Asisas dunkle Welt - Ursula Hellwig - E-Book

Asisas dunkle Welt E-Book

Ursula Hellwig

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Erwartungsvoll saß Sissi neben dem Küchentisch und schaute Brigitte Rothe mit sehnsuchtsvollem Blick an. Die junge Frau schnitt ein kleines Stück von dem noch rohen Schnitzel ab, das sie gerade für ihr Mittagessen vorbereitete und hielt es der Katze hin. »Hier, du kleiner Bettler. Das ist für dich. Nun mußt du aber auch Ruhe geben.« Tatsächlich war die grau­schwarz getigerte Katze mit dem Leckerbissen zufrieden. Mit einem geschmeidigen Satz sprang sie auf die Fensterbank und sah nach draußen. Gerade als Brigitte Rothe das Schnitzel in die Pfanne legen wollte, klingelte es an der Haustür. Sie öffnete und stand dem Briefträger gegenüber. »Guten Tag, Frau Rothe«, sagte er. »Ich habe heute einen ganzen Stapel Post für Sie.« Er reichte ihr mehrere Briefumschläge. Die Frau bedankte sich und nahm die Post mit in die Küche. Zwischen Reklameschreiben befand sich auch ein Brief aus Ägypten. Endlich hat Norbert wieder geschrieben, dachte sie und öffnete den Umschlag. An der Handschrift erkannte sie, daß dieser Brief nicht von ihrem Bruder Norbert stammte. Sie setzte sich auf die Eckbank und las. »Sehr geehrte Frau Rothe. Zweifellos werden Sie verwundert darüber sein, von mir diese Zeilen zu erhalten.

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Sophienlust Bestseller – 47 –

Asisas dunkle Welt

Findet sie in Sophienlust ihre Lebensfreude wieder?

Ursula Hellwig

Erwartungsvoll saß Sissi neben dem Küchentisch und schaute Brigitte Rothe mit sehnsuchtsvollem Blick an. Die junge Frau schnitt ein kleines Stück von dem noch rohen Schnitzel ab, das sie gerade für ihr Mittagessen vorbereitete und hielt es der Katze hin.

»Hier, du kleiner Bettler. Das ist für dich. Nun mußt du aber auch Ruhe geben.«

Tatsächlich war die grau­schwarz getigerte Katze mit dem Leckerbissen zufrieden. Mit einem geschmeidigen Satz sprang sie auf die Fensterbank und sah nach draußen.

Gerade als Brigitte Rothe das Schnitzel in die Pfanne legen wollte, klingelte es an der Haustür. Sie öffnete und stand dem Briefträger gegenüber.

»Guten Tag, Frau Rothe«, sagte er. »Ich habe heute einen ganzen Stapel Post für Sie.« Er reichte ihr mehrere Briefumschläge.

Die Frau bedankte sich und nahm die Post mit in die Küche. Zwischen Reklameschreiben befand sich auch ein Brief aus Ägypten. Endlich hat Norbert wieder geschrieben, dachte sie und öffnete den Umschlag. An der Handschrift erkannte sie, daß dieser Brief nicht von ihrem Bruder Norbert stammte. Sie setzte sich auf die Eckbank und las.

»Sehr geehrte Frau Rothe. Zweifellos werden Sie verwundert darüber sein, von mir diese Zeilen zu erhalten. Es fällt mir auch nicht leicht, mich an Sie zu wenden. Aber in den nächsten Tagen werden Sie ohnehin von den hiesigen Behörden benachrichtigt werden. Ihr Bruder ist letzten Freitag mit einem Privatflugzeug abgestürzt. Keiner der vier Insassen hat das Unglück überlebt. Es tut mir leid, daß ich Ihnen eine solch erschütternde Mitteilung machen muß.

Der Grund, aus dem ich mich an Sie wende, ist die kleine Tochter Ihres Bruders. Asisa kam unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters in das Waisenhaus, in dem ich zur Zeit arbeite. Ich stamme aus München und bin für die Dauer von zwei Jahren in diesem Waisenhaus in Kairo beschäftigt.

