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Hans-Ulrich Jörges

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Beschreibung

Was geschieht, wenn zwei skrupellose Politiker zu Verbündeten werden?

Die Welt im Jahr 2025: Donald Trump ist erneut amerikanischer Präsident und schließt mit Wladimir Putin einen geheimen Pakt: Auf einem Gipfel in Kairo tritt Trump Europa an den russischen Präsidenten ab, holt seine außerhalb Amerikas stationierten Truppen heim und verlässt die NATO. Putin lässt dem Amerikaner dafür freie Hand bei seinem Kampf gegen China.

Den Kontakt zwischen Putin und Trump halten hinter den Kulissen zwei persönliche Abgesandte der Präsidenten, die ein besonderes Vertrauensverhältnis aufbauen: Matt Sandler und Anatoli Rykow. Sie schwanken zwischen Loyalität und Widerstand, denn immer stärker erweist sich der Pakt von Kairo als ein verhängnisvolles Bündnis des Bösen. Gelingt es den beiden, die Welt vor einem Inferno zu bewahren, oder sind sie selbst nur Figuren in einem Spiel, bei dem die Spieler bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen?

Ein Thriller, der an die Abgründe unbegrenzter Macht führt. Und darüber hinaus.


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Seitenzahl: 547

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Was geschieht, wenn zwei skrupellose Politiker zu Verbündeten werden?

 

Die Welt im Jahr 2025: Donald Trump ist erneut amerikanischer Präsident und schließt mit Wladimir Putin einen geheimen Pakt: Auf einem Gipfel in Kairo tritt Trump Europa an den russischen Präsidenten ab, holt seine außerhalb Amerikas stationierten Truppen heim und verlässt die NATO. Putin lässt dem Amerikaner dafür freie Hand bei seinem Kampf gegen China.

 

Den Kontakt zwischen Putin und Trump halten hinter den Kulissen zwei persönliche Abgesandte der Präsidenten, die ein besonderes Vertrauensverhältnis aufbauen: Matt Sandler und Anatoli Rykow. Sie schwanken zwischen Loyalität und Widerstand, denn immer stärker erweist sich der Pakt von Kairo als ein verhängnisvolles Bündnis des Bösen. Gelingt es den beiden, die Welt vor einem Inferno zu bewahren, oder sind sie selbst nur Figuren in einem Spiel, bei dem die Spieler bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen?

 

Ein Thriller, der an die Abgründe unbegrenzter Macht führt. Und darüber hinaus.

Hans-Ulrich Jörges, 1951 in Bad Salzungen (Thüringen) geboren, wurde bekannt durch fast tausend Kolumnen im STERN und zahlreiche Auftritte in TV-Talkshows. Die FINANCIAL TIMES zählte ihn zu den einflussreichsten Kommentatoren der Welt. 2004 war er politischer Journalist des Jahres. Mit einer Enthüllung stürzte er Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Jörges initiierte das „Gedächtnis der Nation“ und die Europäische Charta für Pressefreiheit.

 

Axel Vormbäumen, geboren 1960 in Aschaffenburg (Bayern), arbeitete als Journalist für die FRANKFURTER RUNDSCHAU, den TAGESSPIEGEL und den STERN. Seine Reportertätigkeit führte ihn u.a. in den Bosnien-Krieg, in das vom Völkermord traumatisierte Ruanda und ins Zelt des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi. Seit 1999 arbeitete er als politischer Journalist in der Hauptstadt. Für seine Reportagen erhielt er unter anderem den Egon-Erwin-Kisch-Preis.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Originalausgabe

 

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

 

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Umschlagmotiv: © Gubin Yury/shutterstock, Kim Seidl/shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4865-0

luebbe.de

lesejury.de

WARNHINWEIS

Alles, was Sie in diesem Buch lesen werden, wird bzw. hat sich in der Zeit von November 2024 bis November 2025 exakt so zugetragen wie von den Autoren geschildert. Die hier zugänglich gemachten Informationen sind bis einschließlich November 2024 vertraulich zu behandeln. Bei etwaigen Abweichungen, die Leserinnen und Leser feststellen sollten, die dieses Buch erst nach 2025 in Händen halten, handelt es sich um Fake News.

Hans-Ulrich Jörges, Axel Vormbäumen

 

»Da erschien ein anderes Pferd; das war feuerrot. Und der auf ihm saß, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben.«

(Offenbarung 6,4)

»Sandler.«

»Einen Moment, Sir.«

Der Wachmann sah nicht einmal auf. Matt Sandler überlegte kurz, ob es sich lohnen würde, jetzt sofort die Augen zu schließen. Was genau verstand der Typ unter einem Moment? Fünf Sekunden, zehn Sekunden. Eine Zeitspanne, die zu ertragen war. Oder – eine gefühlte Ewigkeit, ein Ärgernis, jene sich aus Behäbigkeit speisende sinnlose Warterei, nach der es hier gerade aussah. Der Typ hinter der Sicherheitsscheibe, die auch schon mal bessere, also eindeutig klarere Zeiten gesehen haben musste, machte auf den ersten Blick nicht den Eindruck, dass er in seiner unerschütterlichen Gleichgültigkeit zu etwas zu bewegen war, das er, Sandler, gerne als Grundschnelligkeit bezeichnete.

Matt seufzte. Dann schloss er die Augen.

Vor ein paar Jahren noch hätte er sich in dieser Situation eine Zigarette angezündet. Oder rumgebrüllt. Wahrscheinlich beides. Aber das Rauchen war ihm verleidet worden in diesem absurden Regelwerk einer auf ihre Unsterblichkeit hinarbeitenden Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die in ihrem ganzen Gesundheitsvorsorgefaschismus lange schon jeden Anflug von Humor und Lebensgenuss über Bord geworfen hatte. Rauchen war verboten, wo man es verboten hatte. Und geächtet, wo es erlaubt war. Man hatte die Räume für Menschen wie ihn, Freigeister, systematisch eng gemacht. Matt erinnerte sich, wie er mal mit der Kippe im Mund an einem Spielplatz vorbeigelaufen war und eine vielleicht sieben Jahre alte Göre mit dem Finger auf ihn gezeigt hatte – »Iiih, Mum, guck mal.«

Irgendwann hatte er es aufgegeben. In seinen letzten Tagen als Raucher hatte er sich hauptsächlich im zugigen Hinterhof einer Sechzigerjahre-Mietskaserne im Chicagoer Süden aufgehalten, allein mit sich und einer Packung »Gauloises Blondes«, mit der er glaubte, gegen die zunehmende Verbohrtheit seiner Umgebung anrauchen zu müssen, sich dabei insgeheim auf die Ideale der europäischen Aufklärung berufend – jede »Gauloises« ein kleiner Voltaire –, was er, spätestens nachdem er den letzten Zug getan hatte, allerdings selbst als übertriebenen Symbolismus empfand. Das war nun auch schon wieder sieben Jahre her.

Und das Brüllen war einem gepflegten Sarkasmus gewichen.

Matt überlegte. Er war schnell genug gewesen, um seine Übung starten zu können. Er hatte vor langer Zeit mal in einer Wochenendkolumne der »New York Times« gelesen, dass gelegentliches Schließen der Augen langfristig die Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit schärfe, wenn man es denn schaffte, in einer bis dato unbekannten Umgebung mindestens zwölf Merkmale aus seinem direkten Umfeld zu memorieren. Das aber konnte natürlich nur funktionieren, wenn man sich zuvor nicht selbst beschummelte.

