A3360 - Sophie Syksch - E-Book

A3360 E-Book

Sophie Syksch

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Beschreibung

"Wie fühlt es sich an, glücklich zu sein? Deshalb lachen Pferde doch, oder?" A3360 ist ein streng geheimes Experiment, das vorsieht, einen Supersoldaten zu erschaffen, der ohne jegliches Gewissen in feindliche Lager eindringen und den Feind ausschalten kann. Alex ist ein solcher Soldat. In seinem Kopf wurden Mikrochips und Schaltkreise eingesetzt, die ihm ermöglichen, wie ein Supercomputer zu denken - allerdings kann er keine Emotionen mehr deuten. Weder seine eigenen, noch die anderer Pferde. Als er aus dem Labor ausbricht, beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, denn jeder will verhindern, dass das geheime Experiment an die Öffentlichkeit gerät. Als Alex Zuflucht bei Jessica Mc Laren, einer ehemaligen Mitarbeiterin des Labors, findet, überschlagen sich die Ereignisse. Mit einem Pferd das noch nie zuvor am realen Leben teilgenommen und überdies keinerlei Verständnis für andere Pferde hat, ist das Chaos quasi vorprogrammiert. Noch ahnt niemand, dass eine düstere Verschwörung in den Tiefen von Alex Vergangenheit steckt. Zu allem Überfluss findet sich Jess bald schon in einem Zwiespalt zwischen ihrer Freundschaft zu Alex und dem leitenden Wissenschaftler des Labors, ihrem Ex-Freund Clyve Higgins, der nach all den Jahren wieder großes Interesse an ihr zu haben scheint...

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Nachwort

K01

2005

Das Licht flackerte an und erhellte einen weiß gefliesten Flur. Ruhiges Schnauben schlafender Pferde drang aus einigen Zellen, die an einen nahezu kahl wirkenden Gang angrenzten und die Luft mit einer beinahe bedrückenden, stoischen Ruhe erfüllten.

Müde standen sie mit hängenden Köpfen in den Ecken ihrer Zellen. Sie hatten bereits aufgegeben, gegen die schweren Metalltüren anzukämpfen, die sie von der Außenwelt abschirmten. Ihre Ohren zuckten nur, als sie bemerkten, dass vier Wissenschaftler den Gang betraten, der tief unter der Erde aus dem Grundgestein gefräst worden war und dessen weiß angestrichene Felsdecke sich hoch über ihren Köpfen wölbte.

In ihrer Mitte führten sie einen schneeweißen Hengst mit dunkelgrauer Stehmähne, der sich heftig gegen die Führung der zwei viel stärkeren Hengste wehrte. Sein

Gesicht war gezeichnet von Furcht, sein Herz gebrochen. Doch sein Geist war es nicht. Er würde nicht aufgeben und für sein Recht auf Freiheit kämpfen, so, wie er es immer schon getan hatte.

Die vier weiß bekittelten Hengste ließen seine Fluchtversuche jedoch kalt. Grob zerrten sie den verängstigt wiehernden, weißen Hengst in einen abgesonderten Raum, abseits der anderen Zellen. Darin befand sich eine Ausbuchtung in der Felswand, deren Front mit mindestens einem Meter dicken Panzerglas verstärkt und an der ein Schild mit der Aufschrift A3360 angebracht war.

In diese Zelle stießen sie den weißen Hengst hinein und verriegelten drei Sicherheitstüren hinter ihm, noch bevor er herumspringen und einen von ihnen überwältigen konnte.

Donnernde Tritte hagelten auf die erste der drei Türen ein, als der weiße Hengst zornig versuchte, sich selbst zu befreien. Doch er merkte recht schnell, dass es keinen Zweck hatte, stellte sich in eine Ecke seines Raumes und presste mit Tränen in den Augen seinen Kopf an die Wand.

Was hatte er nur getan? Er hatte nur versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und nun war er hier. Alleine. Und jetzt dachten alle vermutlich, dass er tot sei. Seine Eltern, seine Freunde. Er würde sie niemals wiedersehen.

Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er schluchzend in die Knie sank und Leib und Seele ausschüttete. Er wusste nicht, was ihn erwartete, doch er hätte seinen Schweif darauf verwetten können, dass diese Teufel von den

Hancester Science Laboratories nichts Gutes im Sinn hatten. Sie und ihr unbändiger Drang, Pferde zu brechen, sie gegeneinander auszuspielen und zu ihren Marionetten zu machen. Die manipulativste Gewalt von allen.

Und mittendrin - er - der niemals damit gerechnet hatte, dass man ihn im Leben so sehr hintergehen würde.

Von diesem Tag an wurde der weiße Hengst stets von jeglichen anderen Pferden abgeschirmt, alleine in seiner Hochsicherheitszelle vor sich hin schmachtend. Die ersten Tage waren für ihn noch erträglich. Doch mit der Zeit lastete die Einsamkeit auf seiner Seele und brachte Schuldgefühle aus alten Zeiten zum Vorschein, die ihn abstumpften und wie eine leere Hülle werden ließen. Er verlor den Anschluss an die Welt und er verlor vor allem sich selbst. Und er verlor auch den Glanz in den Augen, die Hoffnung darauf, jemals wieder das Licht des Tages und die Sterne der Nacht erblicken zu können. Eingekerkert in eine weiße, sterile Hölle.

Nach und nach begann er zu verdrängen und zu vergessen, bis er an einem Punkt ankam, an dem er selbst nicht mehr wusste, wer er überhaupt war.

Den einzigen Kontakt zu Artgenossen hatte er, wenn ihm einer der Wissenschaftler einen Korb voll Heu unter dem Türschlitz hindurch schob oder, wenn er für sogenannte Behandlungen aus der Zelle gezerrt wurde.

Dass diese Behandlungen mehr experimenteller Natur waren, wurde ihm dabei relativ schnell bewusst, als man ihn nur noch mit der Nummer seiner Zelle ansprach. A3360. Eine Nummer, die sein Leben für immer verändern sollte.

Zu angeblichen Behandlungszwecken spannte man ihn in eine Konstruktion ein und jagte ihm mehrere starke Stromstöße durch den Körper. Laut dem leitenden Wissenschaftler, Professor Dr. Lester Higgins, sollten diese kontrollierten Schocks seinen aufgewühlten Geist beruhigen. Sie bewirkten jedoch, dass der Hengst nun nicht nur vergaß, wer er selbst war, sie löschten alles, was er in seinem gesamten Leben bis dato in seinem Gedächtnis verankert hatte.

Und mit diesem Gedächtnisverlust verlor A3360 auch den Drang, sich gegen die Maßnahmen zu wehren, die die Wissenschaftler an ihm vornahmen. Es waren höllische Schmerzen, denen sie den Hengst aussetzten, bis er nur noch leer in eine Ecke seiner Zelle starrte, wenn er wieder zurückkam.

Und schließlich folgte der finale Teil des Experiments. Lange hatten die Wissenschaftler an der Durchführung dieses Tests getüftelt, bis das Projekt bereit für die Durchführung gewesen war. So wurden, nach und nach, in vielen, stundenlangen Operationen Partien seines Gehirns durch elektronische Bauteile ersetzt. Von außen waren diese nicht erkennbar, sodass A3360 noch immer wie ein gewöhnliches Pferd aussah. Aber dieser Hengst war nicht mehr derselbe, der vor einigen Wochen noch schluchzend in seiner Zelle gelegen hatte.

Die Wissenschaftler hatten es geschafft, einen kleinen Teil seines Gehirns, das limbische System, durch mehrere miteinander verbundene Schaltkreise zu ersetzen. A3360 war daher nicht mehr in der Lage seine eigenen Gefühle zu deuten und Emotionen anderer Pferde zu erkennen. Stattdessen funktionierte sein Kopf nun wie ein Computer, der ihm Informationen vor die Augen projizierte, sobald er sie anforderte.

In vielen Tests wurde anschließend die Funktionalität dieses neuartigen Supercomputers auf die Probe gestellt. A3360 schlug sich meisterhaft im Lösen komplizierter, unbekannter Situationen und konnte dank einer speziellen Speichervorrichtung die Gesichter mehrerer tausend Pferde in Sekundenschnelle erkennen und benennen.

Doch A3360 war nicht dafür geschaffen worden, schwierige Aufgaben der Welt zu lösen, sondern um im Kriegsfall als Assassine unbekannt in feindliche Lager einzudringen und diese zu vernichten. Und welches Pferd wäre für solch eine Aufgabe besser geeignet, als eines, das weder Mitleid, noch Angst verspüren konnte? Ein Pferd, dem man keine Gefühlsregungen im Gesicht ansehen konnte, dessen Züge ihn nicht verrieten und der seine Zielscheiben zu einhundert Prozent sicher erkennen und ausschalten konnte.

In verschiedenen Trainingseinheiten setzte man die Gesichtserkennung also dazu ein, um Ziele möglicher Anschläge zu markieren und sie gezielt zu eliminieren. Meist waren es andere Experimente, die man mit ihm zusammen in einen Raum steckte und deren Funktionalität nicht hoch genug waren, um sich gegen ihn durchzusetzen. Viele von ihnen überlebten ihr Zusammentreffen mit dem weißen Hengst nicht und wurden bereits nach kurzem Duell schnell und mit der Präzision eines Henkers ausgeschaltet.

Die Wissenschaftler schien das jedoch kalt zu lassen. Hier unten galt eben das Gesetz des Stärkeren. Und er stand in diesem Moment ganz oben an der Nahrungskette. Eine Zeit der Euphorie wurde gefolgt von einem deutlichen Rückschlag, als A3360 von jedem seiner Feinde mehr und mehr dazu lernte, wobei er seine Kenntnisse mit rasender Geschwindigkeit erweiterte und sich immer schneller und besser an neue Situationen anpassen konnte. Doch je mehr er lernte, desto gefährlicher wurde er für die Wissenschaftler, die ihn erschaffen hatten. Sie begannen, diesen Hengst zu fürchten und als niemand sich mehr wagte, ihn aus seiner Zelle zu holen, wurde nach bereits einem halben Jahr entschieden, ihn fest in seiner Zelle zu stationieren und jegliche Interaktion mit dem Experiment zu unterbinden.

A3360 verspürte nun keine Einsamkeit oder Schuldgefühle mehr. Er funktionierte. Er atmete. Sein Dasein war für ihn nur noch ein Fakt in einer Welt aus Fakten. Solange er atmete, die Uhren sich drehten und das Licht des Labors im Stundentakt an und aus ging um Tag und Nacht zu simulieren, war er. Er lebte im hier und jetzt. Für ihn gab es nichts anderes mehr.

Dort, in der mit einer fünfzig Zentimeter dicken Panzerglasscheibe gesicherten und mit einem ausbruchsicheren Stahlgitter umgebenen Zelle, verbrachte er zehn Jahre, streng bewacht, von speziell ausgebildeten Soldaten, die im Ernstfall genug Munition bei sich trugen, um das gesamte Labor in die Luft zu jagen.

In die Zelle hinein führte ein Rohr mit drei Panzertüren, welche durch verschiedene Pin-Codes geöffnet werden mussten, die sich alle vierundzwanzig Stunden automatisch aktualisierten und sich zufällig aus Milliarden und Abermilliarden von Zahlencodes zusammenfügten.

Als das Experiment nach vier Jahren als zu gefährlich eingestuft wurde, um jemals fortgeführt zu werden, wurde A3360 täglich nur noch gefüttert und erhielt nicht einmal mehr den Kontakt zu den Wissenschaftlern, die sich inzwischen wieder anderen Experimenten gewidmet hatten.

A3360 spürte, dass etwas anders war. Er konnte nicht benennen, was es war, aber er war es gewohnt, täglich neue Aufgaben zu erhalten. Nun, als niemand mehr zu ihm kam, verspürte er den unbändigen Tatendrang, sich selbst eine Beschäftigung zu suchen. Man konnte beinahe behaupten, dass ihn die Zelle langweilte.

Doch in seiner Zelle war nichts, außer einem Bett, einer Tränke und einer Toilette, einer Rinne im Boden, die dauerhaft mit Wasser durchflutet war, die allen Unrat durch ein schräg abfallendes schwemmte, das in der Rückwand seiner Zelle eingelassen war. Nichts, mit dem er sich hätte ernsthaft auseinandersetzen können.

Also begann er Tag für Tag die Tür seiner Zelle zu inspizieren. Immer, wenn ihm Futter in die Zelle geschoben wurde, lugte er durch den schmalen Spalt der Futterluke, in der Hoffnung irgendetwas zu erkennen, das er nutzen konnte, um auszubrechen. Doch erfolglos.

Mit der Zeit jedoch stellte das Experiment A3360 einen Fehler im System des Labors fest, durch den er sich über das Netzwerk in seinem Kopf Zugang zum Sicherheitssystem des Labors verschaffen konnte. Und irgendwann war der Tag gekommen, an dem A3360 den Entschluss fasste, endlich auszubrechen und die Welt zu erkunden, die jenseits des Labors lag. Seinem Zuhause.

Für die Wachen vor seiner Zelle wirkte alles wie immer. Das Experiment stand mitten im Raum, die Augen auf die weiße Rückwand gerichtet.

Doch während er das trügerische Bild für sie aufrechterhielt, wurden vor A3360S Augen Massen an Datenpaketen und Zahlenmatritzen projiziert, die ihn davon abhielten in das Sicherheitssystem einzudringen. Aber das Experiment war wegen seiner hohen Intelligenz nicht umsonst als hochgefährlich eingestuft worden. Über eine vor wenigen Jahren entdeckte Methode, sich kabellos mit Netzweken zu verbinden, gelangte A3360 schließlich auf den Server des Labors. Vor seinen Augen begann das Experiment die Daten zu ordnen und dann die Codes mit Access Hybrid Codec zu entschlüsseln, einer Dekodiersprache, die eigens von den Labors entwickelt worden war und die nur sehr wenige Pferde der Welt nutzen konnten. Und er war eines davon.

Diese Codes setzte er schließlich ein, um ihm Durchlass zum Sicherheitssystem des Labors zu gewähren. Die Firewall war so in weniger als drei Sekunden durchbrochen.

Nun hatte A3360 Zugriff auf alle Sicherheitssektoren. Er schaltete also die Überwachungskameras ab und löste dann im von ihm am weitesten entfernten Sektor einen Alarm aus.

Im Labor wurde es vom einen Moment auf den Nächsten zappenduster. Nur das flackernde Licht der Alarmleuchten zog seine mahnenden Runden, um anzuzeigen, dass im gesamten Labor Stromausfall herrschte und offenbar Gefahr für die Mitarbeiter bestand, die sich nun an eine, sicheren Ort sammeln sollten, bis das Problem behoben war. Die Wachen zogen ab. A3360S Plan hatte erfolgreich begonnen.

Kaum waren die Wachen außer Sichtweite, begann das Experiment die Codes für die drei Sicherheitstüren zu entschlüsseln, die seine Zelle verschlossen hielten.

Die ersten beiden Türen basierten auf derselben Verschlüsselungsbasis wie die Firewall des Labors. Die dritte hingegen besaß eine neue Kombination von Codes. Ein äußerst komplexer Algorithmus, der dem Experiment noch völlig unbekannt war.

Mehrere Minuten lang untersuchte das A3360 den Code, der sich aus mehreren Millionen von Zahlen zusammenfügte, aus denen stündlich vier ausgewählt wurden. Per Zufallsprinzip - Eigentlich. Doch Zufälle gab es selbst bei Computern nicht.

Nachdem das Experiment die letzten zweihundert Codes der vergangenen Tage gründlich untersucht hatte, erkannte er endlich ein Muster und konnte berechnen welcher Code am wahrscheinlichsten für die Tür ausgewählt wurde. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass sein Code allerdings erst in zwei Minuten für die Tür freigegeben wurde. Also wartete er und lauschte.

Vereinzelt war das Rauschen der Ventilatoren zu hören, die Sauerstoff aus riesigen Tanks in die unterirdischen Gänge des Labors beförderten. Das kreischende Geräusch der Alarmsirenen ergänzte die Melodie. Ansonsten war es totenstill.

Ein kaum hörbares Piepen symbolisierte A3360, dass die Tür nun bereit war und er seinen Code einsetzen konnte. Er stellte die Zahlen ein und wartete darauf, ob die Tür sich öffnete. Wenn dieser Versuch fehlschlug, würde er eine ganze Stunde warten müssen und damit wäre seine Chance auf eine Flucht verspielt.

Mit einem lauten Klack öffnete sich dann jedoch der Riegel an der Tür, die sich nur unter vollem Körpereinsatz aufziehen ließ. Und dann war es geschafft. Das erste Mal frei. A3360 tat vorsichtig alleine einige Schritte auf den seltsam vertrauten und doch so ungewohnten Boden vor seiner Zelle und blickte sich um.

In den Gängen des Labors war entfernt Klappern und metallischer Lärm zu hören. A3360s Ohren erfassten weit entfernt das Geräusch der Wachen, die zurückkehrten. Der Alarm verklang plötzlich und die Lichter gingen wieder an.

Er musste sich beeilen!

Von seinem eigenen inneren Navigationssystem geleitet, trottete er gezielt durch die verzweigten Gänge des unterirdischen Labors, bis er einen Aufzug erreichte. Seine Fahrkarte in die Freiheit.

Der Aufzug konnte allerdings nur von einem Pferd genutzt werden, das über eine Passkarte verfügte, die nur Mitarbeiter des Labors besaßen. Glücklicherweise kam just in diesem Moment ein Mitarbeiter mit dem Aufzug im unteren Geschoss an, den das Experiment überwältigte und k.o. geschlagen hatte, bevor er auch nur einen Laut von sich geben konnte.

Mit dem Aufzug gelangte A3360 vom sechsundzwanzigsten Untergeschoss in das Erdgeschoss, wo er sich problemlos, an mehreren Mitarbeitern vorbei, ins Freie navigieren konnte.

Die Wachen an der Grenze passierte er mit einem Kopfnicken und zeigte brav seinen gestohlenen Pass im Vorbeigehen.

Die Wachen wussten nichts von dem Experiment und schöpften so keinerlei Verdacht und sahen sich auch das Passbild des Mitarbeiters nicht mehr genau an, als er das Gelände verließ.

Als A3360 bereits mehrere Meilen in den umliegenden Wald hinausgelaufen war, vernahm er vom Labor aus erneut Alarm. Doch dieses Mal, das wusste er, war es ein richtiger.

Doch er würde nicht zurückkehren. Er wusste, dass er eine Mission hatte, für die er geschaffen war. Und diese Mission war es, gefährliche Pferde zu beseitigen, um das Wohl seines Landes zu gewähren. Genau das würde er tun.

Wa er jedoch nicht wusste war, dass zu Testzwecken nicht die Gesichter von Schwerverbrechern auf seinem Chip gespeichert worden waren, sondern die Gesichter unschuldiger, zufällig vorbeigelaufener Passanten auf offener Straße.

Und genau diese würde A3660 in seinem Unwissen töten, wenn ihn nicht jemand davon abhielt.

Als das Verschwinden, des hochgefährlichen Experiments bemerkt wurde, geriet das gesamte Labor in Panik. Schließlich war das Experiment streng geheim, da es unter Höchststrafe verboten war, Experimente an lebenden Pferden durchzuführen.

Meldungen an alle Geheimdienste, Polizei, das FBI und Warnmeldungen in der Presse gingen um, wie ein Lauffeuer.

Dr. Higgins, der leitende Wissenschaftler im Experiment A3360 erschoss sich noch am selben Abend über dem am nächsten Tag erscheinenden Titel in der Daily Neigh, den er selbst verfasst hatte. Higgins war wohl zu spät bewusst geworden, dass er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen würde, wenn seine geheimen Machenschaften aufgedeckt wurden. Und ein gesamtes Leben hinter Gittern, das wollte und konnte er einfach nicht ertragen. Obwohl er genau das so vielen seiner Experimente angetan hatte.

Der Artikel, den er schrieb wurde aus Sicherheitsgründen zur Panikprävention nie veröffentlicht, doch seine Verzweiflung spiegelte sich bereits in den ersten Zeilen des Artikels wieder:

›A3360 flieht am 30.06.2.2015 aus einer Zelle im Hochsicherheitstrakt. Es wird vermutet, dass er auf der Flucht das Leben anderer Pferde gefährden könnte. Bei Sichtung, kontaktieren Sie bitte umgehend die Polizei und bringen Sie sich und Ihre Angehörigen in Sicherheit. Verschließen sie Fenster und Türen und verlassen Sie Ihr Haus nicht, bis Entwarnung gegeben wird. Rechtzeitiges Handeln könnte Ihnen und vielen anderen Pferden das Leben retten.‹

K02

»Wieder eine Absage!«, schnaubte Dr. Jessica McLaren genervt, als sie den Brief öffnete, den sie heute Morgen in ihrem Briefkasten gefunden hatte. Sie zerknüllte, wütend grunzend, den Zettel und pfefferte ihn in Richtung ihres Mülleimers, bevor die braune Stute mittleren Alters demonstrativ einen Schluck von ihrem viel zu kalten Kaffee nahm. Es war mal wieder einer dieser Montage, die sie ja ach so sehr liebte.

Inzwischen hatte sie die fünfte Absage innerhalb einer Woche erhalten und der Monat hatte gerade erst begonnen. Auf gut Glück hatte hatte sie sich als Ärztin in mehreren Arztpraxen beworben, doch anscheinend erfüllte sie die Anforderungen keiner einzigen Arbeitsstelle oder wurde schlichtweg nicht gebraucht.

»Zu hohe Qualifikationen für einen einfachen Hausarztberuf, melden Sie sich bitte bei der nächsten Klinik als Anwärterin zur Ärztin für angewandte Chirurgie«, das war ihr absoluter Favorit. Seufzend lehnte sie ihren Körper an die Wand neben sich, schaltete das Radio ein und lauschte dem Lied Manic Monday, das sie durch seine bloße Fröhlichkeit bereits tierisch aufregte. Welche Parallele zu ihrem eigenen, verrückten Leben es doch erzählte.

Vor nicht einmal einem Monat hatte sie noch glücklich in der Praxis des alten Dr. Jenkins gearbeitet, bis dieser von heute auf morgen einem Herzinfarkt zum Opfer fiel und eine leere Praxis hinterließ. Jess hätte sich ja als Nachfolgerin angeboten, doch die überaus freundlichen Erben hatten mehr als die Gesundheit ihrer Stadt im Sinne gehabt und die Praxis nach kurzer Überlegfrist an einen Kurkonzern verkauft, der daraus eine Klinik für Burnout-Patienten machen wollte. Und Psychologie war nicht gerade Jess Fachgebiet. Dieses Fach hatte sie an der Uni immer geschwänzt. Schließlich war es nur ein freiwilliger Kurs gewesen, als sie ihren Abschluss als praktizierende Chirurgin gemacht hatte.

Jess schwelgte noch für einen kurzen Augenblick in den Erinnerungen an ihre Studentenzeit, da wurde das Lied durch eine Eilmeldung unterbrochen. Die braune Stute mit wild gelocktem Fell drehte den Ton lauter.

›In der Nacht vom 30.06. zum 01.07.2015 ist ein hochgefährliches Pferd aus einer Anstalt ausgebrochen. Halten Sie Fenster und Türen verschlossen und verlassen Sie ihre Häuser oder den Arbeitsplatz nur im äußersten Notfall, bis die Lage wieder unter Kontrolle gebracht wurde. Bewahren Sie Ruhe, wir halten Sie auf dem Laufenden.‹

Jess Ohren hatten sich völlig unwillkürlich starr nach vorne gerichtet. Wenn eine solche Meldung kam, hatte das meist weit drastischere Gründe als ein Ausreißer aus einer Irrenanstalt. Das wusste sie von ihrer früheren Arbeitsstelle bei den Hancester Science Laboraories, einer Forschungsanstalt, in deren tiefer liegenden Stockwerken unter anderem auch Experimente an lebenden Pferden durchgeführt wurden. Allerdings hatten diese sich zuvor freiwillig gemeldet und sich mit den Bedingungen der Versuchsreihen offiziell einverstanden erklärt. So war zumindest Jess letzter Informationsstand gewesen.

Allerdings hatte sie sehr wohl auch mitbekommen, dass nicht immer alles ganz genau mit rechten Dingen zuging, wie die Wissenschaftler es dort immer den Anschein machen ließen. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass sie bei ihrem Praktikum nur die Spitze des Eisbergs erkundet hatte. Dass sie überhaupt so weit in die Projekte des Labors eingeweiht worden war, hatte sie einem ehemaligen Freund und Studienkollegen zu verdanken, dessen Vater die Einrichtung leitete. Die Higgins-Familie war schon seit Ewigkeiten an der Forschung vieler wichtiger Projekte beteiligt und sie hatte – wohl eher weniger als mehr - die Ehre gehabt, sich selbst an diesen Forschungen zu beteiligen. Aber wie Jess das jemals für eine gute Idee hatte halten können, war ihr bis heute noch schleierhaft.

Und nun durfte sie keiner Pferdeseele von dem erzählen, was sie gesehen hatte. Sie stand schließlich unter Eid, denn nicht nur das Labor, sondern auch der Secret Service und die Regierung waren an diesen Projekten beteiligt und hatten sie auch noch bewilligt. Für Jess war klar, dass die Welt der Geheimagenten und verrückten Wissenschaftlern nicht die ihre war. Sie hatte sich zwar nur um den Zustand der Testpferde gekümmert, hatte ihre Stelle aber schließlich gekündigt, um sich einem weniger nervenaufreibenden Job zu widmen – in dem sie nun keine Anstellung mehr fand.

Sie vermutete, dass eines der Experimente aus dem Laboratorium ausgebrochen war, das die Wissenschaftler immer so streng unter Verschluss hielten. Aber deshalb gleich eine Haussperre für alle Pferde der Stadt anzuordnen, hielt sie ohne Zweifel für leicht übertrieben. Die Experimente waren zwar modifizierte Pferde, aber im Herzen immer noch grundgute Geschöpfe, die einfach nicht wussten, was mit ihnen passierte. Viele waren bereits zu ihrer Zeit viel länger in den Laborebenen festgehalten worden, als zunächst in ihrem Vertrag vereinbart. Und keiner wollte ihnen erklären, warum das so war. Aber Jess durfte sich nicht länger den Kopf darüber zerbrechen. Das lag lange in der Vergangenheit. Vielleicht war auch etwas anderes passiert. Zu schnelle Schlüsse zu ziehen, war immer noch eine ihrer am wenigsten geliebten Eigenschaften. Schon so manches Mal hatte sie sich dadurch wertvolle Chancen in ihrem Leben verspielt. Wahrscheinlich war sie auch deshalb immer noch Single.

Mit einem mürrischen Seitenblick auf den bereits vor ihr auf dem Tisch zurechtgelegten Einkaufszettel, erhob sich Jess, um nach einem Blick in ihren leeren Küchenschrank festzustellen, dass sie nicht im Geringsten auf eine plötzliche Stadt-Quarantäne eingerichtet gewesen war. Und ihr Magen knurrte bereits verschwörerisch, als ob er ihr sagen wollte, dass das Besorgen von etwas Essbarem dieses Mal definitiv in der Kategorie äußerster Notfall einzuordnen war.

Ein Anruf bei den Nachbarn erwies sich als erfolglos. Der Anrufbeantworter dudelte bereits nach dem zweiten Freizeichen in Jess Ohr und verkündete, dass die Ferrys über die gesamte nächste Woche verreist waren. Die Greys waren um diese Zeit höchstwahrscheinlich bereits auf der Arbeit, deshalb trank Jess nur seufzend den ekelhaften, letzten Satz ihres Kaffees aus, packte ihre Tasche und machte sich dann mit unangenehmem Kribbeln im Bauch auf den Weg in die Stadt, um sich bei einem naheliegenden Supermarkt schnell für die nächsten Tage einzudecken.

Es war schließlich keine Naturkatastrophe, sondern nur ein entlaufenes Pferd. Und wenn dieses nicht gerade radioaktiv war, würde sie damit schon fertig werden. Sie würde einfach keine Umwege machen und danach sofort wieder nach Hause verschwinden. So jedenfalls der Plan.

Die Straßen waren wie leergefegt, als Jess in Richtung Innenstadt trottete. Überall Totenstille. Hier und da rollte ein einsamer Ball über die ausgestorbene Straße, als ob die Eltern ihre Kinder mitten im Spiel an der Mähne gepackt und ins Haus gezerrt hätten, um sie vor der Gefahr zu beschützen.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Jess Magengegend aus, als sie zu zweifeln begann. Vielleicht hätte sie die Warnung aus dem Radio doch ernst nehmen sollen.

Ein Hund bellte einsam in einer Seitenstraße und verjagte ein Eichhörnchen, das keckernd, mit einer Nuss im Maul, über die Straße raste und im Wipfel eines Baumes in einem der Vorgärten verschwand.

Aufmerksam behielt Jess die Umgebung im Auge, drehte ihre Ohren in alle Richtungen, sobald sie das Rascheln eines Blattes oder das Maunzen einer Katze hörte.

Als sie den ersten Wohnblock der Innenstadt passierte, empfing sie bereits das grelle Blaulicht eines Sondereinsatzkommandos, das eine Straßenkomplettsperre bildete und erblickte einen Trupp Soldaten, die zwei Dutzend geladene Maschinengewehre auf sie richteten.

Jess blieb abrupt stehen, als sie den Sohn ihres früheren Chefs und Studienkollegen, Dr. Clyve Higgins, unter ihnen erkannte, der seinen Hengsten das Signal zum Abbruch gab.

»Abbruch, Männer! Sie ist eine Freundin. Meine Güte, Jess, Was machst du denn hier? Es wurde doch eine Haussperre für alle Bürger angeordnet.«

Seine Stimme klang mehr erfreut, als überrascht.

»Verdammt, ich wusste doch, dass da was faul ist! Nervenheilanstalt bei Hancester, dass ich nicht lache! Was ist wirklich passiert, Clyve?«

Der goldene Palomino mit der breiten Blesse trat mit besorgter Miene an Jess heran und blickte mit wilden, blauen Augen um sich. Er kam ihr dabei nahe. Viel zu nahe, für das, was sich in den letzten Jahren zwischen ihnen abgespielt hatte. Schließlich hatte sie sich nicht ohne Grund von ihm getrennt und es war ihr äußerst unangenehm, ihm jetzt wieder so nahe zu sein.

Clyve war nämlich trotz seiner viel zu anhänglichen Art ein verdammt gutaussehender Kerl. Und seine strahlend blauen Augen mit den cyanfarbenen Sprenkeln auf verworrenen, dunkleren Melierungen zogen sie noch immer in ihren Bann. Doch das machte das Vorgefallene auch nicht wieder wett.

»Ich wünschte wirklich, ich könnte dir davon erzählen, aber das unterliegt leider strengster Geheimhaltung.«, seufzte ihr Gegenüber, bevor er über die Schulter zu seinen Hengsten blickte, die noch immer an Ort und Stelle standen und die Waffen in Schussbereitschaft hielten.

Jess blickte in die Runde der schwerbewaffneten Soldaten und erschauerte.

»Ein Experiment ist ausgebrochen, nicht wahr? Du musst nichts sagen. Nicke einfach, wenn ich recht habe.«

Clyve nickte mit unsicherem Schnauben.

»Na toll! Großartig. Ich habe dir damals schon gesagt, dass das eine total blöde Idee ist! Experimente an Pferden... war doch klar, dass das irgendwann herauskommt!«

Jess machte keinen Hehl daraus, wie wenig begeistert sie über diese Tatsache war. Es war nicht das erste Mal, dass sie Clyve wegen diesem Thema in den Ohren hing, aber offenbar war er ziemlich resistent gegenüber ihren gut gemeinten Ratschlägen. Vor zehn Jahren genau so sehr wie auch heute noch.

»Ich habe mir das doch nicht ausgesucht!«, versuchte sich der goldene Hengst zu verteidigen. »Mein Vater hat damit im Auftrag des damaligen Präsidenten angefangen und ich muss seinen Platz einnehmen. Er hat sich letzte Nacht erschossen. Also, mein Vater. Der Präsident ist ja schon etwas länger nicht mehr unter uns.«

Jess schluckte. Sie wusste wirklich nicht, was sie darauf sagen sollte. Clyve wirkte müde und abgeschuftet von der Nacht, doch irgendwie konnte sie nicht deuten, ob er im Moment getröstet werden oder einfach nur seine Ruhe haben wollte. Eines konnte sie jedoch nicht erkennen: Trauer. Es war, als ob für Clyve ein völlig normaler Alltag ablief. Als wäre der Tod seines Vaters nur eine nette, erwähnenswerte Nebensache. Dass Clyve und sein Vater sich nie besonders nahegestanden hatten, war Jess zwar kein Geheimnis, aber dass es so schlimm um ihre Beziehung stand, hätte sie nie zu träumen gewagt.

»Du brauchst mich nicht zu bemitleiden. Ich werde den Dreckskerl nicht vermissen. Er hat mein gesamtes Leben nach seinem Willen ausgerichtet. Und jetzt darf ich sein Schlamassel ausbaden«, Clyve hob den Kopf, um sich noch einmal umzublicken, weil ein Hund in der Nähe ganz plötzlich wie wild zu bellen begonnen hatte.

»Du solltest nach Hause gehen«, murrte er eindringlich und trat einen weiteren Schritt auf Jess zu, die seine Geste mit einem weiteren Schritt zurück erwiderte. »Soll ich dich vielleicht ein Stück weit begleiten?«

»Nein nein nein!«, panisch suchte Jess nach einer Ausrede,um nicht länger als nötig bei ihrem Ex bleiben zu müssen. Sie zweifelte jedoch an ihrer Überzeugungskraft, was wahrscheinlich auch der Grund dafür war, dass sie einfach die Wahrheit sagte. »Ich wollte nur schnell was in der Stadt besorgen. Ziemlicher Notfall, weißt du?!«

»Verstehe. Hast du wieder vergessen, einkaufen zu gehen?«

Der goldene Hengst vor ihr klang weniger überrascht, als sie erwartet hatte, weshalb sie nur mit den Schultern zuckte und sich mit einer beiläufigen Bewegung den Pony von der Stirn schnippte.

»Was soll ich sagen? Ich habe mich kaum verändert, seit damals.«

Jess hatte den Satz kaum ausgesprochen, da bereute sie ihn bereits. Ihre Alarmglocken begannen zu läuten als Clyve auflachte und erneut einen Schritt nähertrat, wobei Jess einen weiteren Schritt zurück machte und mit den Hinterhufen gefährlich nah am Bordsteinrand stand.

»Warum so distanziert?«, schnaubte der aufdringliche Palomino freundlich. »Du tust ja gerade so, als ob ich dich auffressen wollte. Hättest du zufällig Lust, irgendwann diese Woche etwas zu unternehmen? Nur wir zwei? Der alten Zeiten willen?«

Das leise Alarmglockenläuten schwoll unterdessen zu einem lautstarken Fliegeralarm an. Jess sog scharf die Luft zwischen ihren Zähnen hindurch, bevor sie sich schnurstracks an Clyve vorbei pressen wollte.

»Du, ich glaube, ich muss jetzt wirklich-«

Doch der Palomino hielt sie sanft mit seinem Vorderbein an ihrer Brust zurück und sie ließ es geschehen. Jeden anderen Hengst, hätte Jess nun ihre Hinterhufe spüren lassen, aber irgendetwas an Clyve war da, was sie zögern ließ. Sie wusste, dass es unvernünftig war. Schließlich war in der Vergangenheit viel zwischen ihnen vorgefallen. Aber irgendetwas an ihm hatte sich verändert. Er wirkte so viel älter und reifer, als er es noch vor zehn Jahren gewesen war. Vielleicht hatte er tatsächlich aus seinen Fehlern gelernt.

Clyve räusperte sich, ehe er sie aus seinen durchdringend blauen Augen traurig anblickte.

»Ich weiß, das mit uns ist lange her und ich sollte endlich loslassen. Aber ich kann mir nicht helfen. Ich vermisse dich noch immer. Jeden verfluchten Tag. Und ich Es tut mir so... Ich habe mich geändert, weißt du?«

Es war keine gute Idee. Jess Vernunft appellierte an ihr Gewissen und bekam aus voller Hand recht von ihrem Verstand. Nicht so. Es war keine Schande, eine zweite Chance zu fordern. Es war auch nicht schlimm, sich wiedersehen zu wollen. Aber direkt nach dem ersten Wiedersehen nach so vielen Jahren ein halbes Liebesgeständnis zu machen, war einfach zu viel des Guten und zeigte Jess, dass Clyve noch immer nicht über ihre Trennung hinweggekommen war.

»Hör zu«, schnaubte sie vorsichtig, »Vielleicht setzen wir uns mal auf einen Kaffee zusammen und reden darüber. Irgendwann mal, wenn ich Zeit habe. Aber momentan bin ich wirklich unheimlich im Stress und deshalb muss ich jetzt auch ganz schnell einkaufen gehen, damit ich mich gleich wieder an die Arbeit machen kann, okay?«

Clyve schien zu verstehen, denn sein Blick verdunkelte sich mit einem Mal und er wirkte beinahe, als ob, ja, als ob sein Vater oder ein anderes, geliebtes Familienmitglied gestorben war.

»Klar... ich verstehe. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Ich verstehe das... Ich dachte nur, dass es vielleicht schön wäre, mal wieder – ach, vergiss es. Schon gut.«

So sah es also aus, wenn man jemandem die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft raubte. Der Anblick versetzte Jess einen Stich ins Herz. Hätte sie schonender sein sollen? Sie wusste schließlich, wie emotional Clyve werden konnte, wenn er dachte, dass sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Deshalb, lächelte sie, drückte ihren Hals an seinen und schnaubte ein leises: »Tut mir leid. Danke, dass du das verstehst«, in sein Ohr, bevor sie sich von ihm löste.

Clyve griff mit hängenden Ohren an seine Schutzweste, ehe er mit dem Maul ein kleines Gerät hervorzog, welches er der perplexen Stute reichte.

»Das ist ein Elefantenschocker. Nur für den Notfall. Das Pferd, das entlaufen ist, ist wirklich gefährlich, also sei ganz vorsichtig. Und zögere nicht, ihn auch einzusetzen. Und bitte... pass auf dich auf! Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas geschieht.«

Jess drückte Clyve einen dankbaren Kuss auf die Wange und galoppierte dann in Richtung Innenstadt davon.

Kaum eine halbe Stunde später, trugen ihre Hufe sie eilig zurück nach Hause. Vollgepackt, wie ein Ballast-Esel, kehrte sie zurück zu ihrem kleinen, weißen, amerikanischen Reihenhäuschen am Stadtrand und stand bereits Schlüssel suchend vor ihrer Haustür, als ihre Ohren das Geräusch von kreisenden Rotorblättern auffassten, die immer näherkamen.

Jess wollte sich gerade nach den Hubschraubern umsehen, als ihr plötzlich mit einem heftigen Ruck ein großes Gewicht in die Seite knallte und sie brutal von den Beinen riss.

Ihre Einkäufe prasselten in hohem Bogen zu Boden und sprenkelten die Einfahrt kunterbunt, während die Welt vor ihren Augen zu einem skurrilen Van Gogh Bild verschwamm

Ächzend versuchte Jess, ihre Gedanken wieder zu sortieren, als sie bemerkte, dass neben ihr ein schneeweißer Hengst mit dunkelgrauer Stehmähne ebenfalls zu Boden gestürzt war.

Zu allem Überfluss meinte Jess diesen fremden Hengst zu erkennen. Sie hatte ihn das letzte Mal vor etwa zehn Jahren in den Hancester Science Laboratories gesehen.

War er das entflohene Experiment?

Vor Schreck sprang Jess auf die Beine und presste sich, ängstlich schnaufend, an ihre Haustür. Doch der Fremde rappelte sich nur hektisch schnaubend auf die Beine und sah sich verwirrt um, als wöge er ab, wo er sich am ehesten verstecken konnte, um seinen Verfolgern zu entgehen.

Jess hörte die Hubschrauber immer näherkommen, als ihre Blicke sich einen Augenblick trafen. Das Pferd wirkte kühl und beherrscht, obwohl es hastig schnaufte. Seine Beine zitterten und ein Keuchen drang aus seiner Kehle, als sein Blick nach oben in den Himmel huschte und ihn nach den Hubschraubern absuchte.

»Ich will nicht wieder zurück«, schnaubte er. »Sie dürfen mich nicht finden!«

Diese Stimme! Diese Augen. Jetzt war sie sich ganz sicher. Sie kannte ihn. Doch er wirkte so anders, so kalt. Er war einer der Patienten gewesen, um den sie sich hatte kümmern müssen. Jess konnte sich nicht erinnern, dass dieses Pferd ihr je etwas Bösesgetan hatte oder auch nur Anstalten machte, ihr an den Kragen gehen zu wollen. Entschlossen schnappte sie sich deshalb die Mähne des Experiments, zerrte ihn unter das schützende Vordach ihres Hauses, wo er brav stehen blieb und verweilte, während Jess den Himmel nach weiteren Hubschraubern absuchte.

Was hatte das alles zu bedeuten?

Doch, vor Allem: Warum half sie diesem Pferd, ob wohl sie ihn eigentlich ausliefern müsste? Vielleicht, sie genau wusste, was damals mit ihm geschehen war und wie verletzlich und so erschöpft er bei ihrem letzten Aufeinandertreffen gewesen war. Wahrscheinlich war es der letzte Funke eines schlechten Gewissens für all das, was damals mit ihm geschehen war. Damals, als sie einfach tatenlos zugesehen hatte, wie die Wissenschaftler dieses willensstarke Pferd gebrochen hatten. Außerdem machte ihr das Experiment nicht den Anschein, als ob es ihr ein Messer in die Kehle stoßen wollte. Aber vielleicht war er auch in anderer Weise gefährlich?

Wenn das Experiment wirklich so gefährlich war, wie es im Radio geschildert wurde, dann hatte sie jedenfalls gerade eben den größten Fehler ihres Lebens begangen.

Die Hubschrauber flogen suchend an Jess Haus vorüber und wendeten dann wieder ab in Richtung Hancester Hall, wo das Labor seinen Standort hatte.

»He, he, Hey!«, schnaubte sie, als das Experiment hinter ihr plötzlich zu drängeln und zu schieben begann und sich schließlich, an ihr vorbei, wieder ins Freie presste.

Der fremde Hengst blickte Jess einen Moment lang einfach nur an. Seine dunkelbraunen Augen bohrten sich tief in sie hinein, während der Wind den Schopf des Hengstes verwegen durch das kantige Gesicht blies.

»Danke, Miss McLaren!«, schnaubte er kühl. Dann wandte das Experiment auf der Hinterhand herum und stürmte in Richtung der Heimatlosensiedlung der Stadt davon.

Jess war vor Schreck noch immer ganz flau. Er war also nicht darauf aus, andere Pferde zu verletzen. Doch was war es dann, was ihn so gefährlich machte? Jess blickte dem fremden Pferd hinterher, bis seine Umrisse mit den Spiegelungen des heißen Asphalts verschwammen und fragte sich noch eine Weile, ob es vielleicht nicht doch besser wäre, diese Begegnung vor Clyve mit keinem Wort zu erwähnen.

K03

In dieser Nacht fand Jess einfach keine Ruhe. Andauernd zog der letzte Blick des entflohenen Experiments vor ihrem geistigen Auge vorbei und sie fragte sich, wo er jetzt wohl stecken mochte.

Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, bis sie sich dazu entschloss, Clyve doch noch anzurufen. Aber nicht, um ihm von dem Vorfall zu erzählen, sondern vielmehr, um ihn zu fragen, ob er das Experiment bereits selbst eingefangen hatte.

»Jess, weißt du, wie viel Uhr es ist?«, tönte Clyves kratzige Stimme verschlafen vom anderen Ende der Leitung. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, gerade ihn anzurufen, doch Jess wusste nicht, was sie sonst tun sollte.

»Vier Uhr morgens, warum?«

»Nicht gerade die Uhrzeit, um den Ex-Freund aus den Federn zu scheuchen. Was ist los?«

Jess zögerte. Jetzt hatte sie die perfekte Gelegenheit, ihm die Wahrheit zu sagen! Sie entschloss sich allerdings dazu, es erst einmal für sich zu behalten.

»Habt ihr es schon gefunden?«

Clyve schwieg für einen kurzen Moment, bevor er seufzte. Keine Antwort war auch eine Antwort.

»Aber wenn wir es finden, bekommt es eine Ladung Betäubungsmittel unter den Pelz gejagt, die einen Blauwal umhauen würden. Du brauchst keine Angst zu haben, Jess.«

»Ich habe keine Angst!«, schnaubte die braune Stute entrüstet und legte dabei die Ohren genervt an, als sie Clyve am anderen Ende der Leitung gönnerhaft lachen hörte.

»Leg dich schlafen! Spätestens morgen haben wir es gefunden. Wir können die Stadt ja nicht die ganze Woche lang wegen diesem kleinen Ausreißer lahmlegen.«

»Gute Nacht«, presste Jess zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und legte steif den Hörer auf. Beste Idee des Jahrhunderts! Aus Planlosigkeit den Ex-Freund anrufen, um danach trotzdem nicht schlauer zu sein als vorher. Stattdessen fühlte sie sich nun dumm und naiv, weil Clyve tatsächlich glaubte, dass sie Angst hatte. Wovor sollte sie sich schon fürchten? Sie war erwachsen und kein Kind mehr. Sie konnte auf sich selbst aufpassen! Seufzend ließ sie sich zurück auf ihr Bett fallen, als sie plötzlich draußen eine Mülltonne scheppern hörte.

Mit einem Mal stand Jess aufrecht im Bett und lauschte. Alle Haare standen ihr zu Berge, als ihr Herz wie nach einem Marathon klopfte. Da war jemand vor ihrem Haus!

Sie versuchte etwas durch ihr Schlafzimmerfenster zu

erkennen, doch es war so finster, dass sie nicht einmal die Hecke zum Nachbargrundstück sehen konnte.

Flink schnappte sie sich eine Taschenlampe aus ihrem Nachttischchen und schlich sich dann die Treppe hinunter in den Flur.

Ihre Haustüre stand sperrangelweit offen. War bei ihr eingebrochen worden oder hatte sie gestern Nacht in der Verwirrung die Tür nicht geschlossen? Bei ihrer momentanen Verwirrtheit hätte sie nichts mehr gewundert.

Doch anstatt sich sofort in Sicherheit zu bringen und die Polizei zu rufen, wie jedes andere, vernünftigere Pferd es vermutlich getan hätte, schlich sich Jess ganz leise auf die Küche zu, wo sie eifriges Klappern und Rascheln ihres ungebetenen, nächtlichen Gastes hörte.

War das Experiment vielleicht zurückgekehrt?

Jess schluckte laut, als sie in die Tür trat und der Lichtkegel ihrer Taschenlampe auf einen pechschwarzen Hengst mit struppigem, ungepflegtem Fell fiel, der einen Großteil ihrer technischen Geräte in einen Sack gestopft hatte und nun mit im Licht der Taschenlampe grünlich leuchtenden Augen Jess direkt anstarrte.

Einen Herzschlag lang standen sich die beiden Pferde nur regungslos gegenüber, bis ein weiteres Pferd Jess von hinten überwältigte, sie grob auf den Flur hinaus zerrte und sie dabei mit einem Handtuch aus ihrem Gästebad strangulierte.

Das struppige, schwarze Pferd sprang aus der Küche und begann damit, zornig auf Jess einzustampfen.

Die braune Stute trat vor Angst wiehernd um sich, doch schon bald rang sie nur noch verzweifelt nach Luft, völlig unfähig, sich auch nur noch einen Millimeter zu bewegen, bis ihr Peiniger von dem Handtuch abließ und sie mit einem lauten Schnappen nach Luft betäubt am Boden liegenblieb.

»Was machen wir jetzt mit ihr, Twoface? Lassen wir sie hier liegen?«, hörte sie den struppigen Hengst seinem Kollegen zumurmeln. Der Komplize, ein dunkelbrauner mit einer markanten Laterne über dem halben Kopf beugte sich über sie und schnaubte ihr feucht ins Auge. Durch sein Abzeichen sah er tatsächlich beinahe so aus, als hätte er zwei Gesichter. Auch, wenn Jess bezweifelte, dass Twoface sein richtiger Name war.

Als sie die Augen aufschlug und der Hengst bemerkte, dass sie ihn gesehen hatte, trat er mit erhobenem Kopf und angelegten Ohren zurück.

»Hol ein Messer aus der Küche, Dagger. Ein langes, scharfes Messer.«

Jess zuckte zusammen, als sie den schweren Huf des Anführers auf ihrem Hals spürte. Der struppige Hengst namens Dagger streckte seinen Kopf nach kurzer Zeit bereits aus der Küche und warf dem dunkelbraunen Anführer ihr scharfes Schneidemesser zu, das dieser geschickt mit den Zähnen am Griff auffing und ausholte, um es Jess in den Hals zu stoßen.

In diesem Moment tauchte hinter ihm eine bleiche Gestalt auf und riss ihn mit einem gezielten Tritt zu Boden.

Jess schaffte es unter enormer Anstrengung, wieder auf die Beine zu springen und sich ein Stück die Treppe hinauf zu schleppen. Hinter dem Geländer ihrer Treppe geduckt, erkannte sie das Experiment, das mit gesenktem Kopf auf den Anführer der Einbrecher zuging und dabei immer wieder geschickt den scharfen Messerhieben seines Gegners auswich, der nach seinem Sturz sofort wieder aufgesprungen war.

Es war, als könne dieses Experiment jeden Schritt seines Gegenübers voraussehen, denn er reagierte manchmal sogar bereits, noch bevor der Hengst zum Messerstich ausholte.

Als ein weiterer Messerhieb ins Leere traf, sprang der weiße Hengst nach vorne, stieg auf die Hinterbeine und trat Twoface mit den Vorderhufen dermaßen heftig ins Gesicht, dass dieser das Messer fallen ließ und schnaufend, mit einer blutigen Platzwunde an der Backe zu Boden stürzte.

Das Experiment warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Einbrecher, nahm unter dem wilden Gewirbel von um sich tretenden Hufen das Genick des Hengstes zwischen die Vorderbeine und brach es mit einer flinken, beinahe mühelosen Bewegung. Twofaces Hufe zuckten nur noch, als er röchelnd seinen letzten Atemzug tat.

»Twoface!«, schrie der struppige Rappe, der vom Kücheneingang aus alles beobachtet hatte.

Plötzlich kam Bewegung in den ungepflegten, schwarzen Hengst. Mit einem Satz war er über die Türschwelle und aus dem Haus, doch das Experiment schnappte sich nur das Messer vom Boden, eilte ihm nach draußen hinterher und riss ihn von den Beinen. Er kämpfte nicht lange mit dem panischen Rappen, der ohnehin keine große Bedrohung mehr dargestellt hätte.

Mit beängstigend kalten Gesichtszügen peilte das Experiment sein Ziel an und rammte ihm das Messer durch die entblößte Kehle hindurch in den Schädel hinein, bevor es aufsprang und sich mit einer flinken Bewegung einige Tropfen Blut von seinem Gesicht an seiner Schulter abwischte.

Die Bewegungen des Rappen erstarben bereits nach wenigen Sekunden und er blieb regungslos vor Jess Haustür liegen. Tropfenweise Blut klebten an Haustür und Eingangsbereich, die aussahen, wie ein ganz katastrophaler Ketchup-Unfall eines unerfahrenen Fohlens. Ein mehr als makaberer Ketchup-Unfall.

Jess Brust fühlte sich an, wie zugeschnürt. Panisch rang sie nach Luft. Vor Zittern schaffte sie es nicht einmal, sich auch nur noch eine Treppenstufe weiter nach oben zu retten. Sie konnte einfach nicht fassen, was hier soeben passiert war.

»Lebst du noch?«, hörte sie eine Stimme von der Haustüre aus rufen. Jess zuckte zusammen, als sie das Experiment erblickte, das sie wieder mit seinen kalten, dunklen Augen fixierte.

Sie nickte mit weit aufgerissenen Augen und wischte sich einige Tränen an ihrer lockigen Schulter ab, während sie beobachtete, wie das Experiment die Leiche auf Jess Türschwelle ansah und sein Blick dann wieder zu ihr hinauf glitt.

»Du solltest das sauber machen. Rufe sofort die Polizei! Ich lasse das Messer hier. Beseitige meine Spuren und schiebe es auf Notwehr! Gute Nacht!«

Mit diesen Worten verschwand er wieder. Einfach so. Kein Trost. Nichts.

Jess brauchte eine Weile, bis der Wackelpudding aus ihren Beinen so weit gewichen war, dass sie laufen konnte, ohne wie eine Betrunkene herum zu stolpern.

Zitternd wählte sie die Nummer der Polizei und erzählte, entgegen dem Anraten des Experiments, dass bei ihr eingebrochen worden war und ein drittes Pferd – wahrscheinlich ein Mitglied einer konkurrierenden Bande – die beiden umgelegt hatte und schließlich wieder verschwunden war.

Die gesamte Nachbarschaft war natürlich von dem Tumult geweckt worden und einige kamen auch heraus, um Jess ihren Beistand zu leisten. Niemand hatte allerdings das Experiment gesehen, das ihr zu Hilfe geeilt war.

Mariah Grey, Jess Nachbarin, brachte ihr sogar warme Milch und Kekse und auch Clyve war sofort an Ort und Stelle, um ihr eine Schulter zum Anlehnen zu bieten.

In diesem Moment war Jess froh, dass sie ihm am Tag zuvor keine zu harte Abfuhr gegeben hatte. Sie hatte nur wenige Freunde und war daher dankbar, wenn sie jemanden hatte, der ihr bei Kummer zur Seite stand. Ihre Schwester Debbie war jedenfalls nicht immer griffbereit. Schließlich arbeitete sie auf der anderen Seite der Staaten und konnte nicht einfach mal schnell herüber düsen.

Clyve bot ihr an, die Nacht bei ihm zu verbringen, was Jess dankend annahm. Die Polizei und die Putzkolonne würden mehr als nur eine Nacht damit beschäftigt sein, die Leichen zu bergen und die Unmengen an Blut in Flur und Eingangsbereich zu beseitigen.

Doch selbst Stunden später, als sie eng an Clyve gekuschelt im Bett lag, war es ihr als würde sie beobachtet. Als Jess jedoch aus dem Fenster sah, erblickte sie nichts, außer einem Waschbären, der sich an einer Mülltonne zu schaffen machte.

Durch diese Tatsache beruhigt, schmiegte sich Jess wieder an die Schulter ihres Ex-Freundes. Und zum ersten Mal seit so vielen Jahren fühlte es sich nicht einmal falsch an.

Clyve legte seinen Hals schützend über den ihren, als er bemerkte, dass ihre Gedanken wieder zurück zu den Geschehnissen der letzten Stunden glitten.

»Ich bin hier. Ich pass' auf dich auf!«, flüsterte er ihr leise ins Ohr und gab ihr einen sanften Kuss, während sie so ihre schwierige Vergangenheit für einen Moment vergaßen und friedlich einschliefen.

K04

Etwa eine Woche nach dem Tumult im McLaren Haus erwachte A3360 in seinem Versteck in der Kanalisation, in der er seit Tagen herumschlich. Er hatte entdeckt, dass er hier unten so gut wie jeden Ort in der Stadt erreichen konnte, wenn er eine Karte der unterirdischen Gänge anlegte, und diese mit der Karte von Southbank verknüpfte. In seinem Kopf setzte sich bereits ein Schema des unterirdischen Tunnelsystems zusammen, das für seine Zwecke jedoch noch ausbaufähig war.

Doch A3360 würde auch hier nicht zur Ruhe kommen können. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die ersten Einsatzkräfte nach unten geschickt würden und auch hier nach ihm suchten.

Bis das geschah, hatte er noch viel zu erledigen. Er musste ein Pferd finden, das Access Hybrid Codec, AHC nutzen konnte, um ihn von den letzten Drähten loszureißen, die ihn noch mit dem Labor verbanden. Nur so würde er wirklich frei sein. Und er musste wieder zu Jessica. Das vielleicht sogar zuerst, denn sie war mit großer Wahrscheinlichkeit der Schlüssel zu allem, was ihm wichtig war.

Seinen Berechnungen zufolge hatte er noch etwa zwei Stunden Zeit, bevor die Trupps mit ihren Spürhunden hier unten eintrafen und seiner Spur folgen würden.

Seine Aktion-Reaktion Algorithmen hatten noch nie etwas Falsches vorausgesagt. Pferde waren eben doch sehr berechenbar. Vor allem, wenn sie unter Stress standen.

So wie die Einbrecher in Jessica McLarens Haus auch. Besonders viel Taktik hatte jedenfalls nicht hinter den verzweifelten Messerhieben von Twoface, dem berüchtigtsten Einbrecher der Stadt, gesteckt. A3360 bezweifelte es, dass dieses Pferd in seinem Leben jemals zuvor ein anderes Pferd getötet hatte.

Das zumindest traf nicht unbedingt auf ihn selbst zu. Schließlich war das Experiment (dazu ist zuviel) konzipiert worden, um zu töten.

›Erstellung Karte vollständig!‹, rauschte eine metallische, weibliche Stimme in seinem Kopf und A3360 schloss die Augen, um die bisher erstellte Karte des unterirdischen Netzes abzurufen. Allerdings enthielt sie nur die Gänge, die er bereits erkundet hatte. Immerhin ein Nachteil, den es hatte, in einem organischen Körper zu stecken. Man musste eine Menge mehr Arbeit investieren, um an sein Ziel zu gelangen.

A3360 hatte es bevorzugt, sich im Datengewirr des Labors zu bewegen. Für ihn waren die unendlichen Zahlencodes beinahe wie Bücherregale in einer gewaltigen Bücherei. Und er war der Bibliothekar, der auf die Koordinate genau wusste, wo welches Buch zu finden war.

Hier war alles anders. Hier musste er sich wieder auf seine natürlichen Sinne und Instinkte verlassen. Schon jetzt merkte er, wie die zehn Jahre seiner Gefangenschaft an seiner Kompetenz gezehrt hatten. Dennoch durfte er sich nicht in seinem wilden Panik- und Fluchtinstinkt verlieren, der seinen Verstand komplett außer Kraft setzen konnte, wenn der gegebene Impuls ihn dazu drängte. Er war schließlich noch immer nur ein Pferd.

Mit gerümpften Nüstern stieg er in die braune Flüssigkeit des Kanals zu seinen Hufen und watete, von seinem eingebauten Navigationssystem geleitet, dem Sonnenlicht entgegen. Der Gestank würde seinen Geruch immerhin für die Spürhunde unkenntlich machen, wenn sie sich auf seine Fährte begaben.

Er musste diese Stute wiederfinden. Seit Tagen beobachtete er ihr Haus, doch sie war noch nicht zurückgekehrt. Wo auch immer sie sein mochte.

Warum Pferde immer gleich tagelang verschwinden mussten, wenn vor ihrer Haustür ein Mord passierte, war für ihn allerdings ein Rätsel. Pferde starben doch jeden Tag und überall. Was machte es für einen Unterschied, wo sie starben? Oder wie?

A3360 schüttelte sich die Fragen aus dem Kopf. Er würde noch nicht aufgeben. In den Schatten der von der Morgensonne hell erleuchteten Stadt schlich er sich einmal mehr zu der Siedlung, in der Jessica McLaren wohnte. Doch auch nun war sie nicht zu Hause.

Gefühle mussten wahrlich eine Last sein, wenn sie Pferde aus ihren Heimen trieben. Aber sie würde irgendwann zurückkehren müssen. Schließlich hatte sie ihr Hab und Gut hiergelassen.

A3360 beschloss, sich im Schuppen im Garten hinter dem Haus einzuquartieren und dort auf ihre Heimkehr zu warten. Es konnte ja nicht mehr allzu lange dauern. Die Blumen vor dem Haus begannen bereits zu welken und ein Stapel alter Zeitungen sammelte sich bereits neben dem Briefkasten.

A3360 blickte sich verstohlen um, bevor er die Tür zum Schuppen aufbrach und sich zwischen sie Gartengeräte und Schläuche quetschte, die in dem engen Häuschen ihren Platz gefunden hatten.

Der schneeweiße Hengst hatte fürchterlichen Durst und Hunger, denn er hatte seit seinem Ausbruch nichts mehr zu sich genommen. Das Wasser aus der Kanalisation hatte er unmöglich trinken können und etwas Essbares fand sich auf der Straße auch nur äußerst selten. Daher knurrte sein Magen grauenhaft auf, als er sich endlich in eine einigermaßen bequeme Position gebracht hatte, sich umdrehte und hinter sich die Tür wieder verschloss.

›Standby-Modus aktiviert‹, rauschte die Stimme in seinem Kopf, als A3360 die Augen schloss und erschöpft in einen tiefen Schlaf verfiel. Endlich ein paar Stunden Ruhe für seinen erschöpften Körper.

So verbrachte er mehrere Stunden in Jess kleinem Schuppen und er bemerkte nicht, wie die braune Stute endlich nach Hause zurückkehrte.

Zuerst entsorgte Jess die überfälligen Zeitungen und stakste dann fröhlich pfeifend zu ihrem Schuppen, um einen Schlauch für die Bewässerung ihrer Blumen zu holen.

Als sie verwundert die unverschlossene Tür öffnete, entfuhr ihr ein greller Schrei, als sie A3360 erblickte.

»Hallo«, entgegnete das fremde Pferd vor ihr nur kühl, völlig verwirrt, warum die Stute nun schon wieder so außer sich war. Was war nur los mit ihr?

Mit einem weiteren Aufschrei, warf die Stute die Tür wieder zu, was zur Folge hatte, dass sie dem Experiment schmerzhaft gegen die Stirn knallte. A3360 schüttelte benommen den Kopf, als er die Tür vorsichtig mit einem Huf wieder aufschob und ein paar Schritte aus dem Häuschen heraus taumelte.

»Sie schon wieder?! Um Himmels Willen, Sie müffeln wie ein Iltis!«, wieherte Jess spitz, als sich A3360 ächzend herausquetschte und dabei die gesamte Ordnung in ihrem Gartenhaus durcheinanderbrachte. Jess konterte seine Versuche, auf sie zu zugehen, mit einigen, unsicheren Rückwärtsschritten.

»Wenn das ein Begrüßungsritual in dieser Stadt ist, so bin ich damit leider noch nicht vertraut«, schnaubte er dabei. Er warf der Tür einen skeptischen Blick zu, bevor er in Jess Gesicht etwas zu erkennen meinte, das nicht gerade positiv zu deuten war. Seine Datenbank zu Mimiken und Körpersprache besaß derweil noch keinen(so großen Horizont, dennoch konnte er ihren Ausdruck am ehesten mit blankem Entsetzen gleichstellen.

Warum Entsetzen? Er hatte ihr doch das Leben gerettet. Hätte sie ihm nicht eher dankbar sein sollen? A3360 näherte sich Jess für einen winzigen Schritt, doch die Stute reagierte blitzschnell und zog einen Gegenstand aus ihrer Tasche, den sie ihm an die Brust drückte.

A3360 wurde schwarz vor Augen, als ein starker, elektrischer Stoß durch seinen Körper fuhr und er betäubt in die Knie sank. Er stöhnte vor Schmerz und seufzte tief, als er versuchte, seine Gedanken wieder in eine Linie zu bekommen.

›Systemneustart. Dateien wurden beschädigt. Wiederherstellungsvorgang beschädigter Dateien eingeleitet.‹

»Um Himmels Willen, ist alles in Ordnung?«, schnaubte Jess besorgt, als ihr bewusst wurde, dass das Experiment offensichtlich keine bösen Absichten gegen sie gehegt hatte. Mit Schwung schleuderte sie den Elefantenschocker von Clyve so weit weg, wie nur möglich.

»Wie viele Hufe halte ich hoch?«

»Ich verstehe die Frage nicht«, schnaubte er perplex. »Du bist ein Pferd und kannst nur maximal zwei Hufe hochhalten ohne umzufallen. Ein einzelner Huf verlangte nach einer anderen Formulierung der Frage.«

»Dann geht es Ihnen also gut, wie ich sehe.«

A3360 blinzelte angestrengt gegen das Licht und nickte schließlich, bevor er versuchte, sich wieder auf die Beine zu hieven. Doch Jess drückte ihn zurück.

»Mein Lieber. Sie wurden gerade von einem Elefantenschocker niedergestreckt. Ruhen Sie sich lieber aus.«

»Ich wusste, dass Pferde in Schreckmomenten konfuse Verhaltensmuster entwickeln«, hustete das Experiment mit Schmerz in der Stimme, »aber das hebt meinen Wissensstand auf ein ganz neues Level an.«

Jess japste entrüstet auf. »Womöglich hatte ich nicht erwartet, dass ein gefährliches, entflohenes Experiment in meinem Schuppen lauert!«

»Gefährlich?«