Asia spricht Deutsch, so daß es zwischen uns keine Verständigungsschwierigkeiten gibt. Im Moment ist das Mädchen noch sehr niedergeschlagen. Es muß das Unglück erst verkraften. Da Asisas Mutter schon vor acht Jahren an einem Gehirntumor gestorben ist, steht das Kind nun ganz allein in der Welt. Es hat keine Verwandten in dieser Stadt. Lediglich ein Vetter ihrer Mutter existiert noch. Er ist Bauer und lebt ziemlich weit entfernt in einem Fellachendorf. Vermutlich würde er Asisa bei sich aufnehmen, aber das wäre keine gute Lösung. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Asisa ist seit einigen Jahren blind. Sie hätte in dem Dorf keine Zukunft und könnte auch nicht gefördert werden. Dabei ist sie ein überaus intelligentes Kind.

Ich bitte Sie, sich um Ihre Nichte zu kümmern, falls Ihnen das möglich ist. Vielleicht könnten Sie sie sogar nach Deutschland holen. Dort gibt es bessere Ausbildungsmöglichkeiten.

Kairo ist zwar eine moderne Stadt, aber es gibt hier niemanden, der sich des Kindes annimmt, und ein Leben im Waisenhaus ist ein sehr dürftiger Ersatz für die Geborgenheit, die eine Familie bietet. Bitte denken Sie darüber nach und informieren Sie mich recht bald über Ihre Pläne. Ich warte auf Ihre Antwort. Mit den besten Grüßen, Ihre Marion Walter.«

Brigitte Rothe ließ den Brief sinken. Ihr Bruder Norbert war tot. Sie konnte es nicht fassen. Er war doch noch so jung gewesen, gerade vierzig, nur acht Jahre älter als sie. In Gedanken ließ sie die letzten fünfzehn Jahre an sich vorbeiziehen. Damals war Norbert als junger Ingenieur nach Ägypten gegangen. Er wollte eigentlich nur ein Jahr dort bleiben, um berufliche Erfahrungen zu sammeln. Doch dann lernte er die Ägypterin Subaida Ali Maher kennen und heiratete sie.

Vor zehn Jahren wurde Asisa geboren. Das Glück der jungen Familie schien damit vollkommen zu sein. Aber das Schicksal wollte es anders.

Ein Jahr nach der Geburt des kleinen Mädchens wurde Subeida krank. Zunächst handelte es sich nur um Kopfschmerzen und Sehstörungen. Bald jedoch stellte sich heraus, daß ein bösartiger Gehirntumor der Grund für die Beschwerden war. Norberts Frau wurde operiert, aber es bildeten sich Tochtergeschwüre, denen auch die modernste Medizin nicht mehr gewachsen war. Subaida starb und ließ ihren Mann und die knapp zwei Jahre alte Tochter allein zurück.

Als Asisa vier Jahre alt war, reiste Norbert mit ihr nach Deutschland und blieb drei Wochen bei seiner Schwester und deren Mann. Es war ein herrlicher Urlaub gewesen. Brigitte erinnerte sich gern an das Mädchen, das so anhänglich und lieb war.

In den folgenden Jahren hatte Norbert regelmäßig geschrieben. Er hatte von gemeinsamen Erlebnissen mit seiner Tochter berichtet, jedoch nie erwähnt, daß Asisa erblindet war.

Nun war er tot, und seine Tochter hatte außer ihrer Tante keine Angehörigen mehr, abgesehen von dem Vetter der Mutter. Das Mädchen stand allein einem ungewissen Schicksal gegenüber.

Der Appetit auf das Mittagessen war Brigitte Rothe gründlich vergangen. Sie stellte das Schnitzel zurück in den Kühlschrank und las noch einmal den Brief, den Marion Walter ihr geschrieben hatte. Sie mußte diesen Brief beantworten. Aber was sollte sie schreiben? Natürlich sah sie es als ihre Aufgabe an, sich um Asisa in irgendeiner Weise zu kümmern. Das war sie Norbert schuldig. Sie wußte jedoch nicht, wie sie dem Kind helfen konnte.

Brigitte saß noch lange Zeit in der Küche und dachte nach. Sie entschloß sich, mit ihrem Mann Klaus über das Problem zu sprechen, sobald er nach Hause kam. Gemeinsam würden sie gewiß eine Lösung finden.

Pünktlich wie immer traf Klaus Rothe kurz vor sieben Uhr zu Hause ein. Seine Frau berichtete ihm in kurzen Worten von den Geschehnissen und gab ihm den Brief.