Matt konzentrierte sich, hatte die Augen geschlossen, also los denn: Der Typ hinter der Scheibe war Anfang, höchstens Mitte fünfzig, er hatte, obwohl das sicher im Dienst nicht erlaubt war, den obersten Knopf seines beigen Hemdes hinter einer dunkelbraunen Krawatte gelockert. Vier. An der Rückwand seiner Kabine war eine etwa DIN A3 große Aufnahme von Donald Trump, die aus der Frühzeit von dessen erster Präsidentschaft stammen musste; Trump stand auf den Stufen der »Air Force One«, seine rechte Hand erhoben, wahrscheinlich zum Abschiedsgruß bei irgendeiner Auslandsreise. Sieben. Neben dem Wachmann lag ein mittelgroßer …

»Sir, bleiben Sie bitte hinter der Linie.«

Matt öffnete die Augen. Schnell genug, um festzustellen, dass er offenkundig ein wenig aus der Form war – tatsächlich, die Linie, die sich da unter seinem linken Schuh auftat, hatte er übersehen. Schlimmer aber war: Das Hemd des Wachmanns war weiß, nicht beige. Und Trump winkte auch nicht, seine Rechte hielt sich am Handlauf der Gangway fest.

Matt beschloss, die Sache zu beschleunigen. »Sandler, mit A.« Seine Stimme war nun schon etwas lauter. Er spürte, wie langsam Wut in ihm hochkroch. Zwei Dinge konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Das eine waren offene Badezimmertüren. Das andere kam weit häufiger vor. Es war jene Form von autoritärem Gehabe, das besonders im niederen Dienstleistungssektor gern grundlos ausgelebt wurde – beim Security-Check an Flughäfen beispielsweise oder eben hier im Foyer des »Meyer-Buildings« in Washington, D. C., in das seit einer knappen Woche das »Transition-Team« der künftigen Regierung Donald Trump eingezogen war. Ein etwas in die Jahre gekommener Funktionsbau, zwölf Fußminuten vom Weißen Haus entfernt.

Matt zog nun auch den rechten Fuß über die Linie. »Hören Sie zu, ich sag das nur einmal, das könnte für Sie wichtig sein im Hinblick auf Ihre weitere Zukunft in diesem Job: Der Laden hier will was von mir, nicht umgekehrt. Entweder Sie kommen jetzt, gerne mit meiner tätigen Mithilfe, in die Gänge. Oder Sie können Ihrem Chef ausrichten, dass ich keinen Sinn darin sehen konnte, zu viel von meiner kostbaren Zeit mit mediokren Figuren in trostlosem Ambiente zu verbringen.« Kunstpause. »Nein, streichen Sie Ambiente, sagen Sie meinetwegen: Umgebung.« Matt fand seinen Auftritt gelungen.

»Sir, bitte bestätigen Sie: Matthew Gordon Sandler, geboren am dreizehnten Februar neunzehnhundertfünfundachtzig in Bloomington, Illinois …«

»… morgens um halb vier«, ergänzte Matt selbstzufrieden und fügte hinzu: »In einer arschkalten Nacht.«

»Sir, bestätigen Sie bitte …«

»Das habe ich doch gerade. Ich habe es bestätigt, indem ich es präzisiert habe.«

Der Cola-Automat im Flur des ersten Stocks funktionierte nicht, was nun auch schon egal war. Matt ließ sich zurückfallen in einen jener unvorteilhaft gegossenen Schalensitze, die ein misanthroper Designer irgendwann einmal, der Farbe nach wahrscheinlich in den Achtzigern, entworfen haben musste, um das Warten in Behörden todsicher zur Hölle zu machen. Matt war das nicht mehr gewohnt. Unerfreuliche Ausflüge in derartige oder ähnliche Gefilde ließ er normalerweise von Sue erledigen, einer etwas korpulent geratenen Mittvierzigerin aus dem Assistententeam von »Fosters & Company«, einem auf Osteuropa und Russland spezialisierten Thinktank, der draußen am Takoma Park seinen Sitz hatte. Matt war da nun seit auch schon wieder mehr als sechs Jahren angestellt. Sechs Jahre! Zuständig zunächst für die Ukraine und Belarus, bis Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine Umschichtung in der Denkfabrik notwendig gemacht hatte. Niemand interessierte sich mehr für den Weißrussen Lukaschenko. Plötzlich wollten alle wissen, was der richtige Russe, Putin, im Schilde führte. Es war seine, Matt Sandlers, Chance. Seit März 2022 war praktisch keine Woche vergangen, in der er nicht mindestens dreimal in den Networks war. Zwischenzeitlich konnte er sich schon selbst nicht mehr hören. Sogar »Fox News« war auf ihn aufmerksam geworden. Weiß der Henker, warum genau? Matt vermutete, dass es mit seiner standhaften Weigerung zu tun hatte, Putin als durchgeknallten Endzeitler zu sehen, unwillig und unfähig zur Kommunikation mit dem Rest der Welt.

Er war ein TV-Gesicht geworden. Phasenweise hatten sich die Anfragen der Sender derart gehäuft, dass Matt seine Assistentin Sue bitten musste, ihn zu verleugnen, was diese mit einer Form von stiller Genugtuung tat. Sue hatte ihm vom ersten Tag an bei »Fosters« schöne Augen gemacht, was Matt bis zu jenem Grad beruflicher Erleichterung für sich auszunutzen wusste, der beiden irgendwann einmal Enttäuschungen und Peinlichkeiten ersparen würde.

Matt dachte nach. Für eine weitere Augen-zu-Übung war die Szenerie hier im Flur des »Meyer-Buildings« zu unergiebig, in dessen höheren Etagen er nun einen Haufen karrieregeiler Republikaner vermutete, allesamt mittelmäßig genug, die Welt in den kommenden vier Jahren nach ihren bescheidenen Maßstäben formen zu wollen. Sollte er den Designer der Schalensitze googeln? Oder diese dämliche Hilfskraft anschnauzen, die nun auf der Suche nach einem Clip war, mit dem sein Hausausweis ordnungsgemäß am Revers seines Jacketts befestigt werden konnte? Nein: musste. Es hatte mit der Anmeldeprozedur deshalb so lange gedauert, weil Matts exakter Status im Computer nicht zu finden war. Weder MTT (Member Transition Team) noch GTT (Guest Transition Team). Hinter seinem Namen war offenbar ein schnödes X verzeichnet worden – und keiner der herumwuselnden Subalternen aus den unteren Stockwerken konnte etwas damit anfangen.

Matt Sandler streckte die Beine aus, gerade so gut, wie der Schalensitz das zuließ. Genau heute in hundert Tagen würde er vierzig. Wenn man so wollte, dann begann da seine ganz persönliche zweite Halbzeit. Zwar lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer in den USA gerade mal bei knapp über siebenundsiebzig Jahren. Aber erstens hatte Corona kräftig in die Statistik reingehauen. Und zweitens wurden auch Schwarze und Latinos mitgezählt. Die erwischte es im Schnitt drei Jahre früher. Matt aber war weiß. Ziemlich weiß. Auch wenn die Bräune, die er sich bei seinen gelegentlichen Surftrips zu den »Outer Banks« holte, ihm das Aussehen eines Südeuropäers verlieh. Ein paar Jahre noch, und er würde sich gegen den Topos des »alten weißen Mannes« wehren müssen.

