A Monsoon Rising - Thea Guanzon - E-Book

A Monsoon Rising E-Book

Thea Guanzon

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Beschreibung

ZWEI HERZEN BEGEGNEN EINANDER IM AUGE DES STURMS

Die Heirat zwischen Talasyn und Alaric sollte den Krieg beenden, der ihr Leben geprägt hat. Doch friedlich ist nichts zwischen ihnen. Denn während Talasyn ihre Rolle als neue Kaiserin von Kesath spielt, planen ihre Verbündeten den Sturz von Alarics Herrschaft. Aber auch wenn sie weiß, dass das Nachtimperium noch immer eine Gefahr darstellt - je mehr Zeit Talasyn mit Alaric verbringt, desto schwerer fällt es ihr, die Gefühle zurückzudrängen, die zwischen ihnen brodeln. Ohne Alaric kann sie den Kataklymus nicht abwenden, der ihrer beider Reiche zerstören würde. Ihm zu vertrauen hieße jedoch, das Schicksal all der Menschen, an deren Seite sie jahrelang gekämpft hat, in seine Hände zu legen.

»Ich brauche den nächsten Band. Jetzt. Sofort! Die romantische Spannung und der Schlagabtausch zwischen Alaric und Talasyn sind nicht von dieser Welt.« ABIGAIL BOOKS ADDICTION

Teil 2 der HURRICANE-WARS-Trilogie

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Seitenzahl: 546

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Teil II

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Teil III

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Thea Guanzon bei LYX

Impressum

Thea Guanzon

A Monsoon Rising

Roman

Ins Deutsche übertragen von Sabrina Železný

ZU DIESEM BUCH

Die politische Heirat zwischen Talasyn und Alaric sollte den Krieg beenden, der ihr Leben geprägt hat. Friedlich ist jedoch nichts zwischen ihnen. Während Talasyn ihre Rolle als neue Kaiserin von Kesath spielt, planen ihre Verbündeten den Sturz von Alarics Herrschaft. Und auch wenn sie nichts von den finsteren Plänen ahnt, die Alarics Vater im Verborgenen schmiedet, so weiß Talasyn doch, dass das Nachtimperium noch immer eine Gefahr darstellt. Aber all das wäre bedeutungslos, sollte es Alaric und ihr nicht gelingen, ihre Magie zu vereinen und den Kataklymus abzuwenden, der ihrer beider Reiche gleichermaßen zerstören würde. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto schwerer fällt es Talasyn, die Gefühle zurückzudrängen, die zwischen ihnen brodeln. Mehr und mehr sieht sie den Menschen hinter der düsteren Maske des jungen Nachtkaisers, begreift, welche Qualen ihn zu dem gemacht haben, der er ist. Was wenn ihre Verbindung wirklich Frieden bringen könnte, wenn sie ihrem Herzen folgen würde? Aber Alaric zu vertrauen hieße, das Schicksal all der Menschen, an deren Seite sie jahrelang gekämpft hat, in seine Hände zu legen.

Für alle, die – honk! honk! – die Bibliothek lieben.

1. KAPITEL

Eine Brise, die von der Schneeschmelze im Hochland kündete, strich über die kargen Ebenen und pfiff durch das einsame Fenster in der privaten Halle des Regenten. Sie fuhr mitten in die wirbelnden Schwaden aus Schattenmagie, die von Stein zu Stein schwebten und sie schließlich verschlangen, wie sie es auch mit dem Tageslicht taten.

Überall, außer in einer hellen Ecke, wo der Sariman gebadet in Sonnenlicht lag und von lederbewehrten Händen auf den Tisch gepresst wurde.

Der Vogel zappelte wild im Griff seiner drei Häscher, und ein wehmütiges Trillern drang aus dem schiefenGoldschnabel. Seine Augen wurden rund wie Kupfermünzen, als sich ein vierter Verzauberer näherte, der eine gläserne Spritze in der Hand hielt. Die hohle Stahlnadel glänzte kalt in der Dunkelheit, als der Verzauberer das Annullierungsfeldbetrat.

Gaheris’ Verzauberer sahen noch verzweifelter aus als der Sariman. Es war nicht so einfach, wenn man die eigene Magie versiegen spürte, wenn plötzlich eine Lücke dort klaffte, wo sonst der Aether war.

Selbst von seinem Posten in sicherer Entfernung aus prickelte die Erinnerung an dieses Gefühl mit solcher Heftigkeit in Alarics Adern, dass seine Finger in den Panzerhandschuhen zuckten und gegen den Drang kämpften, das Schattentor aufzustoßen – nur um zu sehen, ob er es noch vermochte.

»Das verfluchte Biest singt den ganzen Tag.« Vom dolchförmigen Thron her durchschnitt ein Knurren das melodiöse Wehklagen des Sarimans. »Wenn du in deiner Zeit in Nenavar schon nicht herausbekommen hast, wie sich seine Eigenschaften nutzen lassen – hast du dann wenigstens gelernt, wie man dieses Ding zum Schweigen bringt?«

Alaric dachte an die Verstärkungsvorrichtung,jenen Kreis aus Drähten und Metallglasgefäßen auf den Fliesen des Himmelsdachs. An die geschmolzenen Kerne rubinroten Bluts in saphirblauer Regenmagie.

Er schüttelte den Kopf.

»Was frage ich überhaupt.« Die bittere Enttäuschung auf Gaheris’ faltigen, vernarbten Zügen war überdeutlich. »Du bist nach Südosten gesegelt und hast nichts herausgefunden. Was kannst du eigentlich, Kaiser?«

Das Lied des Sarimans wurde schriller, als die Nadel sich in seine Halsader bohrte. Es klang wie eine Handvoll eiserner Nägel, die über Porzellan kratzten, siebenfach verstärkt, und grub sich wie Krallen in Alarics Innerstes. Aber er durfte sich das nicht anmerken lassen. Nicht vor Gaheris.

Der Regent sah aus, als sei er um zehn Jahre gealtert in den zehn Tagen, seit Kesaths kaiserliche Delegation aus Nenavar heimgekehrt war und Kommodore Mathire ihm diesen Vogel überreicht hatte. Er war dünner und verhärmter, dunkle Ringe auf der verwitterten Haut unter den grauen Augen, die Alarics so sehr ähnelten.

»Vater, wenn das Vogelzwitschern Euch wachhält«, wagte Alaric vorzuschlagen – wohl wissend, dass Gaheris den Sariman überallhin mitnahm –, »kann er doch vielleicht in diesem Saalbleiben, wenn Ihr Euch zur Nacht zurückzieht.«

»Damit jedes geschwätzige Küchenmädchen und selbst noch der begriffsstutzigste Stallbursche in der Zitadelle über den unschätzbaren Vorteil schwadronieren kann, den wir jetzt haben?« Gaheris schlug auf die Armlehne seines Throns, und die Schattenranken um ihn her flackerten höher, angetrieben von seinem Zorn – von seiner Paranoia. »Du redest Unsinn über meine Gesundheit, während wir eigentlich über deine Frau sprechen sollten.«

Vom Ausbruch des Regenten verängstigt beeilten sich die Verzauberer, den Rest ihrer Aufgabe zu erledigen. Sie füllten das Sarimanblut aus der Spritze in eine Phiole, die sie zukorkten; sie desinfizierten die Einstichstelle mit Kräutern und setzten das Tier zurück in seinen verzierten Messingkäfig. Sie verneigten sich erst vor Gaheris, dann vor Alaric, bevor sie fluchtartig aus dem Raum eilten. Das Schattentor schnappte nach ihren Fersen.

»Hör auf mich,mein Sohn«, grollte Gaheris, sobald er und Alaric allein waren. »Nach der mondlosen Dunkelheit wird die Magie der Lichtweberin ihren Zweck erfüllt haben. Ebenso wird es keinen Grund mehr geben, diesen Scheinfrieden mit Nenavar aufrechtzuerhalten. Wir müssen schnell zuschlagen, um diese Inseln dem Nachtimperium einzuverleiben. Wenn du und deine Frau also erst einmal den Leerenriss aufgehalten habt, wirst du sie hierherbringen – vorgeblich, weil ja in eurem Ehevertrag festgehalten ist, dass sie von Zeit zu Zeit in der Zitadelle Hof halten muss.«

»Und wenn Ihr bis dahin keinen Weg gefunden habt, ihr ihre Magie zu nehmen?«

»Dann gibt es immer noch den Sariman, um sie in Schach zu halten.«

»Ihr wollt sie als Geisel nehmen«, sagte Alaric dumpf.

»Die Nenavarener werden gefügiger sein, wenn ihre Lachis’ka in unserer Gewalt ist, meinst du nicht?« Gaheris lächelte – verzog humorlos die pergamentdünnen Lippen. »Und wenn nicht, nun ja, dann erinnern wir sie daran, wie es ihren Drachen gegen unsere Leerenkanonen ergangen ist.«

Grausige Bilder schossen Alaric durch den Kopf: Talasyn, der man das Lichtgespinst entrissen hatte. Drachen, die aus dem Himmel stürzten und als verrottende Leichen in den Tiefen des Immermeers versanken. Schatten, der über das Dominium fiel. Kesathische Sturmschiffe, die eine stolze, jahrtausendealte Zivilisation dem Erdboden gleichmachten – so, wie sie es mit all den Staaten Sardovias getan hatten.