»Du liebe Zeit, Brigitte. Du hättest mich gleich im Geschäft anrufen sollen. Ich wäre sofort gekommen. Frau Seiler kommt mit dem Laden auch ein paar Stunden ohne mich zurecht. Sie kennt sich aus. Was machen wir denn jetzt?«

»Ich habe auch schon hin und her überlegt«, antwortete Brigitte. »Am liebsten würde ich Asisa umgehend zu uns holen. Sie ist noch so jung und wird sich rasch umstellen können. Unser Haus ist groß genug für uns alle. Wir haben uns doch sowieso immer Kinder gewünscht. Ich habe ohnehin darunter gelitten, daß ich kein Baby bekommen kann. Es wäre die beste Lösung, wenn Asisa bei uns aufwachsen könnte.«

Klaus wiegte nachdenklich den Kopf. »Aber sie ist blind. Das dürfen wir nicht vergessen. Glaubst du, daß wir damit fertigwerden? Es wird bestimmt nicht einfach sein.«

»Wir werden lernen müssen, mit dieser Behinderung umzugehen. Ich habe zwar keine Erfahrung, aber Asisa soll die besten Chancen bekommen, ein annähernd normales Leben zu führen. Sie ist unsere Nichte. Wir sind verpflichtet, uns um sie zu kümmern. Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn wir sie einfach ihrem Schicksal überließen.«

»Ja, du hast recht«, entgegnete Klaus. »Ich werde mich erkundigen, wann und von welchem Flughafen aus wir nach Kairo fliegen können. Sobald der Termin feststeht, schicken wir Frau Walter ein Telegramm. Vielleicht kann sie uns am Flughafen abholen.«

Brigitte Rothe umarmte ihren Mann. Sie hatte gehofft, daß er so reagieren würde, aber sie war sich nicht sicher gewesen. Er nahm ihre Hände in seine und meinte: »Ich möchte deine Freude nicht trüben. Aber du solltest dir keine verfrühten Hoffnungen machen. Es ist nicht gesagt, daß wir Asisa sofort mitnehmen können. Ich weiß nicht einmal, ob wir sie überhaupt nach Deutschland holen dürfen. Wir müssen uns an Ort und Stelle genau erkundigen, welche Möglichkeiten es eigentlich gibt.«

Brigitte sah ein, daß sie sich nicht in ihre Hoffnung hineinsteigern durfte. Schließlich lebte ihre Nichte in einem fremden Land mit ganz anderen Gesetzen. Sie kannte sich mit den dort geltenden Bestimmungen nicht aus. Ihr Bruder Norbert hatte von diesen Dingen in seinen Briefen nie etwas geschrieben.

»Wir werden Schwierigkeiten mit der Verständigung haben«, meinte Brigitte Rothe. »Glaubst du, daß wir mit englisch oder den paar Sätzen französisch zurechtkommen werden?«

»Das ist sicher nicht so problematisch. Frau Walter ist Deutsche. Mit ihr werden wir zuerst sprechen. Vielleicht kann sie uns auch bei den Verhandlungen mit den Behörden helfen. Wenn nicht, dann suchen wir uns einen Dolmetscher.«

Brigitte fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Immer wieder mußte sie an ihren Bruder denken, den der Tod mitten aus dem Leben gerissen hatte. Sie hatte ihn zwar seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen, aber die Verbindung zu ihm war durch den regelmäßigen Briefkontakt nie abgerissen. Warum hatte er nie davon berichtet, daß seine Tochter erblindet war? Wie war es überhaupt zu dieser Erblindung gekommen? Sie fragte sich, ob sie fähig sein würde, ein Kind, das nicht sehen konnte, richtig zu erziehen. Ohne Zweifel brauchte Asisa besonders viel Liebe und Verständnis. Aber das allein genügte nicht. Das Mädchen mußte nach seinen Fähigkeiten optimal gefördert werden. Ob und wie das möglich war, wußte Brigitte nicht. Sie nahm sich vor, mit ihrem Augenarzt über dieses Problem zu sprechen. Vermutlich konnte er ihr wichtige Ratschläge und Hinweise geben, wie man Asisa helfen konnte.