Wahrscheinlich auch deshalb hatte Matt sich vorgenommen, offen zu sein, als ihn vor zwei Tagen, am Samstag, mehrere Nachrichten erreichten, was er mit wohlwollendem, gleichwohl amüsiertem Interesse wahrgenommen hatte. Denn den zwei wortgleichen Messages an seine private sowie dienstliche Mailadresse war morgens um kurz nach neun auch noch ein Einschreiben gefolgt. Matt hatte gerade unter der Dusche gestanden und mit nassen Haaren den Empfang quittiert. Auch später noch hatte das Schreiben an manchen Stellen jene wellige Form, die davon zeugte, dass es mal mit Feuchtigkeit in Berührung gekommen sein musste. Es war von Donald Trump.

Natürlich nicht von ihm persönlich. Aber im besonderen Auftrag des neuen »President-elect«. Donald Trump hatte es vier Tage zuvor, am 5. November 2024, ein zweites Mal geschafft. Was heißt geschafft – er hatte »Sleepy Joe« Biden weggefegt. Er hatte – anders konnte man es nicht nennen – die Demokraten pulverisiert. Sogar Matts Heimatstaat Illinois war an die Republikaner gefallen, dazu New Mexico und Colorado, ansonsten waren die Wahlen exakt so ausgegangen wie acht Jahre zuvor. CNN hatte sich so früh auf Trump als Wahlsieger festgelegt wie nie zuvor in der Geschichte des Senders. Matt hatte den Augenblick in seinem Apartment in Dupont Circle allerdings verpasst, weil er sich just in dem Moment ein Tunfisch-Sandwich in seiner Kochecke zubereitet hatte. Doch als er mit noch leicht fettigen Fingern zum Sofa zurückkehrte und die »Breaking-News-Line« mit dem Sieg Trumps auf seinem fast komplett rot leuchtenden Flachbildschirm sah, da fiel ihm nur der für seine Verhältnisse wenig originelle Satz ein: »Die Welt wird nicht mehr so sein, wie wir sie kannten.«

»Ah, da sind Sie ja«, schallte es Matt entgegen, der in seinem Schalensitz tatsächlich für einen Moment eingenickt sein musste, allen Bestrebungen des Achtzigerjahre-Designers zum Trotz. Vor ihm stand ein übertrieben blasser Mann, der sich als Spencer Drydon vorstellte, was dann auch schon mit Abstand das Extravaganteste an ihm war. Matt kannte niemanden, der auch nur im Entferntesten so hieß – außer natürlich den 2005 verstorbenen Drummer von »Jefferson Airplane«. Matt stand auf. Er musste dabei durch eine leichte Schweißwolke gleiten, die Drydon dank seines Polyesterhemdes verbreitete.

»Sandler.«

»Ich weiß. Ich weiß. Weiß ich doch«, sagte Drydon, für Matts Geschmack eine Spur zu unterwürfig, um ihm dann im Gehen überflüssigerweise seinen, Matts, eigenen leicht verunglückten Vormittag zu repetieren – das Warten in der Lobby, die Schwierigkeiten mit den Fotos für seinen Hausausweis, schließlich die Kommunikationspanne mit dem zwölften Stock, »ganz oben«, wo man längst sehnsüchtig auf ihn wartete. »Es tut uns alles quasi doppelt leid.«

»Quasi doppelt?«

»Na, weil es einerseits so schnell gehen musste, andererseits wir alle hier unnötig Zeit verloren haben«, sagte der Mann, der sich Spencer Drydon nannte. »Verrückte Zeiten! Wirklich. Verrückte Zeiten.«

Der Rest war Schweigen, worüber Matt ausgesprochen dankbar war – Drydon war ganz offensichtlich ein Mann, der nicht nur Polyesterhemden liebte, sondern auch Knoblauch. Im Aufzug zum zwölften Stock versuchte Matt, angemessen flach zu atmen. Es gelang ihm so mittelgut.

Von seinem Platz aus konnte Matt Sandler sehen, wie die späte Vormittagssonne, die sich durch die dichte November-Wolkendecke gequält hatte, für einen kurzen Moment auf das Lincoln Memorial fiel. Da unten lag Washington. Und es wirkte von hier oben so surreal friedlich, als hätte es das politische Erdbeben vor sechs Tagen nicht gegeben.

Matt sah sich um. Drydon war für einen Moment aus dem Raum gegangen, der vollgestellt war mit Trump-Devotionalien und auf Matt den Eindruck machte, als ob man ihn in erster Linie als Abstellkammer verwenden würde. Wenigstens machen sie sich keine Mühe, mich durch gediegenes Interieur beeindrucken zu wollen, dachte Matt bei sich und wollte gerade einen der herumliegenden Kartons mit dem »Make-America-Great-Again«-Logo inspizieren, als Drydon in Begleitung eines stattlichen Mittsechzigers erschien, der sich, ohne sich vorzustellen, ihm gegenübersetzte, um für die nächsten gefühlt zwei Minuten seine schwere Tom-Ford-Brille mit einem tiefblauen Einstecktuch zu polieren.

Matt Sandler schaute amüsiert zu, was seinem Gegenüber nicht zu gefallen schien, ihn aber auch nicht sonderlich aus der Ruhe brachte.

»Mr Sandler, zwei Dinge vorweg: Dieses Gespräch hat nie stattgefunden, sollte es nicht zu unserer Zufriedenheit verlaufen. Und mit ›unserer‹ meine ich nicht Ihre und meine Zufriedenheit, sondern die des künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten und seiner Regierung. Haben Sie das verstanden?«

»Und die zweite Sache?«, fragte Matt.

»Sie werden nur kurz Bedenkzeit haben. In dieser Zeit werden Sie niemanden ins Vertrauen ziehen. Ihren Bruder nicht, Ihre Kollegen bei ›Fosters & Company‹ nicht, ihre Freunde nicht – und auch nicht die Kleine aus der ›Hamilton-Bar‹, die Sie derzeit offenkundig gelegentlich vögeln, nachdem sie dort zwei, drei Gin Tonics zu viel genommen haben. Die nächsten zwei Tage ist das tabu. Sie haben achtundvierzig Stunden. So viel Zeit lassen wir Ihnen, damit Ihnen klar wird, dass sich Ihr Leben ändern wird. Oder eben nicht.«

Matt schaute sich um. Die herablassende Selbstgewissheit des Mannes, der da gerade sein Brillenputztuch pedantisch zusammenfaltete, um es wieder als Einstecktuch tragen zu können, ging ihm noch mehr auf die Nerven als das Odeur von Drydon, der sich gottlob ans Ende des Tisches und damit etwas außer Riechweite gesetzt hatte. Dass sich sein Leben ausgerechnet hier, zwischen all dem Plastikschrott, den die »Grand Old Party« im Wahlkampf unter die Leute brachte, dramatisch ändern sollte, konnte nur eine Laune der Geschichte sein. Matt beschloss, zu schweigen. Er fühlte sich in einer komfortablen Position. Er hatte nichts zu verlieren. Sollte doch der Tom-Ford-Mann eröffnen, der im antrainierten Stoizismus nun in einer Akte zu blättern begann, die unverkennbar die Seine war.

