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Die Sprechakttheorie, die vor 50 Jahren in John Searles Buch Speech Acts (1969) ihre kanonische Form gefunden hat, gehört zu den zentralen Theorieansätzen der linguistischen Pragmatik. Die Beiträge im Band fragen danach, welchen Status dieses Paradigma im gegenwärtigen Feld der Pragmatik hat und welche Schwerpunktsetzungen und Neuakzentuierungen gerade auch im Lichte der kritischen Einwände vorgenommen wurden. Überdies veranschaulichen sie, welche empirischen Fragestellungen typischerweise im sprechakttheoretischen Framework adressiert werden. Mit Beiträgen von Joschka Briese, Hans-Martin Gärtner, Daniel Gutzmann, Rita Finkbeiner, Leonard Kohl, Frank Liedtke, Simon Meier, Sven Staffeldt, Pawel Sickinger, Markus Steinbach, Andreas Trotzke, Astrid Tuchen, Katharina Turgay und Tilo Weber.
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Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Simon Meier / Lars Bülow / Frank Liedtke / Konstanze Marx / Robert Mroczynski
50 Jahre Speech Acts
Bilanz und Perspektiven
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
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ISBN 978-3-8233-8347-5 (Print)
ISBN 978-3-8233-0200-1 (ePub)
Abstract: Speech act theory, that has received its canonic form 50 years ago in John Searle’s seminal book Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language (1969), is among the most key approaches of linguistic pragmatics. The contributions of this volume address the status of speech act theory in the field of contemporary linguistics. In our introduction, we trace the career of speech act theory as a basic theory, not least from the perspective of some critical objections speech act theory is faced with since its very beginning. Then we focus on recent developments concerning both theoretical and empirical issues. Finally, we give summaries of the contributions in this volume.
Die Sprechakttheorie, die vor 50 Jahren in John Searles Buch Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language (1969) ihre kanonische Form gefunden hat, gehört zweifellos zu den zentralen Theorieansätzen der linguistischen Pragmatik. Als Theorie des sprachlichen Handelns kann sie als Explizierung des Terminus „Pragmatik“ (griech. pragma Conversation Analysis (vgl. etwa Hutchby/Wooffitt 2008, S. 18). Tatsächlich hat die Sprechakttheorie immer schon kritische Gegenstimmen auf den Plan gerufen, und doch ist wohl nicht zuletzt durch die hierdurch ausgelösten Debatten und Profilschärfungen alternativer Ansätze die linguistische Pragmatik von Grund auf sprechakttheoretisch geprägt.
Der 50. Jahrestag des Erscheinens von Speech Acts scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, die Karriere der Sprechakttheorie als linguistische Grundlagentheorie zu reflektieren. Welchen Status hat sie im gegenwärtigen Feld der Pragmatik, welche Schwerpunktsetzungen und Neuakzentuierungen wurden gerade auch im Lichte der kritischen Einwände und Gegenentwürfe vorgenommen, und welche empirischen Fragestellungen werden typischerweise im sprechakttheoretischen Framework adressiert? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Band.
Im Folgenden sei zunächst die Karriere der Sprechakttheorie als pragmalinguistische Grundlagentheorie in groben Zügen nachgezeichnet, wobei die Geschichte der Sprechakttheorie vor allem auch als Geschichte kritischer Einwände erzählt werden muss. Danach wird der Blick auf aktuelle Tendenzen sprechakttheoretischer Theoriebildung wie auch der sprechakttheoretisch fundierten empirischen Forschung gelenkt.
Als eigentlicher Begründer der Sprechakttheorie kann bekanntlich John L. Austin mit seinen 1955 gehaltenen und 1962 unter dem Titel How to do things with words publizierten William James-Lectures gelten (vgl. Austin 1962). Zwar haben jüngere Forschungsarbeiten auf zahlreiche Vorläufertheorien etwa bei Adolf Reinach hingewiesen, die sprechakttheoretische Grundeinsichten vorwegnehmen (vgl. Smith 1990; Meier in diesem Band), doch erst mit den luziden und durch die gewählten Beispiele ausgesprochen lebensnahen Ausführungen Austins wurde eine allgemeine und auch ausdrücklich so genannte „Theorie der ‚Sprechhandlung‘“ (Austin 1968, S. 153) greifbar.
Austins Entfaltung der Sprechakttheorie ist ausgesprochen linguistisch perspektiviert und reflektiert beispielsweise ausführlich mögliche grammatische und lexikalische Unterscheidungsmerkmale performativer Äußerungen (vgl. Austin 1962, S. 55). Gleichwohl ist die Sprechakttheorie erst mit ihrer Systematisierung durch Searle auch seitens der Linguistik breit rezipiert worden. Hatte Austin seine Position noch mäandernd und die eigenen Erkenntnisse immer wieder prüfend und revidierend entwickelt, baut Searle seine Fassung der Sprechakttheorie auf ganz systematische Weise auf. Seine grundlegende Annahme lautet, mit Sprechakten die „basic or minimal units of linguistic communication“ (Searle 1969, S. 16) bestimmen zu können, die sich darüber hinaus als Funktion der Bedeutung von geäußerten Sätzen (vgl. Searle 1969, S. 18) beschreiben lassen. Somit erscheinen „linguistic characterizations“ (Searle 1969, S. 5) als Grundelemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie.
Dieser enge Anschluss von Linguistik und Kommunikationstheorie oder genauer: die Erhebung von Linguistik zu einer Kommunikationstheorie dürfte damals ausgesprochen attraktiv gewesen sein. Auch die weiteren theoretischen Festlegungen Searles wie etwa die Aufgliederung von Austins lokutionärem Akt in den Äußerungsakt und den propositionalen Akt (und diesen wiederum in Referenz und Prädikation) lassen sich gut an linguistische Fragenkomplexe anschließen. Vor allem aber die Engführung der Austin’schen Glückensbedingungen als „semantic rules for the use of any illocutionary force indicating device“ (Searle 1969, S. 62) – neben den zentralen Kommunikationsverben nennt Searle auch andere, linguistisch klar beschreibbare Phänomene wie Wortstellung, Betonung, Intonation, Interpunktion und Verbmodus – macht Searles Fassung der Sprechakttheorie für die Linguistik interessant. Sprachoberflächenbezogene Phänomene werden durch ihre Rollenzuweisung für den Vollzug von Sprechakten semantisch gedeutet und zugleich durch die Beschreibung von Gebrauchsregeln und den Einbezug von kontextuellen bzw. situationalen Faktoren wie Intentionen und Präferenzen der Beteiligten grundlegend pragmatisch konturiert.1 Für eine pragmatische Semantik mit deutlichen Schnittstellen zur Grammatik ist damit ein theoretisches Fundament gelegt.
So sind denn auch die frühen linguistischen Reflexe im deutschsprachigen Raum besonders auf Indikatoren der illokutionären Rolle fokussiert, die an bekannte grammatische Kategorien wie etwa die des Satztyps angeschlossen werden können (vgl. etwa Wunderlich 1976). Searles 1976 erstmals vorlegte Klassifikation von Sprechakten (vgl. Searle 1976), die sich ebenfalls mit Satztypen in Verbindung bringen lässt, dürfte das noch weiter vorangetrieben haben (vgl. Gärtner/Steinbach in diesem Band). Hinzu kommen zahlreiche Studien kleinerer und größerer Dimension, die ganz im Stile der Searle’schen Analysen einzelne Sprechakte wie Drohungen oder Bewertungen (vgl. etwa die Beiträge in Weber/Weydt 1976; Sprengel 1977) untersuchen oder auch die in einer Sprache verfügbaren Ausprägungen von Sprechakttypen und ihre sprachlichen Realisierungsformen inventarisieren (vgl. Hindelang 1978; Liedtke 1998). Die 1983 erstmals publizierte, spezifisch germanistisch linguistische Einführung in die Sprechakttheorie von Hindelang (2010) führt diese Studien synoptisch zusammen. Darüber hinaus wird schon in den frühen Einführungs- und Überblicksdarstellungen zur linguistischen Pragmatik der für diese Teildisziplin zentrale Status der Sprechakttheorie betont (vgl. etwa Schlieben-Lange 1975; Wunderlich 1975) und ganz entlang der eben beschriebenen Argumentationslinien begründet.
