A Dance of Lies - Brittney Arena - E-Book

A Dance of Lies E-Book

Brittney Arena

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Beschreibung

Nr. 1 Sunday Times Bestseller »Herzen sind höchst empfindlich, wie Glas. In den falschen Händen zerbrechen sie allzu leicht.« Zwischen Intrigen und Fehden einer Königsfamilie, muss die Tänzerin Vasalie um ihr Leben kämpfen. Gleichzeitig entspinnt sich ein Love Triangle, das in der großen Liebe oder aber in einer Katastrophe enden könnte. Brittney Arena hat mit »A Dance of Lies« das Romantasy-Debüt des Jahres geschrieben. Vasalie war einst Tänzerin am Hof von König Illian, bis er sie fälschlicherweise des Mordes bezichtigte. Zwei Jahre im Kerker hat sie überlebt, aber ihr Körper ist versehrt. Dann wird sie plötzlich zum König gerufen, der ihr einen Deal anbietet: Wenn sie seine Spionin wird und die Versammlung der Königreiche infiltriert, gewährt er ihr die Freiheit. Doch Illians Anweisungen werden immer brutaler. Er zwingt Vasalie, Menschen Schaden zuzufügen und sie an die Krone zu verraten. Sie sucht Hilfe bei Illians Bruder und größtem Widersacher, Anton, dem berüchtigten König des Ostens. Während die Rivalität zwischen den Brüdern eskaliert, entsteht zwischen Vasalie und Anton eine verbotene, intrigenreiche Liebe. Doch noch ein Anderer will sich in Vasalies Herz schleichen. Wenn sie überleben will, muss sie sich entscheiden, wem sie vertrauen kann, für wen sie kämpfen soll und wie viel sie bereit ist, für ihre Liebe zu opfern. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 670

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »A Dance of Lies« von Brittney Arena , Elena Helfrecht

Brittney Arena

A Dance of Lies

Die Spionin

Aus dem Englischen von Elena Helfrecht

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Dance of Lies« im Verlag Bloomsbury, London

© 2025 by Brittney Arena

Für die deutsche Ausgabe

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Cover-Illustration: © Jason Chuang, Cover-Design: © Carlos Valiente

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96662-6

E-Book ISBN 978-3-608-12465-1

Für Jeff, mein Ein und Alles,und für all jene, die sich in ihrem Schmerz unsichtbar fühlen.

Teil I

Der König der Lügen

Kapitel 1

Stimmen umschwärmen mich im endlosen Dunkel.

Manchmal bloß meine eigene, ein fortwährendes Summen.

Dann verzerrt sie sich, zersplittert, wird zu zehn, zwanzig, einem ganzen Chor. Menschen aus meiner Vergangenheit rufen nach mir. Vasalie. Vah-sah-lieee. Sie singen, erzählen von meinem Scheitern, reden mir ein, alle Hoffnung sei vergebens und ich säße auf ewig in diesem Kerker fest.

Heute allerdings werden sie von einem lang gezogenen, schrillen Quietschen erstickt.

Fackelschein dringt in meine Zelle und malt mir helle Streifen auf die Haut.

Instinktiv weiche ich vor dem grellen Licht zurück, aber die eisernen Handschellen fressen sich in meine Wunden und halten mich an Ort und Stelle fest. Mit zusammengekniffenen Augen starre ich auf die kleine Klappe in der Zellentür. Nur selten geht sie auf, immer nur dann, wenn sich der Wärter vergewissert, ob ich noch am Leben bin – so wie gestern, als er sie offen gelassen hat.

Zumindest glaube ich, dass es gestern war.

Ich warte auf sein vorbeiziehendes Profil und das Schließgeräusch der Klappe.

Darauf, dass mich die Finsternis erneut umfängt.

Meine Augen haben sich längst daran gewöhnt. Die einzige Lichtquelle ist sonst das gedämpfte, höhnische Flackern unter der Tür.

Jetzt bin ich völlig ungeschützt.

Es ist viel zu hell.

Ich betrachte meine Beine, die unter dem kratzigen Leinenkleid hervorlugen, wende mich aber gleich wieder ab, weil ich den Anblick nicht lange ertrage. Stattdessen zähle ich die Ratten. So viele rotten sich in den Ecken zusammen und nagen an allem, was ihnen vor die Schnauzen kommt. Mit ihren nadelspitzen Zähnchen bin ich ebenso vertraut wie mit der Dreckkruste auf meiner Haut.

Von mir ist kaum mehr übrig als eine leere Hülle, ein Gebeinhaufen, der bloß noch begraben werden muss.

Ich bin mir nicht sicher, ob mein Herz noch schlägt, geschweige denn, ob ich das überhaupt möchte.

Doch die Klappe geht nicht zu.

Stattdessen lässt ein metallisches Ächzen das Gemäuer erzittern: die Außentür des Kerkers. Rhythmische Schritte hallen wie ein donnernder Puls von den Wänden.

Ich blicke hoch.

Wenig später verdunkeln zwei Silhouetten die Fensteröffnung. Draußen klimpert ein Schlüsselbund.

»Bei Mortas Zähnen, dieser Mief!«, flucht jemand.

»Wenn du sie rausholst, polier ich dir ’ne Woche lang die Rüstung.«

Schwach flackert Hoffnung in mir auf.

»Eine Woche? Das soll wohl ein Scherz sein. Die würd’ ich nicht mit ’ner Drei-Meter-Lanze anfassen.«

Sind sie etwa wegen meiner Hinrichtung hier? Ich beuge mich ein Stück nach vorn und das Eisen schneidet mir in die Unterarme. Anflehen würde ich sie um den süßen Moment der Erlösung – darum, auf eigenen Beinen stehen und den warmen Westwind atmen zu dürfen, und sei es noch so kurz, ehe die Klinge auf mich niedersaust.

»Unfassbar, dass König Illian sie in diesem Zustand sehen will. An der kann man sich die Finger wund schrubben – da ist Hopfen und Malz verloren.«

König Illian.

Wie das Blatt einer Axt blitzt sein Gesicht vor meinem geistigen Auge auf: das markante Kinn, wie in Marmor gemeißelt, umrahmt von schimmernden dunklen Locken; die tiefschwarzen Augen und das Funkeln darin, wann immer er mich ansah – außer beim letzten Mal.

Beim letzten Mal.

Illian.

Sein Name fährt mir wie ein langer Nagel in die Brust. Beim nächsten Atemzug spüre ich ein leichtes Stechen in der Lunge.

Nach und nach habe ich ihn beinahe für ein Traumgespinst gehalten, zuerst schön, dann schrecklich. Ein Phantom, das ich nicht loswerde.

Er hat also nach mir geschickt. Nur warum?

Ich erinnere mich …

Ja, woran eigentlich?

Dass ich meine letzten Tage in völliger Isolation verbringen sollte, halb dem Wahnsinn verfallen, bis ich schlussendlich den Gräueln dieses von allen Mächten verlassenen Ortes erliegen würde. Benötigen sie etwa meine Zelle? Womöglich verbrauche ich als Gefangene zu viele Ressourcen?

Nein. Wenn der König nach mir verlangt, dann bestimmt nicht, damit eine Zelle frei wird.

»Die Haare stinken immer am schlimmsten. Zieh ihr das hier über den Kopf«, sagt der eine. »Wenigstens bis wir im Palast sind.«

Die Zellentür schwingt auf und schmiert einen dunklen Schmutzfächer über die steinernen Bodenplatten. Zwischen meinen verfilzten honigbraunen Strähnen sehe ich jemanden in Eisenschuhen hereinkommen.

Einer der Wachmänner baut sich in der Türöffnung auf – als hätte ich überhaupt die Kraft wegzulaufen –, der andere packt mich mit seinem Panzerhandschuh am Arm. Mit einem Klicken löst er meine Schellen von der Kette. Angst überkommt mich. Zitternd drücke ich mich rücklings gegen die schroffe Wand, aber er zieht mich gnadenlos hoch.

Mir wird schwindelig und ich gerate ins Schwanken, sodass er mich festhalten muss. Dann wird mir ein Sack über den Kopf gestülpt.

Der Schmerz fährt mir wie tausend Dolche in die Gelenke. Als sie mich vorwärts schleifen, knicken mir die Beine weg und ich stütze mich am Stein ab. Meine porösen Knochen beben, als könnten sie jeden Moment bersten. Ein heiserer Schrei drängt sich durch meine zusammengebissenen Zähne.

»Na los«, sagt der eine und zerrt mich wieder hoch. Er seufzt und wartet kurz ab, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe.

Vor ein paar Wochen, vielleicht auch Monaten – Zeit hat inzwischen alle Bedeutung verloren – hat der Wärter meine Ketten nachjustiert. Bis dahin konnte ich mich noch frei in der Zelle bewegen; eine Annehmlichkeit, die ich für selbstverständlich gehalten hatte. Ich konnte mich ausstrecken und auf das Brett legen, das mir als Schlafstatt diente, konnte in meinem Gefängnis um mich tasten und mich so in der Realität verankern. Dann jedoch kam der Wärter und murrte, dass ihm das permanente Klirren den letzten Nerv raubte.

Also kürzte er die Kette. Er entfernte so viele Glieder, dass ich mich kaum noch rühren konnte. Von da an konnte ich nicht einmal mehr aufstehen.

Eine kühle Brise streicht über mich hinweg, während wir uns qualvoll und langsam die Kerkergänge entlangschieben. Die Schmerzen sind so heftig, dass mir angst und bange wird.

Mein geschundener Leib scheint selbst das wenige verbliebene Gewicht nicht mehr tragen zu können.

Alle Muskeln sind verkümmert, von meiner Kraft ist nichts mehr übrig. Schließlich breitet sich ein unablässiges Jucken und Kribbeln über meine Beine aus, wie tausend Nadelstiche, die jedes andere Gefühl verdrängen.

Der Körper, den ich mir durch langjähriges Tanzen erarbeitet habe, ist Vergangenheit. Jetzt kann ich mich kaum noch aufrecht halten. Nur weil mich die beiden Wachen unter den Achseln hochstemmen, schaffe ich es die Stufen hinauf.

Erneut ertönt das metallische Ächzen, diesmal deutlich lauter. Dann werde ich von warmem Licht umspült; das orange Glühen dringt sogar durch das Sackgewebe um meinen Kopf.

Wärme.

Unwillkürlich rinnt mir eine Träne über die Wange. So lange war ich nur die kalte, gähnende Leere gewohnt, in mir und um mich herum.

Ich kann unmöglich dorthin zurück. Niemals. Was auch immer der König von mir verlangt, ich werde auf keinen Fall in diese Zelle zurückkehren.

Lauter Tumult ertönt um uns herum, während sie mich über grobes Kopfsteinpflaster schleifen. Jeden Schritt muss ich meinem Körper mühsam abringen, unablässig flehe ich ihn an, mir zu gehorchen. Der Schwindel bringt mich mehr als einmal ins Taumeln. Jedes Mal warten die Wachen unter ungeduldigem Schnauben, da sie mich so wenig wie möglich anfassen wollen. Die Umgebungsgeräusche prasseln wild auf mich ein: das Hufgetrappel, das Klappern der Kutschräder. Überall schnappe ich Getuschel auf.

Bei allen Mächten, wer ist das denn?

Oder eher: Was ist das?

Doch allein einen Fuß vor der anderen zu setzen, kostet mich meine ganze Konzentration.

Wieder hieven sie mich ein paar Stufen hoch. Obwohl ich nichts sehe, überkommt mich ein vertrautes Gefühl, als ich den kalten Marmor unter den Sohlen spüre und die Atmosphäre wieder umschlägt.

Kühl ist es, jedes kleine Geräusch erzeugt einen Hall. Offenbar haben wir es in den Palast geschafft. Nach ein paar langen Gängen wird mir der Sack endlich vom Kopf gerissen. Ich blinzle und habe Mühe, mich an das Licht zu gewöhnen, obwohl es nur dämmrig ist. Die glatten Wände, Böden und Gewölbe aus sandfarbenem Stein kommen mir vertraut vor. In regelmäßigen Abständen sind Wandleuchter angebracht, deren Licht auf ein Badebecken am anderen Ende des Raums fällt. Weihrauch und Myrrhe fluten meine Nase, ein himmelschreiender Unterschied zum allgegenwärtigen Kerkergestank von Schweiß und Urin.

Ein Anflug von Übelkeit überkommt mich und ich umklammere meinen Bauch.

Drei Frauen kommen herein und umkreisen mich, die Wachen treten derweil zurück. Und auf einmal werden meine Ketten entfernt, ich werde entkleidet und in das Becken bugsiert.

Mit Lappen und Schwämmen seifen sie mich kräftig ein, keine Stelle bleibt verschont. Immer wieder wird der Wasserbottich über mir ausgekippt.

Ich fühle mich, als würde ich ertrinken – oder aus einem langen, fürchterlichen Albtraum hochschrecken.

Flintklingen und Bimssteine gleiten über meine Beine und Achselhöhlen und hinterlassen glatte, gerötete Haut. Dann werde ich aus dem Becken geführt und mit Duftölen eingerieben. Mit Kämmen nehmen sie mein Haar in Angriff und bändigen das verfilzte Durcheinander. Doch alles, woran ich denken kann, ist …

Der König.

In diesem Gewölbe war ich schon einmal.

Mit diesen Ölen reiben sie mich nicht zum ersten Mal ein.

So wurde ich damals vorbereitet.

Vorher …

Vor jenem Tag, an dem mein Leben aus den Fugen geriet. So bruchstückhaft alle anderen Erinnerungen auch sein mögen, dieser Abend ist mit der Zeit nicht verblasst. Hier und jetzt zieht das Erlebte umso eindringlicher vor meinem geistigen Auge vorbei: wie ich in tiefster Nacht grob an den Armen gepackt und schlaftrunken aus meinen Gemächern gezerrt wurde, wie mich der König aus den Schatten heraus beobachtete. Nur das Funkeln seiner Krone im Fackelschein verriet ihn.

Obwohl man mich ihm direkt vor die Füße warf, ließ er sich Zeit, bis er endlich hervortrat.

Seine Wachen suchten mich mit rauen Händen nach Waffen ab – als hätte ich in meinem hauchdünnen Negligé etwas verbergen können.

Dann fesselten sie mich wie ein wildes Tier und trugen den Leichnam, von dem ich nichts gewusst hatte, aus meinen Gemächern.

Ich erinnere mich noch an das Geschrei. Die Anschuldigungen. Die Verhöre …

An die Faust der Wache in meiner Magengrube, als ich wegzulaufen versuchte.

Als die Erinnerung über mich hereinbricht, dringt ein erstickter Schrei aus meiner Kehle. Das Grauen entzieht sich noch immer meinem Verständnis, egal wie oft ich es mir durch den Kopf gehen lasse. König Illian weiß genau, dass ich seinen Berater nicht umgebracht haben kann. Zum geschätzten Todeszeitpunkt leistete ich nämlich ihm Gesellschaft.

Und obgleich er um meine Unschuld weiß, hat er keinen Finger krumm gemacht.

An diesem Abend erlaubte er zum ersten Mal jemandem, Hand an mich zu legen. Er war von Natur aus eifersüchtig, und jene Eifersucht konnte in Windeseile seine ganze Seele in Brand stecken, insbesondere, wenn es dabei um mich ging. Ein Funke genügte, um das Feuer zu entfachen.

Aber zugleich diente mir seine Eifersucht als Schild, denn er beschützte mich auch. Niemand – ganz egal, wie hochgeboren – rührte mich an, und wer sich mir auch nur anzunähern versuchte, bezahlte dafür mit seiner Lebensgrundlage, seinem Stand und manchmal sogar seinem Kopf. Dennoch gestattete er den Wachen, mich anzufassen, was er nicht einmal selbst tat, auch dann nicht, als ich ihm das Verlangen so deutlich ansah wie einem Mann, der sich nach einem harten Arbeitstag nach einem kühlen Bier sehnt.

Als ich vor ihm auf dem Boden lag wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte, signalisierte er den Wachen mit einem kaum merklichen Wink, mich fortzubringen. Das war mir eine Lehre: Egal, wie hart man arbeitet, wie viel Reichtum oder Ansehen man auch anhäuft, vor dem Zorn eines Königs bewahrt einen nichts. Dass ich seine renommierteste und beste Tänzerin war, in jeder Hinsicht seine erste Wahl, spielte keine Rolle.

Des Königs Kleinod nannte man mich.

Doch mit dieser Frau habe ich nichts mehr gemein. Und wie bei einer Fata Morgana frage ich mich nun, ob es sie überhaupt je gegeben hat.

Trotzdem hat er nach mir geschickt.

Die Bediensteten weichen meinen Blicken aus und lassen nichts durchscheinen. Sie streifen mir ein sauberes Gewand über, ein schlichtes weißes Baumwollkleid, das mir bis zu den Knien reicht und an der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wird.

Ich versuche, mein Spiegelbild im Wasser zu meiden, doch es gelingt mir nicht.

Wie betäubt betrachte ich die Elendsgestalt und erkenne sie kaum wieder. Kaum ein Funke Leben scheint noch in ihr übrig zu sein. Mit eingefallenen Augen steht sie da, spindeldürr und buckelig wie ein altes Mütterchen, während die Bediensteten ihre zerzausten, hüftlangen Locken zu einem erbärmlichen Zopf flechten.

Sobald man mich für vorzeigbar hält, kommen die Wachen zurück. Schmerzhaft packen sie mich an den Armen, doch ehe sie mich abführen, tritt noch eine vierte Frau ein. Sie ist mittleren Alters und trägt ein graues Samtkleid mit hohem Kragen, das sie noch bleicher erscheinen lässt. Die rotbraunen Locken hat sie sich im Nacken zusammengesteckt.

Auf ihren direkten Blick hin schrecke ich zusammen, als hätte ich nicht – weiß Morta wie lange – im Kerker geschmort, noch dazu wegen Mordes.

»Ich bin Brigitte«, stellt sie sich vor. »Haben sie dir schon zu essen gegeben?«

»Wir sollen sie unverzüglich zu König Illian bringen«, sagt die eine Wache und legt mir wieder Handschellen an. »Das duldet keinen Aufschub.«

»Bei allen Mächten, seht sie euch doch an! Sie kann ja kaum stehen!« Brigitte zeigt auf meine klapprigen Beine. »Ihr hättet die Küche wenigstens anweisen können, ihr eine einfache Mahlzeit zuzubereiten. Alles muss man euch sagen.« Mit einem missbilligenden Brummen macht sie auf dem Absatz kehrt und geht mit uns hinaus.

Sie zerren mich in einen weitläufigen Gang bis vor eine kunstvoll verzierte Flügeltür, die mir wieder schmerzhaft bekannt vorkommt und von nicht weniger als zehn Männern in Rüstung bewacht wird.

Als wir uns nähern, schwingt sie weit auf.

Hinter den ausladenden Bögen erstrecken sich drei Flügel. Der mittlere dient privaten Unterhaltungszwecken – früher hielt ich mich zumeist dort auf. Der rechte ist der Leibwache und den Bediensteten des Königs vorbehalten. Hier lebte ich in einer kleinen, aber prächtigen Wohnung mit Blick auf die Gärten. Noch mehr Erinnerungen brodeln in mir hoch, an elfenbeinfarbene Stuckarbeiten mit filigranen Blattgoldverzierungen und ein hohes Erkerfenster, von dem aus man den kirschroten Rosen dabei zusehen konnte, wie sie sich in der Brise wiegten.

Mein Refugium.

Wieder wird mir schmerzlich bewusst, was ich verloren habe, gleich einer Melodie, die ich nicht länger summen kann.

Wir durchschreiten den linken Bogen.

Eine niederschmetternde Erinnerung nach der anderen steigt an die Oberfläche und schnürt mir die Kehle zu. Hier befinden sich König Illians Privatgemächer, wo wir nach seinen Soireen Abend um Abend verweilten – üblicherweise in seinem Arbeitszimmer –, stundenlang Schach spielten und uns an Käse, Obst und Wein gütlich taten …

Mir wird klar, dass wir genau dort stehen: vor seinem Arbeitszimmer.

»Wartet hier«, weist uns Brigitte an und geht voraus – bestimmt, um mich anzukündigen.

Vogelgezwitscher lenkt meine Aufmerksamkeit nach links, auf ein breites Rundbogenfenster, von dem aus man den riesigen Wald überblickt, der sich unter dem Palast erstreckt, und die trüb-bläulichen Gipfel des Galangebirges am Horizont. Seit man mich aus dem Kerker geholt hat, sind Wolken aufgezogen und haben kühle Regenschauer mitgebracht. Ein paar Elstern schlüpfen unter den schützenden Dachvorsprung.

Sie spielen, fast wirkt es, als würden sie tanzen.

Als freuten sie sich.

Wieder versetzt mir die Sehnsucht einen Stich, und diesmal ist es nicht der Schmerz, der meine Knie schwach werden lässt.

Ich habe ganz vergessen, was außerhalb der Kerkermauern liegt, was Schönheit bedeutet.

So viele Kleinigkeiten habe ich vergessen – wie der Regen riecht, wie sich Wasser anfühlt, wie der Wind rauscht.

Die ganze Kunstfertigkeit der Natur.

Ihre Vielfalt.

Und wie es ist, alle Sinne gleichzeitig einzusetzen – alles zu sehen, alles zu fühlen.

Tränen brennen in meinen Augen.

Ich habe vergessen, was es heißt, gerne am Leben zu sein.

Eine Brise weht durchs Fenster herein und überzieht mich mit einer Gänsehaut. Und als ich den feuchtfrischen Regenduft einsauge, schwöre ich mir, unter keinen Umständen in diese Zelle zurückzugehen.

Selbst wenn ich einer Wache das Schwert abnehmen und es eigenhändig in Illians Brust stoßen muss.

Kapitel 2

Der König von Westmiridran rekelt sich hinter seinem goldverzierten Schreibtisch, dessen wuchtige Beine in Pranken auslaufen, die sich fest in den Teppich krallen.

Als ich hereingeführt werde, blickt er nicht auf, auch dann nicht, als Brigitte sich zum Gehen umwendet und die Tür mit einem leisen Klacken hinter sich schließt.

Nachdenklich lässt er seinen schwarzen Federkiel über das Pergament gleiten, ruhig und gleichmäßig.

Ich betrachte ihn eingehend.

Er hat sich nicht verändert. Jung, nicht ganz dreißig. Nur ein paar Jahre älter als ich. Seine Schultern sind breit, die Gesichtszüge kantig und messerscharf umrissen. Bloß sein dunkles Haar ist jetzt kürzer und endet knapp über den Ohren.

Angespannt atme ich ein. In meinem Bauch brodelt die Wut.

Hier ist er also, mein Beschützer. Der König, der mich wie seinen kostbarsten Schatz behandelte; der Retter, der mir die Welt zu Füßen legte dafür, dass ich mit ihm kam und nur noch für ihn tanzte.

Der Lügner, der mir Schutz und Überfluss an seinem Hof versprach, nur um mich dann den Ratten zum Fraß vorzuwerfen.

Ich begreife immer noch nicht, wie es dazu kam, warum er mich für einen Mord bestrafte, von dem er genau wusste, dass ich ihn nicht begangen haben konnte. War er meiner überdrüssig geworden? Hatte ich mir einen Fehltritt erlaubt? Oder ist er gar dahintergekommen, wer ich wirklich bin und woher ich stamme? Doch das kann nicht sein, denn ich habe mein altes Leben ohne jede Spur abgestreift.

Mit der Zeit ist mir klar geworden, dass es eigentlich keine Rolle spielt. Letztendlich kann er tun und lassen, was er möchte.

Ich glaubte, er sähe mich als etwas Besonderes, aber was zählt ein Kleinod für einen König, der in Schätzen schwimmt?

Ich lasse den Blick durchs Zimmer schweifen. Tief hängende Laternen sprenkeln Lichttupfer über Wände, Decke und die unheilvolle Statue hinter seinem Schreibtisch.

Die Schicksalsmacht Morta.

Die Kurtisane des Todes, die Seelensammlerin.

Stolz steht sie da, gehauen aus goldgeädertem Marmor. Ihre Augen- und Nasenpartie verschwindet unter einer kunstvoll ausgearbeiteten Kapuze, sodass nur ihr berüchtigtes sinnliches Lächeln sichtbar ist. Das lange Haar ergießt sich geschmeidig wie Öl über ihr Gewand. König Illian war schon immer fasziniert von ihr – vielleicht, weil er von Schönheit besessen ist.

Der Legende nach lässt sie jeder Seele die Wahl, ins Leben zurückzukehren, aber sie soll so schön, so unwiderstehlich sein, dass niemand den Tod ausschlagen kann. Manch einer munkelt, sie verändere ihre Gestalt – oder womöglich die Wahrnehmung derer, die sie holen kommt, denn letztlich nimmt jeder ihre Hand.

Jeder fügt sich seinem Schicksal und lässt sich bereitwillig in Mortas Höhle führen – in die Höhle des Todes. Mir blieb diese Gelegenheit bisher verwehrt.

So lange ich auch wartete, nie kam sie zu mir.

Endlich seufzt König Illian und legt den Federkiel ab, dann blickt er so langsam auf, als flösse die Zeit zäher als sonst. Er mustert mich, verweilt kurz an Taille, Beinen und Schultern, bis er mir schlussendlich direkt in die Augen sieht. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Ich komme mir vor wie eine Sternschnuppe – einst ein strahlendes Gestirn, jetzt nur noch ein Klumpen im Dreck.

Er ist elegant wie eh und je, aber ich bin verglüht.

»Vasalie Moran«, sagt er und fixiert mich mit seinen Onyxaugen, »die vergangenen zwei Jahre waren nicht gnädig mit dir.«

Ich schweige, obwohl mir die Erwiderung schon auf der Zunge liegt. Das hast du mir angetan, du verlogenes Schwein. Da treffen mich seine Worte mit voller Wucht. Zwei Jahre. Ich hatte keine Ahnung, habe jegliches Zeitgefühl verloren.

Der König beobachtet mich und verzieht den Mund. Ich hoffe, er erinnert sich an alles – an mein Blut, meine Schreie. Er soll es in meinen Augen sehen.

Ein Gespenst soll er sehen, gekommen, ihn heimzusuchen.

Wieder atmet er seufzend aus. »Sicher fragst du dich, warum ich dich habe herbringen lassen.«

Auf mein fortwährendes Schweigen lehnt er sich zurück und schließt seine langen Finger um die Armlehnen. »Ich bin ein Mann der Gnade«, sagt er, fast schon wehmütig. »Das war ich schon immer – ganz besonders dir gegenüber. Schließlich habe ich dich trotz deines schändlichen Verbrechens am Leben gelassen.« Ich beiße die Zähne zusammen. »Und hier stehst du nun, auf freiem Fuße. Keine Sorge, meine Vasalie, das Glück ist dir wieder hold. Wenn du meinen Anweisungen Folge leistest, musst du nie zurück in diese Zelle.«

Meine Vasalie. Wie immer, als wäre ich sein Eigentum – dennoch keimt Hoffnung in mir auf. Wenn du meinen Anweisungen Folge leistest, musst du nie zurück in diese Zelle.

Doch ich kenne ihn. Ich weiß jetzt, wie seine Lügen schmecken. Was auch immer er gleich sagt, wird mir nur allzu verlockend vorkommen – wie ein prächtiges Ballkleid, bestickt mit Perlen und Rubinen, deren Gefunkel über das enge Stahlkorsett darunter hinwegtäuscht. Das nur ein weiterer Käfig ist.

»Der Lohn, den du dafür erhalten sollst, ist dein Freispruch.«

»Freispruch …« Das Wort fällt mir einfach so aus den spröden, aufgeplatzten Lippen, und selbst ich höre, wie jämmerlich es klingt.

Er grinst genauso selbstgefällig wie damals nach meinen Darbietungen. »Ich möchte, dass du bei der Zusammenkunft der Kronen auf Anell am Unterhaltungsprogramm mitwirkst – und mir dabei sozusagen als Informantin dienst, auch wenn du so viel mehr sein wirst als das. Es versteht sich wohl von selbst, dass ich dir nur die Einladung zum Vortanzen verschaffen kann. Um dir einen Platz als Darstellerin zu sichern, musst du den Zeremonienmeister überzeugen. Aber sollte dir das gelingen …«

Ich verliere das Gleichgewicht und kippe fast um, doch die Wache hinter mir packt mich an den Schultern.

Die Zusammenkunft der Kronen. Mir schwirrt der Kopf. Alle drei Jahre kommen die Herrscher der vereinten Nordreiche – auch als Kronenbund bekannt – für einen Monat zusammen und schotten sich von der Außenwelt ab. Gastgeber dieser Veranstaltung sind die drei Könige Miridrans. Diese Zeit soll dazu dienen, Handelsabkommen zu erneuern und den Frieden zwischen den einst verfeindeten Ländern zu wahren.

Dort aufzutreten ist eine Ehre, für die jeder Unterhaltungskünstler, der etwas auf sich hält, über Leichen gehen würde. Eine so begehrte Stelle bringt ebenso viel Ruhm wie Reichtum.

Bis zu der ostmiridranischen Insel, auf der die Zusammenkunft stattfindet, sind es von hier aus nur ein paar Tagesritte. Nie zuvor hat König Illian mir gestattet, an einem Vortanzen teilzunehmen, da konnte ich ihn noch so sehr anflehen. Und jetzt, nach all der Zeit, nach allem, was er mir angetan hat …

»Vasalie?« Ein Anflug von Ungeduld huscht über sein Gesicht.

Heiß schießt mir der Zorn in die Wangen. Soll das ein Witz sein? »Seht mich an, Majestät.« Meine Stimme bricht.

»Das tue ich.«

Ich blicke auf meine knochigen Füße, auf die spindeldürren Beine, an denen sich sämtliche Muskeln zurückgebildet haben. Meine Hand- und Fußgelenke unter den Eisenschellen sind von Narben gezeichnet. »Ich bin in keiner Verfassung zu tanzen. Schon lange nicht mehr.« Deinetwegen. Aber meine Stimme klingt schwach, viel weniger bissig als erhofft.

»Das wirst du bald wieder sein. Uns bleiben noch zwei Monate, um dich auf das Vortanzen vorzubereiten. Aber überreden werde ich dich nicht, Vasalie. Wenn du dich mir widersetzt, kannst du im Kerker verrotten.«

Er sieht mir an, dass ich alles tun würde, um nicht dorthin zurückkehren zu müssen.

Er hat mich am Haken, er muss mich nur noch einholen.

»Sollte ich beim Vortanzen überzeugen, was muss ich dann tun?«, flüstere ich.

»Als Tänzerin erhältst du Zugang zu Orten, die meinen anderen Informanten verwehrt bleiben. Du wirst für mich spionieren und mir über alles Bericht erstatten, was ich wissen will. Und sobald die Zusammenkunft vorbei ist, wirst du freigesprochen. Du erhältst deine alte Stelle zurück, deine Gemächer, was auch immer du dir wünschst. Du brauchst nur danach zu fragen und wirst es bekommen.«

Was ich mir wünsche.

Unzählige Stunden hatte ich in meiner Zelle gegrübelt, was das wohl wäre, was ich anders gemacht hätte und was ich tun würde, wenn mir wie durch ein Wunder die Flucht gelänge, bis sich mein Herz mit schwarzer Hoffnungslosigkeit vollsog wie ein Blatt Papier mit Tinte.

Was auch immer du dir wünschst. Du brauchst nur danach zu fragen und wirst es bekommen.

Lange dachte ich, ich wünsche mir Vergeltung. Vergeltung an dem Mann, der mich weggeworfen hat und nun vor mir sitzt. Unzählige Arten malte ich mir aus, auf die ich ihm wehtun würde, und ich kann nicht leugnen, dass diese Wut nach wie vor in mir schwelt. Mein Wunsch nach Vergeltung ist nicht erloschen.

Doch mehr noch will ich frei sein. Ich möchte Schmerz und Vergangenheit hinter mir lassen, möchte verschwinden und so tun, als wäre ich nie hier gewesen. Ich will alles vergessen. Ihn vergessen.

Ich sehe Illian an. »Das heißt, mein Ruf wird wiederhergestellt sein?«

»Ja.«

»Dann wünsche ich mir, Westmiridran zu verlassen.«

Er setzt an, etwas zu sagen, hält jedoch inne. Ich weiß, wie gewagt das war, allerdings ist mir soeben etwas klar geworden. Er braucht mich – und zwar mich im Speziellen –, andernfalls hätte er eine Tänzerin damit betraut, die ihn nicht bis aufs Blut hasst.

Nur warum?

»Wenn das dein Wunsch ist«, sagt er endlich.

»Das will ich schriftlich, unterzeichnet und mit Eurem Siegel.«

»Na schön, Vasalie«, sagt er gedehnt, kritzelt auf ein Pergamentstück und greift zu seinem Siegel. Als er fertig ist, hält er mir das Dokument vor die Nase. »Aber du bekommst es erst nach der Zusammenkunft.«

Ich betrachte ihn aufmerksam. Falls das eine Lüge ist, verbirgt er sie gut hinter den dunklen Augen, den schweren Lidern. Nur … »Warum? Was hofft Ihr dort herauszufinden?«

Er wirft mir einen mürrischen Blick zu. »Das ist für dich nicht von Belang.«

Ich schlucke und verschränke die Finger ineinander. Was auch immer er bei der Zusammenkunft aufdecken will – da der gesamte Kronenbund anwesend sein wird, ist es gewiss keine Kleinigkeit. Wenn er mir als Lohn die Erfüllung jedes erdenklichen Wunsches verspricht, muss er irgendetwas verschweigen. Da steckt mehr dahinter. Doch wenn ich mir meine Freiheit mit Lug und Trug erkaufen muss, dann werde ich diesen Preis bezahlen.

Ich nicke knapp und habe bereits Mühe, mich aufrecht zu halten.

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Endlich ist meine Vasalie zu mir zurückgekehrt.«

Seine Worte klingen so besitzergreifend, dass sich mir der Magen umdreht. Auf seinen Wink hin lässt eine Wache Brigitte zur Tür herein. »Kümmere dich um sie«, weist er sie an und nickt in meine Richtung. »Tu alles, was nötig ist, um sie vorzubereiten. Nur meinen Flügel darf sie nicht verlassen.«

Brigitte hält mir den Arm hin, und ich brauche ihren Halt mehr denn je. Ich stütze mich auf sie, und sie dreht sich um und führt mich nach draußen.

»Oh, und Vasalie – eins noch«, ruft er mir hinterher.

Wir bleiben stehen.

»Ich habe überall auf Anell Augen und Ohren. Solltest du flüchten, werde ich dich finden. Solltest du schlecht von mir reden, werde ich davon erfahren. Und solltest du mich verraten, werde ich nicht nur deinen Lohn einbehalten …« Er hält inne, sein Blick verfinstert sich. »Nein, ich werde dich eigenhändig töten.«

Und so fesseln mich neue Handschellen, geschmiedet aus Drohungen und Versprechen. Doch mit ihnen geht die Chance auf einen Neuanfang einher, und die werde ich nicht vergeuden.

***

Als ich mit Brigitte aus dem königlichen Arbeitszimmer komme, krampfen Rücken und Beine so heftig, dass ich mich krümme und zu Boden gehe.

Ich erwarte, gleich wieder von den Wachen hochgezerrt zu werden, doch stattdessen weist Brigitte sie an, den Hofarzt und die fehlende Mahlzeit zu holen, über die sie sich vorhin echauffiert hat.

»Schwachköpfe, allesamt«, murrt sie, als die Schritte der Wachen verklingen, und legt den Arm um mich, bis der Hofarzt kommt.

Sie weicht mir auch dann nicht von der Seite, als ich auf einer Trage in den Krankenflügel gebracht werde und der Arzt mich mit seinen zartgliedrigen, blassen Runzelhänden von Kopf bis Fuß abtastet.

Während ich immer wieder kurz das Bewusstsein verliere, lässt sie ihn keinen Moment aus den Augen.

Bestimmt befolgt sie nur Befehle, trotzdem kommt sie mir irgendwie freundlich vor, auch wenn ich nicht verstehe, warum. Zweifellos hat Illian ihr erzählt, wer ich bin.

Oder?

Ich habe ihr Gesicht nie zuvor gesehen. Da sie folglich neu hier sein muss, kennt sie mich wohl ebenfalls nicht. Außerdem hielt man mich damals stets von der Öffentlichkeit fern, wenn ich nicht gerade mein Kostüm und die Schminke wie eine Maske trug. Und selbst dann tanzte ich nur vor kleinem Publikum, ausgewählt von König Illian höchstpersönlich.

Als der Arzt den Saal verlässt, breche ich mein Schweigen. »Du weißt, warum man mich so abschottet, nicht wahr?«

Weil es Gerede geben würde, sollte mich im Palast jemand erkennen. Vielleicht wären die Folgen sogar schlimmer. Fürst Sarden, dessen Ermordung man mir in die Schuhe geschoben hat, war äußerst beliebt, insbesondere bei den Bediensteten.

Bis mich der König freispricht, darf niemand wissen, wer ich bin.

Brigitte hält kurz inne und faltet die Hände im Schoß – das erste Anzeichen von Unbehagen. »Ich bin zu absolutem Stillschweigen verpflichtet, du musst dir also keine Sorgen machen. Aber ja, Vasalie Moran, ich weiß, wer du bist und was man dir nachsagt.«

Was man mir nachsagt?

Also glaubt sie ihrem König nicht?

Der Arzt kehrt zurück. Er weist mich an aufzustehen, mich hinzusetzen, wieder aufzustehen und misst meinen Puls. Mehr als einmal überkommt mich die Ohnmacht. Mit Brigittes Hilfe flößt er mir allerlei Elixiere ein, mischt Salben an, streckt meine Muskeln und bewegt meine Gelenke, wobei er jedes Krampfen, jedes schmerzerfüllte Zucken vermerkt.

Drei Tage braucht er für seine Diagnose – oder besser gesagt für die Gewissheit, keine genaue stellen zu können.

»Zwei Jahre ohne Bewegung. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch gehen kann«, sagt er. »Ihre volle Beweglichkeit wird sie wohl nie zurückerlangen. Ich würde auf Nervenschäden und Muskelschwund tippen. Und dann ist da noch die Sache mit ihrem Herzen …«

Ich erstarre. »Mein Herz?«

»Vermutlich irgendein Syndrom. Einen solchen Fall hatte ich noch nie. Dein Herz schlägt zu schnell – viel zu schnell manchmal. Allerdings kann ich keine Ursache, kein Muster entdecken. Wahrscheinlich werden die Episoden von schnellen Bewegungen, übermäßiger Anstrengung und Hitze ausgelöst, aber auch das scheint nicht immer zuzutreffen.«

Brigitte stellt die Frage, zu der ich mich nicht durchringen kann. »Wird sie je wieder gesund werden?«

»Ich kann nicht abschätzen, wie schwerwiegend die Sache ist. Solche Erkrankungen sind unberechenbar und oftmals chronisch.« Er seufzt und sieht mich mitleidig an. »Ob du wieder gesund wirst, kann ich dir nicht sagen. Regelmäßige Bewegung, Dehnübungen und eine ausgewogenere Ernährung sollten immerhin helfen. Was allerdings den Schmerz und die Müdigkeit angeht …« Er beendet den Satz nicht. »Ich würde empfehlen, du lernst, damit zu leben. Mach das Beste draus.«

Der Kampfgeist, der in mir aufgeflammt ist, als ich Illian gegenüberstand, erlischt. Stattdessen fühle ich mich jetzt ausgebrannt, als wäre ich kaum mehr als eine leere Hülle. Für eine kurze Zeit hatte ich Hoffnung, aber jetzt wird mir klar, dass er mich vor eine unlösbare Aufgabe gestellt hat.

Wie grausam, mir den Freispruch – ja, sogar Freiheit – vor die Nase zu halten.

Ich rolle mich auf meiner Krankenliege zusammen und wünsche mir, die Welt würde verschwinden.

Kapitel 3

Drei Wochen ziehen ins Land und ich kann immer noch nicht fassen, dass ich dem Kerker entkommen bin.

Der Arzt konnte nichts mehr für mich tun, also hat man mir nach einem Tag Ruhe ein Zimmer in Illians Privatflügel zugewiesen, einen Stock unter seinen Gemächern, ruhig und abgeschieden. Außer mir ist dort nur Brigitte untergebracht, die ein paar Türen weiter wohnt.

Mein Zimmer ist schlicht eingerichtet und viel zu hell. Besonders im Vergleich zu den dunklen Vorhängen wirken die weißen Wände geradezu grell und das Fenster steht permanent offen, um gleich die ersten Sonnenstrahlen hereinzulassen.

Dieser Morgen ist wie jeder andere. Brigitte – Illians erste Kammerdienerin, wie ich inzwischen erfahren habe – stellt meine Medizin bereit, schält mich aus dem Nachtgewand und bugsiert mich in die angrenzende Badekammer, wo schon die anderen Zofen bereitstehen. Sie schrubben mich, bis ich wund bin, und lassen mich eine Weile im Wasser. Als ich lange genug eingeweicht bin, heben sie mich heraus, trocknen mich ab und übergeben mich wieder in Brigittes Obhut, die meine Narben mit teuren Salben einreibt.

»Die verblassen schon noch«, sagt sie. »Der Fluss der Zeit schleift alles glatt.«

Fast hoffe ich, sie bleiben mir. Damit sie König Illian immer an seine Taten erinnern.

Nach dem Waschen setzt sich Brigitte zu mir an den kleinen Fenstertisch, um mir bei Frühstück und Tee Gesellschaft zu leisten. Viel zu langsam gewöhne ich mich an normale Speisen, und nur selten behalte ich sie bei mir. Mehr als einmal musste ich mich auf den Boden, ihr Gewand oder meines übergeben. Die Bediensteten haben auf die harte Tour gelernt, dass ich weder Dörrfleisch noch Roggenbrei vertrage – nicht einmal das Essen, das mich in dieser von allen Mächten verlassenen Zelle gerade so am Leben erhielt.

Ich rupfe ein Gebäckstück auseinander und warte nach jedem Bissen, bis sich mein Magen beruhigt hat.

»Er fragt nach deinem Fortschritt.« Brigitte betrachtet mich durch den aufsteigenden Dampf.

Seit dem Tag, an dem Illian mich aus dem Kerker hat schleifen lassen, habe ich ihn nicht mehr gesehen, wenngleich ich ihn in den Schatten gespürt habe – eine Präsenz hinter der Tür, begierig darauf, einen Blick hinein zu werfen.

»Und?«, frage ich trocken. Gewiss hat sie ihm die Wahrheit gesagt. Dass meine Muskeln nach zwei Jahren in dieser Zelle deformiert und verkümmert sind und dass ich entgegen allen Versuchen, meine Genesung zu beschleunigen – entgegen all den Übungen und Dehneinheiten, die der Arzt angeordnet hat –, immer noch nicht tanzen kann. Das heißt, abgesehen von den Grundschritten, die man Kindern beibringt.

Eine einfache Drehung, ein armseliger Sprung.

Eine geschlagene Woche dauert es, bis ich ohne Herzrasen und Schwindel länger als ein paar Sekunden geradeaus gehen kann. Eine weitere Woche, bis ich mich einmal um mich selbst drehen kann, ohne dabei umzukippen. Selbst jetzt kann ich mich nicht bewegen, ohne dass mich ein Anflug von Schwindel überkommt und mir der Schmerz von der Taille bis in die Zehen schießt.

Sicher wirke ich wie ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht steht sie kurz davor, mich aufzugeben. Dieser Tauschhandel, diese angebliche zweite Chance ist nur ein grausamer Scherz, weiter nichts.

Brigitte blickt aus dem Fenster, und auf ihrer alternden Stirn zeichnen sich Sorgenfalten ab. Die Fingerknöchel um ihre Tasse treten weiß hervor. »Ich bitte ihn jedes Mal um Geduld. Aber ehe du nach Anell aufbrichst, wirst du ihm vortanzen müssen – und zwar bald, Liebes. Nicht einmal fünf Wochen sind es noch bis dahin.«

Wenn ich nicht zeige, dass ich bei der Zusammenkunft der Kronen auftreten kann, steckt er mich wieder in die Zelle. Ich schlucke die aufsteigende Bitterkeit herunter.

Brigitte hebt den Tee an ihre Lippen.

Ich knalle meinen auf die Untertasse. »Warum ausgerechnet ich?«

Warum jetzt, warum so?

Das Klirren lässt uns beide zusammenfahren. Brigitte fasst sich an die Brust und atmet tief durch, bevor sie meinen Blick erwidert. Mir ist klar, dass sie mir das nicht beantworten kann, dass Illian all seine Bediensteten an der kurzen Leine hält. Dennoch mustere ich aufmerksam ihre Miene, die Anspannung in ihrem Blick, bis sie – endlich – sagt: »Ich weiß es nicht, mein Kind. Ich wünschte, ich wüsste es.«

Irgendeinen verqueren Grund muss es geben, aus dem er den Aufwand betreibt, ausgerechnet mich dafür vorzubereiten. Da aber spüre ich wieder den verzweifelten Wunsch, seinem Kerker ein für alle Mal zu entfliehen. Er weiß, dass ich meine Freiheit nicht aufs Spiel setzen würde; ich kenne nun den Preis, den man dafür zahlt, seinen Unmut zu erwecken. Er glaubt, er hätte aus mir ein perfektes Werkzeug geschmiedet – jede Kerbe genau da, wo sie hingehört.

»Was hat er vor?«

Sie will gerade zur Antwort ansetzen, da knarrt draußen vor der Tür eine Bodendiele und ihr Mund klappt wieder zu. Sie schüttelt den Kopf. Natürlich weiß sie das nicht – und falls doch, würde sie es bestimmt nicht verraten. Da spukt mir noch eine andere Frage durch den Kopf. Eigentlich ist sie lächerlich und belanglos, aber sie lässt mir einfach keine Ruhe: Wer hat mich ersetzt?

Wer ist sein neues Kleinod?

Bestimmt ist sie ganz bezaubernd. Und offenbar viel zu schade für das, was er für mich vorgesehen hat. Trotzdem will ich es wissen. Ich möchte sie sehen und ihr ein paar Fragen stellen.

Sieht er sie an wie mich damals?

Flaniert er mit ihr auch im silbrigen Mondschein durch die Gärten wie wir früher? Reden, lachen, tratschen sie ebenfalls stundenlang? Vertraut er sich ihr an wie mir einst?

Hat er sie in seine Pläne eingeweiht?

Da braut sich in meinem Verstand eine Idee zusammen.

Mein Appetit reicht nur für ein paar Bissen aus. Nachdem ich sie mit einem nahrhaften Kräutertrunk heruntergespült habe, schiebe ich das Tablett weg und schleppe mich zurück ins Bett, wobei ich das Seufzen von der anderen Tischseite aus geflissentlich ignoriere. Erst als Brigitte geht, rutsche ich sachte aus den Laken. Sobald der gröbste Schwindel verflogen ist, schlüpfe ich in mein Gewand und enge Beinkleider, flechte mir einen groben Zopf und verlasse das Zimmer.

In diesem Flügel ist alles still, aber die Gänge haben Augen: Überall sind Wachen postiert, die mich auf Schritt und Tritt beobachten, wann immer ich aus meinem Quartier schwanke. Ihnen entgeht kein Stolpern, kein Innehalten, wenn ich alle paar Schritte abwarten muss, bis sich der Schwindel wieder gelegt hat. Und die ganze Zeit tun sie dabei so, als wäre ich Luft.

Aber ich bin nicht dumm. Mir ist klar, dass sie Illian über jede meiner Bewegungen Bericht erstatten, dass sie mich auf seinen Wink hin jederzeit niederstrecken würden. Genau wie damals.

Ich frage mich, ob er ihnen wohl auch auftragen wird, mich für das zu bestrafen, was ich gleich vorhabe.

Rubinrote Vorhangbündel ergießen sich wie blutige Wasserfälle auf den Schachbrettboden. In den Nischen, die in die Mahagonivertäfelung eingelassen sind, stehen noch andere Statuen wie die in Illians Arbeitszimmer: Darstellungen von Morta oder ihren Propheten. Mit geöffneten Händen fangen sie das Sonnenlicht auf, ihre Quarzaugen blitzen viel zu hell.

Beim Anblick dieser Pracht überrollt mich eine Flut von Gefühlen, auf die ich nicht vorbereitet bin. Ich habe sie stets geschätzt: die mit Fresken geschmückten Deckengewölbe, wie die einer Kathedrale; die über und über mit Juwelen besetzten Vorhänge und Interieurs, als wären Diamanten so billig wie Bruchstein zu haben. All das war für mich einst eine Verheißung dessen, was ich mir für mich selbst wünschte, wovon ich glaubte, man könne es sich mit harter Arbeit verdienen.

Jetzt hingegen ist es nur mehr eine eindringliche Mahnung vor dem Monstrum, das hinter der schönen Fassade lauert.

Aus dem hohen Bogen, der in den nächsten Flügel führt, verkündet Glockengeläut das Ende einer Hofgerichtssitzung. Ich spähe um die Ecke. Aus dem Ordenssaal zu meiner Linken strömt eine Flut aus Höflingen, Beratern und dergleichen. Einige kommen mir entgegen, womöglich auf dem Weg zu Illians Arbeitsräumen, andere schlagen die entgegengesetzte Richtung zur Eingangshalle ein. Ich nutze die Gelegenheit und tauche im Getümmel unter. Sicher werden mich die Wachen nicht lange aus dem Blick verlieren, aber ich brauche nur ein paar Sekunden.

Ich biege in einen beengten, fensterlosen Gang ein.

Meine Glieder schmerzen noch von den morgendlichen Übungen. Ich beiße die Zähne zusammen und stütze mich immer wieder an der Vertäfelung ab. Diesen Weg kenne ich wie meine Westentasche, ich kann die Schritte genau abzählen. Als ich den schmalen Bogengang durchschreite, überkommt mich ein wonniger Schauer, als würde mich ein alter Freund in die Arme schließen.

Eine Bedienstete läuft den Gang entlang, in ihrer Hand ein Staubwedel. Als ich vor ihr auftauche, schreckt sie zusammen, hält aber den Blick gesenkt, wie es die Etikette verlangt. »Wer bewohnt diesen Abschnitt jetzt?«, frage ich.

»Niemand, Fräulein. Außer Seiner Majestät, versteht sich.«

»Aber bestimmt wurden die Räumlichkeiten doch einer anderen Tänzerin zugewiesen – dem neuen Kleinod des Königs. Wo treffe ich sie?«

»Diesen Titel hatte nur eine inne, Fräulein. Er hat ihn keiner anderen verliehen.« Auf mein Schweigen hin macht sie einen nervösen Knicks und huscht durch den Gang davon.

Nur ihre Worte bleiben.

Diesen Titel hatte nur eine inne, Fräulein.

Er hat mich nicht ersetzt.

Ich drehe mich um und gehe auf die schlanke Flügeltür zu. Mir stockt der Atem, ein Rauschen erfüllt meine Ohren. Ich streiche über das Profil und greife nach dem Knauf in Form einer Rosenknospe. Kühl schmiegt er sich in meine Hand, und als ich ihn drehe und die Tür aufdrücke, hallt das Quietschen der nach Öl dürstenden Scharniere laut durch den Gang.

Ich trete ein.

Mein Atem verwirbelt den Staub, der in der Luft schwebt.

Alle Vorhänge stehen offen, Sonnenlicht überzieht den dunklen Holzboden. Über mir hängt ein unbeleuchteter Glaslüster in Form einer blühenden Rose – ein Geschenk von König Anton, Illians jüngerem Bruder, zum Abschluss der Umbauarbeiten. Der Palast ist alt, aber bevor König Illian ihn bezog, diente er nur als Winterresidenz.

Im ganzen Gebäude ist diese Rose der einzige Hinweis auf Illians Geschwister und meiner Vermutung nach auch der Grund, warum diese Räume jahrelang leer standen, ehe Illian sie mir zusprach. Nichts verbindet ihn mit seinen zwei Brüdern, aber besonders frostig ist seine Beziehung zu König Anton, der Ostmiridran regiert. Dieser Umstand ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Illian ursprünglich ganz Miridran hätte erben sollen statt das Drittel, über das er jetzt herrscht.

Das war das eine Thema, über das er nie mit mir gesprochen hat – ein wunder Punkt, soweit ich das beurteilen konnte. Doch während meiner Zeit im Palast schnappte ich hier und da ein paar Fetzen auf. Als Kronprinz hatte man Illian von Geburt an darauf vorbereitet, eines Tages über ganz Miridran zu herrschen. Aus einem Grund, den ich nie herausfand, hatte Estienne, Illians älterer Bruder, seinen Anspruch auf den Thron annulliert, lange bevor einer der Prinzen gekrönt wurde.

Und dann, vor zwölf Jahren, beschloss König Junien, Illians Vater, das Reich unter seinen drei Söhnen aufzuteilen. Jedes Gebiet sollte eigenständig wirtschaften und Handel treiben, über die Armee jedoch könnten sie nur gemeinsam verfügen. Diesen Beschluss verkündete Junien an Estiennes Namenstag bei einer Zusammenkunft vor dem versammelten Kronenbund – und krönte seinen Sohn noch an Ort und Stelle. Estienne vermachte er den mittleren Teil Miridrans, Illian hingegen sollte über das westliche Gebiet herrschen, sobald er zwei Jahre später volljährig wäre.

Und der Osten, der Illian am meisten am Herzen lag, war Anton vorbehalten. Nicht nur einmal bekam ich mit, wie Illian sich über seinen jüngsten Bruder ausließ, über dessen Arroganz, Ausschweifungen und vor allem dessen Raffgier. Dass der jüngste König – ein Hedonist –, in Miridran von so vielen verehrt wurde, widerte Illian an. Die sehen alle nur über seine Laster hinweg, weil er stets ihre Kelche füllt.

Die Beziehung zwischen den beiden dürfte wohl nach wie vor angespannt sein. Sollte ich es zur Zusammenkunft der Kronen schaffen, werde ich mich sicher persönlich davon überzeugen können.

Jedenfalls war es genau hier, unter dieser Glasrose, wo ich damals übte, meine Schritte einstudierte und Auftritte plante. Hier gab ich mich meinen Träumen hin. Dieses kleine, verlassene Tanzstudio am Ende eines ruhigen Gangs machte mir Illian zum Geschenk, nachdem ich die Nacht durchgetanzt hatte, um zwei Würdenträger aus fernen Gefilden zu beeindrucken. Anstandslos ließ ich ihre Spötteleien über mich ergehen, von wegen, ich sei nur seine Lustprinzessin und könnte meiner Vorgängerin nicht ansatzweise das Wasser reichen. Und obendrein verlieh er mir den Titel, der bislang niemandem sonst zuteilgeworden ist.

Sein Kleinod.

Diesen Platz verdiente ich mir, ohne je mit ihm ins Bett gestiegen zu sein.

Als Lohn für die Anmut, mit der ich die Grausamkeiten seiner Gäste ertragen hatte, brachte er mich am nächsten Morgen hierher. Er hatte alles putzen und entstauben, die Spiegel polieren und Böden wischen lassen. Für dich, sagte er, als ich ungläubig in den Raum starrte, der so mit Sonnenlicht durchflutet war, dass er mir beinahe überirdisch vorkam. Und eines Tages werde ich dir noch viel mehr geben.

Einsam und naiv wie ich war, glaubte ich ihm. Damals fiel mir das leicht. Er gab mir das Gefühl, verehrt zu werden, und schenkte mir gerade so viel Lob und Aufmerksamkeit, dass ich ständig nach mehr dürstete. Und diesen Durst stillte er dann auf die verschwenderischste Weise: Diamantohrringe; Goldstücke, die er mir heimlich ins Kostüm steckte; ein Armband, in das mein Name graviert war.

Geflüsterte Versprechen, eins nach dem anderen, die beinahe einer eigenen Währung gleichkamen. Ich werde dir noch viel mehr geben.

Wut lodert in mir auf, gefolgt von Entschlossenheit. Ich kämpfe gegen den Schmerz in meinen Rippen an, strecke mich und begebe mich zur Mitte des Raums. Dort lasse ich mich auf den Boden sinken, dehne mich und fange mit meiner alten Routine an, wie ich es auch in meiner Zelle versuchte, selbst als mein Körper allmählich in sich zusammenfiel. Zuerst die Füße, dann die Waden …

Unter mir wackelt eine lose Diele.

Dabei kann es doch unmöglich noch hier sein? Ich rutsche zur Seite und schiebe zögerlich die Fingernägel in die Ritze. Trotz der feinen Holzsplitter, die mir in die Fingerkuppe piksen, lasse ich nicht locker, bis ich das Brett endlich gelöst habe.

Im Hohlraum darunter liegt ein Bündel aus weißem Samt und Pelz, genau da, wo ich es zurückgelassen habe.

Ich hebe den Stoff auf und drücke ihn an meine Wange, streiche mir damit über Nase und Lippen. Mir stockt der Atem.

Er riecht immer noch nach ihr.

Das Einzige von Emilia, das ich nicht übers Herz brachte zu verkaufen: dieser einsame Handschuh. Eigentlich hatte sie ein Paar in meine Tasche gepackt, aber einer war mir abhanden gekommen, und so fieberhaft ich auch danach suchte, er tauchte nie auf. Ich war am Boden zerstört.

Vor einer halben Ewigkeit trug sie die Handschuhe bei unserer ersten Begegnung. Damals war sie ein junges Ding von gerade mal fünfundzwanzig Jahren, eingehüllt in Pelz und Perlen, an ihrem Finger steckte der Diamantring meines Vaters. Ich war acht und wild dazu entschlossen, sie zu hassen. Noch nicht einmal kennenlernen wollte ich sie. Ich will keine neue Mama, sagte ich zu ihr. Worauf sie nur antwortete: Das habe ich mir schon gedacht. Aber wie wäre es mit einer Freundin?

Emilia.

Meine Brust krampft sich zusammen. »Es tut mir leid.« Über die Jahre wurde das zu meinem Refrain. »Es tut mir so leid«, flüstere ich immer wieder, bis mir die Luft wegbleibt. Vor Jahren versteckte ich ihren Handschuh hier, um mich daran zu erinnern, warum ich hier war und wofür ich so unermüdlich kämpfte, arbeitete und tanzte, bis mir alles wehtat. Wofür ich all die Blicke und Kommentare ertrug, die eifersüchtigen Hofdamen und ihre Ehemänner, die mich bedrängten, wenn Illian nicht hinsah.

Einst tat ich das alles für Emilia.

Dann aber brachten mich Gold und Glanz und die Verheißung von mehr vom Weg ab. Nur ein bisschen mehr noch, dachte ich, dann hätte ich genug. Dann würde ich in das Zuhause zurückkehren, vor dem ich Reißaus genommen hatte, und meinem Vater die Stirn bieten. Dann wollte ich ihn vor Gericht zerren, damit er endlich für seine Verbrechen würde geradestehen müssen, die Emilia und ich bezeugen konnten. Ich war kein hilfloses Kind mehr.

Aber so weit kam es nie. Mein Leben berauschte mich immer mehr. Wie eine Trinkerin bekam ich nie genug davon. Selbst jetzt vermag sich ein kleiner verräterischer Teil von mir dieser Verlockung nicht vollends zu entziehen. Erst als Illian mich in die Finsternis verbannte, war ich mit dem ganzen Ausmaß meines Scheiterns konfrontiert. Damit, wen ich vergessen und ungeschoren hatte davonkommen lassen.

Denn Vergessen war einfacher als sich zu erinnern.

Mit brennenden Augen verstaue ich den Handschuh in dem Verband um meine Brust, und als ich die Diele zurück an ihren Platz lege, dringt leises Geigenspiel an mein Ohr.

Die Melodie ist mir so vertraut, dass sie mir einen Stich versetzt. Ich lausche dem sanften Auf und Ab der Töne. Das Lied weckt eine längst vergessene Sehnsucht in meinem gebrochenen Herzen – weil ich es komponiert habe.

Für ihn.

Wahrscheinlich lässt er es in dem Wissen spielen, dass ich in der Nähe bin. Die Wachen haben ihn inzwischen sicher informiert. Will er mich verspotten? Soll das ein Scherz sein? Oder bedeutet ihm die Melodie so wenig, dass er sie zur Untermalung eines ganz normalen Vormittags wählt – eine Fingerübung für den Harfenisten? Vielleicht denkt er sich auch nichts dabei.

Langsam stehe ich auf und gehe den Gang entlang.

Je weiter ich komme, desto lauter wird das Lied. Schließlich halte ich hinter den ausladenden Blättern eines eingetopften Feigenbaums inne. Ich stehe vor einem seiner Lieblingssalons. Geraffter Samt schmückt die Decke, durchtränkt vom Schein der Nachmittagssonne, die durch die hohen Oberlichter hereinfällt. Der Alabasterboden ist mit Chaiselongues gesäumt, auf jeder davon sitzen Höflinge in feinsten Gewändern. Auf einer, die fast mittig steht, rekelt sich König Illian und nippt an einem goldenen Kelch. Sein dunkelgrünes Gewand steht bis zur Brust offen und ergießt sich wie Efeuranken auf den Boden.

Brigitte hat mir geraten, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen und mich stattdessen auf meine Genesung zu konzentrieren, aber sie versteht mich nicht. Er hat sich in mein tiefstes Inneres gebrannt. Sowohl seine Güte als auch Grausamkeit sind fest in die Erinnerungen eingewoben, denen ich nicht entrinnen kann. Und selbst jetzt sehe seine zwei Gesichter: jenen Mann, der mir alles gab, und den, der es mir wieder nahm.

Zwei Tänzerinnen führen eine Version meiner Illiuna für ihn auf, eine sinnliche Choreografie mit ausladenden, schwungvollen Bewegungen. Ich erkenne die beiden: Marisol und Donatette, meine ehemaligen Schülerinnen. Ich habe ihnen diesen Tanz beigebracht.

Habe sie geliebt wie Schwestern.

Donatette trägt ein hauchdünnes Kleid, das mit ihrer zarten blassen Haut zu verschmelzen scheint, wohingegen Marisols lavendelfarbenes Kostüm ihren goldbraunen Teint zum Strahlen bringt. Sie bewegen sich in perfektem Einklang und mit einer solchen Grazie, dass die Wunden in meiner Seele von Neuem aufreißen.

Mir war nicht klar, wie sehr mir das fehlen würde. Wie stark meine Sehnsucht danach wäre, mich wieder so bewegen zu können. Sie so tanzen zu sehen, wie ich es damals tat, diese sanfte Kraft, die jeder Pose innewohnt …

Offensichtlich und verdientermaßen hat Illian ihnen ein ähnliches Angebot gemacht wie mir einst.

Aber warum hat er nicht eine von ihnen zu seinem Kleinod auserkoren?

Donatette streckt die Arme aus, Marisol umfasst sie von hinten und biegt ihren Rücken durch, und ehe sie unter ihrer Partnerin hindurchgleiten kann, begegnet sie meinem Blick. Erschrocken schnappt sie nach Luft und lässt Donatette los, die als gedemütigtes Seidenhäufchen zu Boden geht.

Die Musik verstummt.

Marisols Lippen formen meinen Namen.

Trotz meiner schmerzenden Muskeln renne ich weg.

Ich ertrage es nicht, ihnen gegenüberzutreten. Nicht, solange ich nur ein Schatten meiner selbst bin. Nicht, solange sie mich für eine Mörderin halten. Ich biege um die Ecke und husche zurück in mein Tanzstudio, wo mir die blanken Holzdielen entgegenschimmern. Mit dem Rücken zur Wand lasse ich mich dort zu Boden gleiten.

Ein paar Minuten verstreichen, ohne dass mir jemand hinterherkommt. Stattdessen setzt die sanfte Melodie wieder ein; sie machen mit ihrer Vorstellung weiter. Marisol muss mich wohl für ein Hirngespinst gehalten haben. Erleichtert atme ich auf und schließe die Augen, bis mein Herz ruhiger schlägt.

Während die Musik lauter wird, gehe ich gedanklich ihre Schritte durch. Wie habe ich diesen Tanz geliebt, monatelang habe ich an der Choreografie gearbeitet.

Ich hebe die Arme, der Rhythmus so greifbar wie Tanzbänder. Er lockt mich und ich folge ihm. Ich stehe auf, fahre mir über den Hals und lasse den Arm sinken, anmutig wie ein Flügelschlag. Dieses Gefühl – die Freiheit, mich zu bewegen, – wurde mir geraubt. Dennoch stelle ich mir vor, wie die Ketten von mir abfallen und zerbröckeln wie trockenes Herbstlaub. Ich lasse mich von den Akkorden leiten – ein Flüstern, ein Versprechen, ein Trost, der mir lange gefehlt hat und an den ich mich nun umso fester klammere. Ungeweinte Tränen brennen in meiner Kehle. Ein Zittern geht durch meine Muskeln, und als sich die Musik zu einem Crescendo steigert, atme ich schmerzhaft aus und schlage dumpf auf dem Boden auf. Meine Nervenenden stehen in Flammen und mir ist, als schnitte mir jemand die Rippen auf. In meinen Augen sammeln sich Tränen, bis sie mir über die Wangen rinnen.

Nie wird mein Körper wieder so sein wie früher. Was ich verloren habe, ist unwiederbringlich. Ich bin schwach, zerbrechlich wie Glas.

Die Doppeltür schwingt auf. Zwei Wachen stürmen herein und zerren mich hoch. Natürlich sind sie mir nachgelaufen, und auch Brigitte steht da und blickt mich traurig an. Die Szene, die sich ihnen bietet, ist unmissverständlich – was ich versucht habe, woran ich gescheitert bin. Brigitte wird beiseitegeschoben und der König tritt ein. Angespannt hält er inne, dann befiehlt er mir aufzustehen.

Ich gehorche. Sterne wirbeln durch mein Sichtfeld, meine Knie werden weich. Ich nehme all meine Kraft zusammen, und die Sekunden ziehen sich schier endlos in die Länge. Als sich der Nebel um mich herum endlich auflöst, zwinge ich meinen Rücken in eine aufrechte Position.

Er tritt an mich heran und begutachtet mich. Ich habe etwas zugelegt, ein bisschen Muskelmasse aufgebaut, aber es reicht noch nicht aus.

»Tanz«, befiehlt er.

Er will meinen Fortschritt sehen. Er ist es leid, ständig Brigitte danach fragen zu müssen.

Perplex blinzle ich ihn an. »Ohne Musik?«

»Ja.«

Selbst wenn ich wollte – die Kraft hat mich verlassen. »Ich … kann nicht.«

Er geht noch einen Schritt auf mich zu und drückt mein Kinn mit dem Kelch, den er noch immer in seiner Hand hält, nach oben. »Du kannst, wenn ich es sage.«

Das ist nicht die Aufforderung eines Königs, sondern der Befehl eines Marionettenspielers.

Fünf Wochen bleiben mir noch. Es ist zu früh zum Vortanzen. Brigitte öffnet den Mund, doch er hebt drohend die Hand. Sie schürzt die Lippen und wirft mir einen mitleidigen Blick zu.

Ich bohre die Fingernägel in meine Handflächen. Dieser Mann hat mein Leben in der Hand, und trotzdem durchströmt mich die Wut. Er hat mich in diese Kerkerzelle gesteckt. Und nach zwei Jahren Schmerz und Einsamkeit holt er mich heraus und erwartet, dass ich mich erhole, wie es ihm in den Zeitplan passt. Heiß wie Lava pulsiert der Hass durch meine Adern. »Majestät«, platzt es aus mir heraus, »ich möchte bloß die Zeit, die Ihr mir versprochen habt. Damit ich einen Tanz vorbereiten kann, der unseres hochverehrten Königs würdig ist.«

Er hört meinen Sarkasmus heraus. Ich funkle ihn an und zeige, dass ich nichts vergessen habe. Er weiß, dass ich unschuldig bin.

Eine Weile sieht er mich einfach an. Um mich anzurühren, hat er nie seine Hände gebraucht; sein Blick durchbohrt mich, als wäre ich aus Butter. Mir wird klar, wie waghalsig es war, ihn zu verärgern, und ich verfluche mich. So dumm!

Als er mich jedoch weder bestraft noch unsere Abmachung für nichtig erklärt, bestätigt sich mein Verdacht: Was auch immer er vorhat, er ist auf mich angewiesen. Offenbar vertraut er niemandem sonst – vielleicht, weil ich die einzige Tänzerin bin, die er durch Verzweiflung an sich binden konnte. Ist das gar der Grund, warum er mich in den Kerker hat werfen lassen?

Oder steckt mehr dahinter?

»Eure Majestät«, mischt sich Brigitte ein, um die angespannte Atmosphäre aufzulockern, »wenn wir aufbrechen, wird sie bereit sein.«

»Oh, das wird sie. Und sie wird mir zeigen, wie dankbar sie für ihre zweite Chance ist.« Er beugt sich zu mir herunter, und als er mir ins Ohr raunt, umnebelt mich der Wein in seinem Atem. »Glaub ja nicht, mir würde entgehen, wie du die Grenzen austestest, Vasalie. Dein Hang zum Trotz hat mich schon immer amüsiert, aber vergiss nicht: Du bist nur hier, solange du mir von Nutzen bist. Ein kaputtes Spielzeug ist nichts wert.«

Ein kaputtes Spielzeug.

Nichts wert.

Seine Worte schmerzen mehr als die Schläge der Wärter. Sie graben sich tief in meinen Verstand, säen Angst und Zweifel. Ich kann der Wahrheit darin nicht entrinnen. Er hat mich zerbrochen, und jetzt bin ich zu kaputt, als dass ich mich wieder zusammensetzen könnte.

Und während die Tage ins Land ziehen, sucht mich diese höhnische Gewissheit immer wieder heim.

***

Brigitte kümmert sich jeden Tag um mich. Sie zwingt mich zur Therapie, den Mahlzeiten, den Übungen und Behandlungen. Ich ziehe mich so weit in mich zurück, dass alles an mir vorbeizieht.

Nachts lasse ich das Fenster wegen der Sterne offen, selbst bei Regen, und sei es auch nur, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wo ich bin. Dennoch schlafe ich unruhig und träume schlecht, von dräuender Dunkelheit, schmerzenden Handschellen und schallenden Schreien – von all den Schrecken, die mich in dieser Verlieszelle heimsuchten. Den gesamten nächsten Tag über fühle ich mich, als würde ich schlafwandeln.

Ich schwanke durchs Leben, bin kaum da.

»Vasalie«, tadelt mich Brigitte eines Morgens und zieht mich am Arm vom Fenster weg. Nicht zum ersten Mal trifft sie mich hier an, während ich wie in Trance auf die schneebedeckten Berggipfel in der Ferne starre. Sie erinnern mich an mein einstiges Zuhause – an einen fernen Ort hinter dem Ozean, wo die Berggipfel vereist und im Winter so hell sind, dass man sie nur mit zusammengekniffenen Augen erkennt. Von dort bin ich weggelaufen.

Und nun würde ich am liebsten von hier weglaufen.

»Du solltest dich vorbereiten«, mahnt Brigitte und scheucht mich zur Tür. Eigentlich sollte ich schon seit Stunden im Übungsraum sein. »Morgen musst du vor König Illian tanzen.«

In letzter Zeit habe ich nichts anderes getan: trainieren, üben, dehnen und wieder trainieren. Jeder Tanz, den ich je choreografiert, jeder Schritt, den ich gelernt habe, ist tief in meine Muskeln eingeschrieben – nur gehorchen sie mir nicht immer. Obwohl ich immer kräftiger werde, bleibt meine Beweglichkeit eingeschränkt.

Ich habe nicht ansatzweise genug Fortschritte gemacht.

Schlimmer noch: Meine Angst türmt sich zu einem unüberwindlichen Wall auf. Immer weiter treibe ich mich an und scheitere. Ich trauere dem hinterher, was ich verloren habe. Und als das letzte bisschen Stolz und Entschlossenheit bröckelt, an das ich mich so krampfhaft geklammert habe, breche auch ich zusammen. Mit hämmerndem Herzen liege ich auf dem Boden und ringe nach Luft, während der Schmerz mich zerfrisst wie damals die Kerkerratten mit ihren spitzen Zähnchen. Ein kaputtes Spielzeug ist nichts wert.

Ich habe nichts zu bieten außer Scherben. Das reißt noch ältere Wunden auf, aus der Zeit vor Illian. Du wirst nie mehr sein als das Spielzeug eines Mannes. Ich höre meinen Vater so deutlich, dass ich mich fast schon frage, ob er hier ist. Er, der mich verschachert, mich von Anfang an nur als Ware betrachtet hat. Er hat mich einem Mann versprochen, den Emilia aus ganzem Herzen verachtet hat. Dass ich keine dreizehn war und noch nicht einmal meine erste Monatsblutung hatte, spielte keine Rolle für ihn. Wie hast du je glauben können, du wärst mehr?

Ein Spielzeug.

Kaputt.

»Wir wissen doch beide, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin«, fauche ich und winde mich aus Brigittes Griff. »Sieh mich nur an.« Sie sieht es ebenso deutlich wie ich. Uns ist klar, dass ich nicht tanzen kann, wie ich müsste. Nicht für König Illian und ganz gewiss nicht für die Eliten bei der Zusammenkunft der Kronen.