Hätte Matt Sandler später einmal die folgende Stunde dieses Treffens, das sein Leben verändern würde, wiedergeben sollen – es wäre ihm ein Leichtes gewesen. Denn die beiden Männer, ganz offenkundig von der CIA, die ihm da gegenübersaßen, hatten ganze Arbeit geleistet. Matt bekam eine Fassung seiner Biografie geliefert, an der nicht allzu viel fehlte, sah man mal von seiner Fan-Liebe für die »Chicago Bulls« ab, seinem offenkundig nicht so wichtigen Faible für Grunge-Bands und einer kurzen Affäre mit der Büroleiterin des Senators aus Illinois, die abrupt zu Ende gegangen war, als er sie unvorsichtigerweise mal an einem Freitagabend mit in die »Hamilton-Bar« genommen hatte. Matt musste bei dem Gedanken schmunzeln, war ansonsten aber voller Respekt vor der Recherchekraft der Agency. Insbesondere seine Studienaufenthalte in Rostow am Don und in Moskau inklusive seiner dortigen Kontakte hatten die Jungs aus Langley präzise zusammengestellt. Und auch der Trennungsgrund von Catrin, seiner letzten längeren Beziehung, war nicht ganz falsch. Zumindest kannten sie Catrins Version der Geschichte.

»Was halten Sie von Russland?«, fragte der Tom-Ford-Mann unvermittelt, so unvermittelt, dass Matt dann doch ein wenig überrascht war von der Naivität der Frage.

»Ich denke, das wissen Sie. Ihre Archive sind doch bestimmt voll davon. CNN, Fox, ABC …, da müsste was von mir zu finden sein.«

»Das meine ich nicht. Ich meine: Kann Putin was mit Trump anfangen? Und wir mit ihm?«

Für einen Moment dachte Matt darüber nach, ob wohl seine eigene Zukunft davon abhängen würde, wie er diese Frage beantwortete. Sie war einerseits so unfassbar schlicht, dass sie wie der unbeholfene Auftakt eines Mannes wirkte, der auf einer der zahllosen Washingtoner Stehpartys mit seinem Gegenüber ins Gespräch kommen wollte. Andererseits hatte Matt mit zunehmender Dauer den Eindruck, dass nichts, was an diesem Vormittag vorgefallen war, zufällig passiert sei, Drydons Körpergeruch inklusive.

»Putin und Trump, das könnte passen«, antwortete Matt, seiner Überzeugung entsprechend. »Nicht auf Dauer. Aber anfangs schon. Und es muss schnell gehen. Wir müssen Putin etwas bieten.«

»Wir?«, unterbrach sein Gegenüber, und Matt registrierte das erste Mal so etwas wie Zufriedenheit auf der Miene des CIA-Mannes.

»Die USA.« Matt Sandler spürte, dass zumindest dieses Gespräch in eine entscheidende Phase gekommen war. Die folgenden Minuten verwandte er deshalb darauf, ein recht präzises Psychogramm des Kreml-Chefs zu geben, welches er in den ersten Tagen des Ukraine-Kriegs für eine »Late-Night«-Sendung bei ABC ausgearbeitet hatte, das er seinerzeit aber aus Zeitgründen nicht komplett hatte vortragen können. Bei späteren Auftritten hatte er sich immer wieder daraus bedient. Matt war gerade bei der Bedeutung des Eishockeys für Putin angekommen, als ihn der Tom-Ford-Mann unterbrach.

»Trump hat Sie bei Fox gesehen. Er glaubt, Sie hätten das Zeug dazu.«

»Das Zeug zu was?«, fragte Matt.

»Das Zeug, sein persönlicher Berater für die Russlandpolitik zu werden. Der Mann für die besonderen Beziehungen zwischen Washington und Moskau, abseits der öffentlichen Bühne. Trump hat sogar schon einen Namen für Sie: ›Back-Channel-Man‹.«

»Ich dachte, den gäbe es schon«, sagte Matt. »Was ist mit Stewart Conolly? Er ist eine Instanz.«

»Magenkrebs. Endstadium.«

Matts Gegenüber machte eine vielsagende Pause. »Es ist nicht mal klar, ob es der alte Knabe überhaupt noch bis zur Antrittsrede von Trump im Januar schafft. Wir wissen davon erst seit zehn Tagen. Blöderweise. Die Russen wissen noch nichts davon. Jedenfalls glauben wir, dass sie noch nichts wissen«, sagte der Tom-Ford-Mann und hob seine Augenbrauen so hoch, dass sie zum ersten Mal über dem mächtigen Gestell zu sehen waren. So buschig wie die Bärte zweier Seehunde beim Auftauchen aus dem Nordatlantik, dachte Matt unwillkürlich – und dann, dass er die Formulierung »alter Knabe« schon lange nicht mehr gehört hatte. »Conollys Ansprechpartner in Moskau heißt übrigens Rykow. Anatoli Rykow.«

Die CIA-Männer erhoben sich abrupt, als ob das entscheidende Stichwort – Rykow – gefallen wäre. »Wie gesagt: Sie haben achtundvierzig Stunden, sich zu entscheiden.« Der Tom-Ford-Mann hatte, ohne sich zu verabschieden, nun fast schon die Tür erreicht. Er drehte sich noch einmal um. »Das heißt, eigentlich sind es keine achtundvierzig Stunden. Trump will Sie sehen. Er erwartet Sie morgen in Mar-a-Lago. Spielen Sie Golf, Mr Sandler?«

Matt lächelte bedauernd. »Die Antwort müssten Sie doch in ihren Akten haben.«

Der Tom-Ford-Mann nickte. »Ja«, sagte er, »das könnte ein Problem werden.«

Was, zum Teufel …? Rykow war darauf trainiert, hellwach vorauszuschauen, seine womöglich tückische Umgebung im Blick zu halten, Zeichen zu lesen. Flaneure, Mütter, Parkbank-Pensionäre – oder Heckenschützen, Attentäter und einfach nur Beschatter? In der Grundausbildung hatten sie das so lange geübt, bis die Wut in ihnen emporkroch. Der Militärgeheimdienst GRU, der den aufgelösten KGB an Aggressivität und Skrupellosigkeit im Ausland noch übertraf, war gefürchtet wegen seiner Pingeligkeit.

Aber das? So etwas hatte er noch nicht gesehen. Es bewegte sich, zuckte nach oben, sank wieder in sich zusammen. Schwarz. Und nicht größer als ein Schuhkarton. Mitten auf dem Weg. Der Frühnebel im feinen Sprühregen machte die Szene geradezu unheimlich. Rykow verlangsamte den Schritt, entschloss sich zu einem großen Bogen über die triefnasse Wiese. Kein Mensch zu sehen. Im Moskauer Schmierwetter zog es niemanden in den Ostankino-Park.

Er hätte auch mit verbundenen Augen hindurchfinden können. Sein Vater, in Murmansk am Polarmeer geboren und Oberst beim Militärgeheimdienst wie er selbst heute, hatte ihn immer wieder dorthin gezogen, erst in die Ausstellung der Errungenschaften der Sowjetunion, dann zum See und in den Park. Mit der Ausstellung war es vorbei wie mit der Sowjetunion. Ein einziger Jammer. In den Hallen hatte es ihm besonders die sowjetische Muttersau angetan, mächtig wie anderswo ein junger Elefant. Und die Kuh mit dem Monster-Euter, deren Milch ein ganzes Dorf hätte säugen können.

Als es darum ging, einen sicheren Treffpunkt mit dem Amerikaner zu vereinbaren, hatte sich Rykow sofort für den Ostankino-Park entschieden. Der war bei Touristen nicht sonderlich beliebt, lag weitab vom Stadtzentrum und wurde von den Fußtruppen des Inlandsgeheimdienstes FSB nur liederlich überwacht. Putin selbst hatte zwar die Anweisung gegeben, seinen wichtigsten GRU-Offizier in Ruhe arbeiten zu lassen. Rykow aber vertraute darauf nicht wirklich. Wer garantierte ihm schließlich, dass der misstrauische »Woschd«, der Führer Russlands, die erste Anweisung nicht umgehend durch eine zweite, nur für die Augen des GRU-Chefs, außer Kraft setzte?

