A dreifoche Leich - Michel Skala - E-Book

A dreifoche Leich E-Book

Michel Skala

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Beschreibung

Ein Hauch von Genialität umgibt die Aura des Kommissars Karl Schargll. Die Ermittlungen zu einem Dreifachmord an einer Pensionistin fordern alle seine Talente ein. Frau Elfriede Mandl wird auf dreifacher Weise getötet. Erwürgt, Pulsadern aufgeschnitten und aus der Wohnung im sechsten Stockwerk hinausgesprengt. Die Ermittlungen führen die beiden Ermittler in die Unterwelt von Wien. Dabei entdecken sie Spuren eines Kindermissbrauchs, die sie zu den höchsten Kreisen einer Versicherung führen. Der Mörder tötet raffiniert und schnell. Als der Kommissar bei den Ermittlungen ihm zu nahekommt, setzt der Mörder auf ihn und seine Assistentin Beate Krannbichl an. Die Jäger werden zu Gejagten. Eine Bruderschaft von Fremdenlegionären, die mit einem genialen Streich das gesamte Polizei-Dezernat austricksen und dabei den einzigen Tatverdächtigen aus der Untersuchungshaft befreien, kratzt gefährlich an Scharglls Genialität. Sein Vorgesetzter brüllt nur noch herum und setzt ihn unter Druck. Aber da ist auch ein Wiener Strizzi, Helmut Englhirt, genannt Winnetou von Ottakring, der den beiden Ermittlern zusetzt.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Der Tod der alten Dame

Ein Haus voller Scharglls

Das Verhör

Versicherung auf Gedeih und Verderb

1 Der Tod der alten Dame

Es war kurz vor Mitternacht. Elfriede Mandl zog den Essteller aus dem Spülwasser und wischte ihn trocken. Der Geschmack der serbischen Bohnensuppe verflüchtigte sich langsam von ihrem Gaumen. Es war ein altes Rezept ihrer Mutter. Am Sterbebett hatte sie gesagt, dass Elfriede mit dieser Suppe hundert werden würde und ihr Hirn zweihundert.

Elfriede hatte diese kulinarische Köstlichkeit über die Jahre perfektioniert, fügte jedes Mal Thymian, eine ordentliche Brise Kümmel und einen wohldosierten Schuss Chili hinzu, um die letzten Maden aus ihrem Darm in die Flucht zu schlagen.

Ein Schatten, flink, nicht hörbar, verraten durch das Licht der umliegenden Straßenlaternen, bewegte sich an ihrer Terrassenwand und erreichte ihr Wohnzimmerfenster.

Elfriede stellte den Teller in die Vitrine und watschelte ins Bad, um sich fürs Bett vorzubereiten. Dabei schaltete sie das Licht im Wohnzimmer aus. Sie bemerkte nicht, wie ein Augenpaar durch die Balkontür jeden ihrer Schritte beobachtete.

Sie putzte sich im Bad die Zähne, kurz darauf lag sie im Bett und umarmte die Polster.

Nach Mitternacht setzte heftiger Regen ein.

Das Prasseln an den Fensterscheiben weckte sie. Seit dem Tod ihres geliebten Peter vor zwei Jahren schlief sie nicht mehr tief.

Durch die gekippte Balkontür drang Nässe ins Schlafzimmer. Rheuma, Gicht und Rückenschmerzen wichen Elfriedes Ärger darüber, dass sie sie beim Schlafengehen nicht verschlossen hatte. Sie stand auf, ging zur Tür und schloss sie mit einem festen Ruck. Zu ihrer Verwunderung ließ das Pfeifen des Windes nicht nach und drang weiter durch ihre Schlafzimmertür.

Ach Gott, die Terrassentür im Wohnzimmer.

Sie tippelte ins dunkle Vorzimmer, doch knatternde Geräusche eines Rasenmähers bremsten ihren Schwung. Wer mähte mitten in der Nacht bei strömendem Regen seinen Rasen? Elfriede erinnerte sich an den angeblichen Unfall ihres Mannes. Im selben Moment sah sie einen sich bewegenden Lichtschein in der Glastür des Wohnzimmers.

O nein.

Sie eilte zurück zum Bett und zog unter der Bettdecke einen Smith-and-Wesson-Revolver hervor. Sie hatte ihn nach dem Tod ihres Gatten besorgt. Ihre ursprüngliche Abneigung gegenüber Waffen hatte sie an den Schießständen verloren.

Peters Tod war kein Unfall gewesen, da war sie sich sicher. Niemand bringt es fertig, sich mit dem Rasenmäher umzubringen. Ihr Drängen bei der Polizei, dem weiter nachzugehen, war vergebens gewesen.

Kommt der Mörder mich heute holen? Ich ruf die Polizei.

Ein leises Wimmern entwich ihren Lippen, als ihr einfiel, dass ihr Handy auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer lag. Das Pfeifen des Windes übertönte die Rasenmähergeräusche und Elfriedes Herz erzeugte Erdbeben in ihrer Brust. Dennoch fasste sie Mut, schlich durch den dunklen Flur und ergriff die Klinke der Wohnzimmertür.

Ich habe die Waffe, damit rechnet er nicht.

Es waren nur zwei Schritte, die sie hinter sich aus dem Bad kommend hörte. Sie versteifte sich. Im selben Moment ergriff eine Hand mit Lederhandschuh ihre Taille, die zweite legte sich um ihren Hals und drückte zu.

Sie setzte zum Schrei an, doch kein Laut entwich ihren Lippen. Ein stechender Schmerz am Handgelenk ließ die Waffe aus ihrer Hand gleiten.

Ein Gesicht mit Ledermaske drückte sich an ihre Wange und küsste sie. »Der Tod hat etwas Gutes«, flüsterte eine männliche Stimme.

Elfriede kämpfte gegen den Griff um ihren Hals an, versuchte, sich loszureißen. Panik verdrängte all ihre Gedanken. Die Gestalt hob sie wie eine Puppe hoch. Elfriede strampelte und stieß mit dem Fuß die Tür zum Wohnzimmer auf. Als ihr Blick auf den Schreibtisch fiel, weiteten sich ihre Augen. Ein kleines Diktiergerät lag neben der Computertastatur – die Quelle der Rasenmähergeräusche.

»Hörst du das Geräusch des Rasenmähers? Ich habe ihn aufgenommen, als ich Peter dagegen drückte. Er war so betrunken, hat nicht einmal geschrien. Also sei brav, so wie er und halt still«, flüsterte die Stimme in ihr Ohr.

Panisch schwenkte sie den Blick durchs Zimmer und erkannte ihren alten Rollstuhl neben dem Tisch. An seiner Rückenlehne befand sich, mit weißen Leintüchern festgebunden, das grasgrüne Sitzkissen der Couch.

Der Druck auf ihre Lungen erhöhte sich und langsam verlor sie die Kraft. Das Schwindelgefühl ging in Bewusstlosigkeit über. Sie spürte nicht mehr, wie sich der Griff lockerte. Sie nahm nicht wahr, wie sie ins Badezimmer getragen wurde. Ihr Körper erzitterte nicht bei der Berührung des kalten Wassers.

***

Es war der 30. April 2019. Um 07:22 Uhr traf Oberkommissar Karl Schargll der Tatortgruppe Landeskriminalamt Wien 9, Berggasse, am Tatort ein. Er zeigte den Kollegen seine Dienstmarke, woraufhin sie ihn durch die Absperrung ließen.

Am Gehweg der Hasnerstraße Nr. 21, im sechzehnten Bezirk, lagen Gebäudetrümmer, Fenster- und Glastürrahmen sowie zersplittertes Glas in einem großen Umkreis verstreut. Ein Mercedes und ein Volkswagen, die dort parkten, waren kaum zu erkennen unter dem Mauerschutt. In ihren Frontscheiben steckten metallene Teile eines Geländers, an denen Hundegummiknochen mit roten Bändern befestigt waren. Beim Golf steckten zusätzlich drei braune Ziegelsteine in der Frontscheibe.

Mittendrin in diesem Trümmerfeld, auf dem Gehsteig, lag eine Frauenleiche, gefesselt an einen Rollstuhl, der zertrümmert zur Seite gekippt war. An seiner Rückenlehne festgebunden, ein grünes Sitzgarniturkissen, welches in Fetzen, herunterhing.

„Was zum Teufel war hier los?“, fragte der Oberkommissar.

Seine Assistentin, Beate Krannbichl, die neben der Leiche kniete, sah zu ihm hoch. »Zunächst guten Morgen.« Sie verzog sauer ihr Gesicht und wandte sich wieder der Leiche zu. Zwei Polizisten stiegen aus einem Einsatzwagen und kamen zu ihm. Der eine sah den Kommissar fragend an.

»Schargll«, sagte der Oberkommissar.

»Meinen Sie die Tatwaffe?«, fragte der Beamte.

»Nein, Oberkommissar Schargll.«

»Wie Schargl?«

»Nein, Scharg-l-l.«

»So - Schargllll?«

»Nicht die Zunge so weit raus. Schargll, mit langem L.«

»Langes L, gibt´s net.«

»Gibt´s scho und jetzt zwei Schritte zurück, damit mei Kollegin die Leich ungestört untersucht.«

»Verzeihen Sie, Herr Oberkommissar.«

»Passt schon, erzählt mir lieber, was hier passiert ist.«

»Es gab eine Gasexplosion in der Wohnung der Toten.«

»Was macht sie dann hier auf dem Gehsteig?«, fragte der Kommissar.

»Die Frau dürfte zum Zeitpunkt der Explosion nahe bei der Balkontür gesessen sein.«

»Da ist ein Gartenstreifen vorm Haus. Sie hat an die fünfzehn Meter Luftlinie überflogen«, sagte Schargll.

»Nun ja, Sie werden oben sehen, es war eine gewaltige Explosion.«

»Ich sehe, sie wurde an einen Rollstuhl gefesselt«, bemerkte Schargll.

»Die Kollegen von der Technik werden Ihnen sicher mehr sagen können«, winkte der Kollege ab.

Schargll beugte sich zu der Toten, untersuchte ihre Position, betrachtete die starren Augen. Dann wandte er sich an seine Assistentin. »Was sagen Sie dazu, Frau Krannbichl?«

»Wir arbeiten seit über einem Jahr zusammen und Sie sprechen mich immer noch nicht mit Beate an.« Sie ignorierte seine Frage.

»Was wird des, woins mi heiraten?«

Sie errötete, sah zu der Toten. »Sie haben überhaupt kein Benehmen.«

»Dafür Sie, aus gutem Haus, wohl behütet, zu viel davon.«

»Können wir uns wieder auf den Fall konzentrieren?«

»Madl, du host ongfongt.«

»Ich muss Sie bitten, mich nicht so zu nennen.«

»Oh, und warum nicht?«

»Weil ich nicht Ihr Madl bin, haben Sie verstanden?«

Schargll verzog sein Gesicht.

Das hatte er gebraucht, damit der Tag warm wurde. Eine Zurechtweisung von einer Frau und das vor den Kollegen. Er presste die Lippen zusammen, weil er wusste, dass die junge Frau schlagfertig genug war, um nochmals auszuholen.

»Und wissen Sie, wie die Oide verstorben ist?«

»Die Oide, wie Sie sie nennen, hieß Elfriede Mandl. Sie war Witwe und seit zwei Jahren in Pension. Sie hatte einen Hund, der nicht da ist«, entgegnete sie schroff.

»Ich wollte nicht ihren Lebenslauf hören, sondern wie sie verstarb.«

Die beiden Streifenpolizisten, die bislang unbeteiligt daneben gestanden hatten, kicherten los. Krannbichls strenger Blick ließ sie verstummen.

»Jetzt sage ich Ihnen etwas.« Sie erhöhte die Lautstärke ihrer Stimme. »Sie haben überhaupt kein Benehmen«, wiederholte sie. »Nur zu Ihrer Information, die Machos sind im letzten Jahrhundert hier reihenweise ausgestorben. Reihenweise, haben Sie das verstanden?«

»Ich glaube, darüber gelesen zu haben.« Sein Grinsen erstrahlte und brachte die lausbübischen Augen zum Leuchten. Krannbichl lächelte. Sein trockener Humor steckte sie oft an, doch heute war wieder so ein Tag, an dem er sie an ihre Grenzen der Zurückhaltung brachte.

Dem Kommissar entging nicht, wie die zwei Polizisten auf die Bluse seiner Kollegin starrten und sich dabei leise Grunzlaute zuwarfen. Zum Leidwesen von Krannbichl hatte sie eine sportliche Figur, ein betörendes Gesicht, eine wohlwollende Oberweite und das Fatalste von allem: lange blonde Haare. Die perfekte Einladung für blöde Kollegenwitze. Da half es nicht, dass sie hochbegabt und Anwärterin für den Kommissarstitel war, wenn Männer nicht mehr mit dem Hirn nachdachten.

»Benötigen Sie uns noch Herr Sch... Oberkommissar?«, fragte einer der Beamten abfällig.

»Geht, weitet‘s den Radius für die Spurensicherung aus. Mit jedem entfernten Meter vom Tatort nehmen meistens die Spuren zu. Die Täter fühlen sich sicher, machen Fehler«, sagte Schargll und deutete den beiden Polizisten zu gehen.

Mit einem kurzen Nicken entfernten sie sich und ließen Schargll und Krannbichl allein zurück.

»Kennt ihr schon die Todesursache?«, fragte Schargll.

»Die Gerichtsmedizinerin wird uns den Bericht morgen senden, aber ich gehe davon aus, dass sie durch den Sturz aus dem Sechsten gestorben ist«, sagte Krannbichl.

»Tja, Selbstmord schließen wir mal aus.«

»Ihr Scharfsinn ist beeindruckend.« Sie reichte ihm die Hand.

Er zog sie hoch.

»Zu Ihrem Scharfsinn gesellt sich auch Pech, Herr Kommissar. Es gibt Hinweise auf einen Selbstmord«, sagte sie.

»Das ist Blödsinn, junge Kollegin, sie blutete nicht.«

»Kollegin reicht, danke.«

»Mein Gott, so frisch von der Akademie und gleich alles besser wissen wollen.«

»Na los, würgen Sie es heraus, Sie Untier.«

»Wenn das Herz aufhört zu schlagen, blutet der Körper nicht mehr. Das müssten Sie aber schon wissen, Frau Superklug-Spurensucherin.«

»Weiß ich, behalten Sie bitte Ihre Weisheiten für sich.«

»Sagen Sie mal, besonders junge Kollegin, haben Sie heute den Flieger nach Wunderland verpasst? Was wird das hier?«

Sie schnappte nach Luft. »Die Haarfarbe stimmt vielleicht, aber Alice war doch noch ein wenig jünger als ich, oder was wollen Sie mir genau damit sagen?« Ihr Blick hätte Granit durchbohrt.

Schargll wich vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Nein, aber auf guat Wernerisch g´sogt: Ausbluten, am Rollstuhl anbinden und durch eine Gasexplosion sich deppert aus der Wohnung sprengen, geht net gonz alla, da werden Sie mir zustimmen, oder?«

»Das ist für mich noch nicht erwiesen«, sagte sie.

»Was verleitet Sie zu dieser absurden Annahme?«

»Der Brief.«

»Was für ein Brief, zum Teufel?«

»Fluchen Sie nicht, wenn ich Argumente vorbringe.«

»Erzählen Sie endlich, das ist ja nicht zum Aushalten.«

»Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«

»Und Sie sind Hellseherin, oder was? Sind wir nicht gleichzeitig hier angekommen?«

»Ja, ich aus der Wohnung der Toten und Sie woher auch immer. Wahrscheinlich aus einer Kneipe, so wie Sie aussehen.«

»Vorsicht, Kollegin, ich habe schon lange keine Frau übers Knie gelegt.« Er grinste. Sie sollte sehen, dass er es nicht ernst meinte.

»Geben Sie es doch zu, Sie haben eine Frau schon lange nicht mehr überhaupt irgendwohin gelegt.«

Der Oberkommissar erhob den Zeigefinger. Deutete ihr, dass jetzt die Frechheiten ein Ende hatten.

»Was für Hinweise auf Suizid haben Sie?« Er zog einen weißen Stoffflaum aus dem grünen Kissen. Rieb ihn prüfend zwischen den Fingern.

Zwei Männer vom Rettungsdienst unterbrachen sie, traten zu der Toten. Fragten, ob sie die Leiche mitnehmen können.

Krannbichl nickte ihnen zu.

Die beiden befreiten Elfriede Mandl vom Rollstuhl und legten sie behutsam auf eine Bahre.

Der Kommissar und seine Kollegen sahen ihnen nach, wie sie die Tote zum Fahrzeug trugen.

»Haben Sie den Brief gelesen?«, fragte er.

Sie nickte. »Sie schrieb von einer Nierenkrankheit, von Schmerzen, die sie nicht mehr aushielt, und Töchtern, die nur ihr Geld wollten. Nachdem ihr Mann vor zwei Jahren verstarb, wollte sie nicht mehr weiterleben.«

»Prüfen Sie, wo die Töchter leben. Setzen Sie einen Befragungstermin an. Mal schauen, was sie zu sagen haben.«

»Aye aye, Chef.«

»Vorsicht – schön freundlich bleiben.«

»Alles somit auf dem Weg, Herr Obergeneralkommissar.«

»Ich gehe dennoch nicht von einem Selbstmord aus.«

»Jetzt hören Sie auch mir einmal zu«, sagte sie. »Solange unsere Kollegen aus der Spurensicherung keine genaueren Hinweise auf eine fremde Hand finden oder wir keinen Verdächtigen haben, gilt der Brief als Hinweis auf einen möglichen Suizid.«

»Mein Gott, sind Sie a Potschal. Den Brief kann auch der Hausmeister g´schriebn hom.«

»Und woher wissen Sie das, Herr Chefermittler Superklug?«

»Wer die Sprache der Toten kennt, muss nur genau zuhören, hm … genau hinsehen und schnuppern, meinte ich.«

»Dann schnuppern Sie mal.« Sie deutete auf das Rettungsfahrzeug. »Bescheidenheit würde Ihnen nicht die Kopfhaare zerzausen.«

»Ruhe jetzt, keine Frechheiten«, sagte er erneut. »Bescheidenheit ist nur ein Schwächeanfall von inkompetenten Menschen.«

»Das ist nicht wahr, weil ...« Schargll hielt ihr den Mund mit einem Finger zu und schüttelte kurz den Kopf. Genug der Diskussion.

Krannbichl folgte mit einem breiten Grinsen.

»Ich gehe in die Wohnung der Toten«, sagte Schargll.

»Oder was davon übriggeblieben ist«, entgegnete sie.

»Wuascht, kommen Sie mit, jetzt können Sie was lernen.«

»Ich habe studiert – Sie auch?«, sagte sie schelmisch.

»Wenn Sie so weitermachen, tausche ich Sie gegen diese Pfeife aus Abteilung 4 aus.«

»Gegen die Karin? Die kann drei und drei nicht zusammenzählen!«

»Aber dafür hält sie die Klappe.«

»Das würden Sie nicht machen. Ohne mich finden Sie nicht einmal die Kerzen auf Ihrer Geburtstagstorte.« Sie schnaubte.

»Sie sind heute unmöglich«, sagte er.

»Das kann ich nur zurückgeben.«

»Hey, es zwa! Kauft’s euch endlich a Wohnung, das ist ja nicht mehr auszuhalten«, rief eine massige Gestalt hinter ihnen.

Die beiden drehten sich um, erkannten Klaus Weber, den Leiter der Spurensicherung.

»Was machst du hier, Klaus?«, fragte Schargll.

»Nach dem Rechten schauen, des ist bereits die zweite Leich in dem Monat.«

»Ihre Kollegen haben hier beste Arbeit geleistet«, sagte Krannbichl anerkennend.

»Des will i hoffen, Frau Kollegin.«

»Hör zu, Klaus, ich möchte noch rauf in die Wohnung«, sagte Schargll.

»Glaubst, doss no wos findest?«, fragte Klaus.

»Des waß ma nie«, ahmte Schargll ihn nach.

»Von mir aus, aber die Klane geht mit.«

»Traust ma net?«, fragte Schargll.

»Naa«, krächzte Weber.

»Ihr von der Spurensicherung geht´s ma so am Sack.« Die Kollegen konnten Scharglls Verärgerung heraushören.

»Reiß di zomm, Karli, die Klane geht mit, damit´s oben net olle Spur´n vernichtst.« Webers Stimme ließ keine Widerrede zu.

Krannbichl musste schmunzeln und deutete dem Kommissar keck, ihr zu folgen.

»Huarch zua, Klaus, wenns di amoi aufhaut, brauchma vier Wega-Einheiten und zwa Hundestaffln, um dich wieder aufzurichten«, sagte Schargll.

»Schleich di aufi, du Depp, sonnst kummi eich noch«, drohte ihm Weber.

»Schoffst eh net, mit deina Wampen.« Mit einem breiten Grinsen folgte Schargll seiner Kollegin in den Hauseingang.

»Wie gehen Sie mit dem Chef der Spurensicherung um?«, fragte sie beim Lift.

»Wir kennen uns seit dem Kindergarten.«

»Es schadet doch trotzdem nicht, einmal nett zu sein. Keine Angst, Sie sterben nicht daran.«

Gemeinsam betraten sie den engen Lift, Schargll war in Gedanken wieder beim Fall, die Anspannung war zurückgekehrt. »Drücken Sie endlich den Knopf zum Sechsten.« Nach einem Moment der Stille fuhr er fort. »Wenn die Spurensicherung fertig ist, schicken Sie bitte alle Ergebnisse in unser Büro. Ich stelle ein Soko-Team zusammen.«

»Ja, Chef.« Krannbichl blieb ernst.

»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte Schargll.

»Wir wurden um vier Uhr gerufen«, sagte sie.

»Habts schon Zeugen?«

»Bis jetzt nur eine ältere Frau im gegenüberliegenden Haus. Sie sah Frau Mandl am Vorabend auf der Terrasse mit dem Hund. Ein paar Stunden vor der Explosion sah sie einen dicken Mann mit Glatze, wie er mit ihrem Labrador aus dem Haustor und Richtung Thaliastraße gegangen ist. Die Uhrzeit weiß sie nicht mehr so genau.«

Er senkte den Blick und sah ihr in die Augen. Ihre Wangen liefen sofort rot an. Erst das »Kling« des Liftes brachte Schargll dazu, seinen Blick zu lösen.

***

Im Treppenhaus wimmelte es von Kollegen. Es sah aus, als hätte es dort geschneit. Jeder von ihnen hatte weiße Fasern an der Uniform hängen.

Die beschädigte Eingangstür von Frau Mandl steckte in der gegenüberliegenden Wand des Ganges. Ein Kriminaltechniker kroch auf allen Vieren im Flur und nahm Abdrücke und Proben ab.

Der Kommissar sah sich die Tür an, die in der Wand steckte. Die eine Seite zeigte Brandspuren, die andere wies weiße Flecken über die gesamte Länge auf.

Er fragte, ob an der Tür die Spurenabnahme stattgefunden hatte. Als ein Kollege bejahte, strich er über die weiße Fläche und schnüffelte am Finger.

Krannbichl beobachtete ihn, wollte fragen, was er da genau tat. Ein Beamter eilte zu ihnen und sagte, dass sie hier mit der Arbeit vorerst fertig seien. Die Wohnung sollte abgesperrt werden. Schargll ersuchte ihn, etwas abzuwarten. Krannbichl nickte dem Beamten zustimmend zu. Dieser verzog unwillig den Mund.

Die beiden Ermittler betraten ein großes Loch ohne Trennwände, wo straßenseitig ein Teil der Wand zur Terrasse fehlte. Verbrannte Möbel lagen herum, zerfetzte Küchenschränke hingen von den Seitenwänden herab. Nur ein schmaler Gang, der in die hinteren Räume führte und nur noch bis zu einem Meter Höhe erhalten war, bildete die Trennung zu Badezimmer, Schlafzimmern und Speisekammer.

Schargll begab sich in das hintere Schlafzimmer und sah sich danach das vordere und das Bad an. Auf der Terrasse sah er hinunter auf einen kleinen Grünstreifen mit Sträuchern, der das Gebäude vom Gehsteig trennte.

»Gasexplosion«, murmelte er.

»Genau«, sagte der Kollege, der Schargll und Krannbichl leicht genervt durch das Trümmerfeld begleitete.

Schargll zog eine metallene Stimmgabel aus der Sakkotasche und stocherte vorsichtig in die beschädigte Trennwand zum Vorzimmer. Dann schnupperte er daran. Der Kollege verdrehte gelangweilt seine Augen. Krannbichl schmunzelte.

Schargll wiederholte die Prozedur am angesengten Teppich im Wohnzimmer.

»Nicht ganz«, stellte er fest.

»Was meinen Sie?«, fragte der Beamte.

»Untersucht den Boden und diese Wand auf Spuren von C4.«

»Wir haben bereits die gebrochene Gasleitung lokalisiert«, sagte der Kollege.

»Habt ihr Proben genommen?« Schargll ignorierte die Abwehr seines Kollegen.

»Ja, Herr Oberkommissar, seit vier Stunden machen wir hier nichts anderes.«

»Gut, dann will ich auch nichts anderes, als dass Sie mir die Ergebnisse dieser Untersuchung so bald wie möglich liefern. Haben Sie mich verstanden?«

Der Kollege schluckte kurz und nickte ihm zu.

»Was vermuten Sie?«, fragte Krannbichl an Schargll gewandt.

»Sehen Sie das weiße Zeug hier?« Er kniete sich hin, hob ein Büschel hoch, rieb es zwischen den Fingern und sagte: »Spuren von Polstern und Matratzen. Mögliches Dämmmaterial für eine Explosion.«

Krannbichl bemerkte, wie am Boden feine Linien versengter Spuren von der Wand aus in Richtung Terrasse verliefen.

»Ja, und bei der Explosion hat es Möbel mitgerissen, die wir auf der Straße fanden«, sagte der Kollege.

Schargll verdrehte die Augen. »Kommen Sie her. Beide!«

Der Kollege und Krannbichl gehorchten umgehend.

»Stellen Sie sich hier mit dem Rücken zur fehlenden Wand auf und schauen Sie in Richtung der Terrasse«, sagte er.

Die beiden verkniffen sich nicht, dass sie innerlich protestierten.

»Es gab zwei Explosionen.«

Krannbichl öffnete den Mund, aber bevor sie etwas entgegensetzen konnte, unterbrach er sie.

»So wie ihr steht ... Sagt mir, wo ist die Küche?«

Die beiden sahen sich kurz an und deuteten brav nach links. Der Wand zur Küche fehlte die Tür. Diese lag am Boden an der Stelle, wo vor der Explosion die Balkontür gewesen war.

»In der Küche sind der einzige Gasanschluss und der Herd«, drängte Schargll weiter. Er sah sie lange an. »Und? Dämmert es?«

»Wenn das Gas genügend Zeit hatte sich in der ganzen Wohnung auszubreiten, dann entstanden unterschiedliche Druckwellen«, vermutete der Kollege.

»Das ist grundsätzlich möglich, aber in diesem Fall nicht zutreffend«, entgegnete Schargll.

»Auf was wollen Sie hinaus?«, fragte Krannbichl.

»Es gab zwei Explosionen, unmittelbar hintereinander«, sagte Schargll triumphierend.

»Das haben Sie alles in den paar Minuten und mit dieser Stimmgabel herausgefunden?«, fragte der Beamte ungläubig.

»Ich weiß nicht, was ihr in den vier Stunden hier getrieben habt. Aber ist Ihnen aufgefallen, dass in beiden Schlafzimmern von den Doppelbetten die Matratzen fehlen?«

Der Kollege schluckte kurz.

»Selbst hier im Wohnzimmer ist die Matratze vom Sofa verschwunden.« Schargll sah die beiden bohrend an.

»Herr Kommissar, wir sind erst noch in den Auswertungen der Sachlage und Spuren«, verteidigte sich der Kollege.

Schargll nickte verständnisvoll, schritt nochmals zum Küchentürrahmen und prüfte die Kanten. Er bemerkte, dass die Tapeten der wohnzimmerseitigen Wand weniger versengt waren als die Innenseiten der Küche.

Krannbichl beobachtete ihn, wie er in der Wohnung auf und ab ging. »Sie meinen, Frau Mandl kann unmöglich bei einer Gasexplosion durch die Terrassentür geflogen sein, wenn hier an dieser Wand nicht ein Sprengstoff angebracht worden wäre?«

»Richtig! Ich weiß, warum ich mit Ihnen zusammenarbeite!«, sagte der Kommissar. »Seht euch die Position der Küchentür an. Bei einer Gasexplosion breitet sich die Druckwelle in alle Richtungen aus. Die Wand zur Terrasse ist vier Meter entfernt und in einem Neunzig-Grad-Winkel. Die Tür wurde dort absichtlich positioniert.«

»Stimmt«, sagte Krannbichl. »Die Küchentür müsste auf der gegenüberliegenden Wohnzimmerwand zum Liegen kommen und nicht dort bei der Terrassentür.«

Schargll entspannte sich, lächelte wieder. Er forderte die beiden durch Kopfnicken auf, weiter zu kombinieren.

»Womöglich ging ein konzentrierter Druck in beide Richtungen los. Zur Terrasse und in den Hausgang«, stellte der Kollege fest.

»Jetzt habt ihr mich! Die Gasleitung war die Ablenkung. Die wahre Tat drückt sich durch diese zweite Explosion aus, die perfekt geplant gewesen sein muss. Damit haben wir den Nachweis der fremden Hand. Also kein Suizid, Frau Kollegin.« Scharglls Gesicht erstrahlte, als hätte ihm jemand ein Geschenk überreicht.

»Wer um Gotteswillen sprengt eine alte Oma aus der Wohnung?«, fragte Krannbichl.

Schargll wechselte den Blick von ihr zum Kollegen. »Wie schnell bekommen wir die Ergebnisse der Kriminaltechnik?«

»Bitte klären Sie das mit Herrn Weber ab«, sagte der Kollege und verabschiedete sich von den beiden.

Krannbichl sah dem Kollegen erstaunt nach.

»Wissen Sie, was in der Aufklärung von Verbrechen am schwersten wiegt?«, fragte Schargll seine Kollegin.

»Superschlaue Verbrecher?«

»Nein, dass die meisten Ermittlungsbeamten tatsächlich nur Beamte sind. Zumindest arbeiten sie so.«

»Sie meinen zu schnelles Ablegen der Ermittlungen?«

»Genauso ist es.« Er sah dem Kollegen nach, wie er aus der Wohnung hinausspazierte.

»Haben Sie ein Rezept dagegen?«, fragte Krannbichl.

»Das Zusammenstellen des richtigen Soko-Teams ist mein Rezept. Man muss aufpassen, wen man ins Team holt.«

Krannbichl stimmte ihm nachdenklich zu.

»Herr Kollege, nur das mit der Stimmgabel müssen Sie mir noch erklären.«

Scharglls Augen glänzten, er setzte ein breites Grinsen auf und schwieg. Krannbichl schüttelte ungläubig den Kopf. Ein Kollege winkte von der Tür aus mit der Klebefolie. Widerwillig setzte sich Schargll in Bewegung. Sein Gefühl sagte ihm, dass mit dieser Toten etwas nicht stimmte. Weder die Stelle, wo man sie gefunden hatte, noch wie sie verstorben war.

Was bedeutet ein Todeszeitpunkt von vier Stunden? In dieser Zeit erreicht man Wien von Salzburg oder Klagenfurt problemlos mit dem Auto.

»Na gut, gehen wir. Blaschek wird mich löchern.« Er ließ Krannbichl im Gang stehen und bereitete im Kopf schon die Antworten für seinen Chef vor.

»War mir ebenfalls eine Freude!«, rief sie ihm nach.

Sie folgte ihm mit Abstand, wartete, bis der Lift sich mit ihm in Bewegung gesetzt hatte, dann erst ging sie selbst zum Lift und drückte die Taste.

***

Schargll erreichte gegen Mittag seine Dienststelle und eilte die Stufen hoch zu seinem Büro. Im zweiten Stockwerk beim Kaffeeautomaten begegnete er seinen Kollegen Werner Werner, Kurt Schönarl und Hermann Reisinger, allesamt selbst Kommissare aus der Etage im ersten Stock.

»Jössas, das Großmaul«, sagte Werner, als er ihn bemerkte.

»Acha – Tick, Trick und Track aus Dumpfbackenhausen«, sagte Schargll sichtlich gut gelaunt.

»Was ist? Hams da die Opfa weggsprengt?«, ätzte Hermann.

»Ihr seid ja nur neidisch, weil Blaschek euch fürs Büroputzen und Aktenschlichten abgestellt hat«, gab Schargll zurück.

»Geh bitte! Was du konnst, kennen wir scho längst«, sagte Kurt.

»I sog eich wos, es Pfeifen. Ihr täts an Vabrecha net finden, selbst wenn man eich den auf´n Buckel schnoit, rot anfärbt und um Hüfe schrein lost.«

Darauf fingen alle vier an zu lachen. »Bist a Trottl«, ergänzte Werner.

»Passt scho, Werner. Übrigens, als letztens deine Alte dich rausgeschmissen hat und dir ›Werner, du Warze‹ nachgeschrien hat, hast auch nicht gewusst, obs dich da schon mit Nachnamen angesprochen hat.«

Die Kollegen kicherten und begrüßten Schargll freudig mit einem Handschlag.

»Wos gibt´s?«, fragte Kurt.

»Nicht viel, Leute. Hoffe, ich bekomme heute wenigstens die Erstanalysen der Spurensicherung. Und ihr?«

»Blaschek hat uns darauf hingewiesen, wenn du nicht weiterkommst, dass wir deinen Fall Mandl übernehmen«, sagte Hermann.

»Blödsinn! Warum soll er das tun?«, fragte Schargll.

»Er hat dich heute Morgen nicht erreicht. War sauer auf dich. Befürchtet, dast obezahst, wie imma«, sagte Kurt.

»Des is a Trottl«, sagte Schargll.

Seine Kollegen lachten wieder und ließen sich einen Espresso runter. Schargll fragte, ob sie seine Kollegin Krannbichl gesehen hätten. Hermann bejahte und sagte, dass sie seit einer Stunde in seinem Büro sei.

»Sehen wir uns heute beim Stadtwirten?«, fragte Werner.

»Du, keine Zeit, ich schaffe es heute nicht zum Kanastern«, winkte Schargll ab. Er ließ sich ebenfalls einen Kaffee runter, wechselte ein paar Worte mit den Kollegen und eilte in sein Büro.

Krannbichl saß bei ihrem Schreibtisch und telefonierte. Sie gab ihm ein Kopfnicken zum Gruß und setzte das Gespräch fort. Schargll breitete seine Unterlagen aus der Ledertasche aus und wartete, bis sie fertig gesprochen hatte.

»Wir haben morgen Vormittag um zehn eine Befragung bei den beiden Töchtern von Mandl«, sagte sie und legte ihm den Erstkurzbericht der Zeugenbefragung auf den Tisch.

»Na, das ging schnell. Was haben wir?«, fragte er.

»Nicht viel. Die Zeugenaussage der Nachbarin. Sie erzählte, dass Mandl große Schuldgefühle gegenüber ihren Töchtern hatte, immer ein Bild von den beiden vorm Schlafengehen einsteckte. Mit dem Schwiegersohn gab es viele Konflikte. Der Rest der Spurensicherung folgt noch.«

»Fein, Sie haben den Termin vereinbart«, stellte er lobend fest.

»Ich war vor ihnen hier, wo waren Sie die ganze Stunde?«

Krannbichl sah ihn ernsten Gesichtes an.

»Ich musste noch zum Baumarkt, Blumenerde besorgen.«, sagte er knapp.

»Ich dachte bei Ihrem Gemüht haben sie nur Plastikblumen in der Wohnung.«, sagte sie keck.

»Ruhe junge Kollegin!«, gab er zurück.

»Ich gehe jetzt, alter Kollege«, sagte sie schnippisch. »Muss mir einen Einbruch im Neunten ansehen.« Sie nahm ihre Tasche und spazierte aus dem Büro.

»Ja, alles Gute – und arbeiten Sie ein wenig an Ihrer miesen Laune«, gab Schargll zurück.

Krannbichl drehte sich in der Tür um, sah ihn sauer an und mahnte ihn, morgen ja pünktlich zu sein. Dann schloss sie heftig die Tür.

***

Das Einfamilienhaus, in dem die beiden Töchter von Frau Mandl wohnten, stand in der Rechenfeldsiedlung in Purkersdorf im westlichen Einzugsgebiet von Wien. In einem Hang gebaut, auf zwei Stockwerken mit ausgiebigen Erkern, thronte es über die Siedlung mit dem Blick weit hinunter zum Wienfluss.

Schargll schlug die Autotür zu, sah zum Gebäude hinauf. Bei zwei Fenstern bildeten sich zwei Gesichter. Seine Kollegin Krannbichl schloss ein Gespräch am Telefon ab und stellte sich zu ihm.

»Sie sagten, dass sie nur am Vormittag Zeit haben und danach in die Arbeit müssen«, sagte sie.

»Welchem Beruf gehen die beiden nach?« Er drückte die Klingel.

»Beim Spar, an der Kassa«, sagte sie.

»Na schau ma mal, was sie uns zu erzählen haben.«

»Und, haben Sie zur Sicherheit Ihre Stimmgabel dabei?«

Schargll öffnete mit einem gönnerhaften Lächeln einen Spalt breit seine linke Sakkoseite. Die beiden kugelförmigen Endungen blitzen hervor.

Krannbichl verdrehte die Augen. »Erzählen Sie endlich, was es mit dieser auf sich hat?«

»Wenn ich Ihnen das verrate, laufen Sie mir noch den Rang des besten Kommissars im Dezernat ab.« Scharglls weiße Zähne ließen sein Gesicht erstrahlen.

»Ich dachte, das habe ich schon«, sagte sie keck.

»Na wunderbar Kollegin, dann führen Sie diese Befragung durch.«

»Und was machen Sie?« Sie ärgerte sich über ihre Provokation.

»Ich beobachte, ob Sie alles richtig machen.«

»Was wird das hier, ein Trainingstag à la Schargll?«

»Nein, sondern vorlauter Mund à la Krannbichl.« Sein schelmisches Lächeln sagte ihr: selber schuld.

Der Kommissar sah sich das Haus an. Die Wandziegel im Erdgeschoss waren ausgebleicht, zeugten von langen Witterungseinflüssen. Das das Tor vor der Garage vom Rost zerfressen. Die Auffahrt beim Eingang bildete Wellen, als sinke der Boden unter ihnen ab.

»Wos woins do?«, fragte ein Mann in weißen Turnschuhen und einem blauen Jogginganzug. Mit geblähter Brust schritt er ihnen aus der Garage entgegen. Aus den dunklen Flecken im Knie- und Bauchbereich schloss der Kommissar, dass der Anzug den Laufsport nie erlebt hatte. Nach den Körpermaßen des Glatzkopfes zu urteilen, sein Träger ebenfalls nicht.

»Polizeikommissariat Alsergrund. Wir kommen zu Elisabeth und Miriam Steiner«, sagte Krannbichl.

»Na supa, des homa no braucht, damit die Gfrisa in der Nochbarschoft no deppat üba uns red´n.«

»Wir haben um zehn Uhr einen Termin vereinbart.« Krannbichl zog ihren Dienstausweis hervor.

Schargll schwieg, fischte seine Dienstmarke heraus. Der Mann kratzte seinen Dreitagebart, dann seinen Kopf. Erst jetzt fiel dem Kommissar auf, dass sein Gegenüber Narben im Gesicht trug.

»Poldi, mach keinen Zirkus, lass sie rein«, rief eine zierliche, zerbrechlich wirkende Blondine von der Haustür. Die beiden Ermittler betraten die Wohnung, wurden von ihr freundlich begrüßt und in die Stube geführt. Der Kommissar rümpfte die Nase. Der Wohnraum roch intensiv nach Katze und nassem Hund.

»Was wollen Sie von uns?«, fragte Miriam Steiner, pustete sich genervt die braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht und räumte eilig alle Kaffeetassen und Müslischüsseln vom Esstisch auf ein Serviertablett. Elisabeth Steiner bot den Ermittlern an, sich an den Tisch zu setzen.

Krannbichl sah den Kommissar an, der kurz nickte und sich ohne Worte auf einen freien Stuhl setzte.

»Wollen Sie einen Kaffee oder etwas anderes?«, fragte Elisabeth Steiner.

Die beiden Ermittler lehnten ab.

Nachdem Miriam Steiner das Tablett in die Küche gebracht hatte, setzte sie sich zu ihnen, sah den Kommissar strengen Blickes an und musterte dann Krannbichl. In ihren Augen schwang großes Misstrauen.

»Haben wir beide telefoniert?«, fragte Krannbichl.

Elisabeth Steiner fiel der Schwester ins Wort und erklärte Krannbichl, dass sie mit ihr telefoniert hatte. Sie gab Miriam Steiner einen Ruck und bat sie, noch einen Kaffee zu holen. Diese stand gleich auf und ging in die Küche.

»Wir sind heute hier wegen...« Krannbichl wurde von Elisabeth Steiner unterbrochen.

»Ich weiß, wegen Mutters Tod.«

»Die Alte ist tot. Was woins von uns?«, mischte sich der mit den weißen Turnschuhen ein und setzte sich neben den Kommissar.

»Sie wissen, wie Ihre Mutter verstorben ist. Wir haben ein paar Fragen dazu.« Krannbichl ignorierte seine Einmischung.

»Wir wissen nix und wollen auch nix wissen!«, rief Miriam Steiner aus der Küche. Sie kam mit einer Kaffeetasse raus und setzte sich dazu.

»Und der da, redet der imma so vü?« Der Mann, der sich immer noch nicht vorgestellt hatte, grinste den Kommissar an.

»So, das reicht, Poldi. Bitte geh wieder in die Garage. Ich brauch den Golf, damit ich in die Arbeit komm.«

»Es is eh nur a Zündkerz´n hi. I bleib do, vielleicht brauchts a Hüfe bei die zwa.«

»Naa, du gehst jetzt, reparier ihn endlich!« Elisabeth Steiner schlug auf den Tisch.

Poldi stand widerwillig auf und sah zornig den Kommissar und seine Kollegin an, doch als er Elisabeths strengen Blick erwischte, krümmte er den Nacken und verließ schnell den Raum.

»War das Ihr Hausmechaniker?«, fragte Schargll.

»Poldi ist mein Lebensgefährte«, sagte Miriam Steiner.

»Er ist kein Mechaniker mehr, kennt sich technisch aus. Seit er den Job beim Kaim vor drei Jahren verloren hat, wohnt er bei uns«, ergänzte ihre Schwester und verdrehte gelangweilt die Augen.

»Sei nicht so«, ärgerte sich Miriam. »Er hilft uns, wo er nur kann!«

»Is ja gut, bring ihm endlich Benehmen bei«, entgegnete Elisabeth Steiner.

»Wo sagten Sie, hat er gearbeitet?«, fragte Krannbichl nach.

»Bei der Firma Kaim in Heiligenstadt, ein Bauunternehmen.« Miriam Steiner nippte an ihrem Kaffee.

»Die kündigten ein Drittel des Personals wegen Auftragsmangel«, erklärte ihre Schwester. »Jetzt arbeitet er bei uns in der Garage.« Dabei lächelte sie süffisant.

»Ach, du bist unmöglich. Das Haus gehört zu einer Hälfte auch ihm«, protestierte Miriam.

»Ist ja gut, entspann dich wieder.«

Krannbichl fing mit der Befragung an und verwies die Töchter auf ihre Rechte. Beide erklärten sich mit der Befragung einverstanden und als der Kommissar aus seiner Tasche den Fingerabdruckscanner herausnahm, willigten sie zögerlich ein.

»Macht uns das zu Verdächtigten?«, fragte Elisabeth Steiner.

»Nein, aber es gab viele ungeklärte Fingerabdrücke am Tatort, die wir versuchen zuzuordnen«, sagte der Kommissar.

»Wann haben Sie Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen?«, fragte Krannbichl.

Die Braunhaarige stand auf, holte aus einer Lade einen Tischkalender heraus und fing an, darin zu blättern. Krannbichl zog die Augenbrauen hoch. Auf ihre Frage, ob sie mit der Mutter tatsächlich Termine vereinbart hatte, antwortete sie, dass sie sich nicht mehr so genau erinnern könne, aber in ihrem Turnusplan sicher alles vermerkt sei. Während sie sprach, stand sie wieder auf, um den Plan zu holen. Schargll trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Seine Kollegin vermutete, dass das ständige Aufspringen der Gesprächspartnerin ihn genauso nervös machte wie sie.

»Am Samstag, den sechzehnten Februar, waren wir um achtzehn Uhr bei meiner Mutter zuhause.« Miriam Steiner tippte auf einen eingekreisten Termin.

»Ihre Mutter ist am dreißigsten April verstorben. Sie haben sie zwischen dem sechzehnten Februar und dem dreißigsten April nicht mehr gesehen oder mit ihr gesprochen?«, fragte Krannbichl.

Beide Töchter sahen sich kurz an und bejahten dies. Auf die Frage des Kommissars zum Verhältnis zur Mutter fingen beide aufgeregt an durcheinanderzureden. Krannbichl ersuchte sie, sich zu beruhigen und ihnen alles in Ruhe zu erzählen.

»Wir vertrugen uns nicht mit unserem Stiefvater«, gab Elisabeth zu.

»Ja, Mutter hörte nicht auf uns. Hielt zu ihm, obwohl er ein Schwein war«, ergänzte die kleinere Braunhaarige.

Krannbichl musste mehrmals nachbohren, weil sich die Schwestern mit Emotionen gegenseitig überschlugen.

»Sie war ihm verfallen und hörig. Sie hörte nicht auf uns, als wir ihr erzählten, dass er oft, während sie in der Arbeit war, in unser Zimmer kam und uns berührte und bedrängte.« Miriam Steiner senkte die Augen.

»Genau, sie hat ihn nach dem Tod unseres Vaters kennengelernt und nur noch für ihn gelebt. In der Schule zeigten wir ihn damals an.« Elisabeth Steiner nahm die Hand ihrer Schwester.

»Hat er sie sexuell bedrängt?«, fragte Krannbichl.

Die beiden Frauen bekamen Tränen in den Augen. Sahen zu Boden und nickten mit gepressten Lippen. Krannbichl und der Kommissar wechselten betroffen die Blicke. Das Bild der beiden Mandl-Töchter, so wie sie dasaßen und sich gegenseitig Halt gaben, war herzerschütternd.

»Was hat die Polizei unternommen?«, fragte Krannbichl.

»Sie sagten, dass Peter in seiner Jugend sexuell straffällig gegenüber Minderjährigen geworden sei. Nachdem Mutter sich von ihm nicht trennen wollte, schaltete sich die Kinderfürsorge ein«, sagte Miriam Steiner.

»Wie alt waren Sie damals?«, fragte Krannbichl.

»Elisabeth war neun, ich war damals elf.«

»Was hat die Fürsorge gemacht?«, fragte Krannbichl.

»Wir kamen in ein Kinderheim nahe bei Horn. Dort lernte Miriam mit siebzehn den Poldi kennen. Er arbeitete in der angrenzenden Kfz-Werkstatt. Wir zogen beide danach hierher zu ihm.«

»Das bedeutet, Ihr Verhältnis zur Mutter war erschüttert?« Krannbichl sah aus dem Fenster.

»Wir haben sie gehasst! Sie hat nie etwas gegen seine dreckigen Finger unternommen«, zischte die Kleinere.

»Können Sie mir sagen, wo sie beide vor zwei Tagen, am 29. und 30. April, zwischen 23 und 4.15 Uhr waren?« Krannbichl beobachtete, wie die beiden aufgebrachter wurden.

Miriam Steiner stand auf und ging zum Fenster, schloss dieses, meinte, es ziehe. Die Schwester knetete ihre Handknöchel und dachte offensichtlich angestrengt nach. Miriam Steiner setzte sich wieder dazu und fing an, im Tischkalender zu blättern.

»Das war Montag und Dienstag«, stellte sie fest.

»Wir waren zuhause«, sagte Elisabeth Steiner. »Wir haben ja diese Woche Vormittagsdienst.«

»Was haben Sie an diesem Abend gemacht?«, fragte Krannbichl.

»Gar nichts. Ich machte für uns einen Schweinsbraten. Wir aßen, sahen uns um 22 Uhr Zip an und legten uns danach nieder«, erklärte Miriam Steiner.

»Können Sie uns das nachweisen, oder kann das jemand bestätigen?«, fragte Krannbichl.

»Nur Poldi, er war hier mit uns«, sagte Elisabeth.

»Warum waren Sie vorhin so aufgeregt?«

»Wir wurden über den Tod von Mutter am Dienstag informiert. Wir wissen, warum Sie das fragen. Werden wir beschuldigt?« Miriam Steiner wirkte unsicher.

»Nein, aber das müssen wir tun. Der Tod Ihrer Mutter wirft so große Fragen auf, dass wir in alle Richtungen ermitteln müssen«, sagte die Assistentin.

»Wir sind vorerst fertig hier.« Schargll, der bislang nur beobachtet hatte, lehnte sich vor. »Dürfen wir Sie wieder kontaktieren, wenn wir noch weitere Fragen haben?«

Die beiden Schwestern nickten.

»Wie heißt Ihr Lebengefährte?«, fragte Krannbichl an Miriam Steiner gewandt.

»Leopold Kirchner, wir sind seit fünf Jahren verlobt.«

»Wie, und noch nicht verheiratet?«

»Wir haben kein Geld zum Heiraten, sparen noch.« Miriam Steiner zog schüchtern die Schultern hoch.

Der Kommissar und seine Kollegin verabschiedeten sich von den beiden.

Vor der Garage trafen sie auf Poldi.

»Na, hobst ollas aus den beiden rausgequetscht?« Er grinste.

»Benehmen Sie sich«, ermahnte Schargll.

»Wos wüsst vo mir. Solche wie di hob i scho gfress´n!«, gab Poldi zurück.

»So wiest aussiehst, waren das sicher viele.« Schargll musterte Kirchner von oben bis unten. Der lachte laut auf. Doch als der Kommissar ihn ebenfalls zu Elfriede Mandl und den Tatzeiten befragte, seine Fingerabdrücke forderte, wurde er kleinlaut und zahm.

»Des mochma in da Garag, sonnst hob i ka Ruah mehr von den Nochbarn.« Er winkte Schargll hinein.

Auf der Werkbank, die an der hinteren Wand stand, nahm der Kommissar Kirchners Fingerabdrücke ab.

Die Kollegin blieb in der Zwischenzeit draußen vor der Garage.

»Habt ihr Haustiere hier?«, fragte der Kommissar.

»Naa, wö mei Schatzi auf Hundehaare allergisch is.«

Poldi bestätigte, dass sie alle drei an besagtem Montag zuhause gewesen seien. Sogar, wie gut ihm der Braten mit den Semmelknödeln und dem grünen Salat geschmeckt hatte. Auf die Frage, wann er Elfriede Mandl das letzte Mal gesehen habe, dachte er lange nach und antwortete: »Des is scho ewig her.« Wann genau das war, wusste er nicht mehr.

Krannbichl sah, wie ihr Kollege mit Poldi in ihre Richtung kam. Ihr Blick schweifte durch die Garage. Sie bemerkte ein großes Durcheinander. Der Golf stand über einer Grube, Karosserieteile von anderen Fahrzeugen und