60 Kilo Sonnenschein - Hallgrímur Helgason - E-Book
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60 Kilo Sonnenschein E-Book

Hallgrímur Helgason

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Isländischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres Das Erwachen der Moderne im tiefen Schnee Islands. Der große Roman von einem der originellsten Autoren des Landes. So schräg und humorvoll, wie man es von Hallgrímur Helgason kennt, so literarisch und episch wie nie. 60 Kilo Sonnenschein ist die Geschichte von Gestur, einem unehelichen Bauernsohn aus einer isländischen Siedlung am Fjord Segulfjörður. Während er bei immer neuen Ziehvätern heranwächst, schließlich selbst Vater wird, erwacht auch das moderne Island. Große Fischfänger steuern eines Tages den Hafen an, bringen Exotisches und Fremdes aus dem Umland und der weiten Welt. Mit den Waren kommen auch neue Werte, neue Moden und Gefühle ins kalte und tief verschneite Segulfjörður. Humorvoll, turbulent und mit unvergesslichen Figuren erzählt Hallgrímur Helgason vom Weg Islands in die Moderne. Stimmen zum Buch: »Die Figuren, die Helgason sich ausdenkt, sind eine Pracht. Seiner krachend absurden Phantasie verfällt man sofort.« Spiegel Online »Hier kriegt man diese gute alte Leselust. Man verliert sich ganz in der wunderbaren Welt der Fiktion. Ich hatte Tränen in den Augen.« Sigurður Valgeirsson, Kiljan – Isändische TV-Sendung »…für Schriftsteller scheint als Regel zu gelten: je langweiliger ihre Werke, desto spannender ihr Privatleben - wenn diese Sentenz stimmt, muss Hallgrímur Helgasons Privatleben sehr öde sein.« Stuttgarter Zeitung

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Seitenzahl: 738

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Dies ist der Umschlag des Buches »60 Kilo Sonnenschein« von Hallgrímur Helgason, Karl-Ludwig Wetzig

Hallgrímur Helgason

60 Kilo Sonnenschein

Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig

Tropen

Impressum

Diese Übersetzung wurde mit einem Exzellenzstipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Sextíu Kíló af Solskini« im Verlag JPV Útgáfa, Reykjavík

© 2018 by Hallgrímur Helgason

Für die deutsche Ausgabe

© 2020, 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Illustration von © clu, Gettyimages

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50019-6

E-Book: ISBN 978-3-608-12008-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1. Buch

Aus einer Schneewehe bist du gekommen

Kapitel 1

Adam auf der Eisdecke

Am Anfang war das Blatt leer, unbeschriebenes, weißes Papier. Kein einziger dunkler Fleck war darauf zu sehen, weder Punkt noch Komma. Der Fjord war eine einzige, augenlose Schneedecke, vom Wasserfall an seinem hintersten Ende bis zur Mündung ins Meer, und es war unmöglich zu erkennen, wo sich unter ihr Wasser und wo Land befand. Der Neuschnee hatte alle Zeichen der Anwesenheit von Menschen getilgt, der Fjord lag ebenso unberührt unter dem Nordhimmel wie an jenem Tag vor 999 Jahren, an dem er entdeckt und besiedelt worden war.

Diese leere Seite betritt nun ein Mensch, ein erschöpfter Geist mit reifbedecktem Bart über einem verschwitzten Pullover, ein hohlwangiger Mann, der natürlich nicht anders heißen kann als Eilífur Guðmundsson. In der Scharte auf dem Berggrat bleibt er stehen und schaut über den Fjord, der kein Fjord mehr ist, sondern ein schneeweißes Blatt Papier, leer, bis die Geschichte beginnt. Jetzt stapft er in sie hinein, spurt den Anfang, sinkt in dicken Überstrümpfen und flachen Schuhen aus Haileder bei jedem Schritt bis zu den Knien ein. Wir hören seinen keuchenden Atem, vom anstrengenden Gehen ist ihm warm geworden; er versteht gerade gar nichts mehr, er wohnt doch hier, hat hier Vieh und Familie, aber er kann sein Haus nicht finden, obwohl der dreitägige Schneesturm abgezogen ist und der Himmel all seine Schneeschauerröcke gelupft hat.

Eilífur Guðmundsson eilt die Scharte hinab, pulverschneestiebend wie eine glasbärtige Dampfmaschine. Wir folgen dem Schwitzenden mit den kalten Füßen und dem Weihnachtsweizen im Sack und hören seinen rasselnden Atem. Wir hören ihn besser als er selbst, denn wir sind Büchermenschen und verfolgen die Dinge aus gehöriger Entfernung; von der vollkommenen Stille des Lesens umgeben, die um das Bettzeug herrscht, genießen wir es, die Verzweiflung anderer im Schein der Nachttischlampe zu betrachten.

Im Laufe seines Abstiegs wird der Pulverschnee zu Tiefschnee, der Tiefschnee zu Sulzschnee, der Sulzschnee zu Harsch. Der Wanderer sinkt nur noch mit den Sohlen ein bei seinen Schritten heim zu dem, was er für sein Zuhause und sein Leben hielt und das auf Landkarten als Stundarkot eingezeichnet ist, nun aber nicht mehr, denn auch der Hofname liegt unter Schnee begraben. Selbst der Fels von Sólarklettur ist verschwunden, die nie trügende Landmarke, die sonst immer mindestens teilweise frei liegt, ein ewiger Wegweiser für das Heute und das Morgen. Es gibt nichts mehr in der Welt, nichts Festes mehr, an dem man sich festhalten könnte. Der Bauer steht an der Stelle, wo sich sein Hof befand, stößt Atemwolken aus und blickt durch diesen transparenten Dampf mit großen, schwarzen Pupillen, den einzigen dunklen Punkten in diesem weißen Tal; sie klimpern an seinem Grund wie zwei Bohnen in einer Schüssel.

Teufel noch mal, geht es mir jetzt wie dem Adam auf der Eisdecke in Lásis Reimgedicht, dachte Eilífur Guðmundsson und murmelte, ohne sich dessen bewusst zu sein, die berühmten Zeilen aus dem Buch Lási. Der heidnische Zimmermann Sigurlás auf Ytri-Skriða hatte sich einen Winter lang die holzlose Zeit damit vertrieben, etliche der biblischen Geschichten aus den Büchern Mose nach Island zu versetzen.

Auf der Eisdecke Adam stand aufrecht

in Evas Kleidern.

Da watete hüfthoch das Menschengeschlecht

mit Schnee in seinen Adern.

Eilífurs Verzweiflung war so groß geworden, dass er die Mütze abnehmen musste. In der Mitte seines vereisten Barts klaffte eine breite Schmelzrinne. Sie reichte von der Nase zum Mund und weiter bis zum Kinn, wo sie endete. In der Gegend war dieses Phänomen allgemein unter der Bezeichnung »Nasentau« bekannt. Eilífurs schmuddeliges Haar klebte bis zu den großen Ohren in schweißnassen Wellen an seinem Kopf, auf dem ganz oben die Glatze eines Endvierzigers glänzte. Er stapfte hin und her auf dem, was sein Hofhügel sein musste – wo er jedenfalls, nach sämtlichen Orientierungspunkten zu urteilen, liegen musste, aber nun von sämtlichen Landkarten ausradiert war –, und blaffte in die Luft wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hat, den Bissen aber nicht findet. Endlich blieb er stehen und schaute fjordauswärts. Selbst die Kirche von Fanneyri schien im Schnee versunken zu sein, dabei hatte sie einen Turm und war schwarz angestrichen. Die Haifangboote Kristmundurs auf Hvammur waren ebenfalls unsichtbar, obwohl die geteerten und hoch auf ihren Böcken gelagerten Planken am Strand vor dem größten Hof im Segulfjörður sonst nie dem Schnee zum Opfer fielen.

Hatte es dermaßen geschneit, oder waren hier nacheinander vierzehn Lawinen niedergegangen? Und das am Heiligen Abend?

Kapitel 2

Drei Kilo Weizen

Eilífur, der Bauer auf Stundarkot, war zehn Tage unterwegs gewesen, davon vier allein auf dem Rückweg, der sich an einem guten Tag in fünf Stunden zurücklegen ließ. Drei Anläufe hatte er gebraucht, um über den Pass bei Skeifuskarð aus dem Heiðinsfjörður in den Segulfjörður zu gelangen; zweimal war er von dem wilden Schneesturmpaar Hríð und Bylur zum Hof Brekka zurückgeweht worden. Beim zweiten Versuch hatte er kaum einen Arm heben können, die Gewalt des Sturms war so heftig gewesen, dass sie einem Menschen nicht einmal erlaubte, die Augen mit der Hand zu schützen. Das war am Tag des heiligen Þorlákur, und Eilífur hatte es eilig, vor dem Abend nach Hause zu kommen. Dort warteten Frau und Kinder, und es würde kein richtiges Weihnachten werden, wenn es keinen Weizen gäbe. Nach einem halben Tag anstrengenden Aufstiegs, während dessen Bylur ohne Unterlass aus seiner Schneekanone auf ihn feuerte (die Salven kamen von Süden und prasselten auf Eilífurs linke Wange), hatte er schließlich aufgeben und umdrehen müssen. Da tat Bylur das Gleiche und griff von Osten an. Eilífur musste auf allen vieren kriechen und traf erst fünf Stunden später in mitgenommener Verfassung wieder beim Ehepaar Kröyer in Brekka ein.