Als er das Gebilde auf der Wiese umrundet hatte, waren seine hellbraunen Lederschuhe, Marke »Progress«, fast schwarz vor Nässe. Und seine Füße eiskalt. Rykow entschloss sich, der Kreatur von hinten näher zu treten, wieder auf dem Parkweg. Schritt für Schritt nahm das Unscharfe Kontur an. Etwas hockte da. Ein Vogel. Eine pechschwarze Krähe. Mit funkelnden, aggressiven Augen. Eines davon stets auf ihn geheftet. Der Kopf tauchte ab. Der Schnabel hackte zu. Und zog etwas nach oben. Lang und elastisch. Noch vier Schritte, vorsichtig, fast schlurfend, und Rykow erkannte, worauf die Krähe hockte.

Eine tote Ratte, groß wie ein Karnickel, lag auf dem Rücken. Die Krähe hatte ihr den Bauch geöffnet und zog mit dem Schnabel die Gedärme heraus. War der Darm endlich überdehnt, riss er, und der Vogel verschlang die Leckerei.

Rykow wurde übel, sein Magen krampfte, und Säure schoss ihm in die Backen. Ruckartig wandte er sich ab. Einen Augenblick nur noch mit dem Anblick des Widerwärtigen, und er hätte sich übergeben. So aber schaffte er es gerade noch, Haltung zu bewahren. Die Krähe schrie ihm hinterher, es hörte sich triumphierend an.

Der Oberst straffte sich, machte das Hirn frei und nahm die Parkbank in den Blick, die er als Treffpunkt mit dem Amerikaner ausgemacht hatte. Die Bank zwischen den zwei mächtigen Buchen, die einen unverstellten Blick auf den mehr als fünfhundert Meter hohen Fernsehturm erlaubte. Zweimal hatten sie da schon gesessen, Conolly und er, während der ersten Präsidentschaft Trumps. In Erwartung weltstürzender Anweisungen ihrer Chefs. Putin war bereit, bereit zu allem. Aber Trump wagte keinen Deal. Noch nicht. Jetzt, jetzt endlich, könnte es so weit sein. Und das stockende Gespräch mit dem Amerikaner, das lange Schweigen zwischen ihren knappen Bemerkungen, könnte in Verhandlungen übergehen, »straight to the point«, wie Conolly zu sagen pflegte.

In Bern hatte er den Texaner kennengelernt. Rykow war als GRU-Springinsfeld an die sowjetische Handelsmission delegiert worden. 1983, wenige Jahre vor Gorbatschow. Er bezog eine bescheidene Kammer in dem hässlichen, lang gestreckten Gebäude, die sich mit dem Fußschweiß seines Vorgängers vollgesogen hatte. Für Rykow Grund genug, ständig aushäusig unterwegs zu sein, was ja auch seinem Auftrag entsprach. Bei einem Cocktailempfang der syrischen Botschaft kamen sie miteinander ins Gespräch. Conolly stellte sich als zweiten Handelsattaché an der amerikanischen Botschaft vor, in breitem, schwer verständlichem Idiom. Rykow revanchierte sich mit seiner Karte als Öl-Experte der Handelsvertretung. Die doppelte Camouflage passte perfekt. Sie verabredeten sich zum Kaffee, dann zum Abendessen. Nach vier Monaten wagten sie sich in ein Bordell, um die Partnerschaft unter vier schweißtreibenden Prostituierten zu besiegeln. Ihr Kontakt wurde in den Geheimdienstzentralen, bei CIA und GRU, sorgfältig registriert. Und warmgehalten. Zur Aktivierung bei Bedarf.

Als Putin in Moskau herrschte und Trump in Washington, war es so weit. Zeit für ihre Treffen auf Parkbänken in Moskau und Washington. Die Geschichte indes war noch nicht satt genug, um die Welt gemeinsam anzurülpsen.

Immerhin, sie ahnten, dass sich der Globus bald wieder in die andere Richtung drehen würde, und verabredeten sich bei ihrem letzten Treffen in Washington, am Tag der Amtseinführung Bidens. Wenn Trumps Revanche gelingen sollte, wollten sie fünf Tage nach der Wahl wieder in Ostankino beieinandersitzen. Am 24. November 2024, zehn Uhr Moskauer Zeit.

Als Rykow auf der Bank Platz nahm und die Beine von sich streckte, um die vor Kälte schmerzenden Zehen zu bewegen, war es neun Uhr sechsundzwanzig. Er kam immer früher als verabredet, um in Ruhe das Terrain zu sondieren, langsam den Blick schweifen zu lassen und jede Bewegung, jedes irritierende Detail abzuwägen auf verborgene Bedrohung.

In Kiew hatte er das zuletzt praktiziert. Igor Kostjukow, der GRU-Chef, hatte ihn wegen seiner Berner Erfahrungen ausgewählt, einen Agenten aus dem engen Umfeld des ukrainischen Präsidenten zu führen. Wolodymyr Selenskyi war notorisch misstrauisch, hatte seine Leute immer wieder vom ukrainischen Geheimdienst durchsieben lassen. Diesen Mann jedoch, dem er seine vorzügliche PR-Kampagne zu verdanken hatte, übersah man. Rykow fuhr alle zwei bis drei Wochen in einem stumpf-grünen BMW mit ukrainischem Kennzeichen über die Krim nach Kiew. Die GRU öffnete ihm eine Lücke in der Front. In Kiew praktizierte er seine Parkbank-Übung mit dem Verräter. Der hatte an den Sieg Russlands geglaubt und wollte sich für diesen Fall rückversichern. Nun zappelte er am Fliegenfänger der GRU und verriet, was niemals hätte verraten werden dürfen. Dass die Amerikaner in Wahrheit den Krieg auf ukrainischer Seite führten. Dass amerikanische Satelliten jede Bewegung, jede Schwäche der russischen Truppen scannten. Dass amerikanische Stäbe die Ziele der ukrainischen Vorstöße bestimmten. Dass die Amerikaner die Waffen dafür lieferten. Und wann die Russen womit zu rechnen hatten.

Rykows Schulter schmerzte, die rechte. Das Boxtraining im Sportzentrum der GRU war ungemein hart, zu hart für sein Alter, und immer wieder streikte die Schulter der Schlaghand. Manchmal für ein halbes Jahr. Nachts fuhr er dann hoch aus dem Schlaf und hielt den Arm mit der Linken, um die Schulter zu entlasten. Im Liegen war an Schlaf nicht zu denken. Der stämmige Mann mit dem schütteren dunkelblonden Haar und dem starken Bartwuchs, nur ein Meter sechsundsiebzig groß, verbrachte die Nacht dann im Sitzen, zusammengesunken. Zwergenhaft. Es half nichts. Er kam an Kortison nicht vorbei, obgleich er das Zeug hasste. Aber aufhören mochte er auch nicht mit dem Boxen. Also: rein mit der Spritze, in die Schulter.

