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Willkommen im «Smugglers' Inn» an der Küste von Cornwall – deinem neuen Wohlfühlort mit spektakulärem Meerblick, voller neuer bester Freunde und kulinarischer Genüsse. Band 1 einer neuen Serie mit Wohlfühl-Garantie von Katharina Herzog. Sophie Wilde ist eine der erfolgreichsten Restaurantkritikerinnen Londons. Doch als sie in eine private Krise gerät, macht sie einen entscheidenden Fehler: bei der lang erwarteten Eröffnung des Restaurants von Model Annabelle Scott. Sophies vernichtende Kritik am Restaurant – und an Annabelle – lösen einen unerwarteten Shitstorm aus. Ihr Chef verordnet Sophie eine Auszeit und nagelt sie außerdem auf ihre öffentliche Behauptung fest, sie könne überall auf der Welt ein Sterne-Restaurant eröffnen: Er schickt sie nach Port Haven an der Küste von Cornwall. Kurzerhand zieht Sophie mit ihrer Mutter und ihrer Teenager-Tochter in den kleinen Hafenort und übernimmt das heruntergekommene «Smugglers' Inn», mitsamt seiner schrulligen Angestellten, die ihrem Vorhaben, Spitzenküche etablieren zu wollen, allesamt ablehnend gegenüberstehen. Der einzige Lichtblick ist Koch Lennox, der so gut aussieht, wie er kocht. Doch kann Sophie unter diesen Umständen eine Gourmet-Adresse schaffen? Oder ist es ihr eigenes Leben, das ein ganz neues Rezept braucht?
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2025
Katharina Herzog
Roman
Ein Neuanfang in Cornwall
Sophie Wilde ist eine der erfolgreichsten Restaurantkritikerinnen Londons. Doch als ihre neueste Kritik einen unerwarteten Shitstorm auslöst, verordnet ihr Chef ihr eine Auszeit und schickt sie nach Port Haven an der Küste von Cornwall. Kurzerhand zieht Sophie mit ihrer Mutter und ihrer Teenagertochter in den kleinen Hafenort und übernimmt das heruntergekommene Smuggler’s Inn. Doch nicht alle Bewohner des Ortes sind mit ihrem ambitionierten Konzept einverstanden. Besonders mit dem gut aussehenden Koch Lennox gerät sie sich andauernd in die Haare. Zwischen Meeresrauschen, Küchenchaos und ungeahnten Gefühlen merkt Sophie bald, dass es manchmal mehr als ein gutes Rezept braucht, um neu anzufangen.
Der Auftakt einer neuen Reihe voller Köstlichkeiten und vor allem mit ganz viel Herz!
Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie und Wohlfühl-Versprechen. Sie entführt ihre Leser:innen an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist, New York und Schottland – und erobert mit ihren Romanen nicht nur Herzen, sondern auch regelmäßig die Spiegel-Bestsellerlisten. Ihre Erfolgsreihe «Das kleine Bücherdorf» begeisterte zahllose Leser:innen und machte ein idyllisches Dorf in Schottland zum Lieblingsort unzähliger Buchliebhaber:innen. Nun nimmt sie uns mit nach Cornwall – in den bezaubernden Küstenort Port Haven.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Katharina Naumann
Liedtext auf S. 5: «Walls», Text: Tom Petty
Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Coverabbildung Sabina Wieners
ISBN 978-3-644-02326-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Some days are diamonds
Some days are rocks
Some doors are open
Some roads are blocked
(…)
And all around your island
There’s a barricade
It keeps out the danger
It holds in the pain
Tom Petty & The Heartbreakers: Walls
Madame Leonies Nase war so lang und so spitz wie die eines Ibisses. Papa sagte, das komme daher, dass sie sie überall hineinstecke.
«Du warst ja schon ewig nicht mehr hier, Antoine.» Ihre Augen glitzerten hinter den dicken Brillengläsern. «In den letzten Monaten habe ich nur noch deine Hilfsköche zu sehen bekommen.»
«Ich hatte viel zu tun», sagte Papa und ließ seinen Blick über das Gemüse in der Auslage des Marktstandes schweifen: über leuchtend lilafarbene Auberginen, Ronde de Nice, die runden Zucchini, groß wie Kinderköpfe, leuchtend rote Tomaten, Salatköpfe, in denen noch der Morgentau glitzerte.
«Das wundert mich nicht, jetzt, wo du ein Starkoch bist!» Madame Leonie schob ihre Brille mit dem Zeigefinger hoch. «Die Kritiker überschlagen sich mit Lob über dein neues Restaurant. Erst letzte Woche habe ich einen Artikel im Le Parisien gelesen. Darin stand, dass das Petite Étoile ein strahlender Stern am Himmel von Paris sei und dass es nicht mehr lange dauern werde, bis das Restaurant auch mit einem ausgezeichnet wird.»
«Die Kritiker schreiben viel, wenn der Tag lang ist. Mir liegt mehr am Urteil der Gäste.» Papa nahm eine der Tomaten in seine große Hand und wandte sich an Sophie. «Was meinst du? Ist die schon gut?»
Sophie drückte die rote Schale leicht und nickte. Tomaten hatten die perfekte Reife, wenn sie sich voll und saftig anfühlten und bei Druck leicht nachgaben, das hatte Papa ihr erklärt.
«Und worauf müssen wir bei den Champignons achten?» Papa zeigte auf die hellbraunen Köpfe, die gleich neben den Tomaten lagen.
Sophie schaute zu ihm auf. Papa war groß wie ein Baum. «Sie dürfen nicht nass sein und müssen überall die gleiche Farbe haben.»
«Oh, so jung und bereits eine Expertin, deine Kleine.» Madame Leonie lächelte mit ihren rosa angemalten Lippen.
«Ich bin schon fünf.» Um ganz sicherzugehen, dass die Marktfrau sie verstand, hielt Sophie dabei ihre Hand in die Höhe.
Nachdem Papa bei Madame Leonie neben Tomaten und Champignons auch noch Knoblauch, Frühlingszwiebeln und Petersilie erstanden hatte, machten sie sich auf den Weg zu Monsieur Pierre, dem Käsehändler, um Gruyère zu kaufen. Papa sagte, erst der verleihe dem Omelett, das er Sophie zum Frühstück machen wollte, die perfekte Balance aus Würze und Cremigkeit.
Monsieur Pierre schnitt gerade einen frischen Laib Käse an und arrangierte ihn zusammen mit dem großen Messer auf dem Holzbrett. Der Mann selbst war dünn wie Schnittlauch. Unter seiner weißen Schürze wölbte sich jedoch ein kugelrunder Bauch. Es wirkte, als hätte er eine von Madame Leonies Ronde de Nice verschluckt. Auch Monsieur Pierre gratulierte ihm zu seinem Erfolg. «Ich muss mal vorbeikommen und mich selbst von deiner Küche überzeugen. Aber dafür muss ich noch eine Menge Käse verkaufen.» Er zwinkerte Papa zu.
«Was hat er damit gemeint?», fragte Sophie, nachdem Papa das große Stück Gruyère zu dem Gemüse in den Korb gesteckt hatte.
Lächelnd beugte ihr Vater sich zu ihr hinunter und strich ihr übers Haar. «Monsieur Pierre wollte damit sagen, dass er viel Käse verkaufen muss, um sich einen Besuch im Petite Étoile leisten zu können. Denn das Essen in unserem Restaurant ist teuer.»
«Weil es so gut ist?»
«Ja! Und davon werde ich dich gleich überzeugen, mon petit ange.» Papa nahm Sophie an die Hand.
Die fröhlichen Stimmen der Marktstandbetreiber und ihrer Kundschaft begleiteten Sophie noch eine Weile, bis Papa und sie in das Labyrinth der engen Gässchen von Montmartre eintauchten. Aus dem Café Le Papillon Blanc wehte der leckere Duft von frischen Croissants. Sophies Magen knurrte. Zu gerne hätte sie Papa gefragt, ob er ihr eines der süßen Gebäckteilchen kaufen würde. Aber da er gleich für sie kochen wollte, tat sie es lieber nicht, denn sie wollte ihn nicht verärgern. Papa arbeitete so viel, da waren ihre gemeinsamen Stunden in den letzten Monaten selten und kostbar geworden. Sophie hatte sich deshalb umso mehr gefreut, als er heute Morgen in ihr Zimmer gekommen war und leicht an ihrer Bettdecke gerüttelt hatte, um sie zu fragen, ob sie Lust auf ein Abenteuer mit ihm habe. Ihr Herz hatte vor Aufregung laut geklopft, als sie auf Zehenspitzen durch die Wohnung gehuscht waren, um Mum nicht zu wecken.
Das Petite Étoile lag an der Ecke Rue des Aristides und Rue de la Lune. Der Eingang war flankiert von verzierten Säulen, die bis zum Dach reichten. Über dem Portal war ein goldenes Schild mit dem Namen des Restaurants angebracht. Rechts und links davon hingen Laternen, deren Licht es bei Dunkelheit genauso hell leuchten ließen wie der Stern, nach dem es benannt worden war.
Jetzt fiel die Morgensonne durch die bodentiefen Fenster in das Restaurant und erhellte den Speisesaal. Sophie liebte die kunstvollen Gemälde an den Wänden mit den wunderschönen Landschaften darauf, den glänzenden Stoff der Vorhänge, weich und elegant, und die auf den Tischen verteilten Kristallvasen in verschiedenen Formen und Größen mit den bunten Blumen darin. Vor allem aber liebte sie die Küche. Sie war groß und hell, mit funkelnden Töpfen und Pfannen auf dem Herd, denen köstliche Gerüche entströmten. Köche und Köchinnen mit weißen Kochjacken und Mützen auf dem Kopf wuselten geschäftig herum und bereiteten Essen zu, das auf dem Teller wie ein Kunstwerk aussah.
Heute Morgen jedoch war es noch still. Sie waren allein hier. Papa holte einen Hocker von der Bar. Er stellte ihn neben den Herd und hob Sophie hinauf, sodass sie ihm bei der Arbeit zuschauen konnte. Mit flinken Handbewegungen schnitt er die Tomaten in dünne Scheiben und die Frühlingszwiebeln in Ringe. Es duftete frisch und würzig. Dann machte er sich an die Champignons. Nachdem er den Gruyère mit einer großen Reibe in klitzekleine Käsebrösel zerrieben hatte, gab er ihn mit den Eiern in eine Schüssel und würzte mit Salz und Pfeffer. Das Gemüse brutzelte bereits in einer Pfanne vor sich hin, und Sophie beobachtete gebannt, wie die Eierflüssigkeit in einer zweiten Pfanne langsam stockte und sich in ein goldfarbenes Omelett verwandelte. Papa gab das Gemüse darauf, klappte das Omelett behutsam um und ließ es dann auf einen Teller gleiten, bevor er es mit einem Sträußchen Petersilie garnierte. Sophie lief das Wasser im Mund zusammen.
«Bitte sehr!» Er drückte ihr eine Gabel in die Hand.
Der Geschmack der saftigen Tomaten, der frischen Pilze und des cremigen Käses zusammen mit den Eiern explodierte förmlich auf ihrer Zunge, und Sophie schloss voller Behagen die Augen. Es kam ihr vor wie Zauberei, dass aus so einfachen Zutaten ein so köstliches Gericht entstehen konnte, und in ihr formte sich ein Entschluss.
«Du, Papa!» Sophie zupfte ihm am Ärmel seines Hemdes.
«Ja.»
«Wenn ich groß bin, will ich doch keine Prinzessin werden», sagte sie mit vollem Mund.
«Ach! Und was wirst du dann?» Papa schmunzelte.
Sophie schluckte den Bissen Omelett hinunter. «Ich werde Köchin. Hier im Petite Étoile.»
Papa betrachtete sie einen Augenblick nachdenklich, und Sophie hatte schon Angst, dass er die Idee doof finden würde, aber dann strich er ihr über den Kopf und sagte: «Das ist eine ganz hervorragende Idee, und nichts würde mich glücklicher machen.»
Die Bewohnerinnen und Bewohner des Sunrise of Frognal standen auf dem Vorplatz Spalier, als Sophie mit ihrer Mutter die vornehme Seniorenresidenz im Londoner Stadtteil Chelsea verließ. Alle machten betrübte Gesichter. Mrs Finch weinte sogar dicke Tränen in das blütenweiße Taschentuch mit ihrem aufgestickten Monogramm.
«Ich werde dich so vermissen, Tanya», schluchzte sie und warf sich ihr in die Arme.
Auch Major Thompson sah noch deprimierter aus als sonst. Heute hingen nicht nur seine Mundwinkel nach unten, sondern auch die Spitzen seines Walrossschnurrbarts.
«Kopf hoch, Leopold. Ich bin ja nicht aus der Welt. Wir können uns trotzdem weiterhin sehen!» Tanya befreite sich aus Mrs Finchs Umarmung und tätschelte dem Major mit ihren beringten Fingern den Arm. Dann nahm sie den Katzenkorb, in dem ihr schneeweißer Perserkater Thomas saß. Huldvoll wie die Queen winkte sie noch ein letztes Mal, um dann in Richtung von Sophies flaschengrünem Mini Cooper Cabrio zu marschieren. «Ich hätte ihnen den Cannabis dalassen sollen.» Mit einem tiefen Seufzer schaute sie auf die gefiederten Blätter der bestimmt ein Meter hohen Hanfpflanze in ihrer linken Hand hinunter. «Jetzt, da ich weg bin, werden sie nicht mehr allzu viel Spaß haben.»
«Darf ich dich daran erinnern, dass genau diese Hanfpflanze der Grund ist, aus dem deine inspirierende Gesellschaft hier fürderhin nicht mehr erwünscht ist, Mutter?» Genervt drehte Sophie sich noch ein letztes Mal um und schaute an der Fassade des Sunrise of Frognal hoch.
Kletterrosen, die im Sommer rosa und weiß blühten, schlängelten sich daran empor und legten sich wie eine Umarmung um die weißen Fensterrahmen, die einen hübschen Kontrast zum warmen Braun der Steinmauer bildeten. Hinter einem Fenster im Erdgeschoss stand eine sehr schlanke Frau mit vor der Brust verschränkten Armen und zusammengekniffenen Lippen und starrte finster auf sie hinunter. Mrs Keene wollte offensichtlich sichergehen, dass ihre Mutter ihr Reich auch wirklich verließ.
Sie war kein bisschen begeistert gewesen, als Tanya gefordert hatte, in der Seniorenresidenz ein paar Wände einzureißen, um offene, ineinanderfließende Räume zu schaffen, künstliche Wasserfälle und Kristallleuchter in den Gemeinschaftsräumen zu installieren und einen Zen-Garten mit einem Teich voller Koikarpfen im Innenhof anzulegen, um die Energie ins Gleichgewicht zu bringen und die Lebensfreude der Bewohner und Bewohnerinnen zu erhöhen. (Feng-Shui war Tanyas aktuelles Hobby.) Wahrscheinlich war sie sogar ganz froh über die Sache mit dem Cannabis gewesen, weil sich ihr so ein Vorwand geboten hatte, Sophies exzentrische Mutter als Bewohnerin loszuwerden.
«Am besten hätte ich der auch einen von meinen Keksen gegeben. Das hätte sie vielleicht etwas lockerer gemacht.» Tanya war Sophies Blick gefolgt.
Auch Sophie hätte einen gebrauchen können. Denn eigentlich hätte sie jetzt auf dem Weg zu James Parker ins Londoner West End sein sollen. Mit zittrigen Händen nahm sie ihrer Mutter den Katzenkorb ab und stellte ihn in den Fußraum des Beifahrersitzes, um sich dann selbst auf den Fahrersitz zu setzen. Es war eine Katastrophe, dass sie ihre Assistentin Sai darum hatte bitten müssen, den Termin mit Parker zu verschieben. Er galt als einer der vielversprechendsten Newcomer in der britischen Kochszene, und er war ausgesprochen medienscheu. Dieses Interview war das erste, das er seit der Eröffnung seines Restaurants Bali Blue gab, und es hatte ihr Sprungbrett sein sollen. Ihr Sprungbrett zu einer eigenen Show. Erst gestern hatte Sophie ihrem Chefredakteur Harry das Konzept für Dining Delights gepitcht, und er schien von ihrer Idee durchaus angetan zu sein. Bisher war sie vor allem für ihre Restaurantkritiken bekannt, die sie auf dem Blog des Senders veröffentlichte. Mit Dining Delights wollte sie ein neues Kapitel aufschlagen: Statt weiterhin über gehypte Restaurants zu schreiben, plante sie – begleitet von einem Kamerateam –, außergewöhnliche kleine Restaurants ins Rampenlicht zu rücken und die Geschichten der Menschen zu erzählen, die mit Leidenschaft und Herzblut hinter den Kulissen wirkten. Zum Beispiel die von Giovanni, der im Londoner East End mit viel Herz eine Trattoria betrieb, oder die von Nisha, einer herzlichen Inderin, die in Nisha’s Kitchen ihre Gäste mit traditionellen Familienrezepten und exotischen Düften aus ihrer Heimat verzauberte.
Beruflich war es in der letzten Zeit gut gelaufen, und es schien, als zahlte sich Sophies jahrelange harte Arbeit endlich aus. Nach ihrem Studium an der London School of Culinary Arts, wo sie neben verschiedenen Kochtechniken auch Seminare in Lebensmittelhygiene, Menüplanung, Geschmackskomposition und Restaurantmanagement belegt hatte, hatte sie Kurse an der renommierten Kochschule Le Cordon Bleu besucht und sich außerdem mit ihrem Blog Sophies Kitchen’s Adventures einen Namen als Foodbloggerin gemacht. Sie hatte als Assistentin bei der BBC in der Abteilung für kulinarische Sendungen gearbeitet, wo sie an der Produktion von Kochshows mitarbeitete, und ein Praktikum bei der Zeitschrift Gourmet Traveller absolviert, wo sie erste Erfahrungen im Schreiben von Restaurantkritiken sammeln konnte. Schließlich hatte sie die begehrte Stelle beim Food Network ergattert. Erst als Assistentin, dann als Redakteurin. Sie war als Restauranttesterin sogar schon in der bekannten Sendung The Best Thing I Ever Ate aufgetreten. Eine eigene Show war der nächste logische Schritt, und Harry hatte morgen früh mit ihr über ihre Idee sprechen wollen. Hoffentlich schaffte es Sai, einen neuen Termin mit Parker auszumachen, sodass sie ihn Harry gleich präsentieren konnte. Darüber, was passieren würde, wenn Parker jetzt nicht mehr zu einem Gespräch mit ihr bereit war, durfte sie gar nicht nachdenken. Sophie versuchte, die aufsteigende Panik durch langsames Einatmen und doppelt so langes Ausatmen niederzukämpfen, aber es gelang ihr nicht wirklich.
Der Anruf von Mrs Keene war mitten in der allmorgendlichen Redaktionskonferenz gekommen.
«Es hat einen Vorfall gegeben», hatte Mrs Keene das Gespräch eröffnet, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, woraufhin Sophies Herz gleich zwei erschrockene Sprünge machte.
«Was ist passiert?», brachte sie atemlos hervor und verließ hastig den Konferenzraum.
«Ihre Mutter handelt mit Drogen. Wenn Sie nicht wollen, dass wir sie anzeigen, müssen Sie sie sofort abholen», antwortete Mrs Keene frostig, um dann ohne ein weiteres Wort aufzulegen.
Zunächst war Sophie tatsächlich erleichtert gewesen. Sie hatte mit etwas Lebensbedrohlichem gerechnet wie etwa einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall. Doch dann wurde ihr die Tragweite von Mrs Keenes Worten bewusst. Dass ihre Mutter mit Drogen handelte, war absurd. Woher sollte sie die haben? Sophie versuchte, Mrs Keene umgehend zurückzurufen, doch die Leiterin nahm ihren Anruf nicht entgegen.
Sophie entschuldigte sich bei Harry mit einem familiären Notfall, und nur wenige Minuten später kämpfte sie sich mit ihrem Mini durch die wie immer verstopften Straßen Londons von Soho nach Kensington.
«Ich fasse es nicht», sagte Sophie zu Tanya, als diese endlich neben ihr im Mini saß. «Schlimm genug, dass du auf deinem Balkon Marihuana anbaust und daraus Kekse backst. Aber dass du sie auch noch verteilst, und das anscheinend seit Monaten, ist wirklich unverzeihlich. Wie bist du nur auf diese Schnapsidee gekommen?» Sie merkte selbst, dass der Ausdruck in diesem Zusammenhang unfreiwillig komisch wirkte.
«Es hatte rein medizinische Gründe.»
«Rein medizinisch, aha!»
«Du brauchst gar nicht so abfällig zu schnauben.» Tanya faltete sittsam die Hände auf dem Stoff ihres kurzen Rocks, der sich eng an ihre kräftigen Oberschenkel schmiegte. «Die schmerzlindernde und entspannende Wirkung von Cannabis ist wissenschaftlich erwiesen. Ein Keks, und Rosalind hat geschlafen wie ein Baby, sogar Dianes Arthritis ist verschwunden.»
«Bedauerlich nur, dass das Ganze außer Kontrolle geraten ist», bemerkte Sophie trocken.
Tanya schmollte. «Ich konnte schließlich nicht damit rechnen, dass Edgar gleich den ganzen Teller verputzt.»
«Laut Mrs Keene hat er splitterfasernackt auf dem Tisch getanzt, weil er sich für Iggy Pop gehalten hat.»
«Den Anblick hätte er uns besser erspart.» Ihre Mutter schauderte. «Wirklich dumm, dass mich jemand bei Mrs Keene verpetzt hat!» Sie presste die vollen roten Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
«Ja, wirklich zu dumm!» Sophie schloss kurz die Augen, bevor sie den Motor des Minis startete. «Und jetzt? Wohin soll ich dich fahren? Ich habe heute noch unglaublich viel zu tun und muss gleich wieder in die Redaktion zurück.» Sie hatte ihrer Mutter geholfen, das Nötigste in ihren Koffer zu packen, für ihre restlichen Sachen und die Möbel würden sie eine Spedition benötigen.
«Ich dachte, ich könnte vielleicht erst einmal bei dir …» Plötzlich klang Tanya ganz kleinlaut. «Es ist leider nicht ganz so einfach, in London ein Hotel zu finden, in dem Katzen erlaubt sind. Und du hast doch noch ein Zimmer frei.» Sie klimperte mit den dick getuschten Wimpern.
Ja, das hatte sie, seit Matt vor anderthalb Jahren ausgezogen war, und genauso lange nahm sie sich schon vor, aus seinem Arbeitszimmer ein Ankleidezimmer zu machen. Hätte sie es doch nur getan! Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen! «Gut. Aber wirklich nur vorübergehend.» Geld spielte bei ihrer Mutter keine Rolle. Da würde es hoffentlich trotz der desaströsen Lage auf dem Londoner Immobilienmarkt nicht allzu lange dauern, bis sie wieder eine neue Bleibe fand. «Und kein Wort über den wahren Grund deines Rauswurfs zu Riley! Sie ist gerade in einer schwierigen Phase, und es wäre nicht gut, wenn sie wüsste, dass ihre Großmutter Drogen angebaut hat.»
«Angebaut hat, das hört sich an, als hätte ich eine ganze Hanfplantage besessen. Dabei ist es nur diese eine Pflanze.»
«Ja, und diese eine Pflanze wird gleich im nächsten Mülleimer landen.»
Tanya wollte schon protestieren, Sophie sah es ihr an, doch sie schluckte ihren Widerspruch hinunter. «Was soll ich Riley denn sagen?» Sie schürzte die Lippen. «Dass ich im Sunrise unerwünscht war, weil ich den Hausmeister vernascht habe?»
«Nein, um Himmels willen. Der ist jünger als ich.»
Tanya verdrehte die Augen. «Als ob das heutzutage ein Hindernis wäre. Dieser langhaarige Kerl von Heidi Klum ist doch auch nur halb so alt wie sie, und die beiden sind sogar verheiratet.»
Sophie widerstand der Versuchung, links ranzufahren und den Kopf auf das Lenkrad sinken zu lassen. Für Diskussionen mit ihrer Mutter, zumal so absurden, fehlte ihr zurzeit einfach die Kraft. «Wir sagen Riley einfach, dass du gegangen bist, weil dir das Essen nicht geschmeckt hat.»
«In Ordnung. Dabei ist das wirklich köstlich.» Tanya seufzte tief. «Kochst du eigentlich inzwischen, oder gibt es nach wie vor nur Essen vom Lieferdienst?»
«Letzteres, aber du darfst dich gerne an den Herd stellen und Riley und mich für die Dauer deines Aufenthalts verköstigen. – Verdammt!» Sophie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Im Stadion des FC Chelsea fand offenbar ein Spiel oder sonst eine Veranstaltung statt, denn sie war direkt in einen Stau hineingefahren. Ein kurzer Blick auf das Navi zeigte Sophie, dass alle Ausweichstrecken ebenfalls verstopft waren. Zu allem Überfluss klingelte in diesem Augenblick auch noch ihr Smartphone. Sai! Oh Gott! Hatte ihre Assistentin bereits mit Parker gesprochen? Wenn er den Interviewtermin absagte, war sie geliefert.
«Willst du nicht rangehen?», fragte ihre Mutter.
Sophie schüttelte den Kopf. «Ich rufe später zurück.» Sie befand sich auch ohne eine solche Hiobsbotschaft kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Und dann stand ihr am Abend noch diese verfluchte Veranstaltung bevor. Annabelle Scott, Topmodel und Liebling der britischen Presse, trat in die Fußstapfen von Kolleginnen wie Kate Moss, Gigi Hadid und Cindy Crawford und eröffnete heute ihr Restaurant. Runaway hieß es, und es würden eine ganze Menge Prominenz und Branchenprofis anwesend sein.
Sophie hasste solche Veranstaltungen. Sie fand, es sollten nicht die Restaurants die meiste mediale Aufmerksamkeit bekommen, die einen prominenten Besitzer hatten, sondern diejenigen, die sich durch Authentizität, Qualität und unerschütterliche Hingabe auszeichneten. Deshalb war Dining Delights ein Herzensprojekt für sie. Ihre Show sollte eine Hommage an die kulinarische Vielfalt Londons sein, und sie wollte dem Publikum die wahren Helden und Heldinnen der Gastronomie vorstellen. Auch die Giovannis und Nishas dieser Welt sollten endlich eine Plattform bekommen, nicht immer nur die Annabelles.
Sophie hatte Harry darum gebeten, jemand anderen zur Restauranteröffnung zu schicken und darüber berichten zu lassen. Doch Harry hatte darauf bestanden, dass sie ging. Weil sie sein bestes Pferd im Stall sei. Es würde hart werden, sich die Unvoreingenommenheit zu bewahren, die dieser Job verlangte.
Wenn die Straßen frei waren, brauchte Sophie nur knapp zehn Minuten vom Sunrise of Frognal bis zu sich nach Hause. Heute hatte es fast eine Stunde gedauert, und inzwischen hatte sie nicht nur den Interviewtermin mit Parker verpasst, sie musste sich jetzt auch ganz schön beeilen, wenn sie vor der Restauranteröffnung noch in die Maske wollte. So ein Mist!, dachte sie, als sie in die Kensington Court Mews einbog, eine malerische, von hohen Platanen gesäumte Straße im Herzen des gleichnamigen Stadtteils.
Das Viertel grenzte direkt an den Hyde Park und war bekannt für seine zahlreichen viktorianischen Straßenzüge, die Besucherinnen und Besucher mit ihrer Atmosphäre ins 18. Jahrhundert zurückversetzten. Damals hätte sicher kaum einer auf die «Mews», die Stallungen, geachtet, die sich hinter den beeindruckenden Stadthäusern versteckten. Als im 20. Jahrhundert Autos die Pferdekutschen verdrängten, wurden die Mews zu einfachen Wohnungen oder öffentlichen Einrichtungen umgebaut, in Hinterhöfen, die jahrelang einen zweifelhaften Ruf hatten. Heute gehörten die Gebäude aufgrund ihrer Lage in ruhigen, gepflasterten Seitenstraßen zu den gefragtesten Wohnobjekten von ganz London, und vor allem jetzt im Sommer, wenn alles blühte und Rosen in allen Farben an vielen Hauswänden hinaufkletterten, war das Viertel einfach nur bezaubernd. Sophie musste sich gelegentlich immer noch kneifen, um zu glauben, dass sie in einem dieser Häuser lebte.
Matt und sie hatten ihr Häuschen kurz vor Rileys Geburt vollkommen heruntergekommen gekauft und jahrelang renoviert. Nun war es ein echtes Schmuckstück. Es hatte eine weiß verputzte Fassade und eine Treppe mit schmiedeeisernem Geländer, die zu einer anthrazitfarbenen Eingangstür ins hochgelagerte Erdgeschoss führte. Grüne Buchsbäumchen standen im Eingangsbereich und schmückten die Blumenkästen vor den weißen Sprossenfenstern.
Sophie hievte den Koffer ihrer Mutter die Treppe hinauf. Die Musik schallte ihr schon entgegen, bevor sie die Haustür aufgeschlossen hatte. Creep von Radiohead. I wish I was special, You’re so fucking special. But I’m a creep, I’m a weirdo. Sophie kannte den deprimierenden Text inzwischen auswendig, denn wenn Riley zu Hause war, lief der Song in Endlosschleife. Aber jetzt war es erst früher Nachmittag, und Riley sollte doch … Was zum Teufel!
Wie Sophie hatte Riley lange brünette Haare, dunkle Augen und ein herzförmiges Gesicht mit einem Kinn, das ein kleines bisschen zu spitz war. Aber während Sophie zu einem engen cremefarbenen Rollkragen einen streng geschnittenen grauen Anzug trug, lümmelte Riley in einem ausgewaschenen Radiohead-Shirt mit herausgerissenen Ärmeln, engen Jeans und Doc Martens auf dem Zweisitzer im Wohnzimmer.
«Schuhe von der Couch», fuhr Sophie sie an. «Und außerdem … was machst du überhaupt schon hier? Du hast bis halb vier Schule.»
«Reg dich ab! Der Sportunterricht ist ausgefallen, und wir hatten früher Schluss.»
Sophie kniff die Augen zusammen und musterte ihre Tochter. Sollte sie ihr das wirklich glauben? Riley hatte in diesem Schuljahr schon öfter die Schule geschwänzt. Doch sie hielt ihrem festen Blick ohne Probleme stand, und so war Sophie es, die den Augenkontakt löste und zu Boden schaute. Dieses Früchtchen!
«Was machst du denn hier, Oma?» Riley umarmte Tanya. Die beiden hatten sich schon immer gut verstanden.
«Ich wohne jetzt erst einmal bei euch.» Tanya stellte den Katzenkorb auf den Boden und öffnete ihn für Thomas, der hoheitsvoll hinausschritt, auf das Sofa sprang und sich dort neben Riley zusammenrollte.
«Wolltest du nicht mehr im Frognal bleiben?» Riley streichelte das lange Fell des Katers. Der schwarze Lack an ihren Fingernägeln war schon ganz abgeblättert.
«Mir hat das Essen nicht mehr geschmeckt.»
«Ich dachte, das ist so lecker.»
«Es war hervorragend. Bis der Koch gewechselt hat», sagte Tanya, ohne eine Miene zu verziehen, und Sophie bewunderte sie für ihre Schauspielkunst.
«Bei dir gab es heute also McDonald’s.» Sophie blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf die leeren Verpackungen, die Riley auf dem Wohnzimmertisch verteilt hatte. «Wieso hast du nicht in der Schule gegessen?», wollte sie noch folgen lassen, schließlich bezahlte sie jeden Monat eine Menge dafür, doch da schaltete sich schon ihre Mutter ein.
«Das ist ja jetzt vorbei! Oma wird jetzt für dich kochen, Schätzchen!» Sie strahlte ihre Enkelin an.
Riley sah nicht besonders begeistert aus, und Sophie war es auch nicht. Sie konnte das Gefühl nicht loswerden, dass ihre Mutter es nicht besonders eilig hatte, sich wieder eine eigene Bleibe zu suchen.
Ihr Misstrauen wurde noch verstärkt, als sie Tanya und ihren Koffer in den ersten Stock brachte, wo sich neben einem kleinen Bad Rileys und ihr Schlafzimmer sowie Matts ehemaliges Büro befanden.
«Darauf kann ich auf gar keinen Fall schlafen.» Beim Anblick der ausziehbaren Couch verzog ihre Mutter das Gesicht. «Da bekomme ich ja schon vom Hinschauen einen Hexenschuss. Wir müssen uns gleich mal nach einer Spedition umhören, die mir schnellstmöglich mein Bett bringt.»
«Du musst dich umhören. Ich muss zurück in die Redaktion. Und ich glaube nicht, dass es sich lohnt, deine Möbel hierherliefern zu lassen. So lange wirst du hier schließlich nicht bleiben.» Sophie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel und verließ das Büro.
Tanya lief ihr hinterher. «Wie lange bist du denn weg? Ich könnte Lasagne machen. Die mag Riley doch so gern.»
«Mach das, aber wartet nicht auf mich damit. Bei mir kann es spät werden.»
«Triffst du dich mit jemandem?» Die Augen ihrer Mutter leuchteten. Nichts war ihr lieber als die Vorstellung, dass Sophie wieder im Rennen war.
«Nein, ich muss nach Shoreditch. Annabelle Scott eröffnet heute Abend ihr Restaurant.»
Tanya klatschte in die Hände. «Oh, du bist wirklich ein Glückspilz! Die liebe Annabelle würde ich zu gerne einmal persönlich treffen.»
Die liebe Annabelle! Sophie verdrehte die Augen. Weil Tanya über Prominente immer nur mit ihrem Vornamen sprach, hatte sich in der Seniorenresidenz bis zuletzt das Gerücht gehalten, sie habe in jungen Jahren eine Affäre mit Harrison Ford gehabt.
«Sie ist so ein guter Mensch», schwärmte ihre Mutter weiter. «Wusstest du, dass sie sich für Obdachlose einsetzt? In der Sun habe ich gelesen, dass sie in ihrem Restaurant regelmäßig Mahlzeiten für Bedürftige anbieten will.»
«Das bringt ihr sicher gute Presse ein.»
Tanya verzog das Gesicht. «Wann bist du denn nur so furchtbar zynisch geworden?»
Gute Frage! Gelegenheiten hatte es genug gegeben. Als Matt ihr vor anderthalb Jahren mit den Worten «Ich wollte das nicht. Es ist einfach so passiert» verkündet hatte, dass er sich in eine Frau namens Margot verliebt hatte vielleicht. Oder als sich Riley vom süßen kleinen Mädchen in ein aufsässiges Pubertier mit viel zu viel schwarzem Kajal um die Augen und sechs Ringen im rechten Ohr verwandelt hatte.
«Du gehst zu der Restauranteröffnung von Annabelle Scott?», kreischte sie jetzt.
Sophie nickte.
«Wie cool!» Rileys dunkle Augen leuchteten. «Auf TikTok haben sie gesagt, dass Annabelle jetzt mit Sam Harbour zusammen ist.» Der Schauspieler spielte in ihrer Lieblingsserie Eerie Encounters mit. «Kannst du mir ein Autogramm von ihr mitbringen? Vielleicht bekomme ich in der Schule ein bisschen was dafür.»
Die Geschäftstüchtigkeit ihrer Tochter entlockte Sophie ein Lächeln; das erste an diesem Tag. Doch dann klingelte ihr Handy, und ihr Lächeln verschwand. Entweder war es wieder Sai oder – schlimmer! – Harry, der inzwischen erfahren hatte, dass der Termin mit Parker heute geplatzt war. Doch auf dem Display ihres Smartphones stand ein anderer Name: Matthew. Was wollte der denn von ihr?
Sophie tippte auf das grüne Telefonsymbol auf dem Display. «Ja?»
«Hast du es auch bekommen?», fragte Matt.
«Was meinst du?»
«Das Schreiben vom Familiengericht.»
Sophie spürte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß bildete. «Ich weiß nicht, ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Warte!» Sie lief nach draußen und schaute in den Briefkasten. Tatsächlich! Neben den üblichen Reklamezetteln lag ein Briefumschlag mit dem Absender Family Court. Sie riss den Umschlag auf und las:
Hiermit bestätigen wir Ihnen, dass der Scheidungsbeschluss im Verfahren 139 F 4708/23 vom 25. Mai am 25. Juni 2024 rechtskräftig geworden ist.
«Ja, es ist da.» Obwohl Sophie seit Wochen mit dem Schreiben gerechnet hatte, fühlte sich ihr Mund auf einmal trocken an. Einen Moment lang schwiegen sie beide.
Matt war der Erste, der dieses Schweigen brach. «Hast du heute Abend Zeit? Wir könnten etwas trinken gehen.»
«Du willst mit mir auf unsere Scheidung anstoßen?»
«Nein, ich dachte nur», einen Moment herrschte wieder Stille auf der anderen Seite, «wir könnten ein bisschen reden.»
«Über was denn? Vor Gericht wurde doch alles geklärt.»
«Was weiß ich. Über alles Mögliche.» Sophie konnte förmlich hören, wie er sich die Haare raufte. «Das Ganze geht an mir auch nicht spurlos vorbei. Du bist mir immer noch wichtig», ließ Matt leise folgen.
Sophie schluckte. Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme berührte sie, und für einen Augenblick wurde sie schwach. Heute Abend konnte sie zwar nicht, aber vielleicht morgen … Doch dann hörte sie im Hintergrund ein Baby schreien. Phoebe. Die Kleine war vier Monate alt, und wären die Umstände andere gewesen, hätte Sophie das Kind mit seinen blonden fusseligen Haaren und dem Miniaturzahn im Unterkiefer süß gefunden. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht sogar Margot gemocht, die rothaarige, grünäugige, widerlich nette Margot.
«Ich muss zu einem Termin. Ich rufe dich morgen zurück.» Sophie legte auf und ließ sich einen Moment gegen die Hauswand sinken. Nun war es also vorbei. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Zu gern hätte sie in diesem Moment ihren Tränen freien Lauf gelassen und um den Mann getrauert, mit dem sie achtzehn Jahre, drei Monate, zwei Wochen und sechs Tage ihres Lebens verbracht hatte. Mit dem sie gelacht und geweint hatte und mit dem sie nicht nur ihr Bett, sondern auch ihre Träume geteilt hatte. Aber dazu war jetzt keine Zeit. Nie war Zeit für irgendetwas. Sie blinzelte die Tränen weg und straffte die Schultern.
«Ich bin jetzt weg», rief sie in den Hausflur, wo ihre Mutter und Riley noch immer standen.
«Wer war das denn?», wollte ihre Tochter wissen.
«Dein Vater.» Sophie zögerte kurz, sprach es dann aber doch aus: «Die Scheidungspapiere sind da.»
Riley sah sie einen Moment aus verschmierten Kajalaugen ausdruckslos an, dann rannte sie die Treppe hinauf, und Sophie hörte, wie eine Tür zugeschlagen wurde.
Tanya kam zu ihr nach draußen. «Sie wird es überleben. Das hast du ja schließlich auch geschafft.»
Ja, das hatte sie. Irgendwie zumindest. Ebenso wie sie den vollkommen überraschenden Tod ihres Vaters überlebt hatte. Sophie spürte, wie sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten.
«Es wäre wirklich toll, wenn du Riley eine Lasagne machst. Das heitert sie sicher auf», sagte sie mit leicht abgewandtem Kopf, damit ihre Mutter ihr Gesicht nicht sehen konnte. «Und frag sie doch heute Abend bitte, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht hat. Ihre Noten sind zurzeit nicht die besten.»
«Das mach ich.» Tanya tätschelte ihre Schulter. «Nimm dir das alles nicht so zu Herzen! Riley ist ein Teenager, und Matt …»
«Ist ein Idiot?»
«Ein Weichei. Sei froh, dass du ihn los bist.» Tanyas Blick wurde nachdenklich. «Wusstest du eigentlich, dass dein Liebes-Bagua in deiner Gästetoilette liegt?»
«Mein was?»
«Dein Liebes-Bagua. Das ist der Bereich im Haus, der für Liebe und Partnerschaft zuständig ist. Idealerweise befindet er sich im Schlafzimmer.» Tanya kam in Fahrt. «In der Küche oder im Wohnzimmer wäre auch in Ordnung. Aber auf der Gästetoilette ist es wirklich ungünstig. Zu viel Wasser, das es wegschwemmt. Wir könnten den schlechten Einfluss abmildern, wenn wir die Wände rosa streichen und ein paar Dekoherzen verteilen. Wenn du möchtest, kann ich …»
«Auf gar keinen Fall. Kein Rosa! Keine Herzen! Lass bitte alles einfach so, wie es ist!» Sophie warf einen Blick auf die Uhr. Verdammt! Inzwischen war es so spät, dass sie es vor der Veranstaltung noch nicht einmal in die Maske schaffen würde, wenn sie pünktlich um 18 Uhr im Runaway sein wollte! Was für ein schrecklicher Tag!
Als Sophie gehört hatte, dass Annabelle Scott ein Restaurant eröffnen wollte, hatte sie es in einer exklusiven Wohngegend vermutet, in Mayfair zum Beispiel, neben exklusiven Geschäften und Luxushotels. Doch das Runaway lag in Shoreditch, einem Viertel im Osten von London, das für seine alternative Szene bekannt war. Auf der Suche nach einem geeigneten Parkplatz fuhr Sophie an mit bunten Graffiti verzierten alten Lagerhallen vorbei, die zu Galerien, Ateliers und Büros von kreativen Start-ups umgewandelt worden waren.
Das Runaway befand sich in einem restaurierten Fabrikgebäude, dessen Backsteinfassade und hohe Fenster von der industriellen Vergangenheit des Viertels zeugten. Auf der Straße davor strömten elegant gekleidete Gäste in Richtung Eingang. Fotografen und Reporter huschten umher, um Bilder von den prominenten Gästen zu machen, die sich bereits auf dem roten Teppich tummelten, der zum Eingang des Restaurants führte. Eine zierliche Frau mit Kleidergröße 0 stolzierte gerade in Trippelschritten an der Seite eines muskulösen Mannes mit tätowierten Armen darüber und entfachte ein Blitzgewitter. Das mussten David und Victoria Beckham sein. Leider sah sie die beiden nur von hinten, als sie im Schritttempo am Restaurant vorbeifuhr. Im direkten Umkreis würde sie keinen Parkplatz finden. Alle Parkplätze waren von teuer aussehenden Autos besetzt. Wie ärgerlich! Naomi, ihre Kamerafrau, wartete sicher schon auf sie. Und Sai, die nicht nur ihre Assistentin, sondern auch für den Social-Media-Auftritt des Food Network zuständig war … Hoffentlich hatte sie den Termin verlegen können! Sophie hatte sie noch nicht zurückgerufen, und dazu, ihre Mails zu lesen, war sie auch nicht gekommen.
Fast zehn Minuten musste sie im Kreis herumfahren, bis sie endlich eine winzige Lücke zwischen zwei SUVs entdeckte, in die sie ihren Mini hineinquetschte. Sophie holte ihr Schminktäschchen aus der Handtasche und frischte ihr Make-up auf. Sie hätte sich wohler gefühlt, wenn sie von einer Visagistin professionell geschminkt worden wäre, aber nun musste es eben so gehen. In den Fenstern ihres Autos überprüfte sie, ob ihre weiße Bluse und der streng geschnittene graue Hosenanzug fleckenfrei waren. Nach dem bisherigen Verlauf des Tages hätte es sie nicht überrascht, irgendwo an ihrem Revers ein Kaugummi zu entdecken. Sophie atmete tief durch und machte sich auf den Weg zum Runaway.
Sie rekapitulierte noch einmal, was sie über Annabelle Scott recherchiert hatte: Als 16-Jährige war sie nach London gekommen, hatte dort in einem Burger-Restaurant gearbeitet und war von einer Modelagentin entdeckt worden, von der sie auch heute noch vertreten wurde. Sie war schnell auf den Covern verschiedener Magazine erschienen, das Gesicht zahlloser Werbekampagnen geworden und lief seitdem für alle bekannten Designer. Auf die Frage, ob sie kochen könne, hatte Annabelle in einem Interview einst geantwortet, dass sie ja noch nicht einmal esse. Sophie hätte nicht ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass das ein Scherz war.
Sie schlängelte sich durch die Menge der vielen Schaulustigen, die sich um den roten Teppich versammelt hatten, und hielt Ausschau nach Naomi und Sai. Da waren sie! Naomi stand mit der Kamera in der Hand direkt hinter der Absperrung und filmte. Sai hielt sich ein Stück abseits. Als sie Sophie sah, kam sie auf sie zu und umarmte sie.
Die meisten Frauen in der Redaktion mochten Sophie nicht besonders. Zumindest hatte sie den Eindruck. Erst vor einem halben Jahr hatte sie zwei Kolleginnen belauscht, die darüber getuschelt hatten, dass ihr Aufstieg von der Foodbloggerin zu einer der bekanntesten Restaurantkritikerinnen Londons ja sowieso nur so schnell gegangen sei, weil sie die Tochter von Kochlegende Antoine Dubois war. Damit hatten sie einen wunden Punkt getroffen. In Sophies Pass stand der Name ihrer Mutter: Wilde. Als Sophie Wilde hatte sie auch angefangen zu bloggen, bis sie gemerkt hatte, wie schwierig es war, als No-Name in der Food-Szene ernst genommen zu werden. Also hatte sie sich als Sophie Dubois am Cordon Bleu beworben, der renommierten Londoner Kochschule, auf der Spitzenköche und -Konditoren wie Peggy Porschen, Mary Berry und Rachel Khoo ihren Abschluss gemacht hatten. Und sie war genommen worden.
«Ich habe dahinten die Beckhams gesehen.» Sai strahlte. Sie war Mitte zwanzig und erst seit ein paar Wochen beim Food Network angestellt. Wahrscheinlich stand sie Sophie deswegen noch unvoreingenommen gegenüber.
«Glaub mir, es werden nicht die einzigen Promis sein, die du heute Abend zu Gesicht bekommst!» Sophie hob die Hand und winkte Naomi zu, die sie nun ebenfalls bemerkt hatte. «Hast du Parker erreicht?»
«Ja, hast du meine Mail gar nicht gelesen?»
«Nein, ich kam heute zu nichts. – Und jetzt sag schon: Ist Parker bereit, das Interview zu verschieben?»
«Ja, das war kein Problem. Ich habe ihm von dem familiären Notfall berichtet, und er meinte, du sollst dich bei ihm melden, wenn du wieder einen Kopf dafür hast.»
«Das hat er wirklich gesagt?» Sophie hatte vor Erleichterung weiche Knie.
«Ja! Jetzt lass uns aber reingehen. Ich bin schon so gespannt, was uns erwartet!» Sai zog Sophie in Richtung der zwei Security-Männer, die vor dem roten Teppich standen und den Einlass kontrollierten. Die beiden hatten die Statur von Rugbyspielern und trugen hautenge, maßgeschneiderte schwarze Anzüge. «Sophie Dubois und Sai Sharma vom Food Network.» Sophie streckte den beiden Männern ihre Einladung entgegen.
Der größere von beiden, ein attraktiver Schwarzer mit kantigem Gesicht und schon leicht grau meliertem Dreitagebart, warf einen flüchtigen Blick darauf und hakte sie auf einer Liste ab, bevor er in geschäftsmäßigem Ton sagte: «Willkommen im Runaway. Genießen Sie Ihren Abend.»
Sai kicherte. «Das werde ich ganz sicher, wenn der mich am Ende nach Hause begleitet», flüsterte sie Sophie zu, nachdem sie sich ein paar Schritte entfernt hatten. «Der Typ ist ja so heiß.»
Sophie hob den Zeigefinger. «Benimm dich bloß!», warnte sie mit einem leichten Lächeln. «Harry köpft uns, wenn wir rausgeschmissen werden, weil du den Türsteher belästigst.» Die Eröffnung des Runaway stieß auf ein riesiges Medieninteresse, und der Sender konnte es sich nicht leisten, nicht darüber zu berichten. Außerdem war sie heute schon bei einem Rauswurf zugegen gewesen …
Sai machte ein paar erste zögernde Schritte auf dem roten Teppich und wandte sich zu Sophie um. «Werden wir eigentlich auch fotografiert?»
«Auf jeden Fall. Bei solchen Veranstaltungen knipsen die Fotografen alles und jeden, um ja keine Szene zu verpassen, die sie später womöglich für viel Geld verkaufen können. Wir werden es nur nicht in die Presse schaffen. Es lohnt sich also nicht, groß zu posieren.» Sophie gab Sai, die sich bereits in Pose geworfen hatte und in die Kameras strahlte, einen freundlichen Schubs.
Doch die blieb wie angewurzelt stehen. «Da ist sie.» Sai starrte zum Ende des Teppichs. Annabelle Scott stand dort, um ihre Gäste persönlich zu begrüßen. Gerade hieß sie Lucia Rossi willkommen, eine Foodbloggerin mit über einer Million Followern. Ihr folgte ein Designer in einem neongrünen Anzug, der für seine avantgardistischen Kreationen bekannt war. Annabelle trug ein langes schwarzes Abendkleid mit einem dezenten Schlitz an der rechten Seite, das Make-up war perfekt, und ihre Haare … Noch nie hatte Sophie so unglaublich schöne Haare gesehen. Sie waren von einem satten Honigblond mit ein paar helleren Highlights, und sie reichten ihr in perfekten Hollywoodwellen bis fast zur Hüfte.
«Sie ist wunderschön, noch schöner als auf Fotos oder im Fernsehen», hauchte Sai.
Ja, das war sie, musste Sophie widerstrebend zugeben. Annabelle Scott sah aus wie eine fleischgewordene Barbiepuppe, und trotzdem hatte sie diese sympathische Girl-Next-Door-Ausstrahlung, die dafür sorgte, dass alle sie liebten. Alle außer Sophie.
«Sophie Dubois.» Annabelle Scott schien ihre Abneigung nicht zu erwidern, denn sie kam strahlend auf sie zu. «Es ist mir so eine Ehre, Sie kennenzulernen. Das ist ein echter Fangirl-Moment für mich.»
Fangirl-Moment?
«Ich habe alle Ihre Blogartikel gelesen», erklärte Annabelle, «und ich besuche alle Restaurants, die Sie empfehlen.» Sophie zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. Annabelle ging also in Fred’s Pub, der zwar in der Szene angesagt war, aber in einer versteckten, wenig vertrauenerweckenden Gasse nahe der Themse lag, um dort Freds berühmten Haggis zu essen? Sie ging in The Old Ship Inn, das berühmt für seine überdimensional großen und äußerst leckeren Fish and Chips war? Wer’s glaubt, dachte sie. Dieses Püppchen wollte ihr doch nur Honig um den Mund schmieren, damit sie eine gute Bewertung von ihr bekam. Aber sie war wirklich eine gute Schauspielerin. Sie schaute Sophie bei ihren Worten in die Augen, und ihr Lächeln wirkte ehrlich und offen. Bei ihren nächsten Worten verblasste es allerdings. «Es hat mir übrigens sehr leidgetan, vom Tod Ihres Vaters zu erfahren», sagte Annabelle deutlich leiser. «Er war ein wunderbarer Mensch, und ich habe ihn sehr gemocht.»
«Sie haben ihn gekannt?»
«Ja. Wenn er in London war, haben wir uns hin und wieder getroffen. Antoine war es auch, der mich ermutigt hat, dieses Restaurant zu eröffnen.» Annabelles Blick glitt flüchtig über Sophies Kopf hinweg. «Lassen Sie uns nach dem Essen noch ein bisschen plaudern.» Hinter Sai und ihr hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet.
«Natürlich.» Sophie konnte selbst hören, wie kratzig ihre Stimme klang.
«Darf ich Ihnen einen Champagner anbieten?», fragte eine Asiatin mit riesigen Augen und langen dunklen Zöpfen, gleich nachdem Sai und sie das Restaurant betreten hatten.
Geben Sie mir am besten gleich eine ganze Flasche, hätte Sophie zu gerne gesagt, doch sie musste ablehnen. «Ich bin mit dem Auto hier.»
«Wenn du magst, kann ich dich nach Hause fahren», bot Sai an. «Ich trinke keinen Alkohol.»
«Niemals?»
«Er schmeckt mir einfach nicht.»
Beneidenswert. «In diesem Fall nehme ich dein Angebot gerne an.» Sophie ließ sich von der Kellnerin ein Glas reichen.
Sai machte sie auf ihrem Weg durch das Runaway auf alle möglichen Stars und Sternchen aufmerksam, aber Sophie hörte nur mit halbem Ohr zu. Annabelle hatte ihren Vater gekannt, sich sogar mit ihm getroffen. Um die Benommenheit loszuwerden, die sie seit dem Gespräch überkommen hatte, ließ sie ihren Blick umherschweifen.
Die Wände des Restaurants bestanden aus rauem Sichtbeton, der immer wieder von LED-Panels unterbrochen wurde. Clips von Modeschauen liefen darauf. Die Einrichtung war minimalistisch: Auf schwarzen Tischen standen schlanke silberfarbene Kerzenhalter und schlichte Vasen mit weißen Calla-Lilien, die dem Raum einen futuristischen Touch verliehen. Über den Gästen schwebte ein Arrangement aus eleganten Lichtern und Kristallkugeln. Im Zentrum des Restaurants befand sich eine um eine Säule gebaute Bar. Ein Bereich des Lokals war für prominente Gäste abgetrennt, damit sie ungestört dinieren konnten. Heute hatte man dort lackschwarze Stehtische mit Tabletts voller Häppchen aufgebaut, und das dicke schwarze Tau, das normalerweise vor dem Zugang hing, war gelöst worden. Sophie steuerte auf einen der Tische zu. Sie hatte heute kaum etwas gegessen. Vielleicht würde es ihr nach ein paar Häppchen besser gehen. Sie leerte ihr Glas Champagner und griff nach einem der kunstvoll auf silberfarbenen Tabletts drapierten Kanapees. Es war eine Miniquiche.
«Warte! Ich muss erst noch ein Foto für meine Instagram-Story machen.» Sai zückte ihr Handy. «Bitte lächeln!»
«Muss ich unbedingt auch auf dem Bild sein? Ich finde, die Kanapees reichen.»
«Ja, das musst du. Die Stories werden viel häufiger angeschaut, wenn Menschen darauf zu sehen sind.»
«Gut.» Sophie rang sich ein Lächeln ab. Sais leichtes Stirnrunzeln zeigte ihr zwar, dass ihr etwas mehr Begeisterung lieber gewesen wäre, aber sie gab sich mit dem Ergebnis zufrieden. Sai probierte eine Lachsrose, die auf einer dünnen Schicht Gurkenscheiben platziert worden war, Sophie steckte sich die Miniquiche in den Mund. Sie schmeckte Eier, Schnittlauch, Pilze, Gruyère – all die Zutaten, aus denen ihr Vater sein berühmtes Omelett gezaubert hatte. Sophie versuchte, die aufsteigende Traurigkeit zusammen mit der Miniquiche hinunterzuschlucken, doch es gelang ihr nicht. Bei ihr hatte sich ihr Vater schon seit vielen Jahren nicht mehr gemeldet, wenn er in London gewesen war.
Bei der Tischordnung hatte Annabelle sich dafür entschieden, Prominente, Vertreter der Presse und Menschen aus der Food-Branche zu mischen. Sophie teilte sich ihren Tisch mit einem Rapper, einem Model, das vor ein paar Jahren für Victoria’s Secret in knappen Dessous und mit Flügeln auf dem Rücken über den Laufsteg geschwebt war, einem bekannten Kochbuchautor, einer Frau, die die Obdachlosenorganisation leitete, die Annabelle unterstützte, und Marco, dem Lebensgefährten der Food-Influencerin Lucia Rossi. Sehnsüchtig schaute Sophie zu Sai und Naomi hinüber, die zusammen an einem der runden Tische platziert worden waren. Sie war an diesem Abend so gar nicht in Stimmung für Small Talk oder Networking. Bedauerlicherweise zeigte sich Marco überaus interessiert an ihrer Arbeit beim Food Network.
«Darfst du dir die Restaurants aussuchen, die du testest, oder entscheidet das der Sender für dich?» Der kleine Italiener mit den glänzend schwarzen Haaren und dem schmalen Schnurrbart beugte sich aufmerksam zu ihr herüber.
«Das ist ganz unterschiedlich. Ich darf natürlich Vorschläge äußern, aber das letzte Wort hat tatsächlich Harry, mein Chefredakteur», antwortete Sophie.
Ein leises Klirren brachte die Gespräche zum Verstummen. Annabelle war aufgestanden und schlug mit einer Dessertgabel sacht gegen ihr Glas. Sie saß zusammen mit den Beckhams, dem Designer in dem neongrünen Anzug und weiteren Stargästen an einem Tisch in der Mitte des Restaurants. Familienmitglieder schienen nicht anwesend zu sein, auch nicht Sam Harbour, der Schauspieler, mit dem Annabelle angeblich zusammen war.
«Liebe Freunde, liebe Gäste», begann Annabelle mit einem strahlenden Lächeln, «ich bin überglücklich, dass ihr heute hier seid, um die Eröffnung meines Restaurants Runawayzu feiern. Der Name Runaway ist für mich mehr als nur eine Hommage an meine Vergangenheit. Er steht für das, was mich immer angetrieben hat – die Sehnsucht nach Freiheit, nach neuen Horizonten, nach dem Ausbrechen aus dem Gewohnten. Genau das möchte ich hier mit euch teilen. Ich will, dass das Runaway ein Ort ist, an dem man dem Alltag entfliehen kann – sei es für ein paar kostbare Stunden oder einfach nur für einen einzigen unvergesslichen Bissen.» Sie nahm einen Schluck Wasser. «Unser Konzept ist denkbar einfach: Wir bringen die Welt direkt auf eure Teller – mit Aromen, die euch auf eine Reise mitnehmen. Ob exotische Gewürze aus fernen Ländern oder feinste lokale Zutaten aus Cornwall – jedes Gericht erzählt eine Geschichte, jedes Menü lädt dazu ein, für einen Moment woanders zu sein. Dabei setzen wir auf Qualität und Authentizität, die ihresgleichen sucht. Wir haben keine Mühen gescheut, die besten Zutaten zusammenzutragen, oft direkt aus den entlegensten Ecken der Welt. Ich lege größten Wert darauf, eng mit lokalen Produzenten und internationalen Lieferanten zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass jedes Gericht nicht nur authentisch, sondern auch absolut frisch ist. Denn hier im Runaway findet nur das Allerbeste seinen Weg auf eure Teller.»
Qualität und Authentizität, die ihresgleichen sucht … Nur das Allerbeste … Es fiel Sophie schwer, nicht die Augen zu verdrehen. An Selbstbewusstsein mangelte es Annabelle Scott jedenfalls nicht.
«Aber das Runaway ist mehr als nur ein Restaurant», fuhr das Model fort. «Es ist ein Ort der Begegnung und des Austauschs. Ich möchte einen Raum schaffen, in dem Menschen zusammenkommen, ihre Geschichten teilen und sich von der Vielfalt und Schönheit der kulinarischen Welt inspirieren lassen.»
Annabelle machte eine kleine Pause, um einen weiteren Schluck Wasser zu trinken, und als sie weitersprach, zitterte ihre gerade noch so feste Stimme ein klein wenig. «Wie wichtig das vor allem in der heutigen unsicheren Zeit ist, hat mich ein lieber Freund gelehrt. Er war es auch, der mich dazu ermutigt hat, meinen Traum in die Tat umzusetzen. Ich spreche von einem Mann, dessen Name sicher fast allen von euch ein Begriff ist: Antoine Dubois. Antoine ist vor zwei Jahren viel zu früh von uns gegangen, und sein Tod hat eine große Lücke in meinem Leben hinterlassen. Umso mehr freue ich mich, dass seine Tochter heute Abend hier ist. Sophie Dubois!»
Annabelle nickte ihr zu, und alle Köpfe wandten sich in ihre Richtung. Sophie spürte, wie ihre Kehle sich verengte und ihr Rücken ganz steif wurde.
«Ich glaube, Sie sollen aufstehen», flüsterte ihr das Model zu ihrer Linken zu.
Nur zögernd erhob Sophie sich kurz, und Applaus setzte ein. Dass Annabelle allen einen wunderschönen Abend und guten Appetit wünschte, bekam sie kaum noch mit. In ihrem Kopf brauste es. Annabelle Scott hatte ihren Vater nicht nur gekannt, die beiden hatten eine enge Beziehung zueinander gehabt. Sonst hätte das Model doch wohl kaum davon gesprochen, dass sein Tod eine große Lücke in ihrem Leben hinterlassen hatte. Aus Sophies eigenem Leben dagegen war er schon einige Jahrzehnte zuvor verschwunden. Sie blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, und kippte den Champagnercocktail, der vor dem Essen gereicht worden war, in einem einzigen Schluck hinunter.
Weil Marco sich endlich der Dame von der Obdachlosenorganisation zu seiner anderen Seite zuwandte und das Viktoria’s-Secret-Model mit dem Kochbuchautor sprach, nahm Sophie ihr Smartphone aus der Handtasche und öffnete es. Sie gab die Namen Antoine Dubois und Annabelle Scott ein. Ein gemeinsames Bild von den beiden fand Sophie nicht. Dafür viele Fotos, die Antoine zusammen mit Fiona, einer Schauspielerin und seiner letzten Frau, auf verschiedenen Veranstaltungen abbildeten. Auf anderen Fotos war er allein zu sehen: beim Essen von Nudeln in einer Garküche in Thailand, wo er inmitten von einheimischen Gästen auf einem winzigen Plastikhocker saß, entspannt mit einem Guinness in der Hand in einem irischen Pub, aber auch in einem Burger-Restaurant in New York, zusammen mit einem Spieler der New York Yankees.
Er sei ausgebrannt und brauche eine Auszeit, hatte ihr Vater damals zu Tanya gesagt und war auf Reisen gegangen. Ein paar Jahre lang war er zumindest noch sporadisch zurückgekommen. Seine Besuche hatten in Sophie stets die Hoffnung geweckt, dass er bleiben würde, wenn sie nur brav genug war und alles richtig machte. Doch dann war er doch immer wieder losgezogen. Irgendwann wurden die kostbaren Besuche durch Telefonanrufe zu Weihnachten und an ihrem Geburtstag ersetzt. Nach einiger Zeit kamen stattdessen Karten, schließlich blieben auch die aus.
Vor zwei Jahren jedoch war dann doch wieder eine Karte gekommen. Sie war in der Provence abgeschickt worden, und ihr Vater bat sie um ein Treffen. Es hatte dringend geklungen, trotzdem hatte Sophie ihm nie geantwortet. Nur wenige Wochen später war Antoine allein in einem Hotelzimmer in New York gestorben. Sophie atmete gegen das Engegefühl in ihrem Brustkorb an. Worüber hatte ihr Vater so kurz vor seinem Tod unbedingt mit ihr reden wollen?
Sie betrachtete sein ausgemergeltes Gesicht mit der hohen zerfurchten Stirn, in die ein paar Strähnen seines leicht gewellten, inzwischen stahlgrauen Haares fielen, und sie schaute in seine stets ein wenig melancholisch dreinblickenden Augen mit den dicken Tränensäcken, die von zu viel Stress und zu wenig Schlaf zeugten. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass er Annabelle empfohlen haben sollte, ein Restaurant zu eröffnen. Ein Grund, aus dem er das Petite Étoile nämlich letztendlich verkauft hatte, war, dass er neben den stressigen Arbeitsbedingungen keine Lust mehr auf seine elitäre Kundschaft hatte. Er war der Ansicht gewesen, dass Essen verbinden und Schranken überwinden sollte, und fest davon überzeugt, dass die besten gastronomischen Erlebnisse dort zu finden waren, wo man sie am wenigsten erwartete. Genau deswegen war Antoine wie besessen um die Welt gereist.