Schon früh ist der Sprechakttheorie dabei ein entscheidender Einwand entgegengebracht worden, der sich auf ihre Sprecherorientiertheit oder – schärfer noch – ihre Sprecherzentriertheit bezieht. Die Analysen der Gelingensbedingungen bzw. der Gebrauchsregeln für Indikatoren der illokutionären Rolle sind allein auf die Sprechenden konzentriert, und als Beispiele werden typischerweise isolierte und an der Größe des Satzes orientierte Äußerungen präsentiert. Schon bald hat man demgegenüber auf die sequentielle Einbettung von Sprechakten hingewiesen und „Sprechaktsequenzmuster als Grundlagen von Dialogmustern“ (Hindelang 1994, S. 106) bestimmt. Vor allem aber in der durch die amerikanische Conversation Analysis inspirierten Gesprächsanalyse hat man der Sprechakttheorie vorgeworfen, mit der Konzentration auf Sprechakte den grundlegend interaktionalen Charakter sprachlicher Kommunikation zu vernachlässigen. Nicht die Sprechenden alleine könnten über ihre Äußerungen und ihren Handlungswert verfügen (vgl. hierzu Liedtke in diesem Band), vielmehr seien die Gesprächsbeiträge in Form und Funktion kollaborativ erzeugt, und „[e]rst das Gespräch als Ausgangspunkt sprachpragmatischer Forschung garantiert die unverkürzte Darstellung sprachlicher Realität“ (Henne/Rehbock 2001, S. 11). Das Gespräch aber, und auch hierauf zielt der gesprächsanalytische Einwand gegenüber der Sprechakttheorie wie auch gegenüber der sprechakttheoretischen Dialoganalyse, könne prinzipiell nicht auf dem Wege der Introspektion, sondern nur anhand von ‚natürlichen‘ Gesprächsdaten angemessen untersucht werden.
Auch wenn sich die Gesprächsanalyse seit jeher und bis heute mit diesen Argumenten von der Sprechakttheorie distanziert, scheint das grundlegende Vorgehen, bei der Analyse von Transkripten Sprechhandlungen zu bestimmen und dies an oberflächensprachlichen Merkmalen festzumachen, auch hier – wenigstens für einen „ersten Zugriff“ (Deppermann 2008, S. 55) – unverzichtbar zu sein (vgl. Staffeldt 2014, S. 111f. und in diesem Band). In ihren Details mag die Sprechakttheorie Searles zwar ihre Strahlkraft eingebüßt haben. Die Zeiten, in denen ganze Kongressbände mit immer neuen Sprechaktanalysen gefüllt wurden, liegen lange zurück, und schon 1990 kann Armin Burkhardt für die Sprechakttheorie einen allgemeinen „decline of a paradigm“ (Burkhardt 1990a) konstatieren. Dass aber sprachliche Handlungen überhaupt zentrale linguistische Gegenstände sind, die sowohl theoretisch als auch empirisch erschlossen werden müssen, wurde und wird kaum je bezweifelt. Auch jenseits von ausdrücklich sprechakttheoretisch orientierten Forschungsrichtungen lassen sich deshalb deutliche Spuren der Sprechakttheorie nachweisen.
So bauen zahlreiche Anwendungsfelder der Pragmatik wie etwa die (Un-)Höflichkeitsforschung (vgl. Brown/Levinson 1987; Bousfield 2008; Bonacchi 2017) auf erkennbar sprechakttheoretisch konturierten Begriffen wie dem des face threatening act oder dem Konzept der indirekten Sprechakte (vgl. Searle 1975) auf. Der Searle’sche Entwurf wird dabei auch weiterentwickelt, indem etwa komplexe Illokutionen im Rahmen einer sprechakttheoretischen Multi-Akt-Semantik beschrieben werden (vgl. Tenchini/Frigerio 2016). Auch in der Textlinguistik wurden Texte nicht nur als transphrastische Strukturen, sondern auch als – typischerweise hierarchisch – verknüpfte sprachliche Handlungen (vgl. Dijk 1980, S. 90) und mithin Illokutionsstrukturen (vgl. Motsch/Viehweger 1991) beschrieben oder allgemeine Textfunktionen nach dem Vorbild der Searle’schen Sprechakttaxonomie definiert (vgl. Brinker 2010). Die Phraseologie hat sich die Sprechakttheorie mit dem Begriff der Routineformel als „konventionelle[n] Äußerungsformen für den Vollzug bestimmter Sprechakte“ (Stein 2004, S. 266) zu eigen gemacht. Auf die pragmalinguistische Forschung zu Sprache und Politik, in der die Bestimmungen von Sprechhandlungen und ihrer Funktionen zentral sind, wurde bereits hingewiesen. Über die Vermittlung durch die Funktionale Pragmatik liefert der Begriff der Sprechhandlung im Sinne Austins und Searles schließlich auch für das Vorhaben einer Funktionalen Grammatik das theoretische Fundament (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 99–159). Die von gesprächsanalytischer Seite vorgebrachten Einwände, insbesondere die Forderung nach der Berücksichtigung sequentieller Einbettungen, werden dabei von vornherein integriert und statt isolierter Sprechhandlungen werden komplexere Handlungsmuster veranschlagt. All diese Beispiele zeigen, dass die Sprechakttheorie zum theoretischen Grundbestand, sozusagen zur Grundausrüstung jeder pragmatisch orientierten Linguistik gehört.
Eine andere Stoßrichtung der Kritik an der klassischen Sprechakttheorie zielt auf ihren universalistischen Charakter. In sprach- und kulturvergleichender Perspektive wurde auf ethnozentrische Tendenzen der Sprechakttheorie hingewiesen, welche kulturspezifische Ausprägungen von Sprechakten wie auch von Ethnotaxonomien außer Acht lasse (vgl. Gass/Neu 1996; Richland 2013). In diachroner Perspektive hat man die historische Wandelbarkeit von Sprechakten bzw. von Indikatoren der illokutionären Rolle aufgezeigt (vgl. Jucker/Taavitsainen 2008). Allerdings handelt es sich bei beiden Forschungsrichtungen mitnichten um Angriffe auf die Sprechakttheorie als solche (vgl. aber Rosaldo 1982). Im Gegenteil, ihre prinzipielle Tauglichkeit und auch die mit ihr verbundenen Heuristiken wie etwa die Inventarisierung von Indikatoren der illokutionären Rolle werden gerade nicht bestritten, sondern allenfalls empirisch ausdifferenziert und hierdurch letztlich doch bestätigt.
Die Sprechakttheorie, so könnte man diesen Abriss ihrer Karriere in der Linguistik resümieren, ist eine Normalwissenschaft im Sinne Thomas Kuhns geworden:
[…] eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft […] als Grundlagen für die weitere Arbeit anerkannt werden. Heute werden solche Leistungen in wissenschaftlichen Lehrbüchern, für Anfänger und für Fortgeschrittene, im einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form. Diese Lehrbücher interpretieren den Grundstock einer anerkannten Theorie, erläutern viele oder alle ihre erfolgreichen Anwendungen oder vergleichen diese Anwendungen mit exemplarischen Beobachtungen und Experimenten. (Kuhn 1967, S. 28)
Und so normal, wie die Sprechakttheorie geworden ist, so wenig scheint sie derzeit in der Linguistik noch Gegenstand ernsthafter theoretischer Auseinandersetzung zu sein – anders, als in der Philosophie, wo sie bis heute diskutiert wird (vgl. etwa Fogal/Harris/Moss 2018). Im 1990 erschienenen Band Speech Acts, Meaning and Intentions (Burkhardt 1990b), der den Stand der Sprechakttheorie 20 Jahre nach Erscheinen von Searles Buch bilanziert, sind vor allem theoretische Einwände vorgebracht worden. Nochmals 30 Jahre später, so könnte man überspitzt zumindest für die germanistische Linguistik sagen, wird die Sprechakttheorie vor allem angewendet.
Das oben gezeichnete Bild der Sprechakttheorie als Normalwissenschaft ist natürlich ein überzeichnetes. Insbesondere im angelsächsischen Raum werden auch gegenwärtig neue und dezidierte sprechakttheoretische Modelle entwickelt (vgl. Kissine 2013). Auch neuere Theorieentwicklungen im erweiterten Bereich der pragmatischen Linguistik werfen Perspektiven auf, die – obwohl sie selbst nicht die klassischen sprechakttheoretischen Probleme adressieren – eine erneute Auseinandersetzung mit sprechakttheoretischen Grundannahmen erfordern.
In der poststrukturalen Diskurslinguistik ‚nach Foucault‘ mit ihrer Kritik am Subjekt- und Intentionsbegriff (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 51, 67f.) müssen auch der Begriff des Sprechakts als in individuellen Intentionen verankerte sprachliche Handlung sowie die ihm eingebaute intentionalistische Theorie der Bedeutung (vgl. Grice 1957) problematisiert werden. Dem Sprechakt stellt Foucault die Aussage (énoncé) gegenüber, die dem Vollzug von Sprechakten gewissermaßen vorgelagert ist, die stets in Diskurse und Aussagennetze eingewoben ist, welche überhaupt erst bedingen, dass in einer sozialen und kulturellen Situation einzelne Aussagen möglich werden (vgl. Foucault 1973, S. 67f.).1 „Diskurshandlungen“ (Spieß 2011) sind gegenüber Sprechakten im Sinne Searles also viel stärker durch diskursive, dem Individuum vorgängige Bedingungen der Möglichkeit des Gesagten geprägt (vgl. zusammenfassend Spitzmüller/Warnke 2011, S. 69–72).2
Ebenfalls dem Subjektivismus und Intentionalismus kritisch gegenüberstehend ist die Praxistheorie, die statt „interessengeleiteten und mit einer subjektiven Rationalität ausgestatteten Handlungsakten einzelner Akteure“ (Reckwitz 2003, S. 287) routinisierte, materiale und leibgebundene Praktiken als kleinste Einheiten des Sozialen veranschlagt. Die zunächst in der Soziologie entwickelte Praxistheorie hat längst auch auf die (germanistische) Linguistik ausgestrahlt. In einer Linguistik der Praktiken interessiert weniger, welche Sprechakte als Mittel zur Realisierung von Akteursintentionen zur Verfügung stehen und wie sie sprachlich vollzogen werden, sondern „wie Sprache im leiblichen, respektive multimodalen Ausdruck inkarniert und intrinsisch in die Handlungsvollzüge in der materiellen und medial vermittelten Welt verwoben ist“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 14). Das für gesprächsanalytische Zwecke entwickelte Konzept der kommunikativen Praktiken (vgl. Fiehler et al. 2004, S. 99–104) scheint dagegen noch eher mit sprechakttheoretischen Grundannahmen verträglich zu sein. Doch auch kommunikative Praktiken als „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke realisiert werden sollten“ (Fiehler et al. 2004, S. 99) – als Beispiele können Auskünfte, Beschwerden oder Unterweisungen genannt werden – sind gewissermaßen auf einer Ebene oberhalb von einzelnen Sprechakten angesiedelt. Der sich hier andeutende Perspektivenwechsel von einzelnen Akten hin zu umfassenderen Routinen prägt im Übrigen auch neuere, dezidiert sprechakttheoretische Ansätze. In ihrer Einleitung zum Handbuch Pragmatics of Speech Actions, das den internationalen Stand der pragmalinguistischen Sprechakttheorie dokumentiert, weisen etwa Sbisà und Turner die Verhältnisbestimmung von Sprechakten einerseits und „linguistic and cultural practices and routines“ (Sbisà/Turner 2013, S. 5) in ihrer interaktionalen Dynamik andererseits als wichtige Aufgabe einer zeitgemäßen Sprechakttheorie aus.
Für die an Praktiken orientierten Zugriffe ist kennzeichnend, dass Sprache bzw. Kommunikation weniger mit Blick auf die zugrundeliegenden Regeln, sondern „nur in der sozial bestimmten performativen Qualität des Vollzugs“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 12) interessiert. Mit dem hier anklingenden Konzept des Performativen ist freilich ein sprechakttheoretischer Grundbegriff angesprochen, welcher indes bei Austin eine weitaus größere Rolle spielt als bei Searle, wo nur am Rande performative Verben als mögliche Indikatoren der illokutionären Rolle erwähnt werden. Das Konzept der Performativität, mit dem ganz allgemein die soziale Konstruktivität symbolischer Handlungen auf den Begriff gebracht (vgl. Scharloth 2009, S. 234) und zugleich der Anschluss zu dem in der Anthropologie zentralen Begriff der performance hergestellt werden kann, ist in den Sprach- und Kulturwissenschaften zu einem Schlüsselkonzept avanciert (vgl. Fischer-Lichte 2016). Für dieses ist jedoch die Searle’sche Fassung der Sprechakttheorie kaum mehr ein theoretischer Bezugspunkt.3 Auch in unmittelbar an der Sprechakttheorie interessierten neueren Forschungsarbeiten zum Begriff der Performativität lässt sich eine Tendenz zum Rückgang auf Austin beobachten (vgl. Robinson 2013; Rolf 2015), und so erstaunt auch nicht, dass neuere Versuche, den Begriff des Sprechaktes um den des Bildaktes zu ergänzen, sich eher an Austin anschließen (vgl. Schmitz 2007; Bredekamp 2015).
Neben diesen drei Theorieentwicklungen, der Diskurslinguistik, der Theorie der Praktiken und der Performativitätstheorie, die auf die Sprechakttheorie rückwirken, lassen sich aber auch in der genuinen Sprechakttheorie einige Tendenzen ausmachen, die die neueren Diskussionen bestimmen. Diskutiert werden etwa Bezüge zwischen Kognitiver Linguistik und Sprechakttheorie, etwa indem so genannte Sprechaktszenarien, die bei Searle noch als Sets von Regeln erscheinen, als Idealized Cognitive Models beschrieben und auf ganz allgemeine kognitive Prinzipien bezogen werden (vgl. Panther/Thornburg 2005 und Gärtner/Steinbach in diesem Band). Besondere Aufmerksamkeit wird zudem – und auch hier dürfte die Kognitive Linguistik mit ihrem ausgeprägten Interesse an Emotionen (vgl. Schwarz-Friesel 2013) entscheidenden Anteil haben – den expressiven Sprechakten geschenkt. Expressivität wird als linguistische Kategorie verhandelt, die sich insbesondere auf Sprechaktebene manifestiert (vgl. d’Avis/Finkbeiner 2019 sowie Finkbeiner in diesem Band und Trotzke in diesem Band), und so sind es gerade auch empirische Arbeiten zu expressiver Kommunikation, in denen sprechakttheoretische Zugriffe zur Anwendung kommen (vgl. Marx 2018 sowie Tuchen in diesem Band).
Ebenfalls im Fahrwasser der Kognitiven Linguistik bewegen sich konstruktionsgrammatische Ansätze. Mit ihrer grundlegenden Modellierung von Konstruktionen als gebrauchsbasierten form-meaning pairs sind sie ohnehin recht nah an Searles Vorschlag, die Analyse von Sprechakten auf die Semantik von formseitig bestimmbaren Indikatoren der illokutionären Rolle abzustellen. So wurden etwa konventionalisierte indirekte Sprechakte bzw. die sprachlichen Formen ihres Vollzugs als Konstruktionen beschrieben (vgl. Stefanowitsch 2003). Besonders anschlussfähig sind indes jene vor allem in der interaktionalen Linguistik entfalteten Spielarten der Konstruktionsgrammatik, die auch pragmatische Restriktionen der Bedeutungsseite von Konstruktionen zurechnen. Konstruktionen, verstanden als rekurrente sprachliche Muster, werden an „Sprechhandlungstypen“ (Deppermann 2006, S. 240) wie etwa Empfehlungen oder Vorschläge gekoppelt, welche typischerweise durch diese Konstruktionen realisiert werden. Das ist, so scheint es, im Kern ein sprechakttheoretisches Vorgehen, und doch wird interessanterweise jeder explizite Bezug auf die Sprechakttheorie vermieden (vgl. hierzu Staffeldt in diesem Band).
Neue methodische Impulse für sprechakttheoretische Ansätze sind seitens der Korpuslinguistik, genauer der Korpuspragmatik zu erwarten, die Sprechakte – wiederum abzulesen an der Position dieses Themas in einem einschlägigen Handbuch (vgl. Aijmer/Rühlemann 2014) – zu ihren primären Gegenständen zählt. Sind diachrone Sprechaktanalysen im Rahmen der Historischen Pragmatik immer schon auf Korpora angewiesen, werden in jüngerer Zeit auch synchrone Untersuchungen korpusbasiert angelegt (vgl. McAllister/Garcia 2014; Weisser 2018 und den Überblick in Tuchen 2018, S. 21). Noch offen ist dabei die Frage, ob und wie die Identifikation von illokutionären Akten, die sich ja gerade nicht eindeutig an sprachoberflächenbezogenen Merkmalen ablesen lassen, überhaupt computergestützt oder gar automatisiert geschehen kann (vgl. Rühlemann/Clancy 2018). Allerdings kann schon eine an großen Datenmengen vorgenommene Erhebung von Gebrauchsprofilen derjenigen sprachlicher Muster, die üblicherweise als Indikatoren illokutionärer Rollen gelten, heuristisch wertvoll sein, insbesondere dann, wenn Kontextfaktoren als Metadaten zur Verfügung stehen.
Im Übrigen dürfte die Etablierung der Korpuslinguistik im (pragma-)linguistischen Methodenkanon4 und damit einhergehend die Entwicklung der Linguistik hin zu einer grundlegend empirischen, datenorientierten Disziplin auch ein Grund dafür sein, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie ein wenig in den Hintergrund geraten ist. Die reine Theoriearbeit, die allenfalls zu Veranschaulichungszwecken auf Sprachdaten zurückgreift, scheint an Attraktivität zu verlieren angesichts der Fülle der empirischen Details, die es zu entdecken gibt. Und dennoch: Auch das induktivste Vorgehen wird auf theoretische Konzepte zurückgreifen und den Umgang mit dem empirischen Material deduktiv ausbalancieren müssen, und wie bereits gezeigt, ist das Konzept des Sprechakts bzw. des Sprechakttyps hierfür ein oft gewählter Kandidat, auch wenn er mitunter terminologisch anders gefasst wird. Nach wie vor ist es aber nötig und auch lohnend, dieses Konzept theoretisch und methodologisch, aber auch in seiner für die Pragmalinguistik identitätsstiftenden Funktion zu reflektieren. Oder, um einen sprechakttheoretischen Klassiker (vgl. Austin 1968, S. 153) abzuwandeln: Es lohnt zu klären, was man – als Linguist*in – tut, wenn man Sprechakt sagt. Dazu leisten die Aufsätze im vorliegenden Band einen Beitrag.
Der Band wird eröffnet von Sven Staffeldt, der in seinem Beitrag „SAT(T?) – Ein Verwirrspiel in drei Akten“ aktuelle Forschungsbeiträge zur Pragmalinguistik daraufhin sichtet, welche Rolle der Sprechakttheorie oder zumindest sprechakttheoretisch konturierten Konzepten zukommt. Insbesondere anhand von transfer- und anwendungsorientierten Arbeiten gesprächsanalytischen Zuschnitts zeigt Staffeldt, dass explizite und erst recht affirmative Bezugnahmen auf die Sprechakttheorie weithin fehlen, aber gleichwohl Analyseschritte unternommen werden, die sich an sprechakttheoretische Analysen anschließen lassen. Der Beitrag plädiert dafür, induktive und deduktive Zugänge nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als Stationen in einem Kreislauf sich wechselseitig bedingender Zugriffe auf Sprache und Sprachgebrauch anzusehen.
Um eine wissenschaftshistorische Einordung geht es im Beitrag „Vormoderne Sprechaktanalysen als Herausforderung für die moderne Sprechakttheorie“ von Simon Meier. Anhand von historischen Analysen von Sprechhandlungen wie z.B. Versprechungen und Drohungen wird gezeigt, dass einige wesentliche Merkmale der modernen Sprechakttheorie – etwa die Formulierung von Gelingensbedingungen – bereits lange vor Searle in den Werken vormoderner Autoren wie Thomas von Aquin, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf und anderen relevant gesetzt wurden. Unterschiede liegen hingegen darin, dass sich vormoderne Analysen an objektiver Gesetzmäßigkeit orientieren, während die moderne Sprechakttheorie versucht, die Regeln und Klassifikationen von Sprechhandlungen in einzelnen psychologischen Zuständen wie Präferenzen und Interessen zu begründen. So erweisen sich einige Vorannahmen der modernen Sprechakttheorie als zeitgebundene und mentalitätsgeschichtlich deutbare Prägungen.
Die folgenden beiden Beiträge widmen sich der Frage nach der Integration interaktionslinguistischer Konzepte in die Sprechakttheorie. Frank Liedtke setzt sich in seinem Beitrag „Sprechhandlung und Aushandlung“ mit einem zentralen Kritikpunkt an der Sprechakttheorie auseinander: Der Fokus auf die Intention eines Sprechers/einer Sprecherin blendet den interaktiven Charakter in Kommunikationssituationen ebenso aus wie die Sprecher-Hörer-Beziehung. Er unterbreitet einen Vorschlag dazu, wie eine Analyse erstellt werden kann, die das Ergebnis von Aushandlungen oder Ko-Konstruktionen berücksichtigt, ohne auf Begriffe wie illokutionäre Wirkung und Sprecherabsicht zu verzichten. Zu diesem Zweck wird der Begriff der kollektiven oder Wir-Intention für die Analyse fruchtbar gemacht; ebenso werden systematische Unterscheidungen unter anderem zwischen komplementären und kompetetiven sowie symmetrischen und asymmetrischen Gesprächssituationen vorgestellt.
Leonard Kohl veranschaulicht in seinem Beitrag „Sprechakte in der Interaktion“, wie die Sprechakttheorie (SAT) so modifiziert und durch gesprächsanalytische Konzepte erweitert werden kann, dass sie zur Analyse von verbaler Interaktion eingesetzt werden kann. Dabei soll aber der sprechakttheoretische Fokus auf die in den meisten gesprächsanalytischen Ansätzen abgelehnten Sprecherintentionen möglichst erhalten bleiben. An authentischen WhatsApp-Chatdaten wird dabei unter anderem veranschaulicht, wie illokutionäre Kräfte von den Teilnehmer*innen in der Interaktion gemeinsam konstruiert oder verhandelt werden.
Grundlagentheoretische Detailstudien sind das Thema der beiden folgenden Beiträge. Expressive Sprechakte, mit denen sich Rita Finkbeiner in ihrem Beitrag „Expressive Sprechakte revisited“ auseinandersetzt, stellen eine Herausforderung für ihre Klassifikation und Beschreibung dar, unter anderem deshalb, weil letztlich alle Sprechakte als Ausdruck einer propositionalen Einstellung gelten können. Es geht dann darum, das Spezifische dieser ausgewählten Klasse herauszuarbeiten, wobei für diese Aufgabe unterschiedliche Strategien gewählt werden können. Im Zuge einer kritischen Diskussion werden ältere und rezente Ansätze zu Expressiva behandelt, bevor eine Auseinandersetzung mit der semantisch geprägten Erklärungsstrategie, im Sinne von David Kaplans Begriff eines use-conditional meaning, vorgenommen wird. Aus einer sprechakttheoretischen Sicht wird demgegenüber das Spezifikum von Expressiva in der Ausformung der Einleitungsbedingung des Sprechakts gesehen. Die Voraussetzungen für seinen Vollzug im Sinne spezifischer Angemessenheitsbedingungen werden als Teil dieser konstitutiven Bedingung definiert.
Daniel Gutzmann und Katharina Turgay streben in ihrem Beitrag „Fiktionale Aussagen als Assertionen?“ eine Explikation dessen an, was eine fiktionale Äußerung ist bzw. welche definierenden Eigenschaften sie hat. Die von Searle vorgelegte pretense-Theorie des fiktionalen Diskurses, die davon ausgeht, dass für Assertionen in fiktionalen Kontexten entscheidende konstitutive Regeln außer Kraft gesetzt sind, wird mit dem Argument kritisiert, dass auch auf fiktionale Äußerungen konstitutive Regeln zutreffen. Demgegenüber werden schaffende fiktionale Äußerungen als fiktionale Deklarationen aufgefasst, beschreibende fiktionale Äußerungen als fiktionale Assertionen. Fiktionale Assertionen schaffen keine neuen Sachverhalte, sondern stellen einen Vorschlag von S dar, den jeweils für S und H geltenden Common Ground um diese Assertion zu erweitern. Um den Unterschied zwischen nicht-fiktionalen und fiktionalen Assertionen abzubilden, werden unterschiedliche Common Grounds angenommen, in diesem Fall ein realer und ein fiktionaler Common Ground.
Die beiden folgenden Beiträge fokussieren den sprechakttheoretischen und später von Searle (1983) sogar zum eigenständigen Thema erhobenen Grundbegriff der Intentionalität. Am Beginn des Beitrags von Tilo Weber zu „Intentionalität und Äußerungsbedeutung“ steht die für Searles Sprechakttheorie wie auch für die klassische linguistische Pragmatik insgesamt zentrale These, dass die sprachliche Bedeutung auf den Intentionen der einzelnen Sprecher basiert. Jacques Derrida hat diese These grundlegend in Frage gestellt. Die daraus resultierende Diskussion (Searle-Derrida-Debatte) wird in dem Beitrag genauer beleuchtet. So erfährt man, dass auf beiden Seiten in der Diskussion auf harsche persönliche Angriffe und aggressive Formulierungen nicht verzichtet wurde. Allerdings zeigen sowohl Derridas „Dekonstruktion“ des Intentionalismus als auch Searles konsequente Gegenargumentation Risse und brüchige Stellen. Obwohl man Derrida in einigen Punkten recht geben könne, sollte man Weber zufolge zumindest aus der Hörendenperspektive eine enge Korrelation zwischen Intentionen und Bedeutung annehmen.
Der intentionalistischen Auffassung sprachlicher Äußerungen, die von einer vorgängigen Intention ausgeht, stellt Joschka Briese in seinem Beitrag „Intentionalität ohne Intentionalismus?“ ein alternatives Konzept gegenüber, das diese Vorgängigkeitsannahme vermeidet und grundsätzlich die soziale und zeichenvermittelte Natur einer prozessualen Intentionalität hervorhebt. Die Grundlage des entwickelten Konzepts einer diskursiven Intentionalität bildet einerseits die Theorie der inferenziellen Semantik von R. Brandom, andererseits wird auf die zeichentheoretische Konzeption von T. L. Short rekurriert, um die bei Brandom nicht ausbuchstabierte linguistische Komponente zu ergänzen. Das in diesem Beitrag vorgestellte Modell verbindet beide Ansätze zu einem Gesamtbild der Intentionalität sprachlicher Äußerungsvollzüge in ihrer sozialen und diskursiven Einbettung.
Schnittstellen zur kognitiven Linguistik und zur Grammatikforschung werden in den folgenden drei Beiträgen beleuchtet. Hans-Martin Gärtner und Markus Steinbach greifen in ihrem Beitrag „Zum Verhältnis von Satztyp- und Illokutionstypinventaren“ die spätestens seit Searle (1976) virulente Frage nach dem Verhältnis von Satztypen und Illokutionstypen auf. Anhand neuerer Ansätze aus der kognitiven Linguistik, welche Sprechaktklassifikationen in einer Belief-Desire-Intention-Psychology fundieren, diskutieren sie mögliche Anschlüsse wie auch Diskrepanzen zu typologiebasierten Forschungsergebnissen und erarbeiten einen modifizierten Vorschlag, der sich eng an das Searle’sche Konzept der Aufrichtigkeitsbedingungen anschließt. Wie die Autoren zeigen, ist damit auch der Weg geebnet, um die Diskussion um Satz- und Illokutionstypen an neuere Erkenntnise aus der experimentellen Pragmatik anzubinden.
Andreas Trotzke zeigt in seinem Beitrag „How cool is that! Ein neuer Sprechakt aus Sicht der Grammatik/Pragmatik-Schnittstelle“, dass es eine Subklasse der W-Exklamativa gibt, welche als Affirmationsorientierte Pseudofragen (APQs) bezeichnet werden können. An den Beispielsätzen How cool is that! und der deutschen Entsprechung Wie geil ist das denn!, zeigt er, dass in den beiden Sprachen die APQ-Funktion der Äußerung durch unterschiedliche Indikatoren angezeigt wird: Im Englischen übernimmt dies die interrogative Syntax, im Deutschen sind es die Modalpartikeln. Die APQs zeigen eine gewisse Offenheit für die affirmative Reaktion des Hörers an, welche der übergeordneten Klasse W-Exklamativa abgeht. Aus diesem Grund plädiert Trotzke für eine Unterscheidung in der Sprechaktklasse der EXKLAMATIONEN durch die Merkmale „[+Adressaten-Orientierung]“ und „[-Adressaten-Orientierung]“.
Der Beitrag von Pawel Sickinger über „Sprechakte als prototypisch strukturierte Überkategorien sprachlicher Problemlösungen“ befasst sich mit der Abgrenzungsproblematik von Sprechakten. Fokussiert werden aber nicht primär die Defizite der Sprechakttheorie, sondern Vorschläge zu deren Ergänzung bzw. Rekonzeptualisierung. Sickinger unterbreitet im Wesentlichen zwei Modifizierungsvorschläge im Sinne der angewandten linguistischen Pragmatik: Zunächst argumentiert er dafür, Sprechakte als Prototypenkategorien im Sinne der kognitiven Linguistik zu konzipieren. Darauf aufbauend ist sein zentraler Punkt für die empirische Pragmatikforschung, dass die Beschreibungen von kommunikativen Handlungen auf der Ebene der sogenannten communicative tasks und den entsprechenden solutions ansetzen sollte. Die communicative tasks sind allerdings kein Gegenentwurf zum Sprechaktkonzept, sondern konstituieren Sprechaktkategorien vielmehr ‚von unten‘.
Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Astrid Tuchen „Too little, too late – Der Sprechakt KONDOLIEREN auf Twitter durch Donald Trump“, in welchem der Sprechakt des Kondolierens in digitalen Kontexten fokussiert wird. Dabei wird der Sprechakt des Kondolierens zunächst aus einer theoretischen Perspektive beleuchtet, bevor im empirischen Teil Kondolenz-Tweets des US-Präsidenten Donald Trump hinsichtlich verschiedener Dimensionen inhaltsanalytisch untersucht werden. Gegenstand der Analysen sind einerseits der Zusammenhang von inhaltlichen Kategorien wie Ausdruck des Beileids, Sprecherrolle oder Hinterbliebene und verschiedenen Todesursachen (z.B. natürlicher Tod, Naturkatastrophe, Amoklauf) sowie Bewertungen der Twitter-User dahingehend, ob Donald Trumps Sprechakt des Kondolierens geglückt ist oder nicht. Tuchens Untersuchung zeigt, dass sich das Instrumentarium der Sprechakttheorie auch auf Sprechhandlungen im digitalen Kontext anwenden lässt.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf die Jahrestagung 2019 der Arbeitsgemeinschaft Linguistische Pragmatik e.V. zum Thema „50 Jahres Speech Acts – Bilanz und Perspektiven“ zurück, die am 5. März 2019 unter der Organisation der Herausgeber*innen an der Universität Bremen stattfand.
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Abstract: In this paper I will discuss a few relevant things about the critical views on Speech Act Theory (SAT). First we will follow two main critical lines, taken as an example of the question which things are the most problematic ones from an outside perspective. It will be worked out that these things are not dangerous for SAT. In the main chapter of this article we are looking for SAT in two current issues of the journal Der Deutschunterricht. The point is if SAT can be used as a tool for analyzing data so it might be expected that this theory plays a role in these issues. But that’s not the case. However, there are good reasons to implement such a tool in an analyzing practice that might be called integrated pragmatic analysis.
Die Sprechakttheorie (SAT) ist in die Jahre gekommen und es ist ein wenig ruhiger um sie geworden. Ihr haftet nicht mehr der frische philosophische Wind bahnbrechender Umwälzungen an. Sie hat sich im akademischen Alltag abgesetzt, wird in Seminaren in der einen oder anderen Form oder Ausprägung gelehrt, in Forschungsarbeiten und Prüfungen zur Analyse eingesetzt und wie ehedem kritisiert. Als deduktiv verfahrende, sprecherzentrierte sowie empirieferne Disziplin wurde und wird die orthodoxe SAT häufig angegriffen, um dann Erfolgsgeschichten anderer Linguistiken (also etwa die der Gesprächslinguistik(en)/conversational analysis oder der Interaktionalen Linguistik) zu erzählen. Nun scheinen sich diese Angriffe von kritischer Auseinandersetzung hin zu einer schematischen Ablehnung zu wandeln. Und es ist – provokativ gesprochen – ja auch so: Keines der ganz grundlegenden SAT-Probleme wurde bislang zufriedenstellend gelöst. Das ist eine Situation, in der man sich fragen kann, ob man genug von der SAT hat, ob man SAT-satt ist. Dieser Frage möchte ich in diesem Aufsatz in wesentlichen Punkten nachgehen. Im Vordergrund stehen hier nicht Punkte der folgenden Art:
Exegese Searle’scher Texte (auch nicht von Speech Acts),
umfassendes Referat der aktuellen SAT-Theoriefortbildungen1,
umfassendes Referat über SAT in aktuellen Forschungen2,
die Beantwortung der wichtigsten SAT-Fragen,
also: das meiste.
Sondern:
Eine Schnipsel- oder Schnitzeljagd durch SAT-Terrain wird veranstaltet.
Gefundene Schnipsel mit SAT-Angriffen u.ä. werden besprochen.
Es wird nachgewiesen, dass die SAT unnötig, gefährlich, unsexy usw. ist und dass genau dies so aber auch nicht stimmt.
SAT ist gefährlich. Vor ihr muss gewarnt werden, damit Studierende in ihrer akademischen Ausbildung ihr nicht die Tür öffnen und sie hereinlassen. Diesen Eindruck kann man jedenfalls bekommen, wenn man textuell als z.B. Würdigung und Kritik getarnte, letztlich aber als eine Art Warnung verstehbare Passagen der folgenden Art in einführenden sprachwissenschaftlichen Lehrwerken liest:
Würdigung und Kritik: Die Sprechakttheorie ist nicht empirisch fundiert, sondern gründet auf Introspektion und bleibt damit spekulativ. Sie arbeitet mit erfundenen Beispielen, deren Richtigkeit nicht durch Daten belegt wird, sondern der Intuition der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überlassen bleibt. Während die Sprechakttheorie versucht hat, Äußerungen abstrakt und kontextunabhängig zu klassifizieren, untersuchen die im Folgenden ausführlich behandelten Ansätze [das sind: Konversationsanalyse, Interaktionale Linguistik und Multimodalitätsforschung; Anmerkung des Verfassers] sprachliche Äußerungen in ihren tatsächlichen Verwendungskontexten. (Stukenbrock 2013, S. 220)
Geschichten dieser Art haben einen klaren Plot mit einem klaren Ausgang: SAT ist böse und verführerisch. Sie dockt an Intuitionen und nicht an Daten an, verführt zu dadurch als gerechtfertigt erscheinenden Spekulationen und interessiert sich dabei mehr oder nur für das, was man über Interaktionen denkt, und kaum oder nicht für das, was Interagierende tun. Selbst wenn man das der SAT zurecht vorhielte (also wenn alle SAT so, und nur so arbeiten würde – dass dies nicht der Fall ist, das zeigen bspw. Studien wie die von Staffeldt (2014) oder auch Kiesendahl (2011)), bliebe man aber noch mindestens ein Argument schuldig: Sind denn solche sprechakttheoretischen Spekulationen gänzlich nutzlos oder lassen sie sich nicht vielleicht doch für Weiterverwendungen benutzen? Wie schlimm ist eigentlich die intuitionsbasierte introspektive Methode, wenn es etwa darum geht, sich darüber zu vergewissern, was man unter der einen oder anderen Sprachhandlung versteht (was etwa ein VORWURF1 und was im Unterschied dazu eine BESCHULDIGUNG ist, wie man davon eine BEZICHTIGUNG abgrenzen kann usw.)?
Wer sich viel um die Enttarnung von bösen Wölfen in der Linguistik verdient gemacht hat, ist Walther Kindt. Sowohl im Bereich der Semiotik als auch in den akademisch besonders relevanten, weil lehrveranstaltungsmäßig in den Einführungen gut etablierten Unterdisziplinen der Linguistik (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse) widmet er sich „wissenschaftslogischen und grundlagentheoretischen Defiziten“ (Kindt 2010, S. vii) mit dem Ziel des Aufzeigens der konkreten Probleme und deren Ursachen sowie daraus ableitbarer Lösungsvorschläge für Problembewältigungsaktivitäten. In diesem Zusammenhang behandelt Kindt auch (unter: Pragmatik) die Sprechakttheorie. Er identifiziert dabei im Bereich der Searle’schen Illokutionsklassen vier große Probleme. Als erstes habe die SAT Probleme im Bereich der Theorieformulierung. Sie habe eine nur unzureichende handlungstheoretische Grundlage, ihr fehle eine angemessene Explikation des zugrunde gelegten Handlungsbegriffs und auch die drei Kriterien von Meibauer hierfür (Veränderung in der Welt durch das Eingreifen eines Akteurs, intentionales bzw. absichtsvolles Eingreifen und im Vorhinein feststehende Möglichkeit bzw. Fähigkeit zum Vollzug; vgl. Meibauer 2001, S. 84f.) seien nur bedingt brauchbar (vgl. Kindt 2000, S. 97f.). Darüber hinaus weise die SAT ein erhebliches Empiriedefizit auf. Insbesondere die Frage, ob die postulierten Gelingensbedingungen auch interaktionale Relevanz besäßen, sei völlig unklar. Ebenso, wie genau man welche Gelingensbedingung beschreiben soll. Eines der hieraus resultierenden Probleme sei mit der Aufrichtigkeitsbedingung verbunden. Da man nicht feststellen könne, ob in S2 irgendwelche intentionalen Zustände vorlägen, sei auch das Postulat einer Aufrichtigkeitsbedingung, deren Vorliegen zum Gelingen nötig sei, gegenstandslos (vgl. Kindt 2000, S. 98f.). Ein drittes Problem resultiere aus der unreflektierten Reproduktion undifferenzierter Behauptungen von Searle, „deren Inkorrektheit bzw. mangelnde Präzision längst empirisch erwiesen ist“ (Kindt 2010, S. 99). Als Beispiel führt Kindt hier die Symbolisierung des Sprechaktes als F(P) an, wobei doch längst schon gezeigt worden sei, dass bspw. argumentative Sprechhandlungen (was immer genau Kindt da im Auge hat) nicht über eine, sondern „über zwei Propositionen operieren“ (Kindt 2000, S. 99). Als viertes schwerwiegendes Problem arbeitet Kindt taxonomische Schwierigkeiten heraus. Die Searle’sche Klassifikation genüge nicht den Hauptansprüchen an eine Klassifikation, sie sei jedenfalls nicht disjunkt und die Zuordnung zu den Klassen sei nicht sicher zu bewerkstelligen. Vielmehr seien sich einzelne sprechakttheoretisch Klassifizierende bei verschiedenen Sprechakten manchmal nicht einig, wozu der jeweilige Sprechakt gehört, zum anderen tauchten Sprechakte auch in verschiedenen oder gar mehreren Illokutionsklassen zugleich auf. Kindt macht dies an mehreren Beispielen (WARNEN, EINEN VORWURF MACHEN, ERLAUBEN) fest, von denen ich im Folgenden näher auf VORWERFEN eingehen möchte, weil gerade hier in der Tat grundlegende theoretische und methodologische Weichenstellungen erfolgen – und auch, weil dieses von Kindt als „Klassifikationschaos“ (Kindt 2000, S. 100) benannte Problem Quell verschiedener Missverständnisse ist. Kindt schreibt:
Die kommunikativ so wichtige Handlung „einen Vorwurf machen“ gilt bei Wagner (2001, S. 298) als assertiv und bei Rolf (1997, S. 238) als expressiv. (Kindt 2000, S. 100)
Dem ist Folgendes entgegenzuhalten:
Erstens: Was Kindt nicht schreibt, ist: Warum sollte es problematisch sein, wenn man sich bei der klassifikatorischen Einordnung eines Phänomens nicht einig ist, zu welcher Klasse es zu zählen ist? Man kann hier auch einfach die entgegengesetzte Position einnehmen: Gerade aus einer Perspektive wissenschaftlicher Diskursivität dürfte es eher der Normal- und methodisch-heuristisch auch interessantere Fall sein, wenn man nicht übereinstimmt, denn genau da warten doch Erkenntnisse auf einen. Falsifikation ist wissenschaftslogisch (derzeit) doch gerade einer der wichtigsten Motoren für wissenschaftliches Arbeiten. Und letztlich kommt es ja eher auf die Gründe für die verschiedenen Annahmen an und nicht nur auf die Tatsache, dass sie verschieden sind.
Zweitens: Um einen solchen Streit führen zu können, müsste man sich aber zunächst einmal sicher sein können, ob man über dasselbe redet. Es kann ja sein, dass man etwas gleich oder ähnlich benennt (hier also etwa als VORWERFEN oder VORWÜRFE MACHEN), damit aber dann doch Verschiedenes meint oder von verschiedenen Realisierungen (im introspektiven Hinterkopf) ausgeht. Wenn jemand beispielsweise eher von Schreiben ausgeht, in denen es etwa heißt „Ihnen wird vorgeworfen …“:
(1)
Ich erhielt folgenden Brief: Ihnen wird vorgeworfen, am 29.11.2014 um 1:38, 29664 Walsrode, A7, Rtg. Hamburg, km 97, Landkreis Heidekreis als Führer des PKW XYZ XXX-ZZ 007 folgende Verkehrsordnungswidrigkeit(en) nach §. 24 StVG begangen zu haben: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 24 km/h. Zulässige Geschwindigkeit: 80 km/h. Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 104 km/h. §. 41 Abs 1 IVm Anlage 2, §. 49 StVG; §. 24 StVG; 11.3.4 BKat (www.frag-einen-anwalt.de/Anhoerung-im-Bu%C3%9Fgeldverfahren,-Vorname-in-Anschrift-verkehrt--f268755.html)
der/die wird vielleicht ein anderes Verständnis von VORWERFEN haben als der-/diejenige, der/die von Vollzugsformulierungen des Typs
(2)
„Du hast schon wieder die Heizung nicht runtergedreht.“ (Hörbeleg Würzburg Mensa Hubland 20.02.2019)
ausgeht.
Drittens: Um die tatsächliche Uneinigkeit und auch die Frage auszuloten, wovon ausgegangen, worüber geredet wird, könnte und sollte man mehr als nur zwei Quellen konsultieren, wenn es mehr gibt.3 Bei Wagner taucht VORWERFEN als assertiv auf, richtig. Und bei Rolf als expressiv, ebenfalls richtig. Letzterer aber diskutiert auch, welche Gründe es geben mag, VORWERFEN für assertiv, expressiv oder übrigens auch direktiv4 zu halten:
Was aber hat ein Vorwurf (a) mit Assertionen und (b) mit Aufforderungen zu tun? Ad (a): Der Illokutions-logischen Auffassung zufolge ist, wer einen Vorwurf erhebt, auf die Behauptung der von ihm thematisierten Proposition illokutionär festgelegt. Ad (b): Wer einen Vorwurf erhebt, möchte verhindern, daß sich wiederholt, was Anlaß zu dem Vorwurf gegeben hat. Nach der hier vertretenen Auffassung geht das auf dem Wege eines Direktivs nicht, es könnte jedoch mittels emotionaler Destabilisierung gehen. (Rolf 1997, S. 239)5
Viertens: Sowohl bei Hundsnurscher (1993, S. 144), der ebenfalls diese drei Möglichkeiten diskutiert, als auch bei Marten-Cleef (1991, S. 309–319) gibt es ein expressives VORWERFEN oder ist VORWERFEN expressiv. Schließlich rechnet auch das Handbuch deutscher Kommunikationsverben das Verb vorwerfen zu den expressive Sprechakte kodierenden Verben (vgl. HDKV 2004, S. 295f.). Man wird also eher konstatieren müssen, dass Sprechaktklassen des als VORWERFEN benannten Typs zwar auch unter die Klasse der Assertiva oder Direktiva eingeordnet, hauptsächlich aber zu der Klasse der Expressiva gezählt werden. Und wenn man sich die verschiedenen Beschreibungen ansieht, kann man schließlich auch einen Prototyp für VORWERFEN herausarbeiten, zu dem im Kern gehört:
vorbereitend: es ist etwas als negativ für bzw. durch S Einzuschätzendes passiert und H hat etwas damit zu tun
propositional: H ist für das Passierte verantwortlich, H hat Schuld daran
intentionaler Zustand, auf den S festgelegt werden kann: S drückt Unmut, Verärgerung, Zorn o.ä. aus
Dieses Bild stimmt in etwa mit dem überein, das man erhält, wenn man in einem großen Wörterbuch (hier das DGW: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache) den (Quer- und Rück-) Verweisungen in den Bedeutungsangaben folgt. Man kann dann Illokutionskristalle nachzeichnen:
Illokutionskristall zu (bzw. ausgehend von) vorwerfen im DGW
Oben rechts reicht es ins Expressive hinein, oben links ins neutral Assertive und unten in einen speziellen assertiven Bereich, in dem wir es mit Schuld zu tun haben. Jetzt könnte man – fünftens – auf die folgende Idee kommen: Es handelt sich hierbei nicht oder zumindest nicht nur um ein einzuordnendes Phänomen (also: wozu gehört VORWERFEN), sondern vielmehr oder auch um ein Problem der Modellierung von Sprechakten: Wenn ich Vorwürfe so modelliere, dass mir der Ausdruck von Missfallen u.ä. am wichtigsten ist, habe ich ein expressives Verständnis in den Vordergrund gestellt. Wenn ich Vorwürfe so modelliere, dass mir die Schuldzuweisung am wichtigsten ist, habe ich ein assertives Verständnis in den Vordergrund gestellt. Und es könnte sein, dass dem auch mind. zwei Typen von VORWÜRFEN entsprechen.
Schauen wir uns die folgende Fußnote in einem Aufsatz des (Politikers und) Politolinguisten Josef Klein an:
Ohne dafür im Einzelnen eine methodologische Rechtfertigung zu geben, wird in diesem Beitrag versucht, Erkenntnisse und methodische Zugriffe aus den einschlägigen wissenschaftlichen Kontexten integrativ zu verknüpfen, insbesondere empirische linguistische Hermeneutik (vgl. Hermanns/Holly 2007), medienwissenschaftliche empirische Rezeptionsforschung, zeithistorische Politikanalyse, TV-bezogene Audiovisualitätsanalyse, Frame-Analyse, linguistische und rhetorische Argumentationsanalyse, politolinguistische Sprach- und Kommunikationskritik. (Klein 2015, S. 240)
Interessant ist: In der Auflistung gibt es keine Sprechakttheorie. Klein, der ansonsten sprechakttheoretischen Beschreibungen eigentlich zugeneigt ist und auch regen sowie schnellen, unkomplizierten Gebrauch von Kapitälchen- bzw. Majuskelauszeichnungen macht, hat offenbar genug von einer rein deduktiven SAT, aber auch von einer dogmatisch induktiven Gesprächsanalyse (GA):
So sehr sich eine theoretisch und methodisch reflektierte Analyse vor theorievergessener Datenfixierung hüten sollte, ebenso sehr sollte man die Tendenz zur datenvergessenen Typisierung meiden, wie sie – nicht immer zu Unrecht – der Sprechakttheorie vorgeworfen wird. (Klein 2015, S. 242)1
Hier versteckt sich SAT, aber nur halb. Sie wird gejagt, aber nicht vertrieben. Die Vorhaltung der datenvergessenen Typisierung markiert bei diesem Versteckspiel die wichtigste Spielregel: Ich möchte nicht festgelegt sein bei meinen Analysen auf deduktiv entworfene Typologisierungen bzw. Klassifikationen, weil meine erkenntnisfördernde Beschäftigung mit Mustern sprachlichen Handelns dadurch zu stark beeinträchtigt wird und ich stattdessen lieber – und ja auch zurecht – zu relevanten (und interessanten) Beschreibungen von Phänomenen und nicht zu logisch deduzierten Entwürfen begrifflicher Systeme gelangen möchte. Kurz: Eine theoretische Orientierung soll mich nicht behindern, sie soll mich vielmehr fördern. Es steht also im Grunde die Brauchbarkeit der SAT auf dem Spiel.
Folgend möchte ich mich in den beiden aktuellsten Pragmatikheften der Zeitschrift Der Deutschunterricht (nämlich: Liedtke/Wassermann 2019 und Niehr/Schlobinski 2017) auf SAT-Suche begeben. Die Idee dabei ist: Wenn SAT als eine pragmatische Richtung irgendeine gefestigte Analyserelevanz besitzt (also eine Brauchbarkeit bei der Analyse authentischer Sprachdaten), darf man sie in einer Zeitschrift erwarten, die genau solche Eignung als Analyseinstrumentarium in den Mittelpunkt stellen müsste. Und falls SAT dort irgendwo vorkommt: wie und mit welcher Ausrichtung? Festzustellen ist zunächst einmal, dass SAT in den Aufsatztiteln beider Hefte nicht (oder vielleicht doch ein einziges Mal, s.u.) vorkommt, auch wenn auf dem Cover von Liedtke/Wassermann (2019) in Form einer stehenden Laufschrift zu lesen ist: „Indirekte Kommunikation │ Interkulturelle Missverständnisse │ Sprechakte │ Implikaturen“. Bei Niehr/Schlobinski (2017) hingegen: „Hermeneutik │ Gesprächsanalyse │ Sprechhandlungsanalyse │ Foucault’sche Diskursanalyse.“
Günthner/Wegner (2017) zeigen in ihrem Aufsatz mittels Beispielanalysen von Ausschnitten aus schulischen Sprechstundengesprächen, wie die Konversationsanalyse (folgend auch als GA geführt) die Fragen angeht,
wie soziale Phänomene von Interagierenden erzeugt werden, mittels welcher sprachlich-kommunikativer Verfahren sie die soziale Wirklichkeit, in der sie leben und die sie erfahren, also konkret konstruieren. (Günthner/Wegner 2017, S. 38)
Greifen wir uns eine dieser Analysen heraus. Der folgende Ausschnitt stammt aus „einem Gespräch an einer Gesamtschule“ (Günthner/Wegner 2017, S. 41). Hier „informiert der Lehrer die Mutter über die negativen Resultate ihrer Tochter Jessi in den Klausuren“ (Günthner/Wegner 2017, S. 40). Von Interesse ist insbesondere das in diesem Transkriptausschnitt 3 vorkommende tja in der Intonationsphrase 009, darauf werden wir am Schluss der Besprechung der Analyse dieses Ausschnittes wieder zurückkommen:
Beispiel aus Günthner/Wegner (2017, S. 41)
In den Analysebemerkungen zu dieser Stelle (vgl. Günthner/Wegner 2017, S. 40f.) finden sich zunächst die folgenden (hier nicht bloß sinngemäß wiedergegebenen) Zuschreibungen (durch Fettdruck hervorgehoben sind die dort jedenfalls so vorkommenden Formulierungen):
L stellt eine Frage, worüber M informiert werden möchte (001)
M kommuniziert ihr Anliegen (003–004)
M legt dar, dass sie Informationen dazu haben möchte, ob sich ihre Tochter verbessert habe (003) und ob sie mehr am Unterricht teilnehme (004)
L beginnt in 008 die Übermittlung der Nachricht
L bricht vor einem syntaktischen Abschlusspunkt ab (Aposiopese) und formuliert dann weiter keine Beurteilung oder Bewertung
Diese ersten Analysezugriffe auf das Geschehen sind sehr interessant. Es wird hier nämlich – ganz im Gegenteil zum Modell des gegenseitigen Aushandelns von Sinn und des gemeinsamen Konstruierens von Wirklichkeit – ein einfaches Containermodell der Kommunikation bedient: L und M übermitteln oder kommunizieren sich gegenseitig Informationen bzw. Nachrichten. Man könnte nun sagen, das sei einer gewissen didaktischen Reduktion geschuldet. So verstehe man erst einmal ganz unbefangen, was hier als Geschehen rekonstruiert wird.1 Aber dann heißt es weiter (und nun kommen wir zu tja):
Auffällig ist, dass die Mutter die Äußerung dennoch als eine in pragmatischer Hinsicht vollständige behandelt und damit die Interpretation als Aposiopese (und nicht etwa als Anakoluth) bestätigt: Mittels eines sehr leise geäußerten „tja“ (Z. 009) tut sie ihr Bedauern ob der Tatsache kund, dass es sich ganz offensichtlich um eine schlechte Leistung des Kindes handelt, und liefert damit eine „Verstehensdokumentation“ (Deppermann/Schmitt 2009) des Gesagten. Sie verdeutlicht also, dass sie in der Lage ist, das von der Lehrkraft nicht Explizierte zu inferieren. (Günthner/Wegner 2017, S. 40)
Zweifelsohne ist die Analyse alles andere als unplausibel. Aber ebenso zweifelsohne ist sie alles andere als methodisch abgesichert. Woher will man als Analysierende wissen, dass M hier mit dem leisen tja Bedauern ausdrückt (i. Ü. versteckt sich auch hier die SAT: BEDAUERN AUSDRÜCKEN ist ein expressiver Sprechakt par excellence)? Wie sollen SchülerInnen oder auch Studierende zu dieser Analyse gelangen können? Das gilt nicht nur hier. Auch die Frage, ob M ein Anliegen hat, darf gerade im Hinblick auf den für Eltern sicher nicht immer präferierten Gesprächstyp Sprechstundengespräch wohl noch einmal neu gestellt werden: Hat M ein Anliegen oder muss sich M irgendetwas einfallen lassen nach der (auf mich beim Lesen, aber nicht unbedingt auch auf M in der Interaktion krude wirkenden) Frage in 001, um nicht nichts zu sagen? Dann hat sie kein Anliegen, sondern sie wurde dazu gedrängt, sich eines einfallen zu lassen, damit das Gespräch weitergehen kann (eine alternative Variante wäre ja, dass L einfach erst einmal alles sagt, was aus L’s Sicht wichtig wäre zu wissen über Jessi und ihre schulischen Leistungen). Noch einmal: Diese Analyse ist plausibel, aber sie ist nicht methodisch transparent und genau das könnte ein Problem für SchülerInnen und Studierende sein oder werden. Das trifft auch auf die GA-Analyse als Verstehensdokumentation zu. Wie kommt man zu der Analyse, dass sie in der Lage ist, das nicht Gesagte inhaltlich zu inferieren? Woher kommt die (bei SchülerInnen und Studierenden ja nicht vorauszusetzende) Sicherheit bei diesen Funktionszuschreibungen? Man kann dies auch anders formulieren: Hier werden Funktionen auf der Basis der gut geschulten Intuition professioneller Analysierender zugeschrieben, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, wie man das macht. Empirisch ist diese Analyse hier an der Stelle nur deshalb, weil sie sich auf erhobene Daten bezieht. Nicht aber etwa deswegen, weil sie methodisch mit diesen Daten transparent umgeht. Das ist nicht zu verteufeln, aber dann ist auch nicht zu verteufeln, wenn die SAT überlegt, was ein Vorwurf sein könnte. Und – das werde ich weiter unten vorschlagen – man kann diese beiden Zugriffe auch als aufeinander abstimmbare komplementäre Methoden kombinieren.