Links auf dem Weg, kaum noch zu erkennen, hatte sich die Krähe von der ausgeweideten Ratte erhoben. Ein Junge mit Ball unterm Arm näherte sich dem schleimigen Torso. Seine Mutter rief, ja schrie ihn zurück. Die widerwärtige Szene weckte Rykows Erinnerung an den ukrainischen Spion. Nach einem guten halben Jahr schöpfte der Kiewer Geheimdienst Verdacht und heftete sich mit einem Beschatter an seine Fersen. Rykow entkam um Haaresbreite. Die Ukrainer wollten zunächst ihren Mann greifen, nicht ihn. Er sah den Agenten nie wieder. Der GRU-Chef in Moskau wusste, wie man in Kiew solche Fälle behandelte. Der Spion wurde einem scharfen Verhör unterworfen, bekam dann, nur Stunden später, einen Sack über den Kopf gestülpt. In einer Zelle im Keller des Geheimdienstes schoss man dem vor Angst Erstarrten dreimal in den Kopf. Alte KGB-Schule. Beide Geheimdienste, der russische und der ukrainische, waren aus demselben Ei geschlüpft. Mit einem Handtuch über dem Kopf waren im Keller der Moskauer »Lubjanka« 1937 auch die alten Bolschewiken Sinowjew und Kamenew exekutiert worden, sofort nach ihrem Todesurteil. Stalin hatte sie auf Begnadigung hoffen lassen und damit absurde Geständnisse erpresst – nun schrien sie in ihrer Verzweiflung.

Rykow riss sich aus seinen Gedanken. Jetzt musste Conolly kommen, in diesen Minuten. Der Texaner war stets auf die Minute pünktlich gewesen, hatte sich neben den Russen gesetzt und ihm einen Schluck aus seinem silbernen Flachmann angeboten. Rye Whiskey, er stand auf das altmodische Zeug. Der Russe hatte es nicht gewagt, sich zu verweigern, und sich einen Schluck in den brennend kollabierenden Magen gegossen. Sauzeug! Wie viel angenehmer war ein sanfter Wodka bester Qualität …

Von rechts näherte sich ein Mann um die fünfzig. Rykow bemerkte auf Anhieb, dass er Amerikaner war, aber nicht Conolly. Man erkannte die Amerikaner entweder an ihren Frisuren oder an ihren Hochwasser-Hosen. Der hier hatte keine Haare mehr, aber seine Hosenbeine schwebten abenteuerlich weit über den schwarzen Lackschuhen. Sie gaben den Blick frei auf vielfarbige Ringelsocken. Rykow stöhnte leise.

Der Neue setzte sich, blickte ihn von der Seite an.

»Anatoli Rykow«, stellte sich der Russe vor.

»Ich komme in Vertretung des Mannes, den Sie heute hier erwartet haben«, antwortete der Amerikaner. »Mein Name ist unerheblich. Sie werden mich nie wiedersehen. Ich arbeite an der amerikanischen Botschaft …«

»Ich spreche mit Conolly und sonst niemandem«, widersetzte sich Rykow in fast akzentfreiem Englisch.

»Auch ihn werden Sie leider nie wiedersehen. Er hat Magenkrebs und wird demnächst von uns gehen. Conolly hat mir aufgegeben, Sie zu grüßen und ihnen dieses kleine Geschenk zu überreichen. Zur Erinnerung.«

Der Amerikaner zog Conollys silbernen Flachmann aus der Manteltasche und drückte ihn Rykow in die Linke. »Rye Whiskey, feinste Sorte. Genießen Sie ihn und denken Sie dabei an Ihren verblichenen Partner.«

»Und was wird aus unserer Verbindung?«, erwiderte Rykow.

»Der ›President-elect‹ möchte sie unbedingt erhalten. Ich bin beauftragt, Ihnen eine Botschaft an Ihren Präsidenten zu überbringen. Bitte hören Sie genau zu. Sie lautet …«

Der Amerikaner fischte einen Zettel aus der Manteltasche, entfaltete ihn und las vor, während Rykow auf seinem Mobiltelefon in der Manteltasche mitschnitt:

»Die Vereinigten Staaten und die Russische Föderation, die Präsidenten Trump und Putin, haben den Auftrag der Geschichte, den Lauf der Welt zu verändern. Im Interesse unserer beiden Nationen und der gesamten Menschheit. Um das vorzubereiten, schlage ich die sofortige Wiederaufnahme unseres ›Back-Channels‹ vor. Ich werde meinen neuen Emissär Matt Sandler zu Ihrem bewährten Sonderbotschafter Anatoli Rykow entsenden. Die beiden sollten sich nach meiner Inauguration in Washington treffen, am 28. Januar 2025 um zehn Uhr Ortszeit. Wo, ist bekannt.«

Der Amerikaner zog ein grünes Plastikfeuerzeug aus der Jackentasche, entzündete den Zettel an einer Ecke und ließ ihn zwischen seinen gespreizten Beinen abbrennen. Die letzte Asche zerrieb er zwischen den Händen.

»Fragen kann ich Ihnen nun nicht mehr beantworten. Meine Mission ist erfüllt. Vertrauen Sie uns und übermitteln Sie Ihrem Präsidenten die herzlichsten Grüße meines Präsidenten.«

Der Amerikaner erhob sich und spazierte nach links davon. Regenwasser rann von seinem blanken Schädel übers Gesicht. Als er in Höhe der Ratte war und über den Anblick erschrak, nutzte die Joggerin, die ihm aus dem Nebel entgegenkam, den Moment der Unaufmerksamkeit, um ihm im Vorbeilaufen eine Spritze ins Ohr zu stechen, tief hinein in den Gehörgang. Die Linke hielt seinen Kopf am Kinn, die Rechte spritzte. Der Vergiftete fasste sich ans Ohr, riss die Augen auf, taumelte einen Schritt nach vorne und brach zusammen. Die blonde Joggerin, Mitte dreißig, mit perfekter Figur und modischer, eng anliegender Sportkleidung, wich dem Stürzenden aus, machte kehrt und lief dahin zurück, woher sie gekommen war. In mäßigem Tempo, als wäre nichts geschehen. Cool. Professionell.

Rykow beobachtete die Liquidierung fasziniert. Dann folgten seine Augen der schönen Mörderin, bis sich die Gestalt im Nebel auflöste. Er wusste, die CIA hatte einen potenziell gefährlichen Mitwisser, einen der ihren aus der Botschaft, ausgeschaltet. Die GRU hatte kein Motiv und auch keine Ahnung, dass Conolly nicht kam. Der Ersatzmann aber kannte Trumps Einladung zum Deal, im Wortlaut sogar, und war ein zu kleines Licht, um vertrauenswürdig zu sein. Der Überbringer musste verschwinden. Um Trump zu schützen. Wie Boten in der Geschichte so häufig. Die Joggerin dagegen wusste gar nicht, worum es ging. Sie dachte vermutlich, sie habe einen Verräter liquidiert.

Rykow musste seinen Dienst informieren, schleunigst, damit die Ermittlungen der Moskauer Polizei, vor allem aber die Leichenöffnung in der Gerichtsmedizin, einen natürlichen Tod ergaben.

Der Mann mit den Hochwasser-Hosen lag neben der Ratte. Mit bizarr verrenkten Armen. Der Verwesungsgestank des Tieres kroch in seine Kleidung. Der GRU-Mann, einziger Zeuge des Mordes, warf beiden einen letzten Blick zu und stapfte nach rechts, die Fäuste in den Manteltaschen vergraben. Er musste zu Putin.