*

Fünf Tage nach der Nachricht von Norbert Löbers Tod trafen Klaus und Brigitte Rothe auf dem Flughafen in Kairo ein. Klaus hatte seine Angestellte, Frau Seiler, gebeten, das Antiquitätengeschäft für ein paar Tage allein zu führen. Frau Seiler war seit mehr als sieben Jahren bei Klaus Rothe beschäftigt und kannte sich mit dem täglichen Arbeitsablauf gut aus. Er brauchte sich diesbezüglich also keine Sorgen zu machen.

Brigitte hatte ein Telegramm mit der genauen Ankunftszeit an Marion Walter aufgegeben. Ein Brief hätte sein Ziel in dieser kurzen Zeit nicht mehr erreicht.

Nun stand das Ehepaar an der Gepäckausgabe und wartete auf die Koffer. Aus dem Lautsprecher kam eine Durchsage in englischer Sprache. Die Stimme bat Herrn und Frau Rothe zum Schalter der Fluggesellschaft.

»Wahrscheinlich werden wir tatsächlich abgeholt«, meinte Brigitte erleichtert. Nachdem die beiden Leute ihr Gepäck in Empfang genommen und die Zollkontrolle passiert hatten, suchten sie den angegebenen Schalter auf.

Eine junge Frau mit schulterlangen kastanienbraunen Haaren kam ihnen ein paar Schritte entgegen. »Sind Sie Familie Rothe?« fragte sie. Als Klaus nickte, fuhr sie fort. »Mein Name ist Marion Walter. Ich bin gekommen, um Sie abzuholen. Das Waisenhaus, in dem Ihre Nichte sich befindet, liegt in Heluan. Es ist gewissermaßen ein Vorort von Kairo. Ich habe dort auch ein Hotelzimmer für Sie reservieren lassen. Das ist Ihnen doch recht?«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Frau Walter«, erwiderte Brigitte.

»Ich bin froh, daß Sie zum Flughafen gekommen sind. Allein hätten wir uns in diesem fremden Land gar nicht zurechtgefunden.«

»Kommen Sie bitte, mein Wagen steht draußen. Wir können uns unterwegs über alles unterhalten. Am besten bringe ich Sie zunächst in das Hotel, damit Sie Ihr Gepäck erst einmal unterbringen und sich von der langen Reise ein wenig ausruhen können.«

Klaus und Brigitte folgten der jungen Frau und stiegen in einen roten Wagen. Sie fuhren auf einer breiten Straße, die an modernen weißen Hochhäusern vorbeiführte.

»Ich möchte Ihnen beiden zum Tod von Herrn Norbert Löber mein Beileid aussprechen«, sagte Marion Walter. »Es war ein schreckliches Unglück auf dem Flug von Kairo nach Luxor. Soviel ich weiß, war Herr Löber beruflich unterwegs. Ein Motor soll in Brand geraten sein und zu dem Absturz geführt haben.«

»Wie hat Asisa es aufgenommen?« wollte Brigitte wissen. »Für sie muß es doch ein furchtbarer Schlag gewesen sein.«

»Das war es auch«, bestätigte Frau Walter. »Sie hat zwei Tage lang nur stumm dagesessen. Erst dann konnte sie sich richtig ausweinen. Ich habe ihr erzählt, daß Sie kommen. Sie knüpft große Hoffnungen an Ihren Besuch. In dem Waisenhaus wird alles für die Kinder getan, was möglich ist, aber Asisa fühlt sich dort nicht wohl.«

»Wir möchten das Kind gern zu uns nehmen«, sagte Klaus. »Ich hoffe, daß uns das erlaubt wird.«

»Es wird eine Menge Papierkrieg geben, Herr Rothe. Aber Asisa hat ja sonst keine Angehörigen, die ihr eine vernünftige Zukunft bieten könnten. Ich glaube nicht, daß man Ihnen das Kind verweigern wird.«

Inzwischen waren sie vor dem Hotel angekommen. Frau Walter lenkte den Wagen auf einen kleinen Parkplatz.

»Das ist das Hotel Sikah, in dem Sie wohnen werden. Ich hoffe, daß Sie mit meiner Wahl zufrieden sind. Es ist ein sehr gemütliches Haus.«

Marion Walter begleitete das Ehepaar in das Hotel und half ihnen bei der Anmeldung.

»Wann werden wir zu Asisa fahren?« fragte Brigitte. »Ich möchte sie so gern sehen und mit ihr sprechen. Ich hoffe nur, daß sie mich nicht ablehnt. Sie kennt uns ja eigentlich gar nicht. An den Urlaub, den sie mit ihrem Vater bei uns verbracht hat, kann sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern. Sie war damals gerade erst vier Jahre alt.«

»Mache dir keine Sorgen«, beruhigte Klaus Rothe seine Frau. »Asisa ist schon groß. Sie wird verstehen, daß wir für sie nur das Beste wollen.«

Marion Walter stimmte ihm zu. »Ihre Nichte freut sich schon auf Ihren Besuch. Dieses Mädchen ist anders als andere Kinder in ihrem Alter. Durch ihre Behinderung ist sie wesentlich reifer und verständiger. Ich schlage vor, daß Sie in Ruhe ihre Sachen auspacken und sich eine kleine Erholungspause gönnen. Ich habe ganz in der Nähe noch etwas zu tun. In einer Stunde hole ich Sie hier ab, dann fahren wir gemeinsam zum Waisenhaus.«

Klaus und Brigitte stimmten diesem Vorschlag zu. Die Reise war wirklich anstrengend gewesen. Sie konnten eine Pause gut gebrauchen.

Nachdem Marion Walter sich verabschiedet hatte, begann Brigitte, die Koffer auszupacken. Vor der Abreise hatte sie für ihre Nichte eine Spieluhr besorgt, die sie dem Mädchen als Willkommensgeschenk überreichen wollte.

»Hoffentlich gefällt Asisa unser Geschenk«, meinte sie nachdenklich. »Ich weiß ja gar nicht, welche Interessen sie hat.«

»Du machst dir unnötige Gedanken«, entgegnete ihr Mann. »Frau Walter hat doch gesagt, daß Asisa sich auf uns freut. Dann wird sie sich auch über das Geschenk freuen, ganz egal, was es ist. Außerdem ist diese Spieluhr wirklich hübsch und hat einen sehr schönen Klang.«

Zwei Stunden später standen Klaus und Brigitte der kleinen Asisa gegenüber. Der Heimleiter hatte das Ehepaar in sein Büro gebeten. Marion Walter war ebenfalls anwesend und übernahm die Rolle der Dolmetscherin.

Asisa wurde von einer Kinderschwester in den Raum geführt. Dort nahm Frau Walter das Mädchen an die Hand.

»Asisa, dein Onkel und deine Tante sind aus Deutschland angekommen. Sie möchten dich begrüßen.«

Brigitte war aufgestanden und nahm Asisas Hand in die ihre. Sie hatte sich vorher genau zurechtgelegt, was sie dem Kind zur Begrüßung sagen wollte, aber nun brachte sie einfach keinen Ton heraus. Stumm betrachtete sie die schmale Gestalt mit dem langen schwarzen Haar und den so seltsam aussehenden dunklen Augen. Asisa spürte die Unsicherheit ihrer Tante und sagte: »Ich bin froh, daß ihr gekommen seid. Ich hatte Angst, daß ich euch gleichgültig sein könnte. Mein Vater hat mir oft von euch erzählt und gesagt, daß ihr nett sein. Werdet ihr mich mit nach Deutschland nehmen?«

»Wir wollen dich gern mitnehmen, mein kleines Mädchen. Aber wir müssen uns zuerst erkundigen, ob das auch erlaubt ist.«

Klaus trat nun auch auf seine Nichte zu. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern und fühlte sich ausgesprochen hilflos.

»Wir werden uns bei den Behörden erkundigen«, sagte er. »Wenn alles klappt, kannst du schon in ein paar Tagen mit uns zusammen abreisen.«

Asisa tastete nach dem Arm des Mannes. »Du mußt mein Onkel Klaus sein«, sagte sie. »Von dir hat Vater mir auch viel berichtet. Er hat gesagt, daß du ein Geschäft hast, mit Anti…?« Sie wußte das richtige Wort nicht mehr und half sich selbst weiter. »Naja, mit lauter alten Sachen.«

Brigitte lachte herzlich auf. »Antiquitäten nennt man diese alten Sachen. Aber du hast recht, es ist ein schwieriges Wort. Ich bin sowieso erstaunt darüber, daß du so gut deutsch sprichst.«

»Darüber mußt du dich nicht wundern. Mein Vater und ich haben nur deutsch miteinander gesprochen. Arabisch habe ich natürlich auch gelernt, aber deutsch kann ich besser. Das ist auch gut so. Sonst könnte ich euch jetzt überhaupt nicht verstehen. Oder sprecht ihr auch arabisch?«

Brigitte schüttelte lächelnd den Kopf. Dann fiel ihr ein, daß Asisa diese Geste nicht sehen konnte.

»Nein, mein Schatz, wir können nicht ein einziges Wort arabisch. Es ist wirklich ein Glück, daß du unsere Sprache sprichst.«

»Wenn ihr wollt, dann bringe ich euch ein bißchen arabisch bei. Alle Leute denken immer, daß das so schwer sei, aber das stimmt gar nicht.«

Klaus und Brigitte Rothe fanden das kleine Mädchen reizend. Sie bereuten nicht, daß sie sich dazu entschlossen hatten, Asisa zu besuchen und sie möglichst bald mit nach Hause zu nehmen. Sie machten sich auch keine falschen Hoffnungen. Ohne jeden Zweifel würde das Zusammenleben mit einem blinden Kind Probleme mit sich bringen. Aber gemeinsam würden sie es schon schaffen.

Von dem Heimleiter und Marion Walter erfuhren sie, daß Asisa einen Privatlehrer gehabt hatte, der sie in allen notwendigen Fächern und in Blindenschrift unterrichtet hatte.

Die Sozialarbeiterin erklärte sich sofort bereit, Klaus und Brigitte zu den zuständigen Behörden zu begleiten und ihr Anliegen dort zu unterstützen. Das Waisenhaus war ohnehin bis auf den letzten Platz belegt. Es war allein daher schon kaum vorstellbar, daß man den Rothes ihren Wunsch verweigerte. Eine vorläufige Pflegeerlaubnis würden sie bestimmt bekommen.

Der Leiter des Kairoer Waisenhauses erwies sich als überaus freundlich und hilfsbereit, obwohl er sich mit dem Ehepaar Rothe nicht verständigen konnte. Marion Walter sprang immer wieder als Übersetzerin ein. Sie wurde für die nächsten Tage von ihrem Dienst befreit, um Klaus und Brigitte bei der Erledigung der Formalitäten behilflich sein zu können. Brigitte wunderte sich über die guten Sprachkenntnisse der jungen Frau.

»Sie haben die Landessprache erstaunlich schnell gelernt«, meinte sie. »Wie lange sind Sie schon in Kairo?«

»Erst acht Monate«, erwiderte Marion und lachte. »In dieser Zeit habe ich natürlich eine Menge gelernt. Aber das würde für eine wirklich gute Verständigung nicht ausreichen. Zu Hause in München habe ich drei Jahre lang eine Abendschule besucht, um diese Fremdsprache zu lernen. Ägypten hat mich schon immer fasziniert. Nach meiner Prüfung als Sozialarbeiterin habe ich mir vorgenommen, für einige Zeit hier tätig zu werden. Dazu brauchte ich natürlich gute Sprachkenntnisse.«

»Haben Sie denn gar kein Heimweh?« wollte Klaus wissen. »So weit von der Heimat entfernt muß man sich doch manchmal ziemlich einsam vorkommen.«

»Naja, ein bißchen Heimweh hat wohl jeder, der sein Heimatland verlassen hat. Aber im allgemeinen fühle ich mich wohl hier. Meine Arbeit nimmt mich meist so sehr in Anspruch, daß ich kaum dazu komme, an zu Hause zu denken. Nach Ablauf der zwei Jahre werde ich bestimmt viele schöne Erinnerungen mit nach Deutschland nehmen. Meine Eltern waren anfangs ein wenig traurig über die lange Trennung. Aber sie hatten für meinen Wunsch Verständnis. Wir schreiben uns regelmäßig, und einmal im Monat rufe ich sie an.«

Marion Walter begleitete das deutsche Ehepaar zu den Behörden und brachte dort deren Anliegen vor.

Sie wurden von einer Dienststelle zur anderen geschickt, bis sie endlich die richtige erreicht hatten. Dort wurden ihre Papiere und Unterlagen eingehend geprüft. Der zuständige Sachbearbeiter führte mit Marion Walter ein längeres Gespräch, das sie anschließend übersetzte.