieh mal einer an«, murmelte sie. »Das ist ja hochinteressant und wird Vera sicher beeindrucken.«

Inge Korbach, so hieß die junge Frau, trank ihren Kaffee aus und verließ das Straßencafé. Sie hatte jetzt eine wichtige Aufgabe zu erledigen.

*

Der Anruf ihrer Freundin Inge und deren Bitte, sofort zu ihr in den Schönheitssalon zu kommen, hatte äußerst dringend geklungen. Vera machte sich deshalb sofort auf den Weg. Sie benutzte den Nebeneingang, wie sie es immer tat, wenn es sich um einen Privatbesuch handelte, ging an den Sonnenbänken vorbei und betrat das stilvoll eingerichtete Zimmer, in das Inge sich während ihrer Pausen zurückzuziehen pflegte. Da die beiden Angestellten sich um die Kundinnen kümmerten, hatte Inge Zeit und erwartete ihre Freundin bereits.

»Hallo, Inge«, grüßte Vera. »Dein Anruf hat nach Alarmstufe eins geklungen. Was ist denn passiert? Brauchst du meine Hilfe?«

»Nein, bei mir ist alles in bester Ordnung. Es geht vielmehr um dich. Du musst nämlich vorsichtig sein. Weißt du, wo Arnold sich im Moment aufhält?«

»Ja, allerdings. Er ist bei Jessica in Sophienlust. Weißt du, er hält es für wichtig, regelmäßig Kontakt zu seiner Nichte zu halten. Ich finde das übertrieben. Das Mädchen kommt irgendwann von ganz allein zur Vernunft. Deshalb begleite ich Arnold auch nicht. Ich will mich nicht von einem zwölf Jahre alten Trotzkopf zum Narren machen lassen. Wenn Arnold das Spaß macht, kann ich ihn leider nicht hindern. Er muss selbst wissen, was er tut.«

»Offensichtlich weiß er das sehr genau. Vera, wir sind gute Freundinnen und hatten nie Geheimnisse voreinander. Deshalb will ich dir auch jetzt die Wahrheit sagen und dich nicht im Ungewissen lassen. Ich habe eine Beobachtung gemacht, die dich schockieren wird. Aber noch ist es sicher nicht zu spät, die Situation zu retten. Arnold ist nicht in Sophienlust. Ich habe ihn vorhin drüben am Marktplatz gesehen. Allerdings war er nicht allein, sondern in Begleitung einer jungen Frau. Arm in Arm sind die beiden die Straße entlanggewandert. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich schon lange kennen.«

»Arnold mit einer anderen Frau?«, fragte Vera erstaunt. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Du musst dich geirrt haben. Es kann sich nur um eine Verwechslung handeln.«

»Unsinn, ich kenne Arnold doch, und er ist nur ein paar Meter entfernt an mir vorbeigegangen. Glaube mir, es ist so, wie ich gesagt habe. Du musst herausbekommen, wer diese Frau ist und was Arnold mit ihr zu tun hat.«

»Das werde ich. Darauf kannst du dich verlassen«, versprach Vera und spürte, wie die Eifersucht von ihr Besitz ergriff. Heute Abend bin ich sowieso bei ihm. Dann wird er mir erklären müssen, mit wem er durch Maibach gewandert ist. Ich danke dir, dass du mir von deiner Beobachtung berichtet hast.«

Während der nächsten Stunden musste Vera ständig an Arnold und die geheimnisvolle Frau denken. An eine harmlose Erklärung konnte sie nicht glauben. Da war jemand, der ihre Ehe in Gefahr bringen konnte. Das durfte sie nicht zulassen. Vera hatte ihr ganzes Denken und Handeln schon auf eine gemeinsame Zukunft mit Arnold ausgerichtet. Diese Verbindung würde ihr ein sorgloses Leben bescheren und sie zur Mitinhaberin eines angesehenen, großen Betriebes machen. Durch die Zusammenlegung der Unternehmen würde sie gewaltig an Ansehen als Geschäftsfrau gewinnen. Diese Chance wollte sie sich unter keinen Umständen zerstören lassen. Es war schon schlimm genug, dass Jessica sich als Quertreiberin hervortat. Eine Konkurrentin konnte Vera nicht auch noch gebrauchen. Niemand durfte sie daran hindern, Arnold Oldenbrinks Frau zu werden. Was es mit jener jungen Dame auf sich hatte, würde Arnold ihr genau erklären müssen.

*

»Na, wie war es?«, wollten die Kinder von Jessica wissen, als das Mädchen wieder in Sophienlust war und Ramona und Arnold das Kinderheim verlassen hatten. »Sind die beiden sich schon ein Stückchen nähergekommen?«

»Ich glaube schon. Es sah jedenfalls ganz so aus, als würden sie sich gut verstehen. Als sie in Maibach in das Reitsportgeschäft kamen, gingen sie Arm in Arm.«

»Haben sie sich auch geküsst?«, wollte die kleine Heidi wissen und schaute Jessica erwartungsvoll an.