Rykow erwachte früh. Viel zu früh. Er hatte am Vortag nach seiner Rückkehr aus dem Ostankino-Park sofort aus dem Hauptquartier der GRU im Kreml angerufen, beim Geheimdienst-Mann in der Präsidialkanzlei. »Ich muss den Präsidenten sprechen, dringend. Habe eine direkte Botschaft Donald Trumps an ihn zu überbringen.«

Sechs Minuten später kam der Rückruf. »Der Präsident erwartet Sie morgen um acht Uhr fünfundzwanzig in seinem Büro. Er hat dann Zeit für Sie, etwa anderthalb Stunden. Es gibt einiges zu besprechen.«

Also hatte Rykow den Wecker, ein blechern tickendes sowjetisches Modell, das er nach dem Tod seines Vaters von dessen Nachttisch genommen hatte, auf sieben Uhr gestellt. Aber nun, ein Blick auf das phosphoreszierende Zifferblatt genügte, war es gerade mal achtzehn Minuten nach fünf. Jemand rüttelte draußen an der Tür des Aufzugs, fluchte laut. Der Lift war kaputt, wie so vieles in Moskau seit dem Desaster in der Ukraine und den Sanktionen des Westens. Aufzüge, Rolltreppen, Autos. Fehlende Ersatzteile aus dem Westen waren längst nicht immer die Ursache. Für den Krieg waren Produktionen umgestellt worden, auf militärischen Bedarf, das traf seither die zivile Technik in Moskau hart. Die Schläge des Westens kamen hinzu. Im Hof des mächtigen Wohnblocks stand seit Monaten Rykows 5er BMW, den er vor sieben Jahren gebraucht gekauft hatte. Nun war das Einspritzsystem kaputt, und ein neues war selbst mit Geheimdienst-Beziehungen nicht zu bekommen. Das Moskauer Schimpfen wurde immer lauter. Auch seines, wenn niemand zuhörte.

Rykows Wohnblock war nach dem Großen Vaterländischen Krieg gebaut worden, Ende der Vierzigerjahre. Von deutschen Kriegsgefangenen. Die mauerten sorgfältig, die gewaltigen Gebäude waren schier unverwüstlich. Und exakt hochgezogen. Sowjetisches Bauen war von ganz anderer Qualität. Wenn Rykow durch die Hauptstadt spazierte und sich aufmerksam umsah, sprang ihm häufig ins Auge, wie mies die alten Häuser konstruiert waren. Manchmal schien es ihm, als gebe es in ganz Moskau keinen einzigen rechten Winkel, keine mit Lot vermessene Mauer. Und dieses Land, dachte er ketzerisch, wollte die NATO besiegen? In der Ukraine waren solche Zweifel dann ja auch aufs Peinlichste bestätigt worden.

Seither fragte sich Rykow immer wieder, ob Putin nicht besser abgeräumt werden müsste. Aber er konnte keine Figur ausmachen, der er die Nachfolge zugetraut hätte. Der GRU-Chef war ein widerwärtiger Opportunist, der Putins Speichel leckte, sein Kollege beim Inlandsgeheimdienst FSB war gerade erst neu installiert worden, ein blasser Hering.

Sollte er schon aufstehen? Rykow entschloss sich, noch eine halbe Stunde im Bett zu dösen, und dachte an Irinas weichen, warmen Körper, in den er jetzt so gerne eingedrungen wäre.

Vor zwei Jahren hatten sie sich scheiden lassen. Ihre Leben waren auseinandergedriftet, obgleich auch sie bei der GRU arbeitete. Aber auf völlig anderem Terrain, sie überwachte in Moskau britische Diplomaten. Mit allen Mitteln, auch denen einer Frau. Als sie ihm berichtete, ein englischer Agent habe sie gefickt, eine ganze Nacht lang, mal stürmisch, mal zärtlich, da war es aus. Rykow tobte, er schrie, dann verstummte er für Wochen. Bis sie die Scheidung verlangte und auszog.

Irina war immer selbstbewusst gewesen, denn sie hatte bei der GRU einen höheren Rang als er. Als sie heirateten, war sie Oberleutnant, er Leutnant. Das bohrte in ihm, bis zum Schluss. Die kleine Zweizimmerwohnung in der fünften Etage des deutschen Blocks fiel an ihn. Sie ergatterte eine größere und tat sich mit einem jüngeren Kollegen zusammen. Das Bett teilte Rykow nun gelegentlich mit einer Dreißigjährigen aus der Dokumentenverwaltung des Dienstes. Die Brünette mit herrlicher Figur und festen Brüsten vögelte göttlich. So war die Einsamkeit auszuhalten.

Rykow träumte davon, wie er ihre Brüste küsste und sich die Nippel unter seinen Lippen erhoben. Dann rang er seine Erektion nieder und erhob sich. Wohin sollte das führen, jetzt? Er duschte kalt. Rührte sich einen Buchweizenbrei an und brühte einen grünen Tee. Er wusste, dass Putin ähnlich frühstückte, die Medien hatten darüber berichtet, nun tat er es womöglich auch gerade.

Von der U-Bahn-Station »Ochotny Rjad«, 1935 zum Ruhme Stalins eröffnet, waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zum Roten Platz. Die steile, ungemein lange Rolltreppe aus dem Untergrund war ausgefallen. Als Rykow oben ankam, nach mehreren Pausen, rang er nach Atem, sein Puls raste. Es war kalt, nur wenige Grad über null, aber wenigstens trocken. Ein böiger Wind fegte über den magischen Platz.

Rykow steuerte das Eingangstor unterm Spasski-Turm an. Als er den beiden ersten Posten seinen Dienstausweis zeigte, trat aus dem Dunkel ein Zivilist auf ihn zu. »Herr Rykow? Bitte folgen Sie mir.«

Schweigend gingen sie im Innern des gewaltigen Komplexes zu einem dreistöckigen, ockerfarbenen Gebäude. Der Senatspalast mit Putins Büro. Rechts und links vom Eingang hatten »Speznas«-Kämpfer mit Schnellfeuergewehren und kugelsicheren Kampfanzügen Aufstellung genommen. Zwanzig bis dreißig, schätzte Rykow. Die Sondereinheit gehörte zur GRU und war eigentlich dafür geschaffen, im Kriegsfall hinter den feindlichen Linien abzuspringen und Sabotage zu betreiben. Rykow musste sich neben dem Eingang gegen die Mauer lehnen, mit gespreizten Beinen und gestreckten Armen, um sich auf Waffen abtasten zu lassen. Im Dienst hatte es vor ein paar Monaten Gerüchte gegeben, ein Putsch gegen Putin sei gescheitert. Fünf Attentäter aus den Reihen des FSB seien schon in den Kreml eingedrungen gewesen und im letzten Moment von zwei GRU-Bewachern erledigt worden. Nun, im Angesicht der »Speznas«-Männer, glaubte Rykow die Gerüchte.

Sie stiegen die Treppe empor, durchschritten auf rotem Teppich einen langen Gang und durchquerten ein Vorzimmer mit fünf Sicherheitsleuten, zwei Referenten und drei Sekretärinnen. Rykows Begleiter brauchte nichts zu sagen. Er blickte auf seine Uhr. Acht Uhr dreiundzwanzig. Er nickte Rykow aufmunternd zu, sagte: »Wir gehen schon rein«, und klopfte. Von drinnen antwortete ein unverständlicher Laut.

Der andere trat als Erster ein, machte einen Schritt zur Seite und bedeutete dem Gast mit einer herrischen Bewegung des Kopfes, zum Schreibtisch weiterzugehen. Dann zog er sich lautlos zurück und schloss die Tür von außen.

Rykow streifte seinen Mantel ab und warf ihn über einen Stuhl an der Wand.

Putin schwieg und heftete den eisigen Blick auf den Gast. Keine Emotion kräuselte das glatte, fahle Gesicht.

Rykow trat gemessenen Schrittes nach vorn, salutierte und leierte: »Herr Präsident, Oberst Anatoli Rykow meldet sich gehorsamst zum Bericht.«

Putin erwiderte, mit tadelndem Unterton: »Guten Morgen, Herr Oberst. Sie treten nicht in Uniform vor Ihren Präsidenten?«

Rykow rang nach Worten. Es war sein erster Besuch im Kreml. Hatte er schon verschissen?

Hatte er nicht. Putin bedeutete ihm mit einem knappen Nicken, an dem Tisch mit den vier Stühlen, der mit der schmalen Seite an seinen Schreibtisch geschoben war, Platz zu nehmen. Wie viele Karrieren hatten hier begonnen, wie viele geendet?

Rykow ließ seine Augen wandern, um das aufzunehmen, was er in Sekunden speichern konnte. Putin trug einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine ebenfalls blaue Krawatte mit unauffälligem Muster. In der Rechten hielt er einen Stift. Vor ihm, auf der Schreibmappe, lagen nur wenige Schriftstücke. Zur Linken auf einem Seitentisch waren hinter einem altmodischen Schaltpult diverse Telefone aufgereiht. Fünf oder sechs. Sie sollten stets präsente Macht demonstrieren, einschüchtern, auch wenn die Installation von vorgestern war. Mit einer vorsichtigen Wendung des Kopfes erkannte Rykow, dass das Büro mit dunkler Eiche getäfelt war. Aber nicht bis oben hin, bis zur Decke.

»Ich höre, Herr Oberst, Sie haben eine Botschaft des neuen amerikanischen Präsidenten mitgebracht«, begann Putin. »Berichten Sie!«

Rykow erinnerte an den »Back-Channel«, der während Trumps erster Präsidentschaft aufgebaut worden war. Kam dann auf den schon vor Jahren vereinbarten Treff im Ostankino-Park zu sprechen. Schilderte, dass aber nicht der auch Putin namentlich bekannte CIA-Mann Conolly erschienen war, sondern ein Unbekannter, angeblich aus der amerikanischen Botschaft, der einen Zettel hervorgezogen und Trumps Botschaft an den russischen Präsidenten verlesen hatte.

»Den Zettel hat er anschließend verbrannt. Die Botschaft aber habe ich auf meinem Mobiltelefon aufgezeichnet.« Rykow zog das kleine Gerät aus der Innentasche seines Sakkos, legte es auf den Schreibtisch und schaltete die vorbereitete Wiedergabe ein.

Putin schnellte nach vorn, stützte die Unterarme auf den Schreibtisch und zog sich daran etwas empor. »Und dann? Was hat der Bote noch erzählt? Warum schickt Trump Conolly nicht mehr?«

Rykow vollendete seinen Bericht. Bis zu dem tödlichen Stich ins Ohr des Boten und der Kehrtwende der Joggerin.

»Ha!« Putins Überraschungsruf eröffnete eine lange Stille. Der Präsident starrte den Oberst durchdringend an, überdachte, was er gehört hatte, und erläuterte dann, mit geröteten Wangen, was das für ihn bedeutete. »Die Amerikaner haben ihren eigenen Mann liquidiert, auf unserem Territorium. Das ist mehr als frech. CIA tötet CIA, obgleich das Opfer kein Verräter war, sondern einen Befehl ausgeführt hat. Einen Befehl Trumps. Und der Befehl zur Liquidation muss auch von ihm gekommen sein. Er herrscht also schon über den Geheimdienst, obgleich er noch gar nicht im Amt ist. Erstaunlich, höchst erstaunlich …«

Rykow schwieg. Er wusste, da kam noch mehr. Und so war es auch. »Das bedeutet erstens: Der direkte Kontakt zwischen Washington und Moskau ist erstrangig für Trump. Er hat viel vor … Mit mir … Der Welt einen neuen Lauf geben … Das kann er haben, wenn wir etwas davon haben.«

Pause. Lange Pause. Putin drehte den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger, blickte auf seine Hand und fuhr dann fort.

»Zweitens: Dafür geht er ein hohes Risiko ein. Er begibt sich in unsere Hand. Das müssen wir sofort festhalten. Hören Sie zu, Herr Oberst: Sie schreiben einen detaillierten Bericht über das Treffen in Ostankino. Sie überspielen die Botschaft Trumps auf einen Datenstick. Sie besorgen eine Gewebeprobe des Toten aus der Gerichtsmedizin, in Alkohol auf Dauer präpariert, und ermitteln das Gift, mit dem er liquidiert wurde. Auf dem Totenschein, dafür sorgen Sie, steht: plötzliches Herzversagen. Und Sie ermitteln die Identität der Mörderin, damit wir …«

»Das habe ich schon getan, Herr Präsident, gestern, sofort nach meiner Rückkehr aus Ostankino. Die Frau heißt Priscilla Wade, ist einunddreißig Jahre alt und Agentin der CIA. Sie arbeitet in der Botschaft unter der Legende einer stellvertretenden Abteilungsleiterin für Kultur und Medien. Wir haben sie schon lange im Blick, aber Vergleichbares hat sie noch nicht getan.«

»Vermutlich«, fiel Putin ein, »hat man ihr erzählt, der Tote CIA-Kollege sei ein Verräter und treffe sich im Park mit einem russischen Agenten. Was ja auch gestimmt hat. Ich wette, sie haben ihr gesagt: Sie müssen ihn ausschalten, dann werden Sie irgendwann Stationsleiterin in Moskau.« Pause. »Haben wir die Spritze?«

»Nein, die hat sie mitgenommen.«

»Und wer ist der Tote?«

»Wir kennen ihn nicht. Er hatte keine Papiere bei sich. Und auch die Einreisedokumente auf unseren Flughäfen geben nichts her. Vermutlich trug er eine Perücke bei der Einreise und hatte sich auch sonst geschickt getarnt. Womöglich ist er mit dem Pass eines anderen Landes eingereist. An der amerikanischen Botschaft hat er jedenfalls nicht gearbeitet.«

»Die Killerin darf vorläufig nicht ausreisen. Wir halten sie fest und sagen den Trump-Leuten, es gelte einen komplizierten Sachverhalt zu klären. Trump muss mir für sie etwas geben.«

Putin sank zurück auf seinem Stuhl. Überlegte. Fuhr fort: »Herr Oberst, Sie werden den gesamten Komplex exakt dokumentieren, mit Gewebeprobe, Tatortfotos, Trump-Botschaft und allem, was dazugehört. Es spricht alles dafür, dass der neue US-Präsident einen Mord in Moskau angeordnet hat. Das gehört in unser Pharaonengrab, zum Schatz der geheimen Erkenntnisse über Trump.«

Rykow staunte, unbewusst öffnete er den Mund.

»Und dann, grundsätzlich. Ich ordne an, Herr Oberst, dass Sie den ›Back-Channel‹ mit dem Amerikaner in Washington aufbauen. Das kann ungemein nützlich für uns sein. Sie werden sofort ein Büro hier in meiner Präsidialkanzlei beziehen. Sie berichten künftig mir, nur mir, nicht mehr dem Chef der GRU. Ihn werde ich informieren. Wenn Sie jetzt mein Zimmer verlassen, wird man Sie in Ihr neues Büro führen. Dort stehen zwei bewaffnete Posten vor der Tür. Aber nur vorläufig. Solange Sie Einblick nehmen in unsere geheimsten Erkenntnisse über Trump. Die müssen Sie kennen, um dem Amerikaner, den Sie in Washington treffen, erläutern zu können, wie eisern Trump in Moskau geschützt wird.«

Ein zynisches Lächeln umspielte Putins Mund. Sie müssen in Washