999 - Der letzte Wächter - Carlo Adolfo Martigli - E-Book

999 - Der letzte Wächter E-Book

Carlo Adolfo Martigli

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Beschreibung

Drei Zeitebenen, ein Giftmord und 99 geheime Thesen

Italien, zur Zeit der Renaissance: In Florenz verfasst der Philosoph und Theologe Pico della Mirandola 900 Thesen zur Natur Gottes und der Menschheit – und wird dafür der Ketzerei beschuldigt. Was niemand weiß: Nicht von den offiziellen 900, sondern von 99 zusätzlichen Thesen geht die eigentliche Gefahr für den einzig wahren Glauben aus. Und so wird das ketzerische Manifest an ein sicher geglaubtes Versteck gebracht – bis Jahrhunderte später sich ein mörderisches Regime Mirandolas Thesen zu nutze machen will und dafür über Leichen geht ...

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Ähnliche


CARLO A. MARTIGLI

999 – Der letzte Wächter

Buch

Florenz, zur Zeit der italienischen Renaissance: Pico della Mirandola, einer der großen Philosophen und Theologen seiner Zeit, nimmt wenig Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Mächtigen. Als erster Nicht-Jude beschäftigt er sich eingehend mit jüdischer Religion und plant einen großen Kongress der drei monotheistischen Religionen. Als Vertreterin des einzig wahren Glaubens betrachtet die katholische Kirche Mirandolas Tun mit Misstrauen. Das Fass zum Überlaufen bringen jedoch seine 900 philosophischen und theologischen Thesen, die als Häresie verurteilt werden. Dank mächtiger Gönner und Freunde kann Pico della Mirandola einer Verurteilung entgehen – doch nur, weil die Kirche nicht ahnt, dass er 99 weitere Thesen verfasst hat, die an den Grundfesten des katholischen Glaubens rütteln. Aufgrund seiner Brisanz muss Mirandolas geheimes Werk vernichtet werden. Nur ein einziges Exemplar wird aufgehoben, das von nun an von jeweils einem Wächter pro Generation gehütet wird. Denn schon das Wissen um die 99 Thesen ist höchst gefährlich …

Jahrhunderte später greift ein diabolisches politisches System nach der Weltherrschaft – und will mit Hilfe von Mirandolas brisanten Texten die Macht des Vatikans unterminieren. Wird der Wächter das Geheimnis bewahren können?

»Martigli vereint in seinem geradezu schwindelerregend spannenden Buch historischen Roman mit Thriller. Der Roman spielt mit historischen Fakten, verbindet Fantasie und Realität – und das, ohne je unglaubwürdig zu werden.« Cultura

Autor

Carlo A. Martigli wurde in der Toskana geboren und entstammt einer traditionsreichen Familie von Musikern, deren Geschichte bis weit ins Zeitalter der Renaissance zurückreicht. Nachdem er bereits einige andere Bücher verfasst hatte, lag es daher für den Autor Martigli nahe, sein neues, bisher ehrgeizigstes Projekt dieser faszinierenden historischen Epoche zu widmen. »999 – Der letzte Wächter« ist Martiglis erster historischer Thriller, und mit ihm stürmte er in Italien auf Anhieb die Bestsellerlisten. Momentan schreibt er an einem weiteren Buch in diesem Genre, das ebenfalls bei Goldmann erscheinen wird.

Carlo A. Martigli

999

Der letzte Wächter

Roman

Aus dem Italienischenvon Beate Kühn

Die italienische Originalausgabe erschien 2009unter dem Titel »999 – L’Ultimo Custode«bei Alberto Castelvecchi Editore srl, Rom.

1. AuflageTaschenbuch-Ausgabe Oktober 2011Copyright © der Originalausgabe 2009by Carlo A. MartigliFirst published in Italy by Castelvecchi Editore srl, Roma, in 2009This edition published in agreement with PNLA/Piergiorgio Nicolazzini Literary AgencyCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHRedaktion: Almut WernerUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Getty Images /De Agostini Picture Library DEA / C. SappaTh · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-06602-4www.goldmann-verlag.de

Ai pochi che adoroe ai molti che amo.Für die wenigen, die ich vergöttere,und alle, die ich liebe.

Prolog

September 2009

Alles begann vor neun Monaten, als mich die Nachricht vom Ableben meines Großvaters väterlicherseits erreichte. Der Familienchronik nach hatte der Hundertjährige ein sonderbares und aufregendes Leben geführt: Er soll ein Einzelgänger und Freidenker, Wohltäter und Abenteurer gleichzeitig gewesen sein; ein äußerst kultivierter, dem Wissen leidenschaftlich zugetaner Mann, ein tief gläubiger Pfaffenverächter. Und er muss ein Frauenheld gewesen sein, denn er verließ meine Großmutter und meinen Vater, als dieser noch ein Säugling war (man muss es meinem Großvater jedoch anrechnen, dass er aus welchen Gründen und wie auch immer versucht hatte, mit ihnen in Kontakt zu bleiben). Wie der Abt des Cenobite Camaldolesi Ordens mir in einem kurzen Brief mitteilte, starb mein Großvater als Eremit im Kloster von Camaldoli. Dem Brief waren ein getipptes Schriftstück beigefügt, mit der ausdrücklichen Mahnung, es aufmerksam zu lesen, und ein antiker, versiegelter (und höchstwahrscheinlich wertvoller) Foliant.

Großvater und ich waren nie besonders vertraut gewesen – ich habe ihn vielleicht drei- oder viermal in meinem Leben gesehen –, wahrscheinlich war der frühe Tod meiner Eltern unserer Beziehung auch nicht gerade zuträglich. Anfangs war ich einfach nur neugierig. Aber je mehr ich las, desto deutlicher spürte ich, wie mich die erzählte Geschichte zu verändern begann. Leider weiß ich nun, dass meine Familie seit Jahrhunderten in ein dunkles Geheimnis verwickelt ist, das sie zum Täter und zum Opfer gleichermaßen machte. Dieses schreckliche, unsägliche Geheimnis nimmt seinen Ursprung vor vielen hundert Jahren und in solch mächtigen Ereignissen, dass die Aufdeckung des Mysteriums durch treulosen Verrat unsere ganze Welt zerstören könnte. Wäre es bereits damals ans Licht gekommen, hätte die Geschichte unseres Abendlandes einen ganz anderen Verlauf genommen (ob zum Besseren oder nicht, sei dahingestellt), doch heute ist die Gefahr umso größer. Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich keine Beweise, ob und wie viel Wahres in meiner Erzählung steckt. Ich weiß nicht einmal, ob das Schriftstück von meinem Großvater selbst oder von einer ihm nahestehenden Person verfasst wurde. Doch angesichts der gewaltigen Aufgabe, die vor mir liegt, muss mein Sinn nach Höherem gerichtet sein. Ich allein trage die Bürde der Verantwortung, die Geschichte meiner Familie wahrheitsgemäß niederzuschreiben. Und ich nehme dieses Vermächtnis meines Vorfahren freudig an, als letzter Nachkomme auch das mit diesem Geheimnis verbundene Rätsel endgültig zu lösen. Wenngleich ich Angst habe, dass nichts mehr so sein wird wie vorher, wenn ich das Geheimnis erst einmal gelüftet habe.

Der letzte Wächter

Zwischen Arezzo und Chiusi

Montag, 1. Mai 1486

Auf der antiken Via Cassia, die durch das Val-di-Chiana-Tal die Städte Arezzo und Chiusi miteinander verbindet, galoppierte ein Trupp bewaffneter Männer. Das Fell der Pferde glänzte schweißnass und leuchtete unheimlich im Schein der Eisenfackeln, die die Reiter in den Händen hielten. In dieser Neumondnacht hätte jeder, der ihnen begegnet wäre, sie für eine Rotte Dämonen gehalten, die gekommen war, um die alten Wirtshäuser zu verbrennen, die den Reisenden seit Jahrhunderten Schutz gewährten.

Ein selbstsicherer Mann führte die Gruppe an. Er trug einen leichten Mantel und ein dickes, erlesen gearbeitetes Lederwams. Sein Reitstil war schwerfällig und angestrengt, aber er ritt mit einer Entschlossenheit, die ihn den anderen bei weitem überlegen machte. Sobald das Pferd versuchte, den unerbittlichen Rhythmus des Galopps zu durchbrechen, schlug er ihm seine Sporen in die bereits blutigen Flanken. Seit einigen Stunden wagte niemand mehr, ihn anzusprechen. Giuliano Mariotto de’ Medici, Erster Steuereintreiber Arezzos, wurde von dunklen Gedanken heimgesucht, und er gab ihnen nur allzu bereitwillig nach. Er brütete über Racheplänen und dachte beinahe wollüstig an die Bestrafung von seiner Frau und ihrem Liebhaber. Beide waren sie des Ehebruchs schuldig und hatten seine Ehre zutiefst befleckt. Obwohl niemand in seiner Gegenwart den Mut hatte, darüber zu sprechen, wusste er nur allzu gut, dass ihre Flucht Gesprächsthema in den Werkstätten ihrer toskanischen Heimatstadt geworden war. Bald würde die Nachricht Florenz erreichen und den gesamten Hof Lorenzos des Prächtigen erheitern.

Ein Reiter mit einer federbesetzten Kappe und einem dunklen Harnisch beschleunigte seinen Ritt, um zu seinem Herrn aufzuschließen: Im Gegensatz zu diesem war seine militärische Haltung unverkennbar, und durch seinen deutschen Akzent wirkte er nur umso bedrohlicher.

»Herr, die Spuren werden immer frischer – nun haben wir sie. Selbst wenn sie nicht Rast gemacht hätten, wären sie uns früher oder später in die Hände gefallen. Die beiden haben jetzt nicht mehr als ein, zwei Stunden Vorsprung. Allerdings werden unsere Pferde müde und könnten vielleicht ein bisschen Ruhe brauchen.«

»Die einzige Ruhe, die ich heute Nacht jemandem gewähren werde, ist für den, der mich beleidigt hat!« Giuliano verlangsamte nicht einmal seinen Schritt. »Du erstaunst mich, Ulrich, du wirst doch nicht etwa herzweich?«

Die Grimasse auf Giulianos Gesicht gefiel Ulrich von Bern gar nicht. Der Schweizer Söldner, der Gardekommandant des Steuereintreibers, hatte schon für wesentlich weniger getötet. Eigentlich wäre er Giuliano de’ Medici vertragsgemäß noch weitere zwei Jahre zum Dienst verpflichtet gewesen. Und eigentlich brach er keine Verträge – sofern er weiterhin seinen Sold bekam wenigstens. In seinem Inneren dachte er, dass Margherita, die Frau seines Herrn, gut daran getan hatte, ihm ein schönes Paar Hörner aufzusetzen.

»Wie Ihr wollt, mein Herr. Ich werde also die anderen anhalten, weiter mit Euch Schritt zu halten. Und, wenn es so ist, wie ich denke, nämlich dass die beiden in einer Herberge zum Schlafen angehalten haben, könnt Ihr in einer Stunde über ihre Körper verfügen, wie es Euch gefällt.«

Im Stillen vor sich hinlächelnd, ritt Ulrich davon. Er hatte mit seinem kehligen Akzent die Wörter Herberge, Schlafen und Körper mit Absicht betont. Ein eleganter Hinweis darauf, dass Donna Margherita wahrscheinlich genau in diesem Moment viel Spaß mit ihrem Geliebten hatte.

An der alten Abtei »Badia del Pino« bogen sie von der Hauptstraße ab und nahmen eine Abkürzung über die Hügel, die wie Inseln in einem Meer mit tückischem Wellengang aufragten und den Pferden alles abverlangten. Unter ihnen zeichneten sich die Sümpfe ab, die seit jeher die Ebenen verheert hatten. Sie waren an der unerträglichen Hitze im Sommer und der eisigen Kälte im Winter schuld.

Ihr Ritt endete ungewollt an der Festung Badicorte. Da es bereits spät am Tag war, lag der Ort verlassen da, und das verschlossene Tor hinderte den Trupp am Weiterziehen. Giuliano schlug mehrmals kräftig mit seiner hirschledernen Armkachel dagegen. Die spitzen Metallbeschläge machten aus dem Ellbogenschutz eine Waffe – genauso so wie er es sich bei seinem persönlichen Waffenmeister bestellt hatte.

Die Wachsoldaten im Inneren der Festung fuhren auf, nahmen ihre Lanzen und öffneten fluchend die Sehschlitze. Als Giuliano de’ Medici seinen Namen brüllte, beeilten sie sich zu öffnen; auf die Bezahlung des Wegezolls verzichteten sie jedoch nicht.

Ohne auf die Pferde Rücksicht zu nehmen, erreichte der Trupp schließlich Marciano in Chiana. Einige Lichter in der Ferne beunruhigten Ulrich. Ohne den Befehl seines Herrn abzuwarten, befahl er, die Fackeln zu löschen und langsam und so leise wie möglich weiterzugehen. Nach wenigen Metern sahen sie eine Herberge und davor ein elegantes Reisefuhrwerk. Zweifelsohne: Hier hatten die Gesuchten angehalten, um sich auszuruhen; oder um etwas anderes zu tun, dachte Ulrich. Wie auch immer, die Jagd hatte ein Ende.

Sie banden die Pferde fest und schlichen sich leise an. Jeder der Reiter hatte ein Schwert und einen scharfen Dolch in der Hand. Auf Ulrichs Zeichen hin krochen sie bis zum Fuhrwerk und schnitten zwei Knechten, die sich im Schlaf umarmt hielten, die Kehlen durch. Gleich nahmen sie sich einen Dritten vor, der sich auf die Spur der leisen Geräusche begeben und sich dem Fuhrwerk genähert hatte. Ulrich nahm ihn sich selbst vor: Er rammte ihm das Schwert in die Seite und hielt ihm mit der anderen Hand den Mund zu, um ihn am Schreien zu hindern. Er ließ die Klinge so lange im Leib des Mannes stecken, bis er fühlte, dass dem Knecht die Lebenskräfte schwanden; dann zog er die blutige Klinge heraus und machte den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen. Giuliano stand bereits hinter ihm – gleich würde er die Liebenden überraschen und seine Rache befriedigen, was das Beste überhaupt war.

Leise versuchten sie, in das Haus einzudringen, aber das Tor war versperrt. Es gab keine Möglichkeit, geräuschlos an ihr Ziel zu gelangen, deshalb klopfte Ulrich leise, wie ein Reisender, der einen Ruheplatz suchte, an das Tor. Nach einigen Minuten leuchtete am Fenster im Erdgeschoss ein Kerzenlicht auf, und ein kleiner Sehschlitz in dem massiven Tor wurde geöffnet. Ulrich hüstelte ein paar Entschuldigungen, worauf das Tor sich einen Spaltbreit öffnete – gerade so weit, dass er dem Wirt seinen Dolch ins Gesicht rammen konnte. Dieser versuchte verzweifelt zu schreien, aber Ulrich war schneller und stopfte ihm ein schmutziges Tuch in den Mund. Dabei fiel dem Wirt die Laterne aus der Hand. Ein paar Bedienstete schreckten aus dem Schlaf hoch, doch da brach die Horde Soldaten bereits über sie herein.

Ulrich und seine Männer schrien aus vollen Kehlen. Nun, da ihr Angriff entdeckt worden war, schien es die beste Taktik, den Feind zu erschrecken und zu verwirren.

Was nun folgte, war kein Kampf, sondern ein Gemetzel. Die drei schlafenden Diener hatten nicht einmal mehr Zeit, sich zu bewaffnen, und fanden einer nach dem anderen ihr Ende durch das Schwert. Die anderen, die oben schliefen und von dem Krach aufgewacht waren, versuchten sich nach Kräften zu verteidigen, wurden aber sofort überwältigt. Von Giulianos Männern hingegen war nur einer leicht am Arm verletzt worden. Nachdem der letzte überlebende Diener – der die Tür zur Kemenate der Liebenden bewachte – durchbohrt worden war, trat Giuliano vor die Tür. Zuerst hatte er den Impuls zu klopfen, quasi als letzte Geste der Verehrung für die Frau, die er aus Liebe geheiratet hatte. Jedenfalls hatte er sie aus Liebe geheiratet – auf jeden Fall nicht wegen der dürftigen Mitgift, die sie mit in die Ehe gebracht hatte. Bevor er jedoch den Arm hob und sich der Lächerlichkeit ausgesetzt hätte, wurde ihm jedoch klar, dass diese Geste ihm nur Hohn und Spott eingebracht und ihn den Respekt seiner Männer gekostet hätte. Deshalb versetzte er der Tür einen gewaltigen Tritt, um sich gewaltsam Einlass zu verschaffen. Sie sprang jedoch nicht auf.

Von innen war kein Laut zu hören.

Giuliano schaute zu Ulrich, der zwei von seinen Männern ein Zeichen gab. Daraufhin warfen sie sich mit vereinten Kräften gegen die geschlossene Tür, die schließlich doch nachgab, und gingen sofort zur Seite, um ihrem Herrn den Vortritt zu lassen.

Giuliano sah zwei unbewegliche Körper auf dem Bett liegen, und im Halbdunkel konnte er das Weiße ihrer weit aufgerissenen Augen erkennen. Mit einem Wink entfernte er seine Männer, die von Ulrichs höhnischen Blicken gefolgt stumm die Treppe hinuntergingen. Er drehte den beiden den Rücken zu und zündete eine Kerze auf dem Tisch an. Die beiden Liebenden richteten sich unter der dünnen Wolldecke kaum merklich auf. Jetzt konnte er sie sehen, die rotgoldenen Haare seiner Frau, die ihr Antlitz umrahmten, das ihm in ihrem Zorn, in den sich kein Funken Angst mischte, noch schöner erschien, und die blonde Haarpracht von Giovanni Pico, Graf von Mirandola, seinem Rivalen. Dieser betrachtete ihn distanziert und nicht sonderlich überrascht, so, als hätte er sich seit langem auf diese Begegnung vorbereitet.

»Ich sollte Euch umbringen«, sagte Giuliano leise, während er sich den beiden mit einer Drohgebärde näherte.

»Aber das werdet Ihr nicht tun, nicht wahr?« antwortete Margherita kalt: »Denn das könnte ja Eure Geschäfte schädigen.«

»Ich hätte alles Recht der Welt, es zu tun, und niemand könnte mich dafür verurteilen«, antwortete der Erste Steuereintreiber von Arezzo.

»Jemand schon, Lorenzo zum Beispiel.«

»Er hat seine eigenen Probleme in Florenz. Außerdem glaube ich nicht, dass Lorenzo ein ehebrecherisches Paar verteidigen würde. Aber ich könnte ihn verschonen und Euch umbringen …«

»Das werdet Ihr nicht tun. Ich weiß es«, höhnte Margherita.

»Was seid Ihr nur für eine Frau? Ihr solltet vor Scham im Boden versinken!«

»Giuliano«, der Ton ihrer Stimme wurde wärmer, »Eure Liebe ist mir teuer gewesen, und ich habe es Euch gegenüber wahrlich nie an Respekt mangeln lassen. Aber ich habe Euch auch immer gesagt, dass ich, sobald ich den Zwilling zu meiner Seele gefunden hätte, meinem Herzen folgen würde und nicht mehr länger meiner Vernunft. Das waren die Bedingungen, die Ihr selbst akzeptiert habt, als Ihr mich zu Eurem Weib nahmt.«

De’ Medici warf einen Blick auf den Mann, der neben seiner Frau lag.

»Das ist wahr«, mischte sich Giovanni Pico in das Gespräch der Eheleute ein, »es ist alles wahr, mein Herr. Margherita und ich lieben uns. Und dies so sehr, dass unsere Liebe alle Abmachungen bricht. Ich verstehe Euren Schmerz und Euren Groll, aber wir wussten bereits bei unserer ersten Begegnung, dass wir für einander bestimmt sind.«

»Seid still! Ihr habt kein Recht, so zu sprechen! Und verlangt nicht, dass ich Euer Leben schone, nur weil Ihr ein Günstling des Prächtigen seid!«

»Ich bin bereit zu sterben«, sagte Giovanni und erhob sich, um Giuliano mit nackter Brust entgegenzutreten. »Ihr könnt mich töten – und nach dem Gesetz habt Ihr auch das Recht dazu – oder aber Ihr begreift und versteht. Ich kann Euch nicht hassen, weil Ihr Margherita bis zum heutigen Tag treu beschützt habt, und deshalb werde ich mich Eurer Entscheidung auch nicht widersetzen. Aber egal, was Ihr tut: Sie wird immer mein sein.«

Giuliano starrte Giovanni mit weit aufgerissenen Augen an: Er stand vor einem nackten und wehrlosen Mann, der jedoch eine solche Würde ausstrahlte, dass der Gehörnte ihn nicht blindlings niedermetzeln konnte. Zwar riss er halbherzig den linken Arm hoch, als wollte er ihn mit der Armkachel, die er sich extra für diesen Zweck hatte anfertigen lassen, schlagen, überlegte es sich jedoch anders und bedrohte den Nebenbuhler mit der Parierstange seines Schwertes, das er in seiner Rechten hielt.

Als er die absolute Gelassenheit des anderen bemerkte, hielt er mit geballten Fäusten inne und starrte auf Giovanni.

Die beiden Männer sahen sich lange an, aber in ihren Augen spiegelte sich keine Kampfeslust. Giuliano hatte den Eindruck, die Gedanken des Grafen Mirandola lesen zu können, und dieser spürte dasselbe. Er ließ die Arme fallen und wandte sich an seine Frau.

»Gehen wir jetzt. Ich bringe Euch zurück nach Hause«, sagte er beinahe sanft.

»Ich weiß«, sagte Margherita ernst.

Giuliano beobachtete sie nicht beim Anziehen, und als sie fertig war, bot er ihr seinen Arm, um sie die Treppe hinunterzugeleiten.

Ulrich stieg die Treppe hinauf und betrat das Zimmer, nahm die prächtigen Kleider des Grafen, warf sie ungelenk auf das Bett und bedeutete ihm mit einer Geste, sich schnell anzuziehen.

»Ihr werdet erwartet, edler Mirandola«, sagte er höhnisch, »und leider seid Ihr gezwungen, mir zu folgen.«

Giovanni zog sich unter den Blicken Ulrichs ohne Eile an und wehrte sich nicht, als dieser ihm mit einem robusten Lederriemen die Hände fesselte.

Die Männer des Söldners halfen ihm auf ein Pferd, und nach einem kurzen Ritt erreichte er, von fünf Männern und Ulrich von Bern begleitet, die Mauern von Marciano. Sie ritten durch den Barbacane-Aufgang auf den Waffenplatz. Dort stiegen sie von den Pferden. Zwei Wächter, die die Farben von Siena trugen, nahmen Giovanni in Empfang und führten ihn in den Festungsturm. Die letzte große Tür, die sich ganz oben befand, führte in eine große Arrestzelle. Wortlos wurde er hineingeleitet und alleine gelassen; er hörte, wie die Tür hinter seinem Rücken zufiel und verriegelt wurde.

Giovanni verbrachte die Nacht ohne Schlaf und betrachtete durch ein enges vergittertes Fenster den Sternenhimmel. Der Rosenduft, der von unten emporstieg, war der Duft des Liebesbandes, das er mit Margherita geknüpft hatte. Tief in seinem Inneren wusste Giovanni – und das mit absoluter Gewissheit –, dass Margherita die letzte Frau in seinem Leben gewesen war. Mit ihr hatte er den schöpferischen Akt der wahren Liebe erlebt, der sie zusammengeschweißt hatte und der sie für immer verband.

Florenz

Sonntag, 10. Juli 1938

Jeder der sieben Männer ließ eine kleine Kugel in den Samtbeutel gleiten. Als die Runde beendet war, holte einer von ihnen die Kugeln wieder heraus und reihte sie vor sich auf.

»Fünf weiße und zwei schwarze«, stellte er fest. »Omega hat entschieden. Michael, könntest du bitte die Fensterläden öffnen?«

Ein Hitzeschwall, den die Schatten spendenden Fensterläden bisher ferngehalten hatten, ergoss sich über sie, und die Männer wischten sich unwillkürlich den Schweiß von der Stirn. Die Feuchtigkeit stand im Raum und kündigte mit kleinen Luftwirbeln auf dem Boden ein Gewitter an. Michael steckte den Kopf aus dem Fenster und spähte über die Dächer: über den schmalen Himmelsstreifen, den er sehen konnte, flog ein Schwarm Tauben, der wohl von der Piazza del Duomo kam. In diesem Moment ertönten die Glocken des Giotto-Kirchturms, um die Abendmesse einzuläuten.

»So wie immer, Gabriel?«, fragte Michael und setzte sich wieder.

»Wenn keiner von euch einen besseren Vorschlag hat, würde ich sagen, ja. Warum sollten wir das System ändern – wenigstens solange die Schweiz neutral und sicher bleibt. Als Verwendungszweck können wir ohne weiteres verschiedene Beratungsleistungen angeben. Das würde bei einer Routineprüfung keine Aufmerksamkeit erregen.«

»Aber warum müssen wir noch eine Überweisung machen? Giacomo hat Bilanzen vorgelegt, die belegen, dass die Bücherei floriert und keine Zuschüsse benötigt. Außerdem hat er keine zusätzlichen Mittel verlangt.«

Gabriel faltete die Hände, zog die Augenbrauen hoch und schaute über seine Brillenränder hinweg. Nur seine Augen lächelten, als er dachte, dass der Name Remiel ganz besonders gut zu seinem Gesprächspartner passte. Remiel, der Erzengel der Vergeltung, schleudert seine Blitze gegen alles und jeden – dabei ist aber niemand treuer und aufrichtiger als er.

»Giacomo verwaltet das Geschäft sehr gut und würde nur etwas von uns verlangen, wenn er dazu gezwungen ist. Aber du weißt auch, wie wichtig es ist, dass er im Bedarfsfall kurzfristig über gewisse Summen verfügen kann.«

»Das Geld darf nur für einen einzigen Zweck verwendet werden«, stellte Remiel richtig, »und zwar um die Sicherheit des Buches über den Lauf der Zeit hinweg zu gewährleisten.«

»Und genau das tut Giacomo doch schon zeit seines Lebens«, warf Raphael ein, »außerdem wachsen die Rücklagen stetig. Sie reichen für die nächsten zehn Generationen.«

»Niemand behauptet etwas anderes«, beschwichtigte ihn Remiel, »ich wollte doch nur sagen …«

»Liebe Engel …«, unterbrach Gabriel die beiden.

Er sprach nach den Regeln des Protokolls, um seinen Worten mehr Autorität zu verleihen; immerhin bekleidete er noch für drei volle Monate das auf drei Jahre festgelegte Amt des primus inter pares. Am Ende des Jahres würde er das Amt an Raphael übergeben und erst in 18 Jahren wieder an der Reihe sein, doch er bezweifelte, dass ihm sein Schicksal noch einmal vergönnte, dieses Amt zu bekleiden.

»Wir alle dienen dem Buch, nicht mehr oder weniger als Giacomo. Und zu unserem Glück haben wir diese kleinen Differenzen untereinander, weil unsere Entscheidungen dadurch umso mehr die Früchte umsichtiger Einschätzungen sind. Omega existiert gerade deshalb, und die Tatsache, dass es uns seit drei Jahrhunderten gibt, sollte uns alle mit Stolz erfüllen …«

»In zwei Jahren werden wir unser 300-jähriges Bestehen feiern.« Michael schlug sich mit den Händen auf die Schenkel. Er war der Jüngste der Gruppe. Er trug den Namen Michael – ›Engel mit dem Feuerschwert‹ –, und dieser Name begeisterte ihn seit seiner Initiation, die nach dem Tod des letzten Michaels gerade einmal drei Jahre zurücklag.

»Schade, dass wir kein Fest veranstalten können«, fuhr er fort. Sein unbekümmertes Lächeln steckte die anderen an und vertrieb jede Spur von Anspannung innerhalb des Omega-Kreises.

»Ich denke, jemand von uns sollte sich in der Abendmesse sehen lassen«, sagte Gabriel, »unsere Frauen werden schon auf uns warten.«

»Darf ich eine Frage stellen?«

»Alles, was du willst, Uriel« antwortete ihm Gabriel. »Ich habe es nicht eilig.«

»Ich bin stolz, seit acht Jahren bei Omega zu sein, und deine Worte haben mich an etwas erinnert, das mir ab und zu in den Sinn kommt.«

Uriels Gedankengänge waren oft verschlungen, gaben aber nicht selten Anlass zu interessanten Diskussionen.

»Warum hat Giacomo nie geheiratet?«

Die Frage blieb lange im Raum stehen. Blicke kreuzten sich – doch niemand war in der Lage, Uriel darauf eine Antwort zu geben. Schließlich unterbrach Gabriel die Stille. Selbst die unschuldigsten Fragen konnten wie Schwerthiebe sein, wenn sie unbeantwortet blieben.

»Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, ihm ist das gleiche wie dem Grafen passiert. Wenn du einmal die Frau deines Lebens gefunden hast, und sie wird dir genommen, ist es nahezu unmöglich, eine neue Liebe zu finden. Aber was das Buch betrifft«, Gabriels Ton wurde ungezwungener, »glaube ich, dass Giacomos Lösung das Fehlen eines direkten, also blutsverwandten Nachfolgers auf das Vortrefflichste regelt.«

Im Abstand von fünf Minuten entfernten sich die einzelnen Mitglieder der Runde vom Treffpunkt. Sie gingen in alphabetischer Reihenfolge: Zuerst Michael, dann Raphael, Raguel, Ramiel, Uriel und Zadkiel. Sie nannten sich nach den sieben Erzengeln und teilten sich die Aufgabe, Giacomo, den Hüter des Buches, zu beschützen.

Als Letzter verließ Gabriel den Raum in der Akademie der Georgofili. Sorgsam verschloss er die Tür hinter sich.

Draußen wurde er von einem Platzregen überrascht und suchte Schutz unter den Säulengängen der Mercanti-Arkaden. Dabei musste er sich eng an einigen Familien deutscher Soldaten vorbeidrängen. Gerne hätte er das vermieden, aber diese Wassermengen hätten selbst einen Engel am Fliegen gehindert.

Marciano, Val di Siena

Dienstag, 2.Mai 1486

Die frühmorgendliche Stille wurde durch das laute Quietschen des Riegels unterbrochen. Danach war kein Geräusch mehr zu hören.

Vorsichtig ging Giovanni zur Tür. Sie stand offen. Er stieg die steile Holztreppe hinab, die er wenige Stunden zuvor freihändig mit auf dem Rücken gefesselten Armen bewältigt hatte, und trat ins Freie. Ein fertig gesatteltes Pferd schien ihn zu erwarten, ein prachtvolles Salernitanisches Halbblut, robust und muskulös, mit dichter Mähne und weiten Nüstern, aus denen der Atem dampfte. In seinen großen lebhaften Augen, in denen sich die erste Morgenröte und die letzten Sterne der Nacht widerspiegelten, erkannte Giovanni Angst und Aufregung zugleich. Sanft und ohne Eile streichelte er den Hals des Tieres, und als er dessen Vertrauen spürte, stieg er in den Sattel. Alle Tore waren geöffnet, auch das Barbacane-Tor. Eilig verließ Giovanni Pico Marciano und galoppierte zur Herberge zurück.

Hier fand er alles unverändert vor: Die Leichen seiner Diener lagen noch immer vor dem Eingang. In ihren leblosen Gesichtern stand die Ungläubigkeit über ihr überraschendes Ende. Ihnen und den anderen Toten in der Herberge schloss Giovanni sanft die Augen.

Dann ritt er über die Felder, bis er einen Feigenbaum fand, den Baum allen Anfangs, der allen Religionen heilig ist. Er setzte sich im Schneidersitz unter die Schatten spendenden Äste und atmete den Duft der aromatischen Blätter ein. Hier blieb er, einen Tag und eine Nacht, und noch einen Tag – so lange, bis er in der Abendröte des zweiten Tages spürte, dass er wieder zu seinem höheren Selbst gefunden hatte. Zu dem, was die Christen Kontemplation nennen, die Weisen des Islam Erwachen, die jüdischen Kabbalisten mystische Intuition und die Jünger Buddhas Erleuchtung. Man musste einfach nur warten, ohne Eile, das wusste er, dann würde sie schon kommen, die Kontemplation. Und tatsächlich, nach einer Weile sah er die Feuerkugel – die gleiche, die den Beschreibungen vieler Augenzeugen nach auch am Tag seiner Geburt erschienen war. Der Arzt, der ihn auf die Welt gebracht hatte, hatte dieses Phänomen in allen Details niedergeschrieben. Astrologen, Gelehrte und Priester waren an den Hof der Mirandola gerufen worden und hatten unterschiedliche Deutungen aufgestellt, aber alle waren sich einig, dass das Neugeborene zweifellos zu etwas Besonderem auserkoren war. Nun endlich wusste Giovanni Pico, was die Prophezeiung zu bedeuten hatte.

Am Todestag seiner Mutter und in allen anderen schwierigen Momenten seines Lebens hatte er die Präsenz der Feuerkugel gefühlt. Nun spürte er sie wieder; das gab ihm Zuversicht und erinnerte ihn daran, dass ihn nichts von seiner Lebensaufgabe ablenken konnte. Sein ganzes Dasein war diesem einen Zweck gewidmet, auch wenn er sich dessen am Anfang nicht bewusst gewesen war. Aber nun war er bereit und die Zeit des Nachdenkens vorbei. Die Feuerkugel verglühte, und Giovanni öffnete langsam die Augen. Nicht einmal körperliche Schmerzen hätten ihn jetzt mehr aufhalten können.

Fast sieben Monate später, Rom

Montag, 20. November 1486

Der neue Stadtpalast der adeligen Familie della Rovere, der sich am Borgo Vecchio befand, war immer noch festlich erleuchtet und geschmückt, obwohl die Nacht schon weit vorangeschritten war. Hausherr und Gastgeber war der neu gewählte Kardinal Domenico della Rovere, seines Zeichens erbitterter Erzfeind seines entfernten Cousins, Giuliano della Rovere. Giuliano war der Neffe des seit nunmehr zwei Jahren verblichenen Papstes Sixtus IV. und bekleidete ebenfalls ein Kardinalsamt. Ehrengast war ein weiterer Kardinal, Don Rodrigo de Borja y Doms, der in Begleitung seiner neuen Mätresse erschienen war, der jungen und schönen Giulia Farnese. Ihre dichte Haarpracht war hochgesteckt und wurde von einer Perlenkette mit einem prächtigen Smaragdverschluss gehalten. Für sie hatte Kardinal Borja Giovanna Cattanei, die von allen nur Vannozza genannt wurde, verlassen. Obwohl sie ihm drei Kinder geboren hatte, war sie immer noch eine attraktive Frau, und auch nach der Trennung wagte niemand, ihr Aufmerksamkeit zu schenken oder gar um sie zu werben, denn sie wurde weiterhin als Privateigentum des Don Rodrigo betrachtet.

Ein Musiker spielte mit der Vihuela de mano, der weich klingenden spanischen Gitarre und dem Lieblingsinstrument des Ehrengastes auf. Er stimmte ein Branle vivace an, um den Tänzern die Gelegenheit zu geben, einander zu umwerben, ein paar Schläge lang innezuhalten und sich dabei tief in die Augen zu blicken, bevor das ausgelassene Treiben wieder von vorne begann. Das fröhliche Stimmengewirr der edlen Damen und Herren erfüllte den Semidei-Saal. Er war reich mit Fresken geschmückt, die musizierende Sirenen und Tritonen, Sphinxen, Zentauren und Satyrn beim Liebesspiel zeigten.

Und doch waren die ausgelassene Atmosphäre und die anregende Musik für Giovanni Pico Graf von Mirandola und Concordia keine willkommene Abwechslung. Seit Monaten kreisten seine Gedanken nur um ein einziges Thema: Die bevorstehende Veröffentlichung seiner Thesen. Nichtsdestoweniger hatte er sich der Einladung nicht entziehen können – denn sie abzulehnen hätte eine schwerwiegende Beleidigung gleich beider Kardinäle bedeutet –, sowohl des Ehrengastes als auch des großzügigen Gastgebers. Lächelnd dachte er an die Vorwürfe, die ihnen Meister Savonarola gemacht hätte – der unerbittliche Sittenwächter. Ganz Florenz fürchtete sich vor ihm, sogar der Mächtige der Mächtigen: Lorenzo der Prächtige. Hätte Meister Savonarola das Treiben dieser Nacht gesehen, hätte er sie mit vernichtenden Worten angegriffen und sie in eine Reihe mit dem korrupten römischen Adel gestellt. Damit hätte er gar nicht so falsch gelegen, dachte Giovanni und seufzte. So gerne er sich der materiellen und moralischen Verführungen auch erwehrt hätte – er hatte keine andere Wahl, als der Einladung Folge zu leisten.

Nun war die Nacht jedoch so weit fortgeschritten, dass er getrost gehen konnte, ohne jemanden zu brüskieren. Erleichtert ließ er sich von einem Pagen seine Kappe und seinen Samtumhang bringen und versteckte unter seinem prächtigen Wams die schwere Goldkette mit den Insignien seiner Familie. Es wäre nicht ratsam gewesen, zu dieser späten Stunde mit zur Schau getragenem Gold und Geschmeide unterwegs zu sein. Zu den umherstreifenden Briganten mit ihren dreischneidigen Dolchen war Rom noch mit einer anderen Seuche infiziert: den Horden spanischer Wegelagerer, die ihrem Beschützer, dem spanischen Kardinal Borja gefolgt waren und nun hofften, dass von dem Reichtum Roms auch etwas für sie abfallen würde. Sie mordeten furchtlos und lieferten sich mit anderen Banden wilde Scharmützel. Wer zufällig in eine solche Auseinandersetzung hineingeriet, war verloren.

Keiner schien die diskrete Flucht des Grafen zu bemerken, denn alle lauschten dem vortrefflichen Lauro de Lorenzo. Er trug eine neue Komposition vor –, möglicherweise sogar aus der Feder des Prächtigen selbst, munkelte man –, die in der Anzüglichkeit ihrer Verse von Gelächter und vulgären Sprüchen begleitet wurde.

Giovanni Pico war froh, dass er die alten und neuen Tänze hinter sich gelassen hatte: Den Leoncello-Tanz, die Kreistänze für zwei und vier Paare und allen voran die Pinzoccara oder den äußerst anstrengenden Saltarello, der einen unweigerlich zum Schwitzen brachte und dadurch die Verbreitung überaus abstoßender Gerüche begünstigte. Er ging Richtung Piazza della Giudea, ihm voraus sein treuer Diener. Dort bog er zum Monte Cenci ab, wo sich die Offizin von Meister Eucharius Silber Franck befand, dem bekanntesten Buchdrucker Roms. Obwohl es schon sehr spät war, zog Giovanni ohne zu zögern an der Glocke und wartete geduldig auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Silber Franck schlief wahrscheinlich, aber er war an seine überraschenden Besuche gewöhnt. Andererseits war Giovanni Pico nicht nur sein großer Bewunderer, sondern vor allem ein sehr guter Kunde.

Im Schutz der Dunkelheit dachte der edle Mirandola über die Schicksalsschläge nach, die den Buchdrucker nach Rom verschlagen hatten. Obwohl er konvertiert war, würde er in den Augen der Christenheit immer Jude bleiben, und das wäre ihm früher oder später in seiner Heimat zum Verhängnis geworden. In Deutschland tönten viele neue Prediger, entschlossen wie Savonarola, aber ohne dessen Format, gegen alle Feinde der Christen: allen voran gegen die ausschweifende und korrupte römische Kirche, aber auch gegen die Juden, die Muselmanen und gegen alle, die sich von den christlichen Tugenden entfernt hatten. Denn nur diese garantierten einen Platz im Paradies.

In einem schwachen Moment hatte Eucharius ihm einmal erzählt, dass sein Bruder, ein bekannter Medicus, mit seiner Familie vor dieser Gefahr nach Sevilla geflohen war, wo bis vor wenigen Jahren noch eine blühende jüdische Gemeinde existiert hatte. Leider war er den Mannen des streng katholischen Königs Ferdinand in die Hände gefallen und von Dominikanermönchen im Dienste des allmächtigen Großinquisitors Tomás de Torquemada grausam gefoltert worden.

Giovanni hatte seinen Freund Savonarola öfter spöttisch gefragt, wie er Mitglied im selben Orden sein könnte wie der spanische Großinquisitor. Und Savonarola gab zur Antwort, dass ihre Ziele die gleichen seien, auch wenn die Methoden gegensätzlicher nicht sein könnten, und so verschob sich die Diskussion regelmäßig von der religiösen auf die philosophische Ebene.

Der Buchdrucker Eucharius von Wilzburg hatte mehr Glück gehabt. Trotz der politischen Turbolenzen und der andauernden Zwistigkeiten unter den Mächtigen hatte er sich für Italien entschieden. Seinen Lehrjahren in der Werkstatt Gutenbergs verdankte er, dass er in einem politischen Klima von Erneuerung und Freiheit unverhofft sein Glück gefunden hatte. Er traute dem Frieden jedoch nicht und befürchtete, dass die Verfolgung der Juden früher oder später auch in Italien einsetzen würde. Seinem großzügigen Kunden hatte er unlängst gebeichtet, dass er auf seinen Drucken ein Alias benutzte: Der Künstlername Franck zeugte von seiner jüdischen Herkunft. Graf Mirandola hatte ihn beruhigt: Er hätte nichts zu befürchten, solange ihm edle Familien wie die Orsinis, die Medicis, die della Roveres oder die Borjas selbst, die 20 Jahre zuvor ihren Namen in Borgia italianisiert hatten, Freundschaft und Achtung entgegenbrachten.

* * *

Ein Licht wurde in der Offizin angezündet, dann hörte Giovanni, wie Riegel geöffnet wurden. Im Schein einer Öllampe erschien die Figur von Eucharius, der aus der halboffenen Tür spähte.

»Was soll ich Euch wünschen, mein Graf? Gute Nacht oder einen guten Morgen? Für den ersten Gruß ist es eigentlich bereits zu spät, und weil die Sonne erst in fünf Stunden aufgehen wird, ist es für den zweiten noch zu früh.«

»Wünsche mir ein zufriedenes Leben«, antwortete Giovanni, »dann ist mir jede Stunde des Tages und der Nacht angenehm.«

»Das wäre für jeden Mann mit gutem Willen ein erstrebenswertes Ziel und keine einfache Aufgabe für unseren Herrn«, antwortete Eucharius. Mit einer Geste wies Giovanni seinen Diener an, draußen Wache zu halten, dann trat er zu Eucharius hinein. Dieser verschloss die Tür sofort hinter ihm.

»Ich will dich nicht zu lange aufhalten, mein guter Eucharius. Ich möchte nur wissen, wie es um den Druck meiner Thesen steht.«

»Edler Giovanni, 500 Exemplare druckt man nicht so schnell, wie man ›Amen‹ sagen kann. Obwohl man heute fähig ist, an einem einzigen Tag das zu drucken, woran man früher ein Jahr lang gearbeitet hat … wenn man meinem Kollegen Ulrich Han Glauben schenken darf.«

Der Graf lächelte.

»Ich kenne Han, er ist ein überaus guter Handwerker und ein scharfsinniger, begabter Mann. Als ich seine De honesta voluptate et valetudine sah, dachte ich, es sei das philosophische Traktat eines lateinischen Verfassers … aber als ich es bereits gekauft hatte, entdeckte ich beim Lesen, dass es ein Buch über Küchenrezepte war. Alles in allem war es eine angenehme Täuschung, weil ich einige schwerverdauliche Ergebnisse seiner Rezepte am eigenen Leibe selbst erfahren konnte …«

»Hoher Herr, es gibt immer etwas zu lernen, auch für jemanden wie Euch. Verschweigt Eure Entdeckung, auch wenn bereits viele davon wissen. Aufgrund des profanen Inhalts fürchtet Han um seine Drucklizenz.«

»Ich glaube, dass das Gute ohne Freiheit keinen Wert hat. Seneca sagt: ›Tue nichts Gutes, dann passiert dir nichts Schlechtes‹.«

»Wenn das so einfach wäre, hoher Herr.«

»So ist es im Himmel und, wenn die Menschheit die göttliche Eingebung besser kennt, wird es so auch auf Erden sein. Wenn alle Menschen Kinder eines höheren Wesens sind, folgt daraus unweigerlich, dass wir alle gleich sind. Ich hoffe, dass meine Thesen die Welt dafür empfänglich machen.«

Eucharius starrte den Grafen ungläubig an. »Was habt Ihr da gesagt, hoher Herr?«, fragte er. »Habe ich das eben richtig verstanden? Nein, vergebt mir, meine Sinne müssen mich getäuscht haben. Die vermaledeiten alten Ohren verwechseln die Wörter wie ein Obsthändler, der die guten Äpfel zeigt und dann die faulen in den Korb legt.«

»Nein, nein, du hast schon recht verstanden, Eucharius. Und wo wir von Äpfeln sprechen – ich möchte, dass du mir drei Exemplare in rotes Leder bindest, und zwar so, dass man weitere Seiten einfügen kann. Außerdem sollen die Folianten mit einem Schloss ausgestattet sein.«

Perplex sah Eucharius den Grafen an, gegen die Wünsche eines edlen und reichen Herrn konnte er jedoch nichts einwenden.

»Jawohl, Herr. Ich werde Euch das fertige Werk so schnell wie möglich liefern. Aber … wie steht es um die päpstliche Kommission? Erinnert Euch, ich warte immer noch, dass Ihr mir Seine Erlaubnis für die Veröffentlichung überbringt.«

»Sorge dich nicht, Eucharius, früher oder später wirst du sie schon erhalten. Du musst wissen, dass meine Thesen von dem Einzigen, an den deine und meine Vorfahren und sogar der Große Prophet Mohammed geglaubt haben, inspiriert wurden.«

»Sprecht nicht so. Mein Bruder wurde für viel weniger an den Füßen aufgehängt und ihm dann alle Finger zerquetscht und gebrochen. Er war ein guter Medicus – heute aber ist er nur noch ein armer Krüppel.«

»Du hast recht, Eucharius. Aber ich bin mir sicher, dass dieses gottlose Treiben bald ein Ende haben wird und Männer wie dein Bruder nichts mehr zu befürchten haben.«

»Dann segne Euch Gott, Giovanni – welcher auch immer.«

Rom

Dienstag, 21. November 1486

Eure Heiligkeit, der Botschafter der Medici ist angekommen.«

»Lasst ihn warten wie alle anderen auch. Er soll auf keinen Fall glauben, dass er bevorzugt wird.«

»Wie Ihr wünscht, Eure Heiligkeit … Lasst mich jedoch in aller Bescheidenheit zu bedenken geben, dass die Medici unsere Gläubiger sind. Und in diesen schweren Zeiten …«

»Ich weiß sehr gut, was wir den Medici schulden«, polterte der Papst los, »daran muss ich nicht von meinem Kardinalvikar erinnert werden. Lasst ihn warten, habe ich gesagt, und ruft mir Fränzchen. Ich will ihn augenblicklich sehen!«

Kardinal Sansoni schwieg, kreuzte die Arme auf dem Rücken und verließ unterwürfig rückwärts schreitend den Saal. Als Neffe des verstorbenen Papstes Sixtus IV. hatte er es geschafft, sich die Position des Kardinalvikars auch bei dem mächtigen Giovanni Battista Cibo zu sichern, der sich Innozenz nannte – der achte seiner Reihe. Und er hatte keinerlei Absicht, sich diese wieder entreißen zu lassen. Er musste allerdings besonders auf der Hut sein, denn obzwar er formal das Amt des Schatzmeisters bekleidete, hielt in Wahrheit einer der illegitimen Söhne von Innozenz VIII. die Schlüssel zu den Reichtümern in der Hand.

Wenige Minuten später kam Fränzchen durch die Geheimtür, die sich hinter dem Thron des Papstes befand und als Fluchtweg geplant worden war: Durch eine Reihe von Räumen konnte man mit Leichtigkeit den Geheimgang, den sogenannten Passetto del Borgo erreichen, der den Petersdom mit der Engelsburg verband.

»Ihr habt nach mir verlangt, Vater.«

Sein Ton war unterwürfig, doch seine aufrechte, hochmütige Haltung sprach eine andere Sprache. Fränzchen war gutaussehend und hochgewachsen. Das dichte, rabenschwarze Haar hatte er von seiner Mutter Eleonora, einer neapolitanischen Edelfrau, geerbt. Damit war er das komplette Gegenbild seines Vaters, und vielleicht vergötterte der Papst ihn gerade deshalb so sehr. Seitdem er denken konnte, war Fränzchen nur von dem einen Gedanken beseelt gewesen: Reichtum anzuhäufen. Ein Vermögen – das er beim Würfelspiel genauso schnell wieder verlor. Um seine Spielsucht befriedigen zu können, hatte Cibo ihn sofort nach seiner Wahl zum Papst als Statthalter von Ferentillo eingesetzt, einem reichen Städtchen an der Grenze des Herzogtums zu Spoleto. Leider stellte sich rasch heraus, dass diese Einkünfte Fränzchen nicht ausreichten. Mit Schmeicheleien, Tränen und seiner Schlauheit war es ihm schließlich gelungen, zum Ablasshändler der römischen Kirche ernannt zu werden.

Diese Position ermöglichte es dem Tunichtgut, einen florierenden Handel aufzubauen, den er »weltliche Gnaden« nannte. Wenn sein Vater, der Papst, versuchte, den Kirchenschatz des heiligen Petrus zu mästen, indem er den Adeligen und Kaufleuten Stücke vom Paradies verkaufte, so verkaufte Fränzchen die Gnade auf Erden. Jeder Räuber und Mörder, der es heil nach Rom geschafft hatte, konnte sich bei Fränzchen Straffreiheit im Himmel wie auf Erden erkaufen. Diese hatte allerdings ihren Preis und musste in Golddukaten bezahlt werden. Fränzchen, der über das päpstliche Siegel verfügen konnte, verlangte mindestens 200 Golddukaten für einfache Vergehen, und bei besonders grausamen Verbrechen konnte der Preis schnell auf tausend hochschnellen. Dreiviertel der Einkünfte wanderten in die Kirchenkasse, ein Viertel in seine privaten Taschen – so lautete die Abmachung mit seinem Vater.

»Wie viel Zeit haben wir noch, bevor die nächste Rate in Florenz fällig wird?«, fragte der Papst den Kardinalvikar barsch.

»Wir sind echte Genueser. Deshalb haben wir die Frist bereits verstreichen lassen, ohne die Rate einzulösen.«

»Und aus welchem Grund? Haben wir nicht genug, um zu zahlen?«, Innozenz VIII. schaute zu seinem Kardinalvikar.

Aber bevor dieser antworten konnte, kam ihm Fränzchen zuvor. Er setzte sich lässig auf die Stufen des Thrones und sagte: »Nein, das ist es nicht, Vater. Wir wollen nur, dass die Medici sich Sorgen um das Los ihres Kredits machen. Ein edler Herr zahlt nie pünktlich, umso mehr, wenn er der Papst ist. Der Gläubiger muss sich geehrt und dankbar fühlen, wenn er überhaupt etwas von seinem Geld wiedersieht.«

Innozenz VIII. lächelte: Dieser Sohn, mochte er auch noch so frevelhaft sein, war ihm fast so lieb wie der Thron, auf dem er saß und dessen Erwerb ihn jahrzehntelang Intrigen, Allianzen und Verrat sowie hunderttausend Dukaten gekostet hatte.

»Also, es ist entschieden«, sagte er, »die Medici werden weiter warten. An dieser Stelle können wir den Botschafter eintreten lassen und ihn vertrösten, wenn er auf Rückzahlung drängt.«

Der Kardinalvikar rieb sich die Hände und schob sie langsam in seine weiten Ärmel. Er senkte nur den Kopf, um ein kleines Lächeln zu verbergen.

»Nun, Sansoni! Schläfst du?«, fragte der Papst und unterdrückte ein Lachen. »Lass den Abgesandten der Medici eintreten. Nein, warte. Sage mir erst, wer es diesmal ist.«

»Ein gewisser Jacopo Salviati, Eure Heiligkeit, und er verfügt über alle Credentialen«, antwortete der Kardinalvikar.

»Oh, belàn!«, rief Innozenz VIII., der bei jeder Gelegenheit seine genuesische Herkunft unterstreichen musste. »Oder ist er ein Cousin von Francesco?«

»Welcher Francesco, Eure Heiligkeit?«

»Du bist wirklich ein Idiot, Sansoni. Francesco Salviati, der Erzbischof von Pisa, den die Medici han criccâ, Gott hab ihn selig.«

»Criccâ? Eure Heiligkeit, ich verstehe Euch nicht, wenn Ihr so sprecht.«

»Na, der, den die Medici aufgehängt haben, weil er an der Verschwörung gegen die Familie de’ Pazzi teilgenommen hat«, antwortete der Papst unwirsch.

»Davon weiß ich nichts.«

»Du weißt nie irgendwas, Maccaccu. Aber du wirst sehen, er wird es sein. Die Salviati scheinen mittlerweile verstanden zu haben, woher der Wind weht. Lass ihn eintreten, wir sprechen ihm unser Beileid aus.«

»Sofort, Eure Heiligkeit.«

Florenz

Freitag, 15. Juli 1938

Giovanni! Hast du heute das Giornale d’Italia gelesen?«, fragte Giocomo de Mola.

»Nein, ich hatte noch keine Zeit.«

»Es ist ganz und gar unglaublich, was da geschrieben wird, sage ich dir. Auf jeden Fall hätte ich nie gedacht, dass es jemals wieder so weit mit uns kommen könnte. Hör dir das an: ›Die Bevölkerung unseres Landes ist hauptsächlich arischen Ursprungs, genau wie die italienische Kultur.‹ Und hier: ›Es wird Zeit, dass die Italiener sich frank und frei zu ihrer Rassenideologie bekennen. Die Arbeit des Regimes in Italien, das muss endlich laut und nachdrücklich gesagt werden, ist eigentlich rassistisch.‹« De Mola sah sein Gegenüber kopfschüttelnd an. »Es ist einfach unglaublich, dass das Wort Rassismus hier eine positive Bedeutung hat. Aber warte, warte, es kommt noch besser: ›Die Juden sind die einzige Volksgruppe, die sich nie assimiliert hat – letztlich, weil sie aus nicht-europäischen Rassenelementen besteht. Aus Elementen, welche sich diametral von denjenigen Faktoren unterscheiden, die zu der Entwicklung der Italiener geführt hat.‹ Weißt du, was das bedeutet?«

»Von wem ist der Artikel?«

»Es ist kein Artikel, es ist eine Art Manifest von einer nicht näher beschriebenen ›Gruppe faschistischer Gelehrter und Professoren der italienischen Universitäten‹. Vermutlich ist es auf Mussolinis Mist gewachsen, denn es ist nicht unterschrieben.«

»Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich froh, kein Jude zu sein.«

»Ich nicht!«, rief de Mola laut aus. »Heute wäre ich wirklich gern einer. Ich schäme mich, Italiener zu sein! Eigentlich müsste ich einen Leserbrief an das Giornale d’Italia schicken und die Veröffentlichung erzwingen!«

Giacomo de Mola erweckte nicht den Eindruck, gefährlich zu sein. Er war groß und hager und trug sein bereits angegrautes Haar in einem kurzen Bürstenschnitt. Die goldene Brille, die auf einer kleinen, beinahe femininen Nase saß, erschien fragil – in einer Zeit, in der der Schlagstock das Regiment hatte. In seinem schlanken und zähen Körper versteckte sich trotzdem ein Dämon. Obwohl de Mola die vierzig bereits fast zur Hälfte überschritten hatte, traten bei seinen seltenen Wutausbrüchen oder in Gefahrensituationen seine schier unglaubliche körperliche Stärke und seine Gewandtheit hervor – Eigenschaften, die ihn zu einem gefährlichen Gegner beim Fechtkampf machten. Seinerzeit hatte er es mit dem Degen bis in die olympische Fechtmannschaft gebracht und in Stockholm von der Reservebank aus dem Einzelsieg seines Freundes Nedo Nadi beigewohnt.

»An deiner Stelle würde ich das nicht tun. Du wärst dann nämlich auf einen Schlag bekannt wie ein bunter Hund, und mit dem schönen freien Leben und den Annehmlichkeiten der Anonymität wäre es erst einmal vorbei.« Er lächelte.

»Ja, ich weiß«, sagte Giacomo, »ich meine ja nur. Ich weiß, es würde nichts nutzen. Aber du wirst sehen, dies ist erst der Anfang. Zum Glück sind wir nicht in Deutschland – andererseits ist es hier auch nicht besser –, unsere Meinungsmacher äffen die germanische Propaganda ja beinahe wortwörtlich nach. Apropos, wie ist denn gestern das Treffen mit dem Konsul verlaufen?«

»Dr. Wolf war sehr freundlich, und er hat die Bücher, die ich ihm gebracht habe, sehr zu schätzen gewusst. Speziell die seltene Ausgabe von Manuzio, die Hypnerotomachia Poliphili.«

»Eine äußerst wertvolle Ausgabe, da hat er wirklich einen hervorragenden Kauf getätigt.«

»Es ist nicht einfach, in der heutigen Zeit jemanden zu finden, der bereit ist, für ein Buch 25.000 Lire zu bezahlen.«

»Ja, das ist wahr, aber dieser Text ist weit mehr wert.«

Widerwillig machte Giacomo de Mola Anstalten zu gehen, wohl wissend, dass er die angenehme Kühle der Buchhandlung leider verlassen musste. Die dicken Steinmauern hielten die Temperatur das ganze Jahr über fast konstant. Dies garantierte nicht nur einen optimalen Erhalt der wertvollen Bücher und antiken Manuskripte, sondern auch ein perfektes Verkaufsklima: Die Kunden der Buchhandlung waren das ganze Jahr über angenehm geschützt vor der klirrenden Winterkälte oder – so wie in diesen Tagen – der beinahe unerträglichen Sommerhitze.

Als Giacomo ins Freie trat, erstickte ihn eine Welle drückender feuchtwarmer Hitze wie eine aufdringliche Umarmung. Der elfenbeinfarbene Panamahut schütze Giacomo kaum vor den Sonnenstrahlen, und er grinste schadenfroh, als er zwei Schläger der Miliz sah, die in schwarzen Hemden, dunkelgrauen Hosen und hohen Stiefeln steckten, auf dem Kopf einen Fez. Obwohl sie recht aufgeblasen wirkten, war er sich sicher, dass sie unter diesen Temperaturen wesentlich stärker litten als er und dass sie ihn um seinen hellen Leinenanzug beneideten.

Für das alljährliche Treffen, das im de’-Pulci-Turm der Georgofili-Akademie stattfand, war er bereits zu spät, deshalb schritt er schneller aus. Wie so oft in der letzten Zeit dachte Giacomo de Mola im Gehen an Giovanni und an ihren gemeinsamen Weg, der seinen Anfang genommen hatte, als er ihn aus dem Waisenhaus geholt und ihn zur Ausbildung ins Jesuitenkolleg nach Livorno geschickt hatte. Der Junge schloss mit Bestnote ab. Seine wache Intelligenz und Giacomos Beziehungen ermöglichten ihm schließlich, in Paris an der Sorbonne zu lernen. Auch sein Studium der Geisteswissenschaften und der italienischen Literatur schloss Giovanni mit Auszeichnung ab.

Giacomos beinahe väterlicher Stolz wurde jedoch geschmälert durch ein unbestimmtes Gefühl, dem Jungen nicht voll vertrauen zu können. Obwohl sie bereits seit über zehn Jahren zusammenarbeiteten und sich besser kannten als manche Ehepaare, ließ Giovanni ihn einfach nicht in sein Inneres blicken. Das mochte an dessen angeborener Zurückhaltung liegen oder in seinen schlimmen Erfahrungen als Waisenkind begründet sein. Die unsichtbare Barriere zwischen ihnen hatte Giacomo jedenfalls bis zum heutigen Tag davon abgehalten, den Jungen in alle Geheimnisse einzuweisen – die wichtigsten hielt er nach wie vor zurück. So lange, bis Giovanni reif genug dafür wäre. Früher oder später wäre es so weit, versicherte sich Giacomo, denn er hatte mit dem Jungen eine gute Wahl getroffen. Weil er keine eigenen Kinder hatte, würde er Giovanni adoptieren. Und dann, wenn er sein Sohn geworden wäre, würde er ihm auch die letzten – und wichtigsten – Geheimnisse offenbaren.

Vielleicht würde sich dies alles sogar noch in diesem Jahr einrichten lassen, denn Giovanni stampfte bereits wie ein junges Pferd im Stall, das bereits Witterung aufgenommen hatte und in Richtung Wettkampf-Piste strebte.

Giovanni Volpe blieb allein in der Buchhandlung zurück. Er wartete, bis die letzten Kunden gegangen waren, und schloss dann sorgfältig Kasse und Ladentür ab. Vor dem Spiegel blieb er kurz stehen und betrachtete nachdenklich sein durchschnittliches Gesicht, das nur durch das leuchtende Rot seiner Haare Aufmerksamkeit erregte. Dann ging er zum Telefon und bat die Vermittlung um ein R-Gespräch. Nannte eine Nummer in Rom. Ja, bitte, schnell. Der Empfänger akzeptiert? Sehr gut, bitte stellen Sie mich durch.

»Herr von Mackensen?«

»Ja, Herr Volpe?«

»Wie geht es Ihnen?«

»Sehr gut, danke, aber sprechen Sie bitte italienisch.«

»Selbstverständlich. Kann ich sprechen?«

»Natürlich«, antwortete der deutsche Botschafter mit einem leicht kehligen Akzent, »dies ist eine sichere Leitung.«

* * *

Die wöchentlichen Treffen in der Georgofili-Akademie waren nur für einen intimen, sorgfältig ausgewählten Gelehrtenkreis bestimmt, weil die Gesprächsthemen nicht regelkonform waren: In der erlesenen Runde erörterte man nämlich nicht die besten Methoden, Olivenparasiten auszurotten, oder diskutierte darüber, ob der philippinische Jasmin resistenter als der chinesische sei, geschweige denn über die Reitkünste der toskanischen Maremma-Gauchos. Man sprach vielmehr frei über Religion, Philosophie, Wissenschaft und Politik – ohne Angst vor Zensur oder Sanktionen haben zu müssen. Wer in die eingeschworene Gemeinschaft der Denker und Gelehrten aufgenommen werden wollte, musste außergewöhnliche Fähigkeiten vorweisen können und bedingungslos an Ideale wie Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit glauben. Eine einzige Gegenstimme bei der Abstimmung unter den Mitgliedern genügte, um dem Bewerber die Aufnahme zu verweigern, und jedes Votum bedurfte einer kurzen Ausführung zur Begründung. Bestand innerhalb der Gemeinschaft Einigkeit darüber, dass der Kandidat geeignet sei, wurde dieser zwar diskret, jedoch nur stufenweise über seine Chancen und die inneren Zusammenhänge des Vereins informiert. Erst wenn die Gemeinschaft sicher sein konnte, dass der Bewerber echtes Interesse hegte, weihte sie diesen in die Ziele und Zwecke des Vereins ein. Nach dieser ganzen Prozedur wurde er dann eingeführt und allen vorgestellt.

Aufgrund der Art und Weise, wie ihre Initiation geschehen war, dachten zwar viele, dass sie in eine geheime Freimaurerloge aufgenommen würden, aber die wenigsten waren enttäuscht, wenn sie herausfanden, dass ihr Irrtum sich bewahrheitete.

Innerhalb der Gemeinschaft gab es noch eine weitere Position, um die sich ein Mitglied bewerben konnte: Ein auf wenige Personen beschränkter geheimer Zirkel kreiste um de Mola und hatte die Aufgabe, ihn zu beschützen: Seit Jahrhunderten trug diese Gruppe den Namen Omega.

Giacomo hatte sich das Giornale d’Italia mitgenommen, um über den abwegigen Rassenartikel zu diskutieren. Er war überzeugt davon, dass es vordringliche Aufgabe der Intellektuellen und Gelehrten des Landes war, die Verbreitung dieser idiotischen Thesen zu verhindern. Dass es ein Kampf gegen Windmühlen war, wusste Giacomo, denn das faschistische Regime förderte genau diese Gerüchte.

Im Gegensatz zu den vergleichsweise harmlosen Bestrebungen der Italiener, ihre Sprache frei von Lehnwörtern zu halten, hielt er die giftigen, eindeutig von den Deutschen inspirierten Hasstiraden gegen die nichtarischen Rassen für äußerst gefährlich. Giacomo war klar, dass er sich mit dieser Meinung nicht zu sehr exponieren durfte. Wenn die Regierung ihn ins Visier nähme, wäre die Mission gefährdet. Nach fast fünf Jahrhunderten des Wartens und sorgfältigster Geheimhaltung konnte er sich das nicht leisten.

Außerdem war er der Hüter des Buches. Dieser vornehmen Aufgabe hatte er sein ganzes Leben gewidmet, wie alle de Molas vor ihm und wie all die de Molas, die nach ihm kommen würden: Seine Familie hütete das Geheimnis des Buches seit nahezu fünfhundert Jahren und vererbte das Wissen zu gegebener Zeit an den auserkorenen Nachfolger. Er war der letzte der Hüter – sein Nachfolger würde Giovanni werden, unmittelbar nach seiner Adoption. Eines fernen Tages, wenn die Zeit reif wäre, würden alle Menschen – ungeachtet ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer sozialen Herkunft, ihrer politischen Meinung oder ihrer Staatsangehörigkeit – von dem Buch erfahren. Und dann hätte sich der Traum des Grafen Mirandola erfüllt.

Vor einigen Jahren, als der Faschismus noch soziale Ideen vertrat und der Nationalsozialismus sein wahres Gesicht noch nicht gezeigt hatte, erschien dies beinahe möglich. Damals hatte Giacomo für sich und die Söhne seiner Söhne gehofft, dass sich sein Stamm endlich von der Bürde des Buches befreien können würde. Doch obwohl die Welt gerade die Schrecken des Weltkrieges überlebt hatte, schien sie dieser Tage von einer neuen Heimsuchung bedroht. Und so musste er einmal mehr auf der Hut sein, sehr gut und vor allem geduldig aufpassen. Er musste das Buch vor den alten und neuen Dämonen verbergen, die sich die antike Macht wieder zurückerobern wollten – notfalls mit seinem Leben.

Rom

Donnerstag, 7. Dezember 1486

Zerstreut strich Graf Giovanni Pico di Mirandola e di Concordia über die Rücken der Bücher, die der Buchdrucker Eucharius Silber alias Franck sorgfältig in Kisten verpackt hatte.

Er nahm eines zur Hand und las, nach seinen Namen, voller Stolz den Titel:

Johannes Pico Mi.Conclusiones Sive Thesis DCCCCpublice disputandae, sed non admissae

Er begann in den Seiten zu blättern, die in gotischen Lettern bedruckt waren. Um die Lektüre zu erleichtern, waren die Schriftzeichen allerdings etwas weicher und abgerundeter ausgeführt, ähnlich der gefälligen Schrift der Amanuensischen Mönche, die bekannt für diese Kunstfertigkeit waren.

»Eine wunderbare Arbeit, Eucharius. Ich glaube, wir können beide stolz darauf sein!«

»Die äußere Form zählt nicht, um es mit den Worten Platons zu sagen, und in diesem Fall kann die Ausführung nur eine Fährte sein, die zu seinen Inhalten führt.«

»Hast du es gelesen?«

»Nein, hoher Herr, ich musste eine Entscheidung treffen – drucken oder lesen. Und ich wusste, dass Ihr es mehr schätzen würdet, wenn ich mich Ersterem widme. Nichtsdestotrotz werde ich es mit Eurer Erlaubnis tun, ich bin überaus gespannt.«

»Ich danke dir«, antwortete Giovanni Pico, »und ich hoffe, dass du in der nächsten Auflage dein Alias aus deinem Nachnamen streichst, denn es wird dir nicht gerecht.«

»Ach, mein Herr, das werde ich wagen, wenn Esel fliegen lernen und der Mond wärmer strahlt als die Sonne. Wie Ihr wisst, ist es eben dieses Alias, das meine Herkunft versteckt und mich ein wenig schützt, mein Schutzschild eben.«

»Du weißt, dass ich an den Riten der Kirche teilnehme, Eucharius.«

»So wie ich, hoher Herr«, beeilte sich der Buchdrucker zu versichern.

»Ja, sicher, aber vor dem Gott der Christenheit habe ich weniger Verdienste«, antwortete Giovanni Pico mit einem leichten Lächeln.

Eucharius sah ihn misstrauisch an.

»Ja«, sagte Giovanni, »du hast vor dem Allmächtigen einen großen Vorteil mir gegenüber.«

»Ich verstehe nicht, hoher Herr. Bitte erklärt Euch.«

»Du bist von derselben Rasse wie sein Sohn, Eucharius. Und das erhebt dich vor dem Schöpfer.«

»Oh, Herr, Ihr beliebt zu scherzen. Die Welt sieht mich als der, der ihn gekreuzigt hat, nicht als sein Bruder. Und mir bleibt nur, für diese Sünde, die mein Volk begangen hat, zu büßen, indem ich jeden Tag die heilige Messe höre, öffentlich beichte und großzügig spende.«

»Ich verstehe dich«, antwortete Giovanni freundlich, »aber denke immer daran, dass Jesus Jude war. Er hat gelebt, studiert und gepredigt als Jude. Und als Jude ist er gestorben. Es war Saulus von Tarsus, der Paulus der Heiligen Schriften, der von Christus ein anderes Bildnis zeichnete. Und er hat es aus politischen Gründen getan, mein Freund.«

»Verehrter Graf, ich bitte Euch, hört auf. Wie könnt Ihr Christ sein, wenn Ihr solche Dinge sagt?«

»Ich bin Christ, weil das Wort Jesu wundersam war und immer noch ist.«

»Ich verstehe Euch nicht, mein Graf, oder vielleicht will ich auch gar nicht verstehen.«

»Eucharius, Eucharius, verschließe deine Ohren nicht vor dem Klang der Wahrheit. Du weißt bestens, dass Paulus römischer Bürger war und dass die Juden eine Gefahr für Rom bedeuteten – der gefährlichste Jude von allen war aber eben jener Jesus von Nazareth mit seiner Botschaft. Als römischer Verwalter war es Paulus’ Aufgabe, dem Judentum und seinem Volk ihren Heilsbringer wegzunehmen, und so geschah es auch. Wusstest du, dass Paulus von der jüdischen Gemeinschaft der Zauberei bezichtigt wurde und dass ausgerechnet die Römer ihn vor der Verfolgung erretteten? Wusstest du auch, dass Paulus die grausame Herrschaft des Kaisers Nero verteidigte, indem er die Regentschaft als von Gottes Gnaden definierte?«

»Aber Paulus ist heilig und ein Märtyrer der Kirche!« erwiderte Eucharius überzeugt.

»Von welcher Kirche, Eucharius? Der großen Unzüchtigen? Saulus von Tarsus ein Märtyrer? Wer sagt das? Sein Martyrium ist deshalb so geheimnisvoll, weil es nie existiert hat. Niemand weiß genau wo und wie, und vor allen Dingen, ob er je gemartert wurde. Wahrscheinlich verschwand er klammheimlich und tauchte als civis romanus in irgendeiner weit entfernten, abgelegenen Provinz des römischen Imperiums wieder auf, um sich einen schönen Lebensabend mit Trinkgelagen und seinen epileptischen Halluzinationen zu bereiten.«

»Haltet ein, mein Graf, ich flehe Euch an, Ihr sprecht wie ein Häretiker!«

Der Graf seufzte und schüttelte den Kopf. »Ach ja, die Häresie«, sagte er nachdenklich, »in ihrem Namen werden die schrecklichsten Missetaten begangen. Du weißt genau, dass Häresie nichts anderes als ›Wahl‹ bedeutet, und genau diese Wahl, was ich glaube und was nicht, habe ich für mich getroffen. Aber ich möchte dir keine Angst machen. Hab Vertrauen, wir sind alle eins, und das wird die Menschheit bald erkennen.«

»Aber was genau habt Ihr in Euren Thesen geschrieben?«, fragte Eucharius. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Nichts von alledem, worüber wir gerade gesprochen haben – du brauchst dich nicht zu beunruhigen. Es sind ehrliche Thesen und … deinem Verständnis nach, christliche. Trotzdem werden sie öffentlich disputiert und von den größten Gelehrtengemeinschaften aus aller Welt als wahr anerkannt werden …«

»Welcher Disput? Was wollt Ihr mit diesen Büchern tun? Ich glaubte …«

»Setz dich, Eucharius. Bevor es öffentlich gemacht wird, möchte ich dir mein Ansinnen verraten. Du hast dir mein Vertrauen verdient.«

Silber Franck setzte sich zu ihm, und je länger er den Ausführungen seines edlen Auftraggebers zuhörte, desto mehr verwandelte sich seine erste Sorge in Angst und Beklemmung.

»Aber der Papst weiß nichts von Euren Absichten«, unterbrach er den Grafen, »Ihr hättet ihn beizeiten unterrichten müssen! Und das Buch ist nicht einmal genehmigt worden. Mein Gott! Ich gestehe, wenn ich das vorher gewusst hätte, dann weiß ich nicht, ob ich den Auftrag angenommen hätte.«

»Warum hast du Angst, Eucharius? Keine einzige meiner Thesen ist gegen den Willen von … dem, der Gott genannt wird. Ja, sie sind sogar der Beweis für seine Existenz, auch … wenn sie nicht dem entsprechen, was die menschliche Ignoranz uns über Hunderte von Jahren zu glauben vorgegeben hat. Über Seine Worte zu disputieren und die Schrift auszulegen, ist nicht ketzerisch, sondern sogar ein Akt des Glaubens. Sein Wunsch ist es, alle Menschen zu vereinen und, wie Brüder, im selben Hause in Frieden leben zu lassen.«

»Auch die Söhne von Mohammed!«

»Natürlich, auch sie. Glaubst du, sie seien dessen nicht würdig?

Auch sie glauben, dass das Evangelium, die Psalmen und die Tora-Bücher göttlicher Inspiration sind. Wo ist also der Unterschied?«

Eilig bekreuzigte sich Eucharius. Diese Geste hatte er sich als Jude nur schwer angewöhnen können; mit den Jahren war sie ihm aber so zur Gewohnheit geworden, dass er sie ebenso leichtfertig wie seine christlichen Mitmenschen gebrauchte. Er blickte in die Augen des Mannes, der seelenruhig und furchtlos über ebenso schreckliche wie gefährliche Dinge sprach. Dass er es wagte, so zu sprechen, war vielleicht auf seine edle Herkunft zurückzuführen, die ihn über die Gesetze erhob, oder seiner Jugend zuzuschreiben. Er schien ein sanfter Mann zu sein, von fast weiblicher Anmut, mit diesen blonden Locken, die ihm bis auf die Schultern reichten – aber seine Worte waren wie Schwerthiebe, die den Himmel teilten.

»Ich kann nicht mit Euch disputieren, noch würde ich es wagen, Euch einen Rat zu geben, aber ich bitte Euch, erhört meine Bitte: Seid vorsichtig!«, bat Eucharius inständig.

Giovanni Pico stand auf und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Dann förderte er einen Beutel zutage, aus dem er drei Manuskripte hervorholte. »Hast du auch die drei Exemplare aus Leder, die ich bei dir bestellt habe?«, fragte der Edelmann freundlich.

»Ja, hoher Herr. Ich habe mich persönlich darum gekümmert, so wie Ihr es mir befohlen hattet. Gefallen sie Euch?«