Als man ihn wie einen auftauenden Eisritter – so knarrte seine Rüstung – in den gedeckten Gang des Hofs und weiter ins Haus führte, schien ihm der Raum in ein rötliches Licht getaucht; die Flamme der Tranfunzel wirkte auf ihn blutrot und erinnerte ihn an die Beschreibung von Freudenhäusern in der Südsee, wie sie in dem Buch Seewind beschrieben waren, aus dem ihm Lási auf Skriða einmal vorgelesen hatte.

»Haben wir … schon Weihnachten?«, kam es kläglich über seine frostgesprungenen Lippen. Er fürchtete, seine Liebsten enttäuscht zu haben. Während er fragte, geriet er vor einen schwarzfleckigen Spiegel, der an einem Pfosten hing, und sah, wie es um ihn bestellt war: Seine Augen waren bis an die Pupillen blutunterlaufen, und in ihrer Mitte leuchtete ein voller Mond an einem zerfaserten Himmel. Für ihn sah es so aus, als wäre das Nadelöhr seiner Seele in blutrotes Mondlicht getaucht, denn seine Augen waren ganz rot entzündet. Man klopfte ihm die dicksten Schneeplacken von der Kleidung und geleitete ihn durch den Gang zur Küche, wo man ihn über das Herdfeuer stellte und zweimal abschabte. Sein ganzer Körper weinte, als die Flammen nach dem Eis leckten.

Und das alles für drei Kilo Weizen, Brot und Kuchen …

Kapitel 3

Klapplukenkiosk

Dem Kaufladen im Segulfjörður, in einer Ecke des Lagerhauses auf Fanneyri untergebracht, waren nach monatelanger Treibeisblockade die Waren ausgegangen. Allerdings hatte man von einem Handelsschiff im Óðalsfjörður gehört. Von dort erstreckte sich nahe unter Land eine Rinne im Eis nach Osten, und der Schoner hatte sich hindurchmanövriert wie ein segelgetakelter Bartenwal mit langem Bugspriet. Fy fan, soll mir der Teufel die Bramsegel zerfetzen, hörte man an Bord jemanden laut denken, irgendwer muss diesen Hungerhaken doch Mehl liefern, und man muss dieses Volk von Hungerleidern durchfüttern. Fragt mich bloß nicht, warum und warum ausgerechnet ich. Was sie im Austausch dafür liefern, ist ja kaum einen Fischschwanz wert, eingekochter Haischweiß, Blutwurst und uralter, getrockneter Kabeljau …

So sah das dänische Denken aus, welches das Schiff steuerte, schließlich waren die Dänen seit Jahrhunderten die Herren der Insel, und diese Verbindung hatte die Geduld beider Seiten auf eine große Probe gestellt, denn Island war die Kolonie, die sich weltweit am schwierigsten ausbeuten ließ. Die Herren waren angesichts der Unkosten seit Langem ungehalten, und die Dänen in Island waren alle mürrisch und verdrossen.

Daher war dem Kapitän der Kram, der für die isländischen Kleinbauern an Deck herumlag, herzlich gleichgültig, und er ließ die Waren durch ein Bullauge am Heck hinausreichen. So entstand der erste Kiosk in der Geschichte des Landes, der aus einer Klappluke verkaufte.

Die Leute ruderten also zum Schiff, riefen Art und Menge der Bestellung auf ihren rührend ärmlichen Einkaufszetteln durch das Loch und warfen einen leeren Sack hinterher. Wenig später erschien er wieder, und der Handelsbeauftragte der Konsumgesellschaft, der isländische Kaufmann, der um die halbe Welt angereist war, aus Fagureyri, dem Hauptort des Landesviertels, legte Münzen in die ausgestreckte dänische Hand. Anschließend trug er die Entnahmen des betreffenden armen Kätners in seine Bücher ein. So funktionierte die hiesige Volkswirtschaft. In den drei Fjorden hatte keiner mehr Bargeld gesehen, seit ein geistig verwirrter Wanderprediger in der Kirche von Fanneyri die Existenz des Teufels beweisen wollte, indem er mit einem brennenden Fünfklauenschein wedelte, den er für die Währung der Hölle ausgab. Stattdessen lieferten die Leute ihrem Kaufmann Schaffelle und Lebertran, Fleisch und abgesengte Schafsköpfe und nahmen im Austausch dafür Schnaps, Zucker und Schuhe entgegen.

Kaufmann war, wer den klangvollsten Namen hatte (Sigurður Schiöth, Elíbert Hansen …), sich am besten kleidete und Dänisch sprach. Überdies musste er einen eindrucksvollen Bart tragen, von imposanter Statur und freundlich im Umgang, zugleich aber ausgesprochen knauserig sein, besonders beim Verkauf von Alkohol. Letztere Charaktereigenschaft war ganz besonders isländisch: Die isländischen Kaufleute waren weltweit die einzigen, die sich nicht gern von ihren Waren trennten, jeder »Verkauf« verursachte ihnen schmerzliche Enttäuschung, jeden »Kunden«, der durch ihre Tür schlurfte, betrachteten sie mit einem seufzenden Auge. Das bargeldlose Wirtschaftssystem und die Entfernung von den Häfen der Welt führten dazu, dass der Kaufmann die Waren in seinem Lager als sein persönliches Eigentum betrachtete, das er unter größten Mühen beschafft hatte und deshalb nur widerwillig hergab. Es war doch offensichtlich, dass ein lederbeschlagener Holzschuh, von einem Handwerker in Hamburg oder Hellerup her- und im Regal eines isländischen Fjords aufgestellt, einen ebenso weiten Weg zurückgelegt hatte wie Seide aus China in Kopenhagen. Die einzige Möglichkeit des isländischen Kaufmanns bestand somit darin, den Preis dafür so hoch anzusetzen, dass niemand ihn kaufte. Daraus entwickelte sich die bis heute gepflegte isländische Geschäftspraxis, so wenig wie möglich für so viel wie möglich zu verkaufen. Manche gingen sogar so weit, ihre Artikel lieber selbst zu nutzen, etwa Geschirr und Hosenträger; denen war der Gebrauch kaum anzusehen, und so konnte man sie jederzeit wieder in den Laden zurückstellen. Allerdings waren die Kaufleute früherer Zeiten dauerndem Druck von Seiten der notleidenden, von Hunger und Knechtschaft ausgezehrten Bevölkerung ausgesetzt, und so war die Tätigkeit des Kaufmanns eine ebenso undankbare wie zermürbende. Nicht alle schafften es, ihre Lager gut zu verteidigen. Der Vorteil bestand darin, dass es so gut wie der einzige Beruf war, der sich in geschlossenen Räumen ausüben ließ.

Der ehrenwerte, höchst respektable Herr in unserer Geschichte, der von einem prächtigen Vollbart gezierte Eðvald Kopp, befand sich jedoch auf einer außergewöhnlichen Unternehmung weit weg von seinem Zuhause, seinem Tisch und seiner Kasse in Fagureyri und war deswegen ein wenig ungehalten und schlecht gelaunt. Sein Heimatfjord, der mächtige Eyrarfjörður, war ebenso zugefroren wie alle anderen (der Frost beißt alle, Volk wie Faktor), ausgenommen diesen Seehundsfott von Óðalsfjörður, dem einzigen, in den ein Schiff einlaufen konnte. Statt seines Huts hatte der Kaufherr drei Tage lang eine Mütze tragen und unter einem Dach aus Grassoden schlafen, hatte zu Pferd einen Bergrücken überqueren und ganze Schluchten voller Neuschnee durchwaten müssen. Sein voluminöser Bauch hatte davon allerdings nicht viel Schaden genommen (es lagen drei Gratismahlzeiten mit Hangikjöt und Skyr hinter ihm) und wölbte sich mächtig am Ufer, um zu signalisieren, mit wem man es zu tun hatte, einem mand med mænd, einem Mann unter Männern.

Denn es war keineswegs die ganze Nation aus Schneewehen geschnitzt, auch hier gab es Menschen, die gut im Futter standen.

Der Kaufmann zog seinen Zylinder aus dem Futteral, während er sich zum Schiff rudern ließ, aufrecht im Boot stehend, sodass seine Rockschöße wunderbar im Wind flatterten. Etwas angesäuselt erschien er einen Mittag später wieder und wählte drei schaffarbene Bauern aus, die ihn in der Jolle begleiten sollten, weil er nicht vorhatte, sich an ihren Säcken die Finger schmutzig zu machen, die sollten sie schön selbst durch das dänische Bullauge bugsieren. Das war lediglich eine Notlösung, der Lukenhandel war eigentlich nur für die Leute der näheren Umgebung vorgesehen, doch der Hunger nach Brot hatte auch viele Bauern von weiter weg hierhergetrieben, selbst solche, die nicht in Kopps Büchern standen, aber auf Verständnis und Großzügigkeit in Anbetracht der Umstände hofften. Zwar war die Ära des Handelsmonopols in Island längst vorüber, aber noch immer besaßen die Kaufleute ihre Bauern und die Bauern ihre Kaufleute.

Kapitel 4

Neunundneunzig Forellen

Eilífur kam erst spät, das Licht am Himmel ließ bereits nach, und die meisten anderen befanden sich schon auf dem Heimweg, es war ein Schneesturm im Anzug. Eine Einkaufstour stand aber noch aus; auf einer Bank gegenüber dem dänischen Ruderer, einem jungen, noch bartlosen Kerl mit krebsrotem Gesicht, hockte der einarmige Bauer auf Tvíhamar im Óðalsfjörður mit seiner ewigen Gewittermiene. Aus Ehrfurcht vor Kopp und Krone hielt er seine Kopfbedeckung trotz der Kälte in der Hand. Der Kaufmann stand noch am Ufer, als der große Mann mit seinem leeren Sack erschien.

»Stundarkot? Du hast bei mir nichts abgeliefert.«

»Nein, wir Segulfjorder liefern gewöhnlich an den Fanneyrihandel von Sigurður.«

»Was hast du dann hier verloren? In meinem område und meinem Schiff?«

»Dem guten Mann ist das Getreide ausgegangen. Das Treibeis!«

»Das ist mir ein armer Kaufmann, der sein Magazin leer werden lässt. Was soll das für ein Unternehmen sein?«

»Er sagt, auf Säcken schlafe er nicht besonders gut, der Sigurður.«

»Ach so? Und was hast du heute für mich? Im Segulfjörður drucken sie ja nicht gerade Geld.«

»Ich dachte mir … hm, dreizehn Forellen für drei Kilo Weizen. Es ist ja Weihnachten, und die Frau …«

»Ah, Weihnachten und die Frau. Soso! Und wo sind die Forellen?«

»Im See zu Hause.«

»Aha. Und warum hast du sie nicht mitgebracht?«

»Na ja, er ist doch vereist, der See, knüppeldick zugefroren.«

»So? Und wann bekomme ich sie dann?«

»Im Frühling. Im Frühling kann ich sie abliefern.«

»Drei Kilo Weizen für dreizehn ungefangene Forellen? Ich verlange dreiunddreißig Forellen pro Kilo Weizen.«

Auf den letzten Worten rutschte der Kaufmann ein wenig aus, und Eilífur erkannte, wie auch andere Umstehende, dass der Rum des Schiffskapitäns Wirkung zeigte. In der Nähe stand der Pferdeknecht des Kaufmanns mit Hund und Pferden sowie zwei namenlosen menschlichen Schemen, und sie hörten das Gespräch mit an, ebenso wie zwei Bauern etwas weiter entfernt, die sich über ihre frisch gefüllten Säcke beugten und sich mit ihren Kötern für den Heimweg rüsteten.

»Neunund… Forellen?«, wiederholte Eilífur und spürte, wie sein Herz heiß wurde und siebzehn verschiedene Gedanken in seinen Blutkreislauf pumpte. Was konnte man dazu sagen?

»Jawohl, ni og halvfems ørreder!«

Eilífur betrachtete einen Moment das trunkene Gesicht des Kaufmanns, die kleine Nase, die großen Wangen, den gewichsten Schnurrbart, die eingesunkenen Augen unter dem glasharten Hut. Und plötzlich sah er vor sich, wie an einem schönen Frühlingsabend neunundneunzig Forellen aus dem Stundarvatn aufstiegen, durch den Fjord und über die Berge und eine weite Strecke durch die Luft schwebten, bis sie wie ein Kometenschweif über Fagureyri auftauchten, Kurs auf das Holzhaus von Kopp nahmen, dort in den Schornstein eingesaugt wurden, aus dem Herd herausflogen und geradewegs in die Diele marschierten (die führende Forelle fand gleich heraus, wo das Esszimmer lag). Dort stellten sie sich im Licht der Deckenlampe in einer Reihe entlang des Esstischs auf, an dem Herr Kopp mit umgebundener Serviette und offenem Schlund saß. Da hinein verschwanden sie mit großer Geschwindigkeit, eine nach der anderen. Neunundneunzig Mal musste der Kaufmann schlucken.

All das sah er vor sich. Nur sagen konnte er nichts. Und so standen sie voreinander, der langgliedrige, erschöpfte Bauer und das beträchtliche Gesäß. Aus dem einen stieg eine Atemfahne auf, der Rauch aus dem Schornstein einer menschlichen Maschine, aus dem anderen kam nichts, er schien aus massivem Holz geschnitzt zu sein. Wie war es möglich, dass das kleine Holzmännlein auf einen so hochgewachsenen Mann herabsah? Der große Zylinder reichte Eilífur gerade mal bis zu den Augen. So hatte der Bauer das kreisrunde Hutdach des Kaufmanns horizontal im Blick, und es glich nichts mehr als einem wunderschönen Fleckchen des Paradieses: Obwohl gerade Schneeflocken vom Himmel fielen, blieb keine von ihnen auf dem edlen Dache liegen. Doch plötzlich ging im Gesicht Kopps eine leichte Veränderung vor sich, und einige Schneekörner später drehte er das Gesicht seewärts. Erbrochenes flog in einem langen, majestätischen Bogen aus seinem Mund und landete mit lautem Platschen im Wasser.

Eilífur blickte zum Boot und sah, dass es sich bei dem Mann, der mitten im Gespräch mit Kopp in die Jolle geklettert war und sich neben den einarmigen Bauern mit dem verbiesterten Gesicht gesetzt hatte, um niemand anderen als einen Knecht Kristmundurs von Hvammur handelte. Jakob hieß er, ein Mann mit kräftigem Kiefer, den eine Schifferkrause bedeckte. Warum sollte er zum Schiff fahren dürfen, Eilífur aber nicht? Sie kamen beide aus dem Segulfjörður, beide aus dem Bezirk einer anderen Handelsniederlassung. Jetzt sah er, wie ihm dieser Jakob ausgesprochen freundlich zunickte, eine Bewegung, die alles zugleich ausdrückte: 1. Soso, du hast also kein Korn mehr, armer Kerl? Ist doch immer das Gleiche mit dir. 2. Glaubst du wirklich, für dich gilt das Gleiche wie für uns Hvammsleute? 3. Bestimmt nicht. Kopp ist eben ein völlig verrückter Geizkragen, der nicht weiß, wie man sich besäuft. Guck nur, wie unmöglich er kotzt, noch dazu diese feine Mahlzeit, die er an Bord bekommen hat.

Der Kaufmann stand noch immer sabbernd über sein Erbrochenes gebeugt am Ufer, der Zylinder war ihm vom Kopf gefallen. Eilífur sah, wie er vor dem Wind über den schneebedeckten Strand rollte, Schwarz auf Weiß, wie eine vornehm glänzende Frucht aus einem Obstgarten, die in ein eiskaltes Jammertal gefallen war und dort herumtrudelte. Er erkannte seine Chance, tat die erforderlichen Schritte und fing den Hut ein, bevor ihn der Pferdeknecht erwischte.

Der Kätner hob für den Kaufmann den Hut auf und hielt ihn verlegen in der Hand wie ein schüchternes Mädchen einen Blumenstrauß, während der mächtige kleine Mann sich weiter auskotzte. Endlich hatte Kopp den letzten Schleim herausgegurgelt, richtete sich auf und sah sich um, mit einem Kopf wie eine knallrote Sonne über einem grau glänzenden Meeresspiegel. Wo ist der Hut? Wo ist das Boot? Wo, um alles in der Welt, bin ich? Als er in seinen feinen französischen Lederstiefeln durch den Schaum am Ufer zurückwatete, war alle Luft aus ihm gewichen, Müdigkeit schien ihn zu übermannen. Was für eine gewaltige Strapaze war es doch, diesen Hungerkünstlern etwas von fremden Handelspartnern zu verschaffen …

Wortlos ging Kopp zu seinem Hut wie eine Mutter zu ihrem Kind und nahm ihn Eilífur aus der Hand, dann drehte er sich wieder um und beorderte das Boot heran. Während der dänische Ruderer die Jolle näher ans Ufer brachte, wandte sich Kopp an den langen Bauern und rief ihm etwas zu, das entweder »Nun komm schon!« oder »Scher dich zum Teufel!« bedeutete. Im Kopf des Bauern von Stundarkot kam es auf das Gleiche hinaus, und er trottete zum Ufer. Wie er da vor dem tänzelnden Boot mit drei Sitzenden und einem stehenden Kaufmann stand, drückte seine Haltung die stumme Frage aus:

»Was ist mit dem Kilopreis? Ich kann nie im Leben dreiunddreißig Forellen pro Kilo bezahlen.«

»Losjetz, mach schon! Wir regeln das irgendwie«, rief ihm Kopp lallend zu.

Der Zylinderträger schien mit dem Übrigen auch den größten Teil seiner Arroganz erbrochen zu haben, und in seinen Augen war etwas Seltenes und darum umso Bemerkenswerteres zu lesen, so etwas wie Verständnis. Gab es in diesem gottserbärmlichen Jammertal doch so etwas wie Hoffnung auf Glück? Bewegte hinter diesem Dezembertag eine milde Hand das Eismeer? Die Hand des Allmächtigen? Nein, wohl kaum, dachte Eilífur, bestenfalls die fehlende Hand des Einarmigen von Tvíhamar, der da, in seine eigene Atemwolke gehüllt, im Boot wartete. Eilífur gab sich einen Moment, um nachzudenken. Für seinen Geschmack lagen die Dinge viel zu unklar. Wie das Boot und der schöne Zylinder schaukelte vor ihm auf den Wellen auch der Kilopreis auf und ab, auf dem ewig bewegten Meer, doch dann sah er sein weihnachtliches Zuhause vor sich, die Gesichter, die liebe Guðný und die Kinder, und da watete er hinaus in das eiskalte Vage, das isländische Geschäfte so oft kennzeichnete, stieg über das Dollbord und kauerte sich hinter dem tiefrot angelaufenen Ruderer auf eine Bank.

Über dessen Schulter sah er den Zylinder hinter dem Knecht Jakob ins Boot sinken, der mit einem müden Grinsen seine Schifferkrause um sich breitete. Neben ihm saß nach wie vor der Einarmige mit seiner ewigen Schneesturmmiene. Doch gerade war sie ganz angemessen, denn es stürmte und schneite inzwischen recht tüchtig.

War das Ganze nicht ein sinnloses Unterfangen, fragte sich Eilífur. Sollte er wirklich dem haarigen Wort eines besoffenen Kaufmanns trauen? Doch dann sah er bloß noch die riesigen Pranken des Weltenlenkers vor sich aus dem Dunkel auftauchen und das dänische Boot vom Land wegdrücken. So war der Lauf des Lebens, so ging es immer weiter, eins folgte aufs andere, wer im einen Augenblick an Bord ging, saß im nächsten auf See fest. Es wurde dunkler, die Unwetterwolken wurden noch eine Spur düsterer, und das Meer wurde entsprechend unruhiger. Der Strandwall antwortete mit Wind, in langen Bögen stoben Schneefahnen von ihm auf wie Momentaufnahmen des ersten Peitschenhiebs, der auf den Rücken des Unwetterdämons klatscht und ihm in seine langen, hängenden Ohren schreit: Los! Hopp!

Der völlig erledigte Handelsvertreter durfte an Bord des dänischen Schiffs übernachten, die Hungerkünstler machten sich auf den Heimweg in ihre Stuben und verschwanden wie Pferde mit lederumwickelten Hufen im Schneegestöber.

Und nun stand er also hier, Eilífur, allein auf dem weiten Schneeschleier, schweißnass vor Angst, und dachte: Drei Kilo Weizen für das hier? Drei Kilo Weizen für meinen Hof, Frau, Kinder und Kuh? Drei Kilo Weizen für mein ganzes Leben?

Da hörte er plötzlich ein Muhen unter seinen Füßen. Es muhte tief unten im Schnee.

Kapitel 5

Romulus im Iglu

Muh! Muuh!

Eilífur begann in Richtung des Muhens zu kratzen; es klang dumpf wie ein Blasinstrument aus dem Jenseits. Eine Posaune aus der Unterwelt. Er konnte nichts dagegen tun, er sah einen rotgescheckten Mann vor sich, der in eine goldene Lure von der Länge einer Sense blies, die am Ende gekrümmt war wie eine Sichel.

Oh, Helga, wo bist du? Meine Helga …

Er grub zwei Löcher in den Schnee, hatte aber ständig das Gefühl, die Kuh Helga befände sich hinter ihm, und grub an einer anderen Stelle weiter. Oder existierte das Muhen nur in seinem Kopf? Das war natürlich möglich, darin kam eine ausgewachsene Kuh unter, ein Stall, der Fjord, die Berge, ja die ganze Welt. Problemlos fand das alles im Kopf eines Menschen Platz.

Dachte Eilífur.

Solche Gedanken hatte er öfter, nicht zuletzt in schicksalsschweren Stunden, apokalyptischer Unsinn, der nicht zur Sache gehörte und ihn schon so manches Mal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Etwa als ihn der Bezirksrichter einmal wegen eines Stücks Walfleisch verhört hatte, da hatte er mit seinen langen, bestrumpften Beinen vor der personifizierten Bartpracht gesessen und plötzlich an Eier denken müssen. Viele, viele Eier. Vor seinem inneren Auge hatten sich Tausende aneinandergereiht, und in seiner Vision hatte er einen Teelöffel mit dem Auftrag bekommen, jedem Ei auf die Spitze zu klopfen und mitzuzählen, auf wie viele er klopfte. Das war eine gemein schwere Aufgabe, denn zwischendurch musste er immer wieder auf die Fragen des Bezirksrichters antworten.

»Was haben Sie am fraglichen Abend auf Bakki gemacht?«

»Eier aufgeschlagen.«

»Mit Verlaub?«

»Nein, mit einem Löffel.«

Die Eier hatten ihm zwei Monate Gefängnis in der Hauptstadt eingebracht. Darauf hatte er sich sogar gefreut, endlich einmal aus dieser aus drei Fjorden gebildeten Mistgabel herauszukommen, denn er war damals als Knecht auf Hvammur verdingt und saß dadurch dort so unverrückbar fest wie die Steine in der Hofmauer. Für einen solchen Mann hörte sich eine Gefängnisstrafe mit dazugehöriger Schiffspassage nach Süden in die Hauptstadt fast wie eine Weltreise an. Aufgrund der Eislage konnte das Urteil allerdings in jenem Winter nicht vollstreckt werden, und im folgenden erhielt er keine Aufforderung, sich einzufinden. Das isländische Rechtswesen war für sein Schneckentempo bekannt, es vergingen oft Jahre zwischen einem Verbrechen und den ersten Verhören, noch mehr Zeit verstrich von den Vernehmungen bis zur Verurteilung und vom Urteil bis zur Inhaftierung. Manchmal verbüßten alte Leute Strafen für Verbrechen, die sie in jungen Jahren begangen hatten. Das einfache Volk nahm es mit Gleichmut, denn es sah lange kaum einen Unterschied zwischen Gefängnis und Knechtschaft. Die Unfreiheit war nahezu die gleiche, auch wenn es Mägden und Knechten einmal im Jahr erlaubt war, die Herrschaft zu wechseln. Dagegen hieß es, im Gefängnis brauche man nicht zu arbeiten.

Eilífur war die längste Zeit Mitglied jenes Standes, dem die Mehrheit des Volkes angehörte und der in offiziellen Dokumenten »Gesinde« genannt wurde. Da alles nutzbare Land in Besitz genommen und die Insel somit von den landeinwärts gelegenen Tälern bis zu den äußersten Landspitzen seit Langem »ausverkauft« war, wurde das Gesinde gezwungen, sich bei einem Bauern dienstzuverpflichten, und diese Versklavung nannte man »sich in Stellung begeben«. Knechte und Mägde unterstanden der strengen Aufsicht und Zucht des Bauern, und durften weder heiraten noch Kinder bekommen. Diese isländische Form der Sklaverei, die jahrhundertelang Bestand hatte, war zwar seit Neuestem gesetzlich verboten, doch mit den Gesetzesänderungen verhielt es sich wie mit der Gerechtigkeit: Bis sie im Norden ankamen, konnten Jahre vergehen. Allerdings waren Knechte in Island nicht ganz ohne Einkommen, und so hatte Eilífur im Lauf von zwanzig Jahren die Mittel für ein Häuschen und drei Lämmer zusammengespart. So war er zum Kätner mit Frau, Kindern und Kuh aufgestiegen. Wo das alles auch heute geblieben sein mochte. Jenes Urteil aber hing noch immer über seinem Kopf, es schien im Getriebe des Systems stecken geblieben zu sein. Er selbst vergaß es mitunter für längere Zeit, konnte sich aber auf seinen schlimmsten Schneewanderungen durchaus für den Gedanken erwärmen, nach Süden in ein ordentliches Zuchthaus zu kommen.

Eilífur zog beide Paar Fäustlinge aus und grub mit seinen bloßen langen Fingern weiter, hörte wieder das Muhen in seinem Kopf, warf sich herum und rang die Hände über dieses teuflische … Da brach er plötzlich bis zur Hüfte durch die Schneedecke. Es gab also einen Durchlass zwischen dieser Welt und der anderen, und so verschwand Eilífur von der Schneebildfläche in sein früheres Leben, denn bis auf den alten, schmutzig braunen Sack mit dem Weihnachtsweizenmehl war nichts mehr von ihm zu sehen.

Er ertastete Stufen, und bald hatte er den lockeren Schnee unter der Harschkruste hinter sich gelassen. Achtzehn Stufen zählte er hinab ins Schneedunkel, das sich von anderer Dunkelheit dadurch unterschied, dass es schneehell war. Sein Herz schlug schneller und schickte ihm Gedankenpfeile, die an ihren Spitzen die Augen seiner Kinder trugen und … Sie hatte sich also ins Freie gegraben, also lebte sie! Sie waren alle da, auch die Kuh!

Endlich kam er unten an, seine fischlederbesohlten Füße stießen auf Grund, eine Art Fußboden, und die Kuh brüllte nun lauter als zuvor. Eilífur schob seinen langbeinigen Leib über die letzten Stufen nach unten und seinen Hintern über den Eisboden, bis er diesen merkwürdigen weißen Tunnel hinter sich hatte. Der dunkle, enge Gang in sein Haus nahm ihn auf, doch bald schon musste er kriechen, weil er unter der Last des Schnees streckenweise eingebrochen war. An seinem Ende leuchtete ein hoher Haufen Schnee. Auf allen vieren erreichte Eilífur die Wohnstube und blickte in … zwei Augen, die großen Augen des kleinen Gestur, der den väterlichen Weihnachtsmann anstrahlte, runde Äuglein, die wie angelaufene Messingknöpfe im Schneedunkel glänzten. Ein Milchfaden lief ihm aus einem Mundwinkel, er saß am Euter der Kuh und hielt eine Zitze in der Hand wie ein Romulus ohne Remus, ein zweijähriger Knirps in der Obhut einer Kuh. Helga lag in ihrer Stallbox und drehte dem Bauern den mächtigen Kopf zu, rollte mit den Augen, muhte noch einmal und schüttelte kräftig das Haupt, ihre wedelnden Ohren schlugen Eisbröckchen aus der Schneewand, die nun direkt vor ihr stand. Sie war offensichtlich zutiefst entrüstet, dass er so spät kam.

Über dem Rücken der Kuh hing die Decke schräg, ja, das war sie, die Schrägdecke der Kuhstallwohnstube, an mehreren Stellen eingebrochen, wo das Weiß durchschien wie das Futter eines Kleidungsstücks. Ein Ende lag eingestürzt auf dem Boden, das andere hing bedenklich durch und wurde von drei neuen Balken gestützt, die wahrscheinlich seine Frau eingesetzt hatte. Den Rest des Raums bedeckte eine einzige Schneehalde. Sie hätten mich mehr dafür auslachen sollen, dass ich ein klinkerverschaltes Dach wollte … Eilífur ließ seine Blicke suchend durch den Raum wandern und entdeckte die Beine seines Lebens, seiner Freude und seiner Liebe. Sie ragten zu seiner Linken unter der Schneehalde hervor, zwei hübsche Beine, die ihn mit der Erde verbunden hatten, in selbstgenähten Schaffellschuhen mit dem blauen Muster auf dem Spann, das nur Guðný zu sticken verstand, sie allein von allen im Fjord. Jesus im Himmel und Satansbraten in der Hölle, sie war …

Und wo ist das Mädchen? Mein Mädchen!

Der kleine rotbackige Gestur brabbelte jetzt mit ausgestreckten Armen, und Eilífur ging zu ihm und nahm den niedlichen Knirps auf den Arm. Was ist hier passiert? Die Kuh sah zu Eilífur auf, und für einen Moment hatte sie Menschenaugen, die ihm die traurige Geschichte der vergangenen Woche mitteilten. Der Bauer rang nach Atem. Was war es aber auch warm in einem solchen Schneehaus! Er fragte den Kleinen mit einem Kloß im Hals: »Wo ist die Lára? Wo ist deine Schwester?«

»Mama!«, antwortete der Junge auf seinem Schoß und zeigte mit einem Gesicht auf die Beine, das zum Traurigsten gehörte, was Eilífur in seinem Leben je gesehen hatte.

Er setzte den Jungen auf den Boden und begann, seine Frau auszugraben.

In zähneknirschender Verzweiflung schaufelte er wild drauf los, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, während sich sein Herz langsam mit Reif überzog.

Dieser Leib, dieser Körper, über den zu staunen er nie aufgehört hatte, den er liebte, an dem er sich erfreute, diese Lebensenergie, die sich unter ihm wand und regte, warm wogende weiche Haut, die ihre Hütte noch jedes Mal in ein tranerhelltes Liebesschloss verwandelte, mit einer dreizehnköpfigen Leibwache zu jeder Seite des Betts und einem angeketteten Löwen am Kopfende, mit Aussicht auf zwei Pyramiden, dieses hautweiche Stallgebäude des Lichts, das ihre drei Lämmer geborgen hatte, eins war gestorben, die beiden anderen hatten überlebt; jetzt strich er den Schnee davon ab wie Salz von einem toten Fisch: Da waren der Rock, die Schenkel, die Hüfte, der Bauch, der Pullover, die Brüste … alles wie bei den Schafen, die er im vorigen Winter aus einer Kluft gegraben hatte, alles eiskalte Eingeweide, all das, ohne das das Leben nicht existieren kann, das es aber gleichwohl zurücklässt, wenn es sich aus einer Schneewehe verflüchtigt.

Guðný sah aus wie immer, nur das Leben fehlte ihr, was immer das auch war. Er grub ihre Hand aus, der Schnee war grobkörnig, am Ärmel klebte kalter Staub, die Hand selbst war ebenfalls eiskalt, doch weich; es war ihre linke. Oh, diese abgearbeiteten Finger mit Trauerrändern unter den Nägeln, diese dennoch feinen Traumfinger, die ihm das Leben zurückgegeben hatten … Er stieß ein Seufzen aus, dann kamen die Tränen, das ertrug er nicht, und er verschaffte sich mehr Raum in diesem Sarg, indem er die Arme hob und Schnee von der Decke kratzte und kratzte wie ein Polartier, das sich zum Überwintern eine Schneehöhle gräbt. Dann schaufelte er das Herabgefallene von ihr und grub sich in ihre Ruhestatt, wischte ihr den Übeltäter aus dem Gesicht und betrachtete lange ihre geschlossenen Augen. Die Frau war schön leichenblass, die dunkelrote Brandnarbe, die vom rechten Ellbogen über Schulter, Hals und Wange bis zu den Augen reichte, war verblasst und kaum noch zu sehen. Nie zuvor hatte dieser Engel so hübsch ausgesehen. Eilífur beugte sich über den Leichnam und küsste ihn auf die Lippen. Als seine verfrorenen Memmen die weichen Schneehausmäuschen berührten, war es für ihn offenbar, dass er tot war und nicht sie. Das Herz war anderer Ansicht und schickte ihm ein Bild von sich. Obwohl es mit Eis bedeckt war wie ein Segel im Sturm, war zu sehen, dass das verdammte Ding noch schlug.

Schluchzer prasselten in ihm wie Flammen im Herd: Er hatte seine Guðný verloren, für drei Kilo Weizen. Dann brummte Helga die Kuh, und er kam wieder zu sich, entsann sich des Kleinen und kroch rückwärts auf allen vieren aus seinem letzten Brautbett. Gestur aber war verschwunden. War er verschüttet worden?

Eilífur sah sich blitzschnell um und wurde wieder vollends wach. Was, um Himmels willen, war dem Kleinen zugestoßen? Endlich fielen ihm die Treppenstufen ein, und er stürzte aus diesem Abteil des Todes an das fjordweiße Oberdeck. Und da war er, der kleine Gestur. Saß neben dem Sack, das Gesichtchen ganz weiß von Weizenmehl.

»Mmh!«

Kapitel 6

Drei Männer mit Teelöffeln

»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.« Daran erinnerte sich Eilífur, als er mit dem Jungen auf dem Arm durch das taghelle Tal stapfte. In seinen Gedanken hörte er die Stimme Séra Jóns auf Fanneyri, wie er bei jeder Beerdigung mit tiefer Bassstimme diesen Psalm betete. Manche waren ihm deswegen böse und beschuldigten den Pastor der Einfallslosigkeit und Faulheit, doch Eilífur gehörte nicht zu ihnen, und das hatte Früchte getragen, er, ein ungebildeter Mann, konnte ihn nun auswendig: »Dein Stecken und Stab trösten mich.« Er war mit seinem Pastor zufrieden, obwohl er den Leuten durchaus darin zustimmte, dass Séra Jón bei Begräbnissen manchmal ungebührlich betrunken war.

Jetzt standen zwei solcher Anlässe bevor, die Beisetzung seiner Guðný und die der kleinen Lára. Als er den ausgestreckten rechten Arm seiner Frau ausgegraben hatte, lag in deren Hand die fünf Jahre alte Hand ihrer Tochter. Manche erhalten ihre ganze Last gleich auf einen Schlag.

Obwohl Trauer seinen Hunger zur Hälfte gefressen hatte, war er dem Beispiel seines Sohns gefolgt und hatte sich tüchtig Milch aus der Kuh in den Mund gespritzt. Jetzt hielt er an, setzte den Jungen ab, ging ein Stück zur Seite und schlug, dem Meer zugewandt, sein Wasser ab. Käme der entspannte Leser nun aus seinem Sessel hinab auf den Gipfel des Strókstindur, dann würde er von dort zwei dunkle Flecken auf dem weißen Talboden entdecken, einen großen und einen kleinen, und von dem großen einen langgezogenen Schrei hören und so etwas wie wedelnde Arme sehen. Das Schreien des Mannes echote, vom Schnee gedämpft, zwischen den steilen Berghängen und hallte dann aus, verklang aber nicht ganz, sondern verschmolz mit dem Heulen und Wehklagen sämtlicher Epochen, die zusammen das bildeten, was »der Grundton des Daseins« genannt wurde und in jedem isländischen Tal zu vernehmen war, wenn man nur genau hinhörte.

Der Kleine wollte ebenfalls Pipi machen, und nach umständlichem Beistand langer väterlicher Finger gelang es ihm auch. Eilífur hatte sich bis dahin nie um des Sohnes Pinkeln kümmern müssen und war überrascht, welch kräftiger Strahl aus einem so kleinen Hahn kam. Anschließend setzte er sich den Jungen auf die Schultern, und so gingen sie talwärts in Richtung des Hofs Stund, obwohl von dem weder ein Giebel noch Rauch zu sehen waren. Wahrscheinlich überquerten sie gerade den See, Stundarvatn, die Schneedecke war vollkommen eben, und es ging sich nun leichter, das weiße Pulver war nur knöcheltief und darunter lag eine Eisschicht.

»Wohin gehen?«

Steingrímur hat sicher ein altes Segel oder sonst einen Streifen Stoff, der sich unter die Kuh schieben lässt. Außerdem brauche ich Bahren für die Leichen. Oder wird dort auch alles zerstört sein?

Es war jetzt vollkommen ruhig, windstill und frostig, die graublauen Wolken über der Fjordmündung waagerecht und mit festen Umrissen, sodass sie Eilífur an die Maserung in der Dachverschalung seines Zuhauses erinnerten, das Zuhause, das es einmal gegeben hatte und das er abends manchmal im Licht der Tranlampe betrachtet hatte. Wie hatte er sich eigentlich bei seinem Aufbruch von ihr verabschiedet?

»Papa, wohin gehen?«

Dieses Wetter war teuflischer Hohn, nun diese Pracht an den Himmel zu zaubern, da alles vorbei war, die Existenz vernichtet, die Angehörigen tot … Mit dem Kleinen auf dem Arm, sackte der Bauer plötzlich in sich zusammen. Seine Brust hob und senkte sich, Speichel rann ihm aus dem Mund, bis seine Augen Pipi machten. Der kleine Junge blickte seinen Vater verwundert an und sah, wie sich der Riese auf dem Schnee zusammenrollte und seiner Trauer freien Lauf ließ. Dann machte die Verwunderung einer Art Verantwortungsgefühl Platz: Eine mütterliche Ruhe überkam den Knaben, der auf seinem nassen Po hockte, während sein Vater sich um ihn, das Einzige, was ihm geblieben war, zusammenrollte und weinte. Eilífur Guðmundsson weinte. Das wäre in drei Fjorden eine Neuigkeit gewesen, dass dieser langgliedrige Spürhund weinen konnte, dieser Mann, der sich Anfang Februar in einem tödlichen Orkan in vier Tagen den Weg nach Fagureyri gebahnt hatte. Dieser Mann, der unterwegs drei Hunde müde gelaufen hatte.

»Papa nicht sterben«, sagte der kleine Knirps mit den roten Wangen schließlich. Er war unter keinen Umständen bereit, neben Mutter und Schwester auch noch den Vater zu verlieren. Er legte seine nackte Hand auf dessen Wangenknochen, der sich erstaunlich gut in seine Hand schmiegte und der Knopf zu sein schien, mit dem sich die Tränenmaschine abstellen ließ.

»Komm, Gestur, wir müssen Steingrímur finden.«

»Deingrímur nett.«

»Ja.«

»Deingrímur keine Haare.«

»Nein.«

»Deingrímur Glatze.«

»Ja.«

Die Ortsnamen mit »Stund-« gingen alle auf den See zurück, und der hatte ihn von den Mücken, die darauf spielten, als der erste Mensch ihn erblickte. Im Altisländischen hatte »Stund« ursprünglich einmal die Bedeutung »Staub« oder »Rauch«, doch im Lauf der Zeit hatte der Name seine Bedeutung gewandelt.

Jetzt aber schien der Hof Stund der Vergangenheit anzugehören. Obwohl sie den See überquert hatten und vor dem Hang angekommen waren, war nicht eine Latte zu sehen. Doch stießen sie wenig später auf eine Rinne im Harsch und standen plötzlich am Rand einer Schneegrube. Unter ihnen schaufelten drei Männer ein Grassodenhaus frei, zwei spitze Giebel und die Vorderfronten darunter waren bereits ausgegraben, und wie es schien, waren sie unversehrt. Die drei Männer standen in dem schmalen Graben, den sie zwischen den Hauswänden und der Schneemauer ausgehoben hatten, von der Eilífur auf sie hinabblickte. Von seinen Füßen waren es schätzungsweise vier Meter bis zur Grabensohle.

»Sigurður, wäre es nicht am besten, du würdest es noch einmal am Bach versuchen?«

»Aber ist der denn nicht zugefroren?«

»Meistens fließt er unter dem Eis noch. Es gibt Erdwärme im Untergrund.«

»Ich kann mich wirklich nicht an derartige Schneemassen erinnern.«

»Nein, das hier ist mit das Meiste, das wir je hatten.«

»Hast du vorhin in Richtung Kot etwas gesehen, Gísli?«

»Seid gegrüßt«, sagte Eilífur oben auf dem Grubenrand.

Überrascht schauten alle nach oben und erblickten einen marschfertigen Troll, der einen kleinen Sack in der Hand trug und sich ein Kleinkind auf den Rücken gebunden hatte.

»Nein, beim Leibhaftigen! Du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt.«

Von dort oben, wo er in Trauer und Taubheit gekuttet stand, kam es Eilífur so vor, als seien seine Nachbarn geschrumpft. Sie sahen aus wie eine Gruppe klobiger Zwerge mit Teelöffeln in den Händen. (Die Spaten und Schippen, die die Bauern zum Schneeschaufeln benutzten, waren dazu nicht die geeignetsten Werkzeuge. Obwohl die Isländer seit tausend Jahren in einem der mächtigsten Schneereiche der Welt lebten, gaben sie sich noch immer der Hoffnung hin, die Schneemassen stellten lediglich ein vorübergehendes Ungemach dar, und hatten sich darum nie die Mühe gemacht, ein geeignetes Gerät zu entwickeln, das mit dem Schnee fertiggeworden wäre. Das ist ein Zeichen für den unverbrüchlichen Optimismus dieses Volkes. Es nimmt jeden Schneesturm einzeln für sich und glaubt immer an eine Wetterbesserung.) Vielleicht hatte Eilífur ganz recht: Hier waren Menschen dabei, mit Teelöffeln und Maurerkellen eine Stunde ihres Lebens auszugraben, den Hof Stund, der unverändert und eingefroren unter der Schneedecke lag wie jener antike Tag, der in Pompeji bewahrt worden war. Der Schnee hatte die Männer zu Archäologen ihres eigenen Lebens gemacht.

»Steingrímur, hast du ein Segel?«

»Ein Segel?«, wunderte sich der Bauer von Stund.

»Willst du jetzt auf eine Segeltour gehen?«, fragte Gísli leichthin.

»Ich muss dir eine Kuh bringen.«

»Ach, gibt es dieses Jahr Weihnachtsgeschenke?«

»Außerdem brauche ich Bahren oder einen Schlitten. Ich muss Frau und Tochter nach Fanneyri bringen.«

»Mensch, bist du in Schwung, Lífur! Steingrímur bekommt die Kuh, und Pfarrer Jón die Frau!«

Die drei Männer unten in ihrem Schneegrab lachten halblaut. Der kleine Junge, der wie eine Traglast auf dem Rücken seines Vaters hing, reckte den Kopf über dessen Schulter und schaute mit strenger Miene auf dieses Gelächter. Der Bauer auf Stund hielt beschirmend die rechte Hand über die Augen und fragte mit etwas ernsterem Gesicht: »Du wirst doch nicht deinen Hof aufgeben?«

»Mama tot.«

Kapitel 7

Zweier Seelen Gesang

Der Knecht Gísli wurde um Verstärkung nach Hvammur geschickt, dessen Bewohner gerade den Schafstall ausgegraben hatten. Es war an diesem Tag nicht einfach, an Leute zu kommen, zumal Heiligabend war. Doch Tod war Tod, und Kristmundur unterband alles Stöhnen und Maulen des Gesindes, Eilífur sei selbst schuld, es hätte ja so enden müssen.

»Es gibt nur wenige, die zäher sind als Eilífur«, erinnerte der Bauer und Reeder und erkundigte sich dann nach Jakob, ob er nicht zum selben Schiff aufgebrochen sei wie der Kätner von Stundarkot, um Weizen zu holen, vor inzwischen mehr als zehn Tagen.

Sie kamen zu zwölft. Kristmundur erklärte, Guðný habe außerordentliche Besonnenheit und Zähigkeit bewiesen, indem sie unter den Schneemassen eine Höhle grub. Deren Decke sei dann teilweise eingestürzt und habe sie und ihre Tochter unter sich begraben, vermutlich im Schlaf, denn ihre Augen seien geschlossen gewesen, nicht wahr? Eilífur schloss die seinen und nickte.

Sie schafften es gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit, mit vereintem Schaufeln, mit Stricken, einem Stierfell und langem gemeinsamem Ziehen und Schieben sowie etlichen Ausschlägen von Kuhschwanz und -beinen. Sobald sie im Freien war, sprang Helga auf, stieß zwei bärenstarke Männer beiseite und rannte auf die vereiste Fläche, wo sie gleich bis zum Euter einbrach und hilflos sabbernd festsaß – ein Tier in der isländischen Natur, das voll und ganz vom Menschen abhängig war. Als die Männer versuchten, sie anzuheben, brachen sie selbst ein und zweifelten für einen Moment, ob ein Leben in diesem Land überhaupt möglich sei. Eilífur stand daneben, blickte zu den grauen, wie Astlöcher geformten Wolken auf und glaubte, der Himmel sei ihm auf den Kopf gefallen. Den Kleinen hatte er bei den Frauen in Stund gelassen.

Noch einmal mussten sie Geschick und Geduld beweisen, während sie die vier Beine der Kuh freigruben und sie anschließend auf das Stierfell wälzten, ohne ihr die Beine zu brechen. Dann wurde das Tier von der eingestürzten Kate weggeschleift, wobei es dreimal ein jämmerliches Muhen in das schnell dunkler werdende Dezemberzwielicht aussandte, als begreife es den Ernst der Lage und wolle dem Leichenzug auf Schlitten sein Beileid bekunden.

Vorn gingen vier Männer, die sich unter großer Anstrengung krümmten, um an vier Stricken, die an der Stierhaut befestigt waren, die Kuh vom Eis zu ziehen. Dann kam die Kuh Helga. Hinter ihr zwei Männer, die sich mit den Ziehenden abwechselten oder von hinten schoben, wenn es nötig war. Zwei ältere Männer zogen Guðnýs Leiche auf einer Bahre, der man Ski untergebunden hatte. Darauf folgten zwei jüngere Männer, einer zog Láras Leiche, ebenfalls auf einer Skibahre. Den Schluss des Zuges bildeten die Bauern Kristmundur und Steingrímur. Keiner sprach ein Wort, der Tag ging schnell zu Ende, und nur der Schnee leuchtete ihnen noch. Manchmal ist der Tod ein langsamer Zug muhender Schatten.

Mit zehn Metern Abstand trottete Eilífur hinterher wie ein Mann, der das Schlusslicht seines eigenen Lebens bildet.

Kristmundur hatte es übernommen, Guðný an den Schultern aus dem Schneegrab zu tragen. Pietätvoll hatte er die Mütze abgesetzt, bevor er sein weißes Haupt und den kurzen weißen Bart an ihre schöne Wange legte. Eilífur stand ein wenig benommen daneben und hatte plötzlich das Gefühl, seine Frau nur zeitweilig als Leihgabe bekommen zu haben, in Wahrheit sei sie stets das Eigentum des Großbauern auf Hvammur geblieben. Anschließend hatte er sich geweigert, seine Tochter anzusehen. Er konnte es nicht. Wer will schon in die Eingeweide des Todes blicken? Er drehte sich um und überließ sich dem aufgerührten Bodensatz, der in ihm aufstieg: Bilder von mächtigem Seegang, gewaltigem, teuflischem Seegang, er befand sich in einem offenen Boot inmitten eines wogenden Flammenmeers, die Flammen schlugen ins Boot, Kristmundur stand am Ruder, sein Bart hatte Feuer gefangen, doch statt ihn zu löschen, leckte er die Flammen in den Mund. Eilífur selbst saß an der Bordwand und zog aus Leibeskräften an der Angelleine, bis aus der lodernden See kein Hai auftauchte, sondern ein wunderhübsches Kindergesicht, das eine Strophe aufsagte:

Wenn ich sterbe, sterbe ich dir,

ich sterbe der ganzen Erde.

Doch eins, das hinterlasse ich dir:

Dich nie ich vergessen werde.

Erst als sie unten am See angekommen waren, wo sie anhalten mussten, um die Haut unter dem Tier zurechtzuzerren und einen Strick neu zu befestigen, wagte es Eilífur, den Blick auf Láras Leiche zu richten. Das Herumwuchten der Kuh war mühselig, sie war schwer wie die Trauer, und Eilífur holte sie ein; er trottete den Hang hinab, und da lag sie, auf der hinteren der beiden Bahren. Sie war über Brust, Bauch und Knöchel verschnürt und zu einem Gepäckstück geworden; er sah es in erschreckender Deutlichkeit, sein Kind war zu einem eiskalten Stück Gepäck geworden. Gleichwohl zog es ihn zu ihm hin, und er sah in Láras Gesicht. Es traf ihn unerwartet, so streng war ihr Ausdruck. Das Mädchen war sichtlich unzufrieden damit, dass sein Vater es für drei Kilo Weizen geopfert hatte.

Wo habe ich überhaupt den Sack gelassen? Das war der Gedanke, an dem er sich aus diesem Abgrund ziehen sollte, und er klammerte sich den Rest des Wegs nach Stund daran, wo Elsabet, die Frau des Hauses, dreizehn ausgekühlten Männern die Antwort in Form von frisch gebackenen Mehlkuchen servierte. Eilífur sah zu, wie der kleine Gestur einen nach dem anderen in sich hineinstopfte. Er saß auf dem hintersten Bett der Wohnstube auf dem Schoß einer Magd und war bereits ihr König und ihr Augenstern. Da erst wurde Eilífur bewusst, dass Weihnachten war.

Er und die zwölf anderen konnten die Kuchen als Stärkung gut gebrauchen. Nach dem anstrengenden Marsch hatten sie auch noch eine Schneise durch die Schneewand vor dem Hoftor auf Stund graben müssen, um die Kuh zu den Gebäuden und in den Stall bugsieren zu können. Der Stalleingang zweigte auf Stund erst in der Tiefe des langen Gangs zwischen den Grassodenwänden ab. Nach längerer Erörterung wurde entschieden, die beiden Leichen nicht ins Haus zu bringen. Der Vorratsschuppen war noch nicht ausgegraben, und Elsabet lehnte es kategorisch ab, den Tod unter ihr Dach zu lassen, nicht in die Küche und nicht in den Stall. Ihr Mann versuchte sie davon abzubringen, aber sie blieb bei ihrer Weigerung, die vom frühen Tod ihres Bruders herrührte. Er war jung gestorben, kurz nachdem die Eltern vorübergehend den Leichnam eines Reisenden in ihr Haus gelassen hatten.

Die Männer von Hvammur wünschten frohe Weihnachten, stiegen dann durch die Schneewand nach oben, folgten der Spur, die der Knecht Gísli am Morgen gebahnt hatte, und verschwanden in der bodenhellen Dunkelheit. Die beiden Leichen wurden so zwischen Hauswand und Schneemauer schräg aufrecht gestellt, dass die Köpfe oben am Haus lehnten und sich die Griffe der Bahren unten in den Schnee bohrten.

In der Nacht frischte der Wind wieder auf, und Eilífur lag schlaflos da und lauschte dem Schnarchen seines Bettgenossen, des langbärtigen Knechts Sigurður, und dem aus den anderen Betten, das sich mit dem Heulen des Sturms vermischte. Es war deutlich zu hören, wie dieser kalte, helle Gesang über das warme Dunkel jammerte, das die Baðstofa erfüllte. Das eine oder andere konnte Eilífur in der Schwärze der Nacht immerhin erkennen, etwa den Pfosten am Fußende, die schwache Ampel, die daran hing, und ein Büschel Heidekraut, das zwischen zwei Schalbrettern an der Decke über ihm herausquoll. Bei heftigen Böen bewegte es sich leicht. Er hängte seine Augen an das Büschel wie zwei Blaubeeren und versuchte sich an ein winterkaltes Lied zu erinnern, aber es fiel ihm nur die letzte Zeile ein: »Schwach ist des Sommers Docht.«

Als sie am Morgen vor das Haus traten, waren keine Anzeichen eines Sturms zu sehen, weder Schnirkel noch andere Formen von Verwehungen, es konnte also in der Nacht keinen Sturm gegeben haben. Die Erklärung für die Bewegungen im Dach bekamen sie, als sie nach den beiden Leichen sahen. Fast unverändert lehnten sie da, allerdings waren die Kinne herabgesackt, und ihre Münder standen weit offen. Für das komische Auge des Universums sahen sie aus wie zwei aufgerichtete Sängerinnen.

Kapitel 8

Haarwuchs im Hreppur

Wieder und wieder rief sich Eilífur diesen Anblick in Erinnerung: Wie Kristmundur auf Hvammur seine Wange an Guðnýs schmiegte und sie behutsam, ja liebevoll aus dem Schneegrab hob. Der Großbauer hatte, wie gesagt, die Mütze abgenommen und sein dichtes, weißes Haar war ihm in das vor Anstrengung gerötete Gesicht gefallen. Um das schwer erträgliche Bild zu verdrängen, richtete Eilífur seinen inneren Blick auf das Haar des Hvammsbauern, diesen üppigen Schopf, der sich so vom sonstigen Haarwuchs im Hreppur, der Landgemeinde, unterschied und den eigentlichen Schlüssel für den Respekt und das teils neiderfüllte Misstrauen darstellte, das man Kristmundur entgegenbrachte. Üppiger Haarwuchs war verdächtig.

Die Insel war von Menschen besiedelt worden, die um das Jahr 900 vor der gewaltsamen Machtausweitung des norwegischen Königs Harald Schönhaar geflohen waren, und es gab eine alte Theorie, die besagte, die meisten der ersten Besiedler Islands seien recht arm an Haaren gewesen, Geheimratseckenträger oder gar völlige Kahlköpfe samt zauseliger Frauen. »Glatzen-Grímssöhne« und »Mistbärte« zuhauf. Jener König hatte seinen Beinamen von dem Schwur, sein Haar nicht eher zu scheren, bevor es bis in jeden Fjord Norwegens reiche, und so waren die Entdecker Islands eine Art Haarflüchtlinge. Sie begannen auch gleich damit, ihr neues Land von Bäumen zu säubern, und seit jener Zeit sind die Isländer wenig für Gewächse zu haben, weder auf ihren Berghängen noch auf ihren Köpfen. Kahlheit schätzen sie am meisten, sie wollen das Meer sehen können und dulden weder Laub noch Haarzotteln vor den Augen. Weniges finden sie schöner als den in den Himmel ragenden kahlen Schädel eines Gletschers, ihre Berge und Hochebenen hätten sie am liebsten gänzlich haar- und halmlos. Während der Zeit der Christianisierung störte sich das junge Volk vornehmlich an der Haarpracht Christi. In seiner Vorstellung hatte jede Gottheit durch ihr Alter, ihre Weisheit und ihren Tiefsinn so schütteres Haar zu haben wie ihre heidnischen Götter. Die führenden Männer Islands waren lange Zeit nur wenig behaart, angefangen von Njáll über Arason bis Sigurðsson, ebenso die Dichter, von Snorri bis zum Kirchenliedverfasser. Lange Haare galten bei diesem baumlosen Volk als tabu, wie der jahrhundertelange Hass auf Hallgerður Langbrók beweist. Die gelockte Haarpracht ihres Ehemanns war einer der Gründe dafür, dass man ihn totschlug. Schönhaarige Menschen haben die Isländer nie ausstehen können.

Das Ehepaar auf Hvammur, Kristmundur und seine Gattin Kristbjörg, zeichneten sich allerdings beide durch prächtiges Haar aus. Die Frau hielt das ihre schwarz, rückenlang und seidenweich, indem sie es nur in Rinderurin wusch. Der weiße Schopf des Bauern war dicht wie Wolle und weich wie Wollgras. Kristmundur war der einzige wahre Großbauer im Segulfjörður, ein stattlicher Mann mit gesunder Gesichtsfarbe, der seinen Hof vorbildlich führte, eine ganze Schar Kinder und eine Menge Gesinde hatte.

Kristmundur war früher, wie es hieß, »baskenhaarig« gewesen, also schwarzhaarig. Vor einigen Jahren hatten ihm seine Nachbarn, als er am dritten Tag der Hochzeit einer seiner Töchter bewusstlos im Vollrausch lag, mit einer Schafschere den Kopf geschoren. Als Tage später auf seinem blutverkrusteten Schädel wieder die ersten Haare sprossen, waren sie vollkommen weiß. Zwei Wochen später trug der Hvammsbauer einen schneeweißen Flor auf dem Kopf. Um dieselbe Zeit erschien vor der Fjordmündung ein gravitätischer Eisberg. Damit begannen die Treibeisjahre, die noch immer anhielten, und die Leute machten die Vollrasur in Hvammur dafür verantwortlich. Damit hätten die Idioten das Schicksal herausgefordert, und man verfluchte das »verdammte Haareis« in Grund und Boden.

Zu jener Zeit diente als Gemeindepfarrer der Segulfjorder Séra Jón Guðfinnsson auf Fanneyri. Auch er hatte üppiges Haar, das zudem ausgesprochen kraus war. Die Leute nannten es »Zuzüglerhaar«, was ihm, neben anderem, sein Amt zusätzlich erschwerte. Wegen der Locken auf seinem Kopf fiel es den Leuten nicht leicht, seinen Worten Glauben zu schenken, da es dazu ja sogar Aussagen in der Heiligen Schrift gab. »Alle Götter haben glatte Haare, bis auf Bacchus«, kolportierte man Lási auf Skriða, und alle wussten, worauf er abzielte. Lási hatte das prachtvollste Haar von allen in der Gemeinde. Um seinen Kopf ringelten sich Locken, die den Wolkensystemen glichen, die um die Erde ziehen, und wenn man in ihnen wühlte, blieben sie den ganzen Tag so stehen.

Sigurlás Friðriksson, Bauer auf Ytri-Skriða (oder Næsta-Skriða, wie der Hof mit einem uralten Witz auch gern genannt wurde, denn das bedeutete nicht »Äußere-«, sondern »Nächste-Lawine«), war der geistige Leuchtturm in diesem Fjord, ein schlankes Frühbeet des Humors, ein Treibhaus von Geschichten, ein geschickter Handwerker in Holz und Reimen und daher ein gern gesehener Gast auf allen Höfen. All seine poetische Kraft empfing er stets in flüssiger Form, und er wurde durch das Trinken niemals unleidlich, sondern sein Geist wurde durch Weingeist nur noch beflügelt. Je mehr er in sich hineinkippte, desto mehr sprudelte aus ihm heraus: Repliken, Strophen, Gedichte und lustige Anekdoten. Lási befolgte strikt die Maxime aller guten Autoren: »Gott gebe mir die Gelassenheit, mich an die Wahrheit zu halten, den Mut, sie in Literatur zu verwandeln, und die Weisheit, zwischen beidem keinen Unterschied zu machen.«

Seine Frau Sæbjörg war von ihrem Zusammenleben längst seegrashaarig geworden, saß aber bei Zusammenkünften stets mit versteinertem Lächeln und gehobenen Augenbrauen neben ihrem Mann und starrte ins Feuer.

Eilífur auf Stundarkot hatte dunkles, unordentliches Haar, und wenn sich die Wolle auch noch verfilzte, sah er aus wie ein alter Schafsbock, sein Bart aber kräuselte sich wie bei einem Lamm und sah stets jung aus, auch wenn auf seinen Wangen der erste Frost zu sehen war. Seine Frau Guðný dagegen hatte besonders schöne Locken, blond und sorgfältig frisiert. Locken von ihrem Haar wurden auf drei Höfen im Fjord aufbewahrt; viele hatten sich für sie erwärmt, als sie blutjung und blühend mit ihrer Mutter kam, um sich bei Kristmundur auf Hvammur zu verdingen. Doch als sie von einem Unfall in der Küche eine Verstümmelung an der Hand und eine Narbe auf der Wange zurückbehielt, kühlte das Interesse der jungen Männer rasch ab. Als dann aber doch einer vorstellig wurde, weckte das wenig Begeisterung unter den Hvammsleuten, da es ausgerechnet der Problemschlacks aus dem Heiðinsfjörður war, der bekannte Schweinswaldieb, der um ihre Hand anhielt und sie auch bekam. Er hatte sogar begonnen, sich auf dem Land von Stund weiter hinten im Fjord eine eigene Landwirtschaft mit einer Kate aufzubauen. Wer wird mir von jetzt an mit einem so schönen Lächeln den Morgenkaffee bringen?, dachte der weißhaarige Kristmundur. Aber das Mädchen näherte sich inzwischen der Obergrenze des verheiratungsfähigen Alters, und über die Verurteilung Eilífurs war Gras gewachsen.

Sechs Jahre waren vergangen, seit Magd und Knecht mit kirchlichem Segen zu freien Kleinbauern geworden waren.

Kapitel 9

Segulfjörður

Wie andere Fjorde Islands erhielt auch der Segulfjörður seinen Namen von dem ersten Mann, der bei seinen Bergen aufwachte, das war vor neunhundertneunundneunzig Jahren. Bekanntlich war Island das letzte von Menschen besiedelte Land der Erde und vorher jahrhundertelang ein souveränes Bergland, unabhängig vom Lärmen der Menschen, allein von Vögeln, Walrossen, Robben und Füchsen bewohnt. Sogar die arktischen Völker, die sich rund um den Nordpol ausbreiteten und dort auf den ausgedehntesten Eisflächen der Welt überlebten, weigerten sich, Island zu besiedeln, obwohl dorthin während der meisten Eiszeiten ausgezeichnete Verkehrsverbindungen bestanden.

Die Kolonisation der von Buchten gezackten Insel fand dann im neunten und zehnten Jahrhundert statt, gemäß der klassischen Regel aller Landnehmer: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Die Auswanderer steuerten also ihre Boote nach Island und drehten dort erst einmal eine Runde um die Insel, bis sie einen unbesetzten Fjord fanden, etwa wie jemand, der ins Schwimmbad geht und nach einem freien Schrank sucht. Wenn Derartiges gefunden war, legten die Leute Mäntel und Pelze ab und hängten sie in den leeren Schrank, reservierten ihn damit für sich und gaben ihm ihren Namen: Ingólfsfjörður, Þorgeirsfjörður, Loðmundarfjörður …

In den Schrank, von dem hier die Rede ist, kam Kolbjörn Segull. Die meisten anderen Schränke waren bereits besetzt. Er war Schwede mit Wurzeln auf dem Kontinent. »Sein Blut besaß Quellen im Osten«, heißt es im Buch der Landnahmen. Den Beinamen »Segull« bekam er nach seinem Schwert Schulterspalter. Es war aus dem edlen Metall geschmiedet, das Segull heißt, in den Georgsbergen abgebaut wird und die Eigenschaft besitzt, alles Wertvolle in seiner Reichweite anzuziehen und alles andere liegen zu lassen. Es hafteten also Geld und Ringe, Halsketten und anderer Schmuck, Gold und Silber an dem Schwert, und Kolbjörn wurde ein reicher Mann. Seinen Spind nannte er Segulfjörður.

Drei Fjorde öffnen sich dem nördlichen Eismeer, es sind die nördlichsten Fjorde an Islands Küste: Segulfjörður, Heiðinsfjörður und Óðalsfjörður. Der Erstgenannte ist der westlichste, kurz, zipfelförmig und mit zwei flachen Landzungen versehen. Die eine heißt Segulnes; darauf stand der Hof des ersten Landnehmers. Sie versperrt auf der östlichen Seite die halbe Fjordmündung. Die zweite liegt tiefer im Inneren des Fjords und heißt Fanneyri. Sie ist bedeutend größer und halbiert den Fjord auf der Westseite. Landeinwärts nahe dem Ende des Fjords liegt der See Stundsvatn. Der mittlere Fjord ist der lange und schmale Heiðinsfjörður, bis zur Mitte Wasser, ab dann ein Tal. Der östliche Fjord ist der Óðalsfjörður, der kürzeste der drei.

Die drei Fjorde umgeben vier steil ins Meer stürzende Bergzüge. Aus großer Höhe sehen sie aus wie eine vierzinkige Gabel, die jemand auf den Tisch des Meeres gelegt hat. Auch die Berghänge in den Fjorden selbst sind steil und felsig bis zum Wasser, größtenteils unbegehbar, und in den oberen Regionen wechseln sich Gipfel und Scharten ab, von denen die wenigsten passierbar sind. Aus diesem Grund ist der Verkehr zwischen den Fjorden schwierig. Stürme von See her, Schneestürme, Flutwellen und Lawinen sind keine Seltenheit.

Wenige Flecken auf der Erde sind jedoch während der drei Sommerwochen schöner, in denen die Sonne draußen vor der Fjordmündung sinkt, in ihrer präzisen Bewegung den Meeresspiegel soeben berührt und dann wie ein lavaglühendes Paradiespendel wieder in die Höhe schwingt. Dann sind alle Nächte wasserfallhell, über Gesträuch und Geröll liegt Friede, und die Schönheit der Natur ist so überwältigend, dass ein damit nicht vertrauter Reisender außer sich geraten kann.

Kapitel 10

Eislava

Am zweiten Weihnachtstag trat mit Südwind Tauwetter ein, das die Giebel der Höfe aus dem Schnee auftauchen ließ wie Schiffssteven aus der Tiefe. Im Fjord war bis auf Eilífurs Kate kein weiteres Gebäude eingestürzt, allerdings hatte eine Lawine die Schafställe von Bauer Magnús auf Innri-Skriða verschüttet. Darin waren siebenunddreißig Mutterschafe und zwei Böcke verendet. Die ungewöhnliche Wärme verwandelte die den Fjord ausfüllende hohe Schneedecke in grobkörniges Eis, durch das es kein Durchkommen gab, schon der Weg zu den Stallungen zum Füttern wurde zur Strapaze. Durch diese Eiskörner zu gehen, war, wie durch Kristalle zu waten.

Im Eis auf dem Fjord brachen drei Rinnen auf, in der äußersten zeigte sich ein Wal. Sein Blas hätte an einen Springbrunnen erinnern können, wäre ein solches Ding in der Gegend bekannt gewesen.