»Wir haben einen Drachen verletzt, und es gibt noch Hunderte weitere.« Alaric zwang sich, die Worte auszusprechen, trotz des Gallegeschmacks in seinem Mund. »Ich bin mir nicht sicher, ob unser Vorrat an Leerenmacht in der Lage ist –«

»Überlass das mir und meinen Verzauberern«, fuhr Gaheris ihn an. »Wenn wir alles für diesen Angriff aufwenden, gibt es immer noch mehr zu holen – zusammen mit frischen Aetherkristallen und Nenavars übrigen Reichtümern. Deine einzige Aufgabe, Kaiser, besteht darin, deine Frau hierherzubringen.« Er hielt inne und verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Mach dir keine Sorgen. Sie ist uns lebendig nützlicher als tot, vor allem sobald ich ihre Anwesenheit besser ertrage, weil sie keine Lichtweberin mehr ist. Ich werde sie nicht töten.« Der nächste Satz triefte nur so vor Hohn: »Das würde ich dir nicht antun.«

»Ihr wart derjenige, der auf diese Ehe bestanden hat«, erwiderte Alaric und achtete darauf, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen. Nicht die kleinste Spur eines Zögerns. »Sie bedeutet mir nichts.«

»Das will ich auch hoffen«, sagte Gaheris trocken. »Sie ist auf dem Kontinent aufgewachsen. Sie hat für Sardovia gekämpft. Da besteht ein tiefes Band – und du kannst ihr nicht trauen.«

Alaric hatte das immer gewusst. Doch es seinen Vater aussprechen zu hören zerrte an etwas in seinem Brustkorb. Er schwieg und ertrug den Schmerz.

»Wenn sie in einigen Tagen für ihre Krönung hier eintrifft«, fuhr Gaheris fort, »halte sie hinter Schloss und Riegel. Wir können es nicht gebrauchen, dass sie hier herumläuft und von den jüngsten Unruhen erfährt. Weise die Generäle an, kein Wort darüber zu verlieren, weil andernfalls ihre Zungen ans Stadttor genagelt werden.«

Die »jüngsten Unruhen«, wie Gaheris sie nannte, war eine Reihe von Aufständen, die sich in verschiedenen Städten auf vormaligem Allbundterritorium ereignet hatten. Der Regent war damit beschäftigt gewesen, diese niederzuschlagen, während Alaric sich in Nenavar aufgehalten hatte. Die Abwesenheit seines Sohns hatte zweifelsohne zu Gaheris’ Verärgerung beigetragen. Immerhin waren es nur lokale Aufstände gewesen – zu klein und zu verstreut, um wirklich Auswirkungen zu haben.

»Die Lichtweberin wird es nicht riskieren, wegen ein paar Widerstandskämpfern den Frieden zu brechen«, protestierte Alaric. »Sie weiß, was auf dem Spiel steht.«

Der Leerenriss würde sich in weniger als vier Monaten entladen:amethystfarbenes Brüllen bis in den letzten Winkel von Lir. Eine Verschmelzung von Licht und Schatten war der einzige Weg, das zu verhindern. Talasyn hatte versprochen, zu kooperieren. Sie würde nicht …

»Du sagtest mir einmal«, meinte Gaheris, »es sei nicht ratsam, die Zukunft vom Herzen einer Frau abhängig zu machen – und ebenso wenig werde ich auf etwas so Kapriziöses setzen, wenn es um die Sicherheit unseres Volkes geht.«

Alaric sog die Luft ein, und Gaheris sackte eine Winzigkeit zusammen, als laste nun das Gewicht seiner Behauptung auf ihm. Als spanne sich in diesen Augenblicken ein Band zwischen ihnen, straff gezogen durch die vergangenen Jahre: Vater und Sohn, verknotet.

»Erinnere dich an deine Mutter«, murmelte Gaheris. »Erinnere dich, wie sie uns verließ, als die harte Arbeit begann. Als das, was sie wollte, nicht mehr zu dem passte, was Kesath zum Überleben brauchte.«

Ich werde weiterhin mit dir arbeiten, hatte Talasyn mit lodernden Augen auf jenem Dach gesagt. Aber du wirst mich nie davon überzeugen können, dass das Nachtimperium Sardovia vor sich selbst gerettet hat. … Was für eine bessere Welt du auch aufzubauen glaubst – sie wird immer auf Blut begründet sein.

»Ja«, sagte Alaric heiser. »Ich erinnere mich.«

»Gut. Die Legion soll deine Frau bei diesem anstehenden Besuch nicht einen Moment lang aus den Augen lassen«, warnte Gaheris. »Sie wird die Widerstandskämpfer unterstützen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommt. Dessen bin ich mir sicher.«

Der Beginn der Regenzeit kündigte sich auf den felsigen Schultern des Beliangebirges an – den ewigen Bergen des Nenavar-Dominiums. Eisengraue Wolken, schwer von verheißenem Regen, hingen über dem tiefgrünen Dschungel der Bergflanken.

Vom höchsten der stolzen Gipfel aber schoss eine kolossale Säule aus goldenem Licht in die Höhe, durchbrach den Aschehimmel und füllte die neblige Luft ringsum meilenweit mit einer donnernden Hymne wie gläsernem Glockenschlag.

Im Herzen der Säule – inmitten von goldenem Licht und pulsierender Macht – stand eine Frau. Das strahlende Leuchten verzerrte ihre Gesichtszüge, aber zwei Einzelheiten waren klar hervorgehoben: die Perlen aus gebranntem Ton auf ihrer glatten Stirn und das weinende Kind in bestickten Gewändern, das sie auf dem Arm hielt.

Die Magie blitzte auf und fokussierte sich dann, zeigte Gebäude, Leitern, Brücken – allesamt aus rissigem, ockerfarbenem Lehm. Alles bündelte sich zusammen zum Bild einer ausgedörrten Stadt, dicht gedrängt in die Höhe gebaut, die über der Großen Steppe voller Langgras und Kaninchenstrauch aufragte.

Die Frau schritt einen Lehmziegelpfad hinunter, schlüpfte unbemerkt durch apathische Menschenmengen und hielt das Kind fest an ihrer Brust. Sie hielt vor einem Gebäude an, das ebenso trostlos und rostfarben aussah wie die anderen, und setzte ihre zappelnde Last auf den Eingangsstufen ab. »Alles wird gut«, flüsterte sie und streichelte dem Kind über den Hinterkopf. »Du musst stark sein, Alunsina.«

Talasyn beugte sich vor, um einen genaueren Blick auf das Gesicht der Frau zu erhaschen, doch diese Szene war aus Aether und Erinnerung gewoben. Sie erlosch, als das Lichtgespinst es tat, und Talasyn stolperte rückwärts aus dem Sandsteinbrunnen hinaus, nicht länger umtost von den Magiewellen ihres Nexuspunkts. Sie landete mit dem Hintern voran auf dem felsigen Boden und fluchte wüst, als Schmerz durch ihre Hüften und Wirbelsäule zuckte. Ein Fluchen, dem rasch das Zucken eines Blitzes folgte, der die knorrigen Kronen der Großvaterbäumein fahles Licht tauchte, ein Donnergrollen und schließlich Regen.

Mit einem Stöhnen kam sie auf die Füße. Regentropfenprasselten auf ihr geflochtenes Haar und flossen ihr in die Augen, während sie noch versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was sie gesehen hatte. Was der Aetherraum ihr gezeigt hatte.

Das war der Tag gewesen, an dem sie im Waisenhaus der Stampflehmstadt Schildschnabels Haupt ausgesetzt worden war. Jene Frau … Die Perlen wiesen sie als eine Dienerin des nenavarenischen Hofs aus. Ihre Worte hatte Talasyn schon zuvor einmal im Traum gehört, im hohlen Inneren eines Großvaterbaums.

Indusa, erinnerte sich Talasyn. Das war der Name der Kinderfrau, die damit betraut gewesen war, sie zu den Inseln der Dämmerung begleiten. Dort hätten sie das Ende des nenavarenischen Bürgerkriegs abwarten sollen – in Sicherheit beim Volk von Talasyns Mutter.

Doch stattdessen hatte Indusa Talasyn genau in die entgegengesetzte Richtung gebracht: nach Nordwesten, auf den Kontinent, in den ärmsten Staat des sardovischen Allbunds.

Warum? Waren sie vom Weg abgekommen? Man hatte Talasyn gesagt, dass auch zwei königliche Wachen an Bord des Luftschiffs gewesen waren, das sie aus der Hauptstadt des Dominiums gebracht hatte, während tief unter ihnen der Bürgerkrieg tobte. Wo waren die in dieser Erinnerung gewesen? Und warum hatte Indusa die Thronerbin an einem so trostlosen Ort zurückgelassen?

Talasyn starrte den leeren Brunnen in der Mitte des überwucherten Innenhofs im Belianschrein düster an, wollte den Lichtriss noch einmal aus den Drachenkopfspeiernfließen lassen. Sie wollte dieser neuen Spur unbedingt nachgehen – diesem Faden in dem rätselhaften Wandteppich ihrer Vergangenheit. Doch der Brunnen blieb still, abgesehen vom Trommeln der Regentropfen, die seinen Stein dunkler färbten.

Nachdem Alarics Flotte nicht länger am Himmel über dem Dominium zu sehen gewesen war, hatte Talasyn nur ein paar Tage gewartet, bevor sie sich auf den Weg zum Lichtweberschrein gemacht hatte. Sie schwelgte in der neu gewonnen Freiheit – erkämpft dadurch, dass sie Urduja die Stirn geboten hatte.

Seit fast einer Woche lagerte Talasyn hier, übte Aethermantie, erkundete die Umgebung und schickte die besorgten Botenadler ihres Vaters nach Eskaya zurück. Dies war die erste Entladung des Nexuspunkts seit ihrer Ankunft gewesen. Es schien unwahrscheinlich, dass es eine weitere geben würde, bevor Talasyn aufbrechen musste, und das war frustrierend.

Zumindest hatte der Lichtriss ihr etwas Nützliches gezeigt – anstatt all jener Erinnerungen, die sie vergeblich aus ihren wachen Gedanken zu verbannen suchte. Es waren verschwommene Bilder und geisterhafteEmpfindungen aus ihrer Hochzeitsnacht: hungrige Lippen auf ihrer bloßen Haut, Kleidung, die zur Seite geschoben wurde; seine gerötete Haut, die sonst so bleich war; eine heisere Stimme in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers, starke Hände, die sie höher drängten, die sie näher zogen …

Hinter ihr knackte ein Zweig.

Sie wirbelte herum.

Vor Monaten war etwas Ähnliches hier passiert – jemand hatte sich im Schutz der einbrechenden Dunkelheit an sie herangeschlichen, während sie auf den Brunnen gestarrt hatte. In blinder Wut hatte sie sich auf Alaric gestürzt. Sie hatten gekämpft, Licht gegen Schatten, und seine silbernen Augen hatten mit Aetherfunken geglommen.

Aber der Nachtkaiser war in Kesath. Der Mann, der sie jetzt aus respektvoller Entfernung musterte, war Yanme Rapat, der Patrouillenoffizier, der sie und Alaric bei jenem ersten Betreten dieser Ruinen festgenommen hatte. Es fühlte sich an, als sei das ein ganzes Leben her.

Rapat salutierte. Regentropfen sammelten sich auf den vergoldeten Lotusblüten auf seinem Messingplattenbrustpanzer. »Euer Gnaden.« Er zögerte und korrigierte sich: »Eure Majestät.«

Talasyns Haut kribbelte, aber sie winkte angesichts seiner unausgesprochenen Entschuldigung ab. »Ich war die Lachis’ka, ehe ich die Nachtkaiserin wurde.« War sie überhaupt schon die Nachtkaiserin? Streng genommen musste sie ihr Ehemann ja zuerst krönen, oder nicht?

Ihr Ehemann. Götter. Ausgerechnet so von Alaric Ossinast zu denken …

»Und bevor Ihr irgendetwas davon wart, wart Ihr meine Gefangene.« Der Kaptan klang reumütig. »Es tut mir wirklich –«

»Ihr habt Eure Pflicht getan«, beeilte sich Talasyn zu versichern. Letztlich hatte sie diesem Mann die Wiedervereinigung mit ihrer Familie zu verdanken. »Aber was tut Ihr hier?« Ein Verdacht keimte in ihr auf, zusammen mit dem gleichen alten Groll, den sie Urduja gegenüber dafür hegte, nie richtig in Ruhe gelassen zu werden. »Hat meine Großmutter Euch geschickt?«

»Heute nicht.« Rapat wies vage in Richtung des Sandsteinbrunnens. »Eure Mutter, Lady Hanan, hat diesen Ort oft besucht, Lachis’ka. Manchmal komme ich her, um mich zu erinnern … und zu trauern.«

Zwar ärgerte sich Talasyn ein wenig, vorschnell unschmeichelhafte Schlüsse über seine Beweggründe gezogen zu haben, doch das wurde schnell von der Aufregung verdrängt, die durch ihre Adern pulsierte. »Kanntet Ihr meine Mutter gut? Wart Ihr befreundet?«

»Ihre verstorbene Hoheit war in Eskaya sehr einsam«, sagte Rapat. »Sie hasste die Politik und besaß keine Geduld für … all die Formalitäten und Eiertänze. Ich war einer ihrer wenigen Vertrauten.«

Talasyn hing förmlich an Rapats Lippen. Am Hof ihrer Großmutter auf dem Himmelsdach schien bereits der Name von Hanan Ivralis ein Tabu zu sein. Wann immer Talasyn versuchte, das Gespräch auf die Vergangenheit zu lenken, wechselten Adelige das Thema, und Bedienstete rannten weg. Mit Elagbi darüber zu sprechen kam ebenso wenig infrage – ihr Vater war vom Bürgerkrieg und dem Tod seiner Frau gezeichnet. Schon die bloße Erwähnung eines dieser Themen ließ deutlichen Schmerz in seine freundlichen Augen treten, und Talasyn wollte ihn nicht quälen. Nicht, nachdem sie einander gerade erst wiedergefunden hatten.

Vielleicht konnte Rapat ihr endlich die Zusammenhänge liefern, die sie suchte. Dennoch war sie weiterhin verwirrt. »Wart Ihr also oft bei Hof, Kaptan?«

Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, fiel ihr etwas ein, das ihr Elagbi während ihres damaligen Gesprächs im Verhörzimmer der Garnison erzählt hatte: Yanme Rapat ist ein guter Mann. Ein ausgezeichneter Soldat, auch wenn ihn seine Degradierung vor neunzehn Jahren immer noch schmerzt.

Rapat lächelte dünn und fuhr sich mit der Hand durch das kurz rasierte Haar. »Ich bin nun der Kaptan der Grenzregimenter. Ich war der befehlshabende Huktera-General von Eskayas Verteidigungsstreitkräften. Es war meine Aufgabe, ein Fußfassen von Sintan Silims Rebellen in der Hauptstadt zu verhindern, und ich habe versagt.«

Talasyn runzelte die Stirn. »Aber die Rebellen wurden letztendlich doch besiegt, oder nicht?«

»Das ist der Verdienst Eures Vaters, nicht meiner«, sagte Rapat. »Ich machte viele taktische Fehler, die dazu führten, dass die Zahiya-lachis evakuiert werden musste … und Ihr. Meine Unzulänglichkeiten sind der Grund dafür, dass Ihr so lange verschollen wart. Ich kann nur dankbar sein, dass Königin Urduja Gnade hat walten lassen.«

Da war etwas Hohles in seinen letzten Worten – etwas nicht ganz Ehrliches in seinem Blick. Nicht verräterisch, aber bitter. Talasyn konnte es ihm nicht verübeln, und nicht nur, weil ihre eigene Beziehung zu ihrer Großmutter seit der Konfrontation am Tag nach Talasyns Hochzeit angespannt war. Es ist schlecht, durch Furcht zu herrschen, dachte sie. Es ist schlecht, jene zu bestrafen, die dir gegenüber loyal sind.

»Aber ich störe Euch nur«, sagte Rapat. »Ich lasse Euch besser allein.«

»Nein, wartet –«

Talasyn wollte ihm noch so viele Fragen stellen. Über Hanan, darüber, wie Hanan durch ihren Schwager – Sintan – manipuliert worden war, Kriegsschiffe zum nordwestlichen Kontinent zu senden.

Doch Rapat schien sich nun vollauf bewusst zu sein, dass er zu viel preisgegeben hatte. »Ich bestehe darauf, Euer Gnaden«, sagte er. »Ihr seid Lady Hanans Tochter. Ihr seid weit mehr berechtigt als ich, Euch hier aufzuhalten.«

Er salutierte noch einmal, und Talasyn hatte einen Kloß im Hals, als sie ihn weggehen sah. Die Großvaterbäume wiegten sich in der feuchten Brise.

Aber kurz bevor Rapat in einem der höhlenartigen, verfallenen Korridore verschwand, die den Innenhof umgaben, blieb er noch einmal stehen, seine Haltung wirkte angespannt. Er warf Talasyn einen ernsten, beinahe durchdringenden Blick zu. »Lachis’ka.« Rapat sprach leise, doch seine Worte hallten zwischen Stein und Blättern und lauernder Magie wider, ein ernster Unterton zwischen Regentropfen und gelegentlichem Donnergrollen. »Ich habe dem Drachenthron mein Leben, meinen Dienst und meine Treue geschworen, aber ich wäre Lady Hanan kein wahrer Freund, wenn ich Euch nicht sagte, dass sie und Königin Urduja wenig füreinander übrig hatten. Die Zahiya-lachis war äußerst ungehalten angesichts Lady Hanans Weigerung, sich zu ihrer Erbin ernennen zu lassen – und Lady Hanan wiederum wollte nicht, dass Ihr diesen Titel erhaltet, bevor Ihr alt genug seid, selbst zu entscheiden. Also … macht daraus, was Ihr wollt.«

Es kribbelte in Talasyns Nacken. Rapats Worte klangen wie eine Warnung, und ihr lagen bereits neue Fragen auf der Zunge. Doch bevor sie auch nur eine davon aussprechen konnte, war er schon fort.

Als sie sich umwandte, um ihr Lager abzubrechen, verschwamm die Welt plötzlich vor ihren Augen. Die Belianruinen verschmolzen zu ….

Tiefblauem Wasser, das in der Tiefe dahinglitt – wie aus dem Flug betrachtet. Eine Hand, knorrig vom Alter, die sich an einen zerklüfteten, schneebedeckten Grat klammert …

Donner grollte am Himmel, und Talasyn zuckte zusammen. Die Bilder verblassten, und der steinerne Innenhofwar wieder in aller Klarheit zurück.

Was war das gewesen?

Es war nicht das erste Mal, dass sie Visionen hatte. Während ihrer Zeit als Pilotin im sardovischen Regiment hatten solche Visionen ihr die nenavarenischen Drachen und Urdujas Krone gezeigt, lange bevor sie diese als Erwachsene erstmals mit eigenen Augen gesehen hatte. Noch ehe sie erfahren hatte, wer sie wirklich war, hatte sie bereits von Eskaya geträumt, von Indusa und von ihrer Mutter, die ihr Lebewohl sagte.

Sie hatte damals nicht gewusst, was diese flüchtigen Eindrücke bedeuteten – und ebenso wenig wusste sie jetzt, was es mit diesen neuen Visionen auf sich hatte.

Talasyn blickte auf den leeren Brunnen. Sie fühlte sich hilflos und verwirrt. Am liebsten wäre sie hiergeblieben, bis der Lichtriss erneut erwachte und sie weitere Antworten finden konnte.

Aber wenn sie nicht jetzt aufbrach, würde sie zu spät zu ihrem Treffen kommen.

2. KAPITEL

Die Übungshalle hallte wider vom schrillen Kreischen des Schattentors, aus dem Aether beschworen in Form von Klauen – jenen kleinen, gekrümmten Messern, die Raubvogelkrallen ähnelten und im Nahkampf oft der letzte Trumpf eines kesathischen Soldaten waren, wenn die Armbrustbolzen ausgegangen, Schwerter und Speere beiseitegeschlagen waren. Mit einer Klaue in jeder Hand drangen Alaric und Sevraim in der Mitte des Raums aufeinander ein, stießen zu und parierten, während sie die Augen stets nach Schwachstellen in der gegnerischen Verteidigung offen hielten.

Alaric fand die Übungskämpfe mit Sevraim meist recht vorhersehbar – sie waren es schon in Kindertagen gewesen. Heute aber hatte sich der schlaksige Legionär mit der mahagonifarbenen Haut eine neue Taktik überlegt, um Alaric aus der Fassung zu bringen: Er ließ sich über Alarics Frau aus.

»Ihr seid langsam geworden, Eure Majestät«, keuchte Sevraim, als er sich unter einem von Alarics Streichen wegduckte. »Hat die Ehe etwa die tödliche Schärfe des Nachtkaisers abgestumpft?«

Alaric verdrehte die Augen. Sein Fußtritt traf Sevraim in den Bauch und ließ diesen zu Boden gehen. Sevraim landete mit einem Grunzen auf dem Rücken und schleuderte eines seiner Messer nach Alaric, der dem tintenschwarzen Geschoss mühelos auswich.

Dann ging Alaric auf seinen gefällten Gegner zu und ließ seine eigenen Schattenklauen lässig zwischen seinen Panzerhandschuhen hin und her schnellen. Sevraim lag ausgestreckt auf dem Boden, scheinbar ahnungslos, welches Verderben ihm in unmittelbarer Zukunft blühte, und grinste stattdessen respektlos. »Vermisst Ihr vielleicht Eure hübsche Braut?«, schlug er vor. »Zählt Ihr die Minuten bis zu Eurem Wiedersehen? Nicht, dass ich’s Euch verübeln könnte. Ein sehr faszinierendes Mädchen, diese Talasyn. Oder sollte ich sagen Alunsina Ivralis? Ich verstehe schon, warum Ihr –«

Alaric stürzte sich mordlüstern auf ihn. Doch Sevraim sprang blitzschnell auf die Füße, blockte den Schlag mit der ihm verbliebenen Klaue ab und beschwor in seiner freien Hand zugleich eine neue, die er Alaric zwischen die Rippen zu treiben versuchte. Aber der hatte das erwartet und wirbelte herum, nahm Sevraim in den Schwitzkasten und presste ihm ein aus Schatten gesponnenes Messer an die Kehle.

Sevraim war unbeeindruckt. »Werden Eure Kinder Schattengeschmiedete oder Lichtweber sein, was meint Ihr?«, fragte er leichthin.»Mir wird ganz warm um mein kaltes, kaltes Herz, wenn ich mir vorstelle, wie ein winziges Prinzlein Licht in diese düsteren Hallen bringt. Dann wiederum könnte das erste Kind ja auch eine Tochter sein, also werdet Ihr weiter versuchen müssen –« Er brach ab, als Alaric ihm die sichelförmige Klinge der Schattenklaue wortlos fester an die Kehle presste. »Na gut, ich ergebe mich!«, rief Sevraim, und seine Schultern bebten vor lautlosem Gelächter. Die schwarzen Messer in seinen Händen zerstoben zu Rauchschwaden, als er Alarics Arme zur Seite schlug. »So viel zu meiner neuen Ablenkungstechnik.«

»Ich würde das wohl kaum als Technik bezeichnen.« Alaric ließ seine eigenen Waffen verschwinden und ging zur Stirnseite der Halle. Er nahm einen Baumwolllappen aus einem Regal, tauchte ihn in eine Tonne mit Regenwasser und wischte sich dann damit den Schweiß von der Stirn.

Sevraim schloss rasch zu ihm auf. »Nun, Ihr könnt mir nicht vorwerfen, dass ich Euch aus dem Tritt bringen möchte. Ihr seid mies drauf,seit wir wieder hier sind. Sogar noch mieser als sonst.« Er verzichtete gänzlich auf den Lappen und tauchte stattdessen gleich den Kopf in die Tonne.

Eine Ader an Alarics Schläfe zuckte. Nicht nur war das Wasser zweifelsohne schmutzig – aber er war abgelenkt, mehr, als er jemals zugeben wollte. Seit dem Aufbruch aus Nenavar verfolgte ihn der letzte Blick auf Talasyn, die auf den Eingangsstufen des Himmelsdachs stand und ihm nachsah. Gerade bereitete sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die dreitägige Luftschiffreise nach Kesath vor, wo sie zu seiner Kaiserin gekrönt werden würde. Die Aussicht, sie wiederzusehen – nicht in Nenavars heißen Dschungeln, sondern auf dem Kontinent, wo noch die Echos ihres Kriegs widerhallten –, bescherte ihm ein merkwürdiges Gefühl.

Da half es auch nicht, dass Sevraim das Thema Nachwuchs aufbrachte. Einst hätte diese Vorstellung Alaric abgestoßen, aber jetzt beschwor sie lediglich aufdringliche Erinnerungen an seine Hochzeitsnacht herauf. Wie leicht es gewesen wäre, Talasyn noch dichter an sich zu ziehen, tiefer in sie einzudringenund …

Wir hätten das nicht tun sollen, hatte sie zu ihm gesagt, das kastanienbraune Haar völlig zerzaust, ihre Lippen geschwollen von seinen Küssen. Der schwache, üppige Duft ihrer Erlösung hatte noch in der Luft gehangen, sein Ergussan ihren schlanken Fingern geklebt.

Mit angespannten Kiefermuskeln kämpfte Alaric gegen die Erinnerung an. Zumindest in dieser Hinsicht hatte sich Talasyn sehr klar ausgedrückt. Er begrub seine stürmischen Empfindungen, bevor er ihnen einen Namen geben konnte. Es gab noch etwas, worum er sich kümmern musste, ehe ihr Schiff landete.

»Wir haben etwas zu besprechen«, sagte er, als Sevraim wieder aus den Tiefen des Fasses auftauchte.

So unbekümmert er sich für gewöhnlich gab, verstand Sevraim doch, wann sein Befehlshaber es ernst meinte. Er rieb sich mit einem Lappen durchs klatschnasse Haar und wartete dann, scharfsinnig und wachsam.

»Mein Vater …« Alaric brach ab. Sie waren allein in der Übungshalle,doch in der Zitadelle konnte man nie zu vorsichtig sein. Er senkte die Stimme. »Mein Vater hat einen Sariman aus Nenavar an sich gebracht. Kommodore Mathire hat ihn ohne mein Wissen eingefangen, während wir den Archipel nach Spuren der sardovischen Flüchtlinge durchsuchten.«

»Diese komischen kleinen Vögel, die uns vom Schattentor abgeschnitten haben?« Sevraim kratzte sich verblüfft am Kopf. »Ich hasse die. Was will Regent Gaheris denn damit?«

Alaric studierte Sevraims Gesicht aufmerksam. Seit er an diesem Morgen die Räumlichkeitenseines Vaters verlassen hatte, grübelte Alaric über die Situation nach und wog die Risiken ab. Zu enthüllen, was er wusste, war verräterisch und würde sie beide in Gefahr bringen. Wenn er Sevraims Loyalität gegenüber Gaheris unterschätzte, würde alles in sich zusammenstürzen. Sie kannten einander ihr ganzes Leben lang, kämpften Seite an Seite, hatten gemeinsam den Tod herausgefordert – und all das würde in diesem Augenblick auf die Probe gestellt werden.

Aber er hatte keine andere Wahl. Nur zwei Kesather waren in jenem Atrium gewesen, als Ishan Vaikar erklärt hatte, wie Verzauberer des Dominiums Sarimanblut dem Regenquell aussetzten, sodass sie seine Wirkungsweise verändern konnten. Alaric musste sicherstellen, dass dieses Wissen niemals an Gaheris’ Ohren drang.

Er glaubte immer noch, dass das Nachtimperium für die Zukunft stand. Es würde Ordnung und Stabilität auf dem Kontinent wiederherstellen und die Schattengeschmiedeten vor allen beschützen, die sie zerstören wollten. Was das betraf, waren Alaric und sein Vater sich einig.

Doch Gaheris blickte aus den Fesseln der Vergangenheit heraus auf eine bessere Zukunft. Er glaubte, dass Krieg die einzige Option darstellte. Und wenngleich Alaric wusste, dass er Talasyn nicht trauen konnte, musste er einen Weg finden, das Nachtimperium abzusichern, ohne sie und das Dominium dabei zu zerstören. Er musste Zeit schinden.

Es kostete Alaric erschreckend viel Anstrengung, seine Miene ausdruckslos und seine Stimme gleichmütig zu halten. »Regent Gaheris glaubt, dass der Sariman der Schlüssel dazu sein könnte, Talasyn ihre Magie zu nehmen. Dauerhaft.«

Sevraim zog eine Augenbraue hoch, ansonsten gaben seine Gesichtszüge nichts preis.

»Es wäre unvorsichtig, die Nenavarener zu verärgern«, sagte Alaric rasch. »Die Handelsverträge und das gegenseitige Verteidigungsabkommen, die wir im Rahmen der Heiratsallianz ausgehandelt haben, sind für Kesath vorteilhafter als alles, was wir uns so bald nach dem Wirbelsturmkrieg mit einem weiteren Konflikt erstreiten könnten. Mein Vater ist ein weiser Mann, aber in diesem Fall glaube ich, dass sein Hass auf die Lichtweber ihn fahrlässig macht. Verständlicherweise, ja – aber dennoch fahrlässig.«

»Und was ist mit Eurer Meinung zu den Lichtwebern?«, fragte Sevraim.

Alaric wurde beinahe blass. Er konnte sich im letzten Augenblick zügeln.

Bei näherem Hinsehen wurde ihm klar, dass das Blitzen in Sevraims Augen eher verspielt als boshaft war. Dennoch wusste Alaric, dass Sevraim sich im Kampf nur zu gut darauf verstand, seine Gegner aus der Deckung zu locken und gnadenlos zuzuschlagen, sobald sie sich sicher fühlten und leichtsinnig wurden.Noch konnte er nicht durchatmen.

»Lichtmagie ist eine Geißel für die Welt«, erwiderte er und wiederholte die Worte, die sein Vater so oft gesprochen hatte. »Aber Talasyns Blutlinie verschafft uns Zugang zu Nenavar, und wir brauchen ihre Macht. Jedenfalls im Moment. Bis zur mondlosen Dunkelheit.«

Die Worte kamen ihm schwer über die Zunge, fühlten sich wie eine Lüge an. Er konnte Sevraim nicht sagen, dass ihn die Vorstellung bis ins Mark schmerzte, Talasyn könne dauerhaft ihre Verbindung zum Lichtgespinst verlieren – auch wenn er wusste, wie abscheulich jenes war. Die Magie, die das Feuer in ihre Augen brachte, ihre Haut von innen heraus leuchten ließ und ihn schon mehrere Male beinahe umgebracht hätte. Aber auch die Magie, die sich mit seiner verbunden hatte, um etwas zu erschaffen, das man in ganz Lir noch nie gesehen hatte.

Etwas, das nur ihnen allein gehörte.

Sevraim betrachtete ihn beunruhigend lange. Schließlich zuckte er mit den Schultern, als diskutierten sie gerade nichts von Bedeutung. »Ich wünsche unserem geschätzten Regenten Erfolg bei seinem neuen Projekt, aber ich habe keine Ahnung, wie seine Verzauberer das bewerkstelligen wollen, wenn man bedenkt, dass Sarimane Aethermantie unterdrücken.«

Die Last, die Alaric mit sich herumtrug, seit er zum ersten Mal das Vogelzwitschern in der abgedunkelten Halleseines Vaters vernommen hatte, schien langsam von ihm genommen zu werden. »Du hast keine Ahnung?«, wiederholte er, konnte es kaum glauben.

»Nicht die geringste.« Sevraim lächelte, strahlend und scharfsinnig. »Die Nenavarener haben uns ja nichts weiter zu diesen Kreaturen erklärt, oder? Sie halten die einfach in Käfigen als Sicherheitsmaßnahme gegen Aethermanten.«

Alaric schluckte. Sie waren wieder sechzehn und taumelten zurück zur Zitadelle, nachdem sie zum ersten Mal Rosenmyrte und Reiswein probiert hatten, und Sevraim schwor lauthals und lallend bei seinem Leben, dass er Gaheris nichts erzählen würde. Das hier war eine weitaus ernstere Angelegenheit als zwei Schuljungen, die über Gebühr gezecht hatten, aber Sevraim hatte ihn damals nicht verraten. Und die Atmosphäre in der Übungshalle war auch jetzt die gleiche: Solidarität.

Und Rebellion.

Es ist das Beste für Kesath, sagte Alaric sich selbst. Wir können es uns nicht leisten, noch einen Krieg zu beginnen.

Das verhinderte weder die nagenden Schuldgefühle noch den Adrenalinrausch, der so sehr dem aus jener Nacht des Trotzesähnelte, die er sich als Kind gestattet hatte. Als er Sevraims Worten zustimmte, lag die Dankbarkeit vieler Jahre darin. »Nein. Sie haben uns nichts weiter erklärt.«

Lidagat war die südlichste der sieben Hauptinseln des Dominiums, ein Seenreich, hier und da verbunden durch Felder, Dschungel und Luftschifflandeplätze. Der Sage nach waren die Seen aus den Tränen eines Drachen entstanden – genauer gesagt aus denen Bakuns dem Weltverschlinger, der weinte, als seine sterbliche Geliebte Iyaram, die erste Zahiya-lachis, das Ende ihrer Lebenszeit erreichte. Als er schließlich all seine Tränen vergossen hatte, schwang sich Bakun in den Himmel und übte Rache an der Welt, die ihm solchen Kummer bereitet hatte.

Talasyn dachte über diese Legende nach, während sie in einem privaten Raum im obersten Geschoss eines Teehauses saß und aus dem Fenster blickte. Sie befand sich in Eset, Lidagats zweitgrößter Stadt. Wie alle Siedlungen auf der Insel war Eset gleichsam aus einem See herausgewachsen. Seine Holzbauten mit ihren leuchtend bunten, nach oben geschwungenen Dächern standen auf hoch aus dem Wasser ragenden Stelzen. Verbunden waren sie durch große Brücken, gewölbt wie Hügelkuppen. Das Teehaus bildete keine Ausnahme, und der Raum, den Talasyn gemietet hatte, bot einen weiten Blick über die sich kräuselnden Wellen, grau wie der Gewitterhimmel darüber.

Das Kinn in einer Hand aufgestützt ignorierte Talasyn Tee und Süßigkeiten vor ihr und starrte weiter aus dem Fenster in die Tiefen des Sees. Sie stellte sich vor, wie Bakun sich vor so langer Zeit in die Lüfte geschwungen hatte – ein schlangenförmiger Leviathan, gefangen in einem Wirbelwind aus Zorn und gebrochenem Herzen, der seinen Kiefer weit genug ausklappte, dass er Lirs achten Mond zwischen seinen verheerend scharfen Zähnen bersten lassen konnte.

Der Legende nach war auf diese Weise auch der seltene Edelstein Vulana nach Nenavar gekommen. Er war härter als Diamant, heller als Moissanit und angeblich aus den Bruchstücken des achten Mondes entstanden, die aus Bakuns Maul auf die Inseln gestürzt waren.

Talasyn hob ihre freie Hand, spreizte die Finger vor dem Hintergrund des dunklen Wassers und noch dunklerer Wolken. Beim Anblick ihres Eherings, in dessen Gold eingebettet ein Vulanastein glänzte wie ein vom Himmel gepflückter Stern, runzelte sie die Stirn. Auf Alarics Ring saß ein ebensolcher Stein, auch wenn er wohl kaum um dessen Bedeutung wusste.

»Es sollte dich nicht kümmern, ob es ihm etwas bedeutet oder nicht«, tadelte sie sich selbst laut.

Die Bambustür zum Zimmer glitt auf, was Talasyn zusammenfahren ließ.

Eine in einen braunen Mantel gehüllte Gestalt trat ein und schloss die Tür hinter sich. Dann schlug sie ihre Kapuze zurück, enthüllte ihr Gesicht, ergrauende Locken und anstelle des linken Auges eine Augenklappe aus Stahl und Kupfer an einem Lederband.

Talasyn sprang auf und salutierte – nach so vielen Jahren der Übung eine instinktive Geste.

»Das ist nicht nötig.« Ideth Vela bedeutete ihr eilig, sich wieder hinzusetzen. »Du bist nicht mehr meine Soldatin. Viel eher sollte ich vor dir salutieren.«

»Bitte nicht«, sagte Talasyn nachdrücklich.

Es war das erste Mal seit der Hochzeit, dass sie Vela sah, und jähe Schuld raubte ihr mit der Wucht eines Vorschlaghammers den Atem. Falls Vela je herausfand, was Talasyn mit Alaric getan hatte …

Haltung. Das war der erste Schritt, damit Vela es niemals erfuhr. Talasyn musste Haltung bewahren.

»Wie geht es allen?«, fragte sie und spürte einen Funken von Stolz darüber, wie normal sie klang – überhaupt nicht wie ein närrisches Mädchen, das sich von unbändiger Lust bis zum Hochverrat hatte treiben lassen.

»Sie überleben.« Die Amirante nahm Talasyn gegenüber Platz, ihre Bronzemiene angespannt. Talasyn hatte ihre Nachricht gestern abgeschickt, und Vela musste die Inseln von Sigwad mitten in der Nacht verlassen haben, um nicht von nenavarenischen Patrouillen entdeckt zu werden. Danach hatte sie sich wohl irgendwo hier auf Lidagat verborgen gehalten, bis es Zeit für das Treffen war.

Sie war eindeutig nicht in der Stimmung für den Austausch weiterer Höflichkeiten und wechselte sofort das Thema. »Der junge Lord, der deine Nachricht überbrachte und mich hierher begleitete … bist du sicher, dass man ihm trauen kann? Auf dem Weg hierher war er sehr …«, sie kräuselte verächtlich die Lippen, »… geschwätzig.«

»Surakwel Mantes steht mir gegenüber in einer Seelenschuld«, erklärte Talasyn. »Er hat rein gar nichts fürs Nachtimperium übrig und hat sogar während des Wirbelsturmkriegs Königin Urduja gebeten, dem Allbund beizustehen.« Außerdem, dachte sie, hatten er und Alaric bei ihrer ersten Begegnung versucht, einander umzubringen. »Wir können ihm trauen.«

»Also gut.« Die Amirante schenkte ihnen beiden das giftgrüne Vanille-Kiefernadeln-Gebräu aus der Teekanne ein. »Und da wir gerade von deiner Großmutter sprechen – ich bin überrascht, dass du dich am helllichten Tage davonstehlen konntest.«

»Die Zahiya-lachis bestimmt nicht länger über mein Kommen und Gehen.« Götter, wie gut es sich anfühlte, das laut auszusprechen. Talasyn hatte kein Stück weit Gewissensbisse, dass sie ihr Urduja gegebenes Versprechen brach, nicht die Sardovier zu kontaktieren. Was ihre Großmutter nicht wusste, konnte sie schlecht stören. »Ich habe meine Residenz in Iantas bezogen und führe jetzt meinen eigenen Haushalt.«

»Richtig. Weil du jetzt eine verheiratete Frau bist …« Velas verbliebenes Auge fixierte sie mit einem harten Blick. »Eine verheiratete Frau, die bald die Nachtkaiserin sein wird.«

Talasyn tat beschäftigt, indem sie großzügig Honigkleckse in ihren Tee löffelte. Um das bittere Blätterwasser genießbarer zu machen, das sie vermutlich immer hassen würde, ja – aber auch, um nicht unter Velas prüfendem Blick unbehaglich hin und her zu rutschen.

Jemand klopfte an die Tür. Vela und Talasyn tauschten wachsame Blicke, standen auf und näherten sich dem Geräusch vorsichtig, bewegten die Finger, um sie auf das Wirken von Aethermantie vorzubereiten.

Während Vela an der angrenzenden Wand – komplett außer Sicht – Stellung bezog, öffnete Talasyn den Riegel. Höfliche Floskeln lagen ihr auf der Zunge für den Fall, dass es sich um einen Teehausangestellten handelte – und Magie pulsierte durch ihre Adern, falls man ihr und der Amirante auf die Schliche gekommen war. Sie schob die rechteckige Bambustür auf …

… und blickte in ein Paar walnussbrauner Augen.

»Ihr sollt Wache halten!«, zischte Talasyn und zog Surakwel Mantes am Kragen ins Zimmer. Hinter ihnen verriegelte eine ebenso verärgert wirkende Vela die Tür erneut.

»Eine Gruppe niedriger Lords ist auf der Durchreise durch Eset. Sie haben mich entdeckt.« Surakwel marschierte schnurstracks in Richtung Tee und nahm sich eine eigene Tasse. »Ich sagte ihnen, ich träfe hier eine Freundin, was sicherlich weniger verdächtig ist, als allein im Flur herumzuschleichen.« Unter seinem zerrupften braunen Pony hervor linste er die beiden Frauen erwartungsvoll an. »Also, wo waren wir gerade?«

Vela zeigte sich von dieser neuen Entwicklung völlig unbeeindruckt und verlor keine Zeit, sobald Talasyn und sie sich zu Surakwel an den Tisch gesetzt hatten. »Die Reparaturen und Modifikationen an unseren Schiffen hier im Dominium gehen langsam voran«, erklärte sie. »Es ist nicht einfach, nenavarenische und sardovische Technologie miteinander zu vereinbaren – aber wir schaffen es.«

»Es ist nicht genug«, sagte Talasyn leise. »Wir brauchen die Huktera-Flotte, doch am Dominiumshof wird es einen Aufstand geben, wenn Königin Urduja das Abkommen mit Kesath für eine Unternehmung mit so unsicheren Erfolgsaussichten bricht. Die Zahlen müssen zu unseren Gunsten sprechen, wenn wir sie überzeugen wollen. Wir brauchen mehr Verbündete.«

»Exakt. Weswegen ich dazu übergangen bin, wieder Abgesandte in andere Nationen zu schicken«, teilte Vela ihr mit. »Meine besten Spione und Politiker, bei denen ich darauf zählen kann, dass sie sich diskret einschleusen und Abkommen mit den richtigen Leuten aushandeln. Die, die uns nicht an Kesath verraten werden. Natürlich sind sie im Nachteil, weil wir nicht preisgeben dürfen, wo wir uns versteckt halten – aber einen Versuch ist es wert. Und sie haben Zeit. Schließlich können wir erst nach der mondlosen Dunkelheit handeln.«

»Aber ist das nicht auch gefährlich?«, fragte Talasyn. »Wenn Königin Urduja das herausfindet …«

»Nichts hieran ist ungefährlich.« Vela nippte an ihrem Tee. »Aber ich glaube, es hat seinen Grund, dass die Nenavarener nicht länger in den Gewässern südwestlich von Sturmgotts Auge patrouillieren. Ich glaube, deine Großmutter erwartet vollauf, dass ich die Zeit nutze, uns freundlich gesonnene Nationen für die sardovische Sache zu sammeln – damit sie diese zusätzlichen Truppen als Argument einsetzen kann, um ihren Hof davon zu überzeugen, in den Krieg zu ziehen.« Sie warf Talasyn einen suchenden Blick über den Rand ihrer Teetasse hinweg zu. »Auch du wirst diese Zeit klug nutzen müssen. Gemeinsam mit deiner neuen Rolle.«

Surakwel hatte bisher das vorbildliche Verhalten eines nenavarenischen Mannes an den Tag gelegt und die Frauen ohne Unterbrechung reden lassen, doch bei der Erwähnung von Talasyns neuer Rolle rief er aus: »Wie könnt Ihr das nur ertragen, Lachis’ka? Mit dieser … dieser Galionsfigur alles Bösen verheiratet zu sein …«

»Wir verdanken es Talasyns Heirat ins Nachtimperium, dass wir überhaupt in der Lage sein könnten, den Kontinent von ihm zu befreien«, erinnerte ihn Vela.

»Trotzdem!«, sagte Surakwel heftig in Talasyns Richtung.»Fühlt Ihr nie die Versuchung, Alaric Ossinast ein Messer ins Herz zu jagen, während er in Eurem Bett liegt?«

»Zu meiner Verteidigung«, sagte Talasyn, »er hat nur ein einziges Mal in meinem Bett gelegen.« Bevor ich ihn rausgeworfen habe … nachdem wir etwas getan haben, von dem ich schwöre, dass ich es niemals jemandem erzählen werde. »Aber ich lasse Euch rechtzeitig wissen, wie es um das Abstechen steht.«

Der Wind frischte auf, ließ ihre Mantelsäume ebenso flattern wie die hauchdünnen Vorhänge am Fenster. Esets zahllose Wetterfahnen drehten wie sich wie wild, als die schwarzen Wolken, die schon den ganzen Nachmittag am Himmel hingen, ihre Drohung endlich wahrmachten und heftiger Regen niederprasselte. Wasser auf Wasser; der aufgewühlte See wogtegegen die Stelzen, auf denen die Stadt ruhte.

»Morgen brecht Ihr nach Kesath auf, nicht wahr, Lachis’ka?«, fragte Surakwel.

»Ja«, antwortete Talasyn. »Ein Sturm zieht auf. Bei dem Wetter wird das eine anstrengende Reise.«

»Wahrlich ein Sturm.« Vela starrte über den See. Was auch immer zurückstarrte, was auch immer sie im kohlschwarzen Wirbeln aus Wellen und Blitzen sah, ließ sie Luft holen. »Nach der mondlosen Dunkelheit, Talasyn«, wiederholte sie. »Sei bereit.«

Talasyn konnte nur nicken. Esets See brodelte gegen seine Ufer,und kalter Wind strich auch durch ihr Herz.

3. KAPITEL

Er trug zu ihrem Wiedersehen seine Maske.

Talasyn ging die Rampe des Diplomatenschoners hinunter, der sie von Kesaths Küste in die Hauptstadt gebracht hatte. Dann blieb sie stehen, um sich umzublicken.

Sie waren hoch oben auf einem der Docks, die in weiten Spiralen vom Kontrollturm der Zitadelle emporstrebten – wie die Arme eines Oktopus. Die kühle Frühlingsluft stach ihr in die Knochen; ein ungewohntes Gefühl, nachdem sie so lange nicht auf dem nordwestlichen Kontinent gewesen war.

Bis jetzt hatte sie die Zitadelle nur auf Karten gesehen. Vor einigen Jahren hatten Ideth Vela und der übrige Kriegsrat des Sardovischen Allbunds in einem Anfall von Verzweiflung mit dem Gedanken gespielt, ihre Gefangenen aus den Kerkern der Zitadelle zu befreien. Doch sie hatten diese Pläne verworfen, als ihnen klar geworden war, womit sie es zu tun gehabt hätten.

Jetzt, da sie über der Zitadelle dahinschritt – begleitet von ihrer Großmutter, ihrem Vater, ihrer Kammerfrau Jie und ihren königlichen Wachen, den Lachis-dalo – verstand Talasyn, warum Vela es sich damals anders überlegt hatte.

Die Zitadelle war eher eine gewaltige militärische Festung als eine pulsierende, atmende Stadt. Eine Reihe kantiger Steinbauten mit leeren Innenhöfen verbarg sich hinter dicken Mauern, gesäumt von Wachtürmen und Plattformen für Ballisten. Über Nenavars Siedlungen war der Himmel stets voller Schiffe, die sich gegenseitig die Vorfahrt nahmen und miteinander um die besten Landeplätze wetteiferten. Ganz anders hier: Schlanke Schiffe mit dem Chimärenwappen des Hauses Ossinast auf den Segeln glitten in gemäßigtem Tempo durch die Luft und folgten sorgsam kontrollierten Bahnen. Jenseits der Mauern erstreckten sich nur karge Felderund Sturmschiffhallen bis zum Horizont.

»Ich bin noch keine fünf Minuten hier und schon depressiv«, grummelte Jie, während sie Talasyn gemeinsam mit dem Rest der nenavarenischen Delegation folgte.

»Ruhe«, zischte Königin Urduja. Talasyn hörte Prinz Elagbi leise lachen, bevor seine Mutter auch ihn mahnte zu schweigen.

Wenn sie ehrlich war, neigte Talasyn dazu, ihrer Kammerfrau zuzustimmen. Doch Alarics große, breitschultrige Gestalt, die vollkommen reglos nur wenige Schritte entfernt stand, um sie willkommen zu heißen, nahm ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch.

Er trug seine Kampfausrüstung: dornenbesetzte Schulterpanzer, Panzerhandschuhe mit krallenförmigen Fingerspitzen, ein langes Kettenhemd und einen gegürteten Brustharnisch, die Farbgebung des Ensembles eine Mischung aus Nachtschwarz und Blutrot.

Wellige dunkle Haarsträhnen fielen ihm in die blasse Stirn. Seine grauen Augen über der Obsidianhalbmaske mit den eingeschnitzten gefletschten Wolfszähnen musterten sie ausdruckslos.

Hinter ihm standen Sevraim und zwei Gestalten in identischen Rüstungen. Die schattengeschmiedeten Zwillinge. Das Ding und das Andere Ding, wie Talasyn sie in Gedanken nannte.

Sie hatte keine Ahnung, was Alaric wohl denken mochte, als sie auf ihn zuging und sich zu gleichmäßigen Schritten zwingen musste. Es fühlte sich an, als drohe der Steg aus Metallgittern – hoch über der Stadt, die keine Stadt war – unter jedem Schritt, den sie machte, zu zerbersten.

Als sie vor ihm stehen blieb, trat er zu ihr, so nah, dass sie gezwungen war, den Kopf in den Nacken zu legen, um in sein Gesicht zu sehen.

»Lachis’ka«, murmelte er.

Es war zwei Wochen her, dass sie zuletzt seine Stimme gehört hatte, und deren Wirkung auf sie hatte sich in dieser Zeit nicht im Geringsten vermindert. Dieser tiefe, reiche Klang, Honigwein und Eiche, dem die Maske noch zusätzliche gedämpfte Rauchigkeit verlieh, ließ ein ungebetenes Kribbeln durch ihren Magen purzeln.

»Kaiser«, erwiderte Talasyn so ruhig, wie sie nur konnte.

Alaric hob kurz den Kopf und betrachtete träge den Himmel. »Ihr habt Kriegsschiffe mitgebracht«, bemerkte er,als könne er die Auslegerschiffeund Motten-Korakel über dem Immermeer schweben sehen, die sie am kesathischen Hafen zurückgelassen hatte. In Wahrheit war er zweifellos von den Hafenwachen darüber informiert worden. »Vielleicht sollte ich daran Anstoß nehmen.«

»Du bist derjenige, der mich in voller Rüstung empfängt«, betonte Talasyn.

»Wir trainierten gerade. Du bist früher eingetroffen als erwartet.« Über ihren Kopf hinweg warf er einen Blick auf ihre Begleiter. »Königin Urduja. Prinz Elagbi. Willkommen.«

»Und was bin ich, saure Ziegenlebersuppe?«, fragte Jie in einem gut hörbaren Flüstern, und Talasyn musste hastig ein Prusten zurückdrängen.

Alaric wandte sich um und führte sie in Richtung Kontrollturm. Die nenavarenische Delegation folgte ihm – und wirkte dabei eher wie eine Schar fein gekleideter Entenküken, dachte Talasyn einigermaßen belustigt.

Doch ihre Belustigung verflog rasch, als sich die zwei identischen Legionärinnen im Gehen links und rechts von ihr einordneten.

Anders als die Helme der meisten anderen Schattengeschmiedeten – Sevraims eingeschlossen – ließen die geflügelten der Zwillinge weite Teile ihrer Gesichter sichtbar. Sie hatten helle Haut wie Alaric, langes, rabenschwarzes Haar, das sie hochgebunden trugen, und rehbraune Augen, die Talasyn voller Abneigung musterten.

Zuletzt war sie den beiden bei der Schlacht um Freystadt begegnet – damals hatten sie alle voller Überzeugung versucht, einander umzubringen. Jetzt, da nicht länger das Adrenalin der Kampfsituation all die feinen Unterschiede zwischen den Zwillingen auslöschte, fielen sie Talasyn endlich auf. Die zu ihrer Rechten – die heute das Ding war, beschloss Talasyn – hatte einen kleinen Schönheitsfleck auf der Wange.

»Hallo, kleine Lichtweberin«, sagte das Ding spöttisch. »Oder sollte ich anfangen, Euch Prinzessin zu nennen?«

»Sie kann sich schön herausputzen, nicht wahr?«, meinte das Andere Ding zu ihrer Linken. »Ich hätte sie fast nicht erkannt.«

»Oh, diesen Gestank würde ich überall erkennen«, sagte das Ding leichthin. »So riecht sardovischer Abschaum.«

Es gab empörte Protestlautevon Jie und Elagbi und spürbare Unruheunter den Lachis-dalo. Doch bevor auch nur einer von ihnen die Situation noch verschlimmern konnte, indem er Talasyn zu Hilfe eilte – worauf es die Zwillinge eindeutig anlegten –, ergriff sie selbst das Wort, den Kopf hoch erhoben. »Ich bin die nenavarenische Lachis’ka, keine Prinzessin.« Sie starrte geradeaus auf Alarics Rücken. Er hatte sich leicht angespannt. »Ihr werdet mich als Euer Gnaden ansprechen, und nach meiner Krönung zur Nachtkaiserin als Eure Majestät.«

Perplexe Stille legte sich über die Gruppe, einzig durchdrungen vom Klang der Schritte auf dem metallischen Steg. Innerlich wappnete sich Talasyn für die Vergeltung, spürte die Magie in ihren Adern zum Leben erwachen. Sie waren hier so hoch oben – Götter, wenn ihre Angreiferinnen sie in die Tiefe zu stoßen versuchten …

Sevraim lachte schallend, laut wie ein Donnerschlag. »Oh, gut gemacht, Lachis’ka!« Er blickte über die Schulter zurück und wies mit seinem Panzerhandschuh auf die Zwillingsschwester zu Talasyns Rechter, die mit dem Schönheitsfleck. »Das ist Ileis.« Dann wies er auf den Zwilling links von Talasyn. »Das ist Nisene. Und ich habe noch nie gesehen, dass jemand sie so schnell zum Schweigen gebracht hätte.« Spielerisch stieß er Alaric den Ellbogen in die Seite. »Ist das nicht großartig, Eure Majestät?«

Der Nachtkaiser ignorierte ihn. »Talasyn«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Komm her.«

Er verschaffte ihr eine willkommene Ausrede, um von den Zwillingen wegzukommen. Dennoch sträubtesie sich angesichts seiner überheblichen Art und öffnete schon den Mund, um ihm gehörig die Meinung –

»Geht zu Eurem Ehemann, Lachis’ka«, sagte Königin Urduja hinter ihr. In dem königlichen Tonfall schwang eine Warnung mit: Talasyn konnte es sich nicht erlauben, eine weitere Szene zu machen, nachdem sie sich bereits in diese hatte hineinziehen lassen.

Sie drängte sich also an Ileis und Nisene vorbei und fühlte deren missgünstigeBlicke schwer im Nacken. Vielleicht hatte es doch seine Vorteile, jetzt über ihre einstigen Feinde zu herrschen. Sie konnte nicht leugnen, dass es ihr Genugtuung verschaffte, hier das letzte Wort gehabt zu haben, mit dem Hinweis, dass die Schattengeschmiedeten schon bald ihre Untergebenen sein würden. Das war es beinahe wert, Alaric geheiratet zu haben.

Sie eilte an seine Seite und legte die Hand auf seine Armbeuge, die er ihr anbot. Ihre Finger schlossen sich um den geschuppten Armschutz aus Leder, der sich über harte Muskeln spannte, und eine Erinnerung wogte in ihr hoch: wie sich seine bloßen Arme unter ihren Händen angefühlt hatten. Sie musste sich zusammenreißen und Haltung bewahren, konnte aber nicht anders, als verstohlen seine unergründliche Miene zu mustern, als sie die schwach beleuchteten Gänge der Zitadelle betraten. Wie im Namen aller Gottheiten und der Vorfahren konnte er nur so ruhig sein?

Gewiss, sie waren übereingekommen, dass weder der Kuss im Amphitheater des Belianschreins noch das, was in ihrem Bett passiert war, etwas bedeutete. Alaric hielt sich lediglich an sein Wort. Es bedeutete nichts, weil es nichts war, und darum behandelte er es, als sei es nichts – was es auch war. Und sie sollte das ebenfalls tun.

»Versucht Ihr, meinen Arm zu brechen, Euer Gnaden?« Sein leises Grollen unterbrach ihre Träumerei.

»Entschuldigung.« Sie lockerte ihren Klammergriff um seinen Arm.

Alaric schwieg. Der Blick seiner grauen Augen flackerte zu ihr und verharrte einen Moment zu lang, bevor er wieder wegsah. Dachte auch er an ihre Hochzeitsnacht? War diese auch für ihn der Geist, der zwischen ihnen dahinschritt – die unsichtbare Strömung, die erzitterte, wenn sie einander bewusst wurden?

Behalt einen kühlen Kopf, rief Talasyn sich selbst zur Ordnung. Sie hatte den Weg nach Kesath nicht nur auf sich genommen, um zur Nachtkaiserin gekrönt zu werden. Sobald sie einen Moment für sich allein waren, musste sie Alaric fragen, ob er Khaede gefunden hatte. Er hatte ihr versprochen, in den Kerkern der Zitadelle nach ihrer Freundin zu suchen – und wenn Khaede hier war, würde Talasyn nicht ohne sie gehen.

Sie musste sich ganz und gar darauf konzentrieren, damit ihr das gelang.

Die Nenavarener wurden schließlich zu einer Zimmerflucht geführt, die sie bis zu Talasyns Krönung am kommenden Nachmittag bewohnen würden. Neben den Schlafzimmern gab es einen Speise– und einen Aufenthaltsraum, alle mit Wänden aus schwarzem Stein, mit großen Kaminplatten und polierter, aber schlichter Einrichtung, hier und da geschmückt mit seltsam anmutenden alten Wandteppichen.

Als die Gruppe am Ende der kurzen Führung im kreisförmigen Aufenthaltsraum stand, waren Königin Urdujas hochgezogene Augenbrauen schon nahezu unter ihrem Haaransatz verschwunden – und dann erklärte Alaric, dass Bedienstete ihnen sämtliche Mahlzeiten bringen würden.

»Ihr werdet nicht mit uns essen, Eure Majestät?«, fragte die Zahiya-lachis.

»Mein Zeitplan lässt das nicht zu, Harlikaan«, erwiderte er mit trockener Höflichkeit. »Morgen allerdings wird es nach der Krönung eine Gala geben. Dort werden wir gemeinsam speisen.«

Urduja nickte, leicht beschwichtigt davon, dass in dieser seltsamen fremden Welt doch nicht jeder Anschein von Gastfreundschaft verloren gegangen war.

Alaric verließ den Aufenthaltsraum ohne ein weiteres Wort. Talasyn blieb zurück und starrte auf den leeren Platz, an dem er eben noch gestanden hatte. In keiner ihrer stresserfüllten Vorstellungen davon, wie ihr Wiedersehen ablaufen würde, hatte sie es sich jemals dermaßen … enttäuschend ausgemalt. Sie war beunruhigt. Und ärgerte sich über ihn.

Sie ging zu einem mit Wein und einer Auswahl kleiner Speisen beladenen Tisch hinüber, an dem sich Jie und Elagbi bereits bedienten.

Jie biss in aufgespießte Würfel aus gegrilltem Entenblut und kaute vorsichtig, bevor sie das Gesicht verzog. »Das schmeckt ja nach nichts!«, stieß sie entsetzt aus.

Elagbi blinzelte wehmütig auf die Überreste einer Gemüserolle zwischen seinen Fingern. »Die Sojasprossen sind matschig und das Dressing höchst uninspiriert.«

»Es wird Ihrer Gnaden zufallen, am Hof des Nachtkaisers die Feinheiten der Dominiumsküche einzuführen«, erklärte Jie.

Talasyn blinzelte ihnen zu, die Backen voll mit einem Stück in Ei getauchten klebrigen Reiskuchens. Jie und Elagbi starrten sie an, und sie zuckte mit den Schultern, als sie schluckte und ohne das kleinste bisschen Reue die Hand nach den in Essig eingelegten Garnelen und Seetrauben ausstreckte. Essen war schließlich Essen.

Letztendlich musste sie zu essen aufhören, weil Königin Urduja sie zum einzigen Fenster im Aufenthaltsraum hinüberwinkte. Talasyn folgte der Aufforderung nur widerwillig. Seit dem Streit, der ihr ein wenig Freiheit innerhalb von Nenavars Grenzen verschafft hatte, hatten die beiden einander mehr oder weniger ignoriert. Doch sie hätte wissen müssen, dass ein solcher Zustand zu gut war, um dauerhaft anzuhalten.

»Ich habe das Nenavar-Dominium noch nie verlassen«, sagte die Zahiya-lachis, als sei das etwas, worauf man stolz sein konnte – was sie vermutlich auch war. Sie sprach in Seemannskoine. »Bis jetzt bin ich nicht beeindruckt von dem, was ich vorfinde. Eine äußerst karge Gegend.«

Talasyn wollte ihrer Großmutter sagen, dass Schönheit nur wenige Stunden entfernt lag. Dass man beim ersten Anblick des schneebedeckten Hochlands verstand, warum es das Rückgrat der Welt genannt wurde. Sie wollte zu gern sagen, dass es Frühling war und in den Schluchten des Kernlands zahllose silberblaue Flüsse rauschten, seine Felsklammen mit Grün bewachsen waren, und seine Wiesen voller Blumen.

Aber all das gehörte zu einem Sardovia, das nicht länger existierte, und so sagte sie stattdessen: »Ihr müsst es ja nur bis übermorgen aushalten, Harlikaan.«

»In der Tat.« Urduja streckte einen schlanken, vor Seide und Edelsteinen nur so strotzenden Arm aus, um mit einem spitzen Fingernagel auf verschiedene Stellen zu zeigen. »Du wirst da, da und da Springbrunnen brauchen. Eine Promenade zur Verbindung der verschiedenen Gebäude wäre auch nicht verkehrt – vielleicht mit ein paar blühenden Bäumen.«

»Ich glaube, Schönheit steht auf der Prioritätenliste des Nachtkaisers nicht sehr weit oben«, bemerkte Talasyn.

»Das sollte sie aber. Das Volk schätzt ein wenig Flair. Diese Stadt ist das Herz deines Imperiums, nicht wahr? Du musst dafür sorgen, dass ihre Bewohner glücklich sind und es bleiben. Und um das zu erreichen, musst du die Stadt lebenswert machen.«

»Es ist nicht wirklich mein Imperium …«, setzte Talasyn zu protestieren an, aber Urduja unterbrach sie mit einem ungeduldigen Kopfschütteln.

»Es ist nicht länger sinnvoll, so zu denken, Alunsina. Die Spielsteine sind an ihren Platz gefallen. Niemand weiß, was die Zukunft bringen mag, doch für den Moment …«, die Zahiya-lachis gestikulierte erneut in Richtung Horizont, diesmal mit einer Handbewegung, die wohl alles vollkommen einschließen sollte, »ist der Nachtkaiser dein, sein Land ist dein, seine Macht ist dein. Es ist an der Zeit, dass du herrschst.«

»Ihr klingt entsetzlich enthusiastisch.« Talasyn betrachtete ihre Großmutter aus schmalen Augen. »Euch gefällt die Vorstellung, dass Eure Enkelin auf dem kesathischen Thron sitzt.«

»Und warum auch nicht?«, konterte Urduja. »Welche Matriarchin würde widersprechen, wenn ihr Haus mehr Einfluss und Prestige gewinnen kann? Wir werden zu einem wichtigen Akteur auf der Weltbühne werden – das waren deine eigenen Worte am Tag nach deiner Hochzeit.«

Es wird nicht von Dauer sein. Das Nachtimperium wird fallen, wollte Talasyn einwenden, doch in diesem Moment faltete Urduja die Hände. Ihr rechter Zeigefinger tippte mit penibler Bedächtigkeitauf die Knöchel der linken Hand.

Talasyn erstarrte, erkannte die warnende Geste als das, was sie war. Sie blickte sich im Aufenthaltsraum um und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen Zentimeter davon.

Jeden einzelnen Zentimeter der Architektur, um genau zu sein.

Die geschwungenen Wände. Das elliptisch gebogene Dach. Manche Räume im Dach des Himmels waren ähnlich gebaut, so angelegt, um den Schall zu einem zentralen Punkt zu lenken …

Urdujas Finger hörte zu tippen auf und streckte sich stattdessen aus, um auf einen riesigen Kaminsims aus Ebenholz zu deuten, der einen Teil der Wand einnahm und vom Boden bis unter die Decke reichte. Er war groß genug, um den Eingang zu einem anderen Raum zu verbergen – von wo aus jemand die Gespräche im Aufenthaltsraum belauschen konnte.

Wie hatte Urduja wissen können …?

»Ich berücksichtige alles«, erinnerte die Zahiya-lachis sie und senkte die Stimme, wechselte zur Sicherheit ins Nenavarenische und wiederholte die Worte, die sie zwei Wochen zuvor schon gesprochen hatte, »und so trifft mich nichts unvorbereitet.«

Talasyn dämmerte, dass Urduja diejenigen, die sie belauschten – wer auch immer das war – in falscher Sicherheit wiegte, indem sie sie glauben ließ, dass das Dominium sich mit der Freude an seiner neuen Position und Oberflächlichkeiten wie neuer Dekoration zufriedengab, anstatt die letzte Bastion des Sardovischen Allbundes auf seinem Gebietzu verstecken.

»Mir ist auch nicht entgangen«, setzte Urduja hinzu, »dass dein Ehemann uns in diesem schäbigen Eckflügel untergebracht hat, wo wir vom Rest der Zitadelle isoliert sind.« Ihr Tonfall blieb leicht – so mussten alle potenziellen Lauschenden glauben, dass das Gespräch sich weiterhin um Belanglosigkeiten drehte, selbst wenn sie kein Wort verstanden. »Das impliziert, dass er den Kontakt zwischen seinen Leuten und dir minimieren möchte – und das wiederum bedeutet, dass es entweder etwas gibt, das du nach seinem Willen nicht erfahren sollst, oder dass er kein Interesse an einer dauerhaften Allianz hat … oder beides.«

Talasyns Magen tat weh. Ob es an der fragwürdigen Gemüserolle lag? Nein – dies war eine andere Art von Schmerz. Er strahlte bis in ihre Gliedmaßen aus, betäubte sie.

Was Urduja sagte, ergab perfekten Sinn. Aber es hätte Talasyn nicht kümmern dürfen, dass Alaric verborgene Motive hatte. Die hatte sie ja auch.

Doch in Kombination mit dem kühlen Empfang, den er ihr bereitet hatte, tat die Erkenntnis weh.

Sie würde ihn verraten. Das war immer der Plan gewesen. Jetzt musste sie nur vorsichtig sein, wenn er selbst noch ein Ass im Ärmel hatte. Im Großen und Ganzen aber hatte sich nichts geändert. Es hätte sich nichts geändert haben dürfen. Und doch …

Was ist los mit mir? Warum fühle ich mich verletzt?

Vielleicht war es wirklich eine Lebensmittelvergiftung.

»Was soll ich tun?«, fragte Talasyn.

Urduja tätschelte ihren Arm. »Einen kühlen Kopf bewahren – und ihn einziehen. Bei deiner Krönung morgen werde ich so charmant und sozial sein, wie ich nur kann, und herausfinden, was mir möglich ist. Oder mir zumindest einen groben Überblick verschaffen.«

»Wenn Eure Intuition stimmt, dürften die Kesather nicht allzu gesprächig sein«, sagte Talasyn.

Die Zahiya-lachis lächelte verschmitzt. »Ich mag Herausforderungen.«

Ermüdet es Euch niemals, stets allen anderen zwei Schritte voraus zu sein? Talasyn wünschte, sie hätte ihre Großmutter das fragen können. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, auf diese Art zu leben.

Aber es war an der Zeit, dass sie es lernte.

Kesaths Nacht warDunkelheit unter einer Decke sternengesprenkelter Wolken und bitterem Wind. Talasyn spähte durch das einzige Metallglaspaneel in ihren Gemächern und betrachtete die lichtlose Zitadelle, die sich unter ihr in endlosen, beinahe völlig schwarzen Reihenerstreckte. Ihr Fenster war das einzige, hinter dem zu dieser späten Stunde noch Licht brannte, und jetzt konnte noch nicht einmal der helle Schein der Feuerlampe auf ihrem Nachttisch die düsteren Schatten ganz zurückdrängen.

In Gedanken flog sie ein Wespen-Korakel, auf dessen gestreiften Segeln der Phönix des Allbunds prangte. Sie lenkte es über die Zitadelle, über all die übrigen Siedlungen auf Kesaths weiten Ebenen, und überwand schließlich die Klippen, bis sie über jenem Landstrich tiefer glitt, der einst das sardovische Hinterland gewesen war. Sie flog weiter und weiter, über die Große Steppe, auf der sie aufgewachsen war, und über das Rückgrat des Hochlands, wo Khaede und Sol geheiratet hatten und er nur Stunden später im Kampf gefallen war.

Und hinter den Bergen lag das Kernland, der Ort der letzten Widerstände, dessen Städte nun von den Sturmschiffen des Nachtimperiums in Stücke geschlagen lagen.Jenem Imperium, das nun den ganzen Kontinent umfasste.

Talasyn presste eine Handfläche gegen das Fenster. Die Kühle des Metallglases an ihrer bloßen Haut brachte ihre Gedanken an die Überreste Sardovias in diesen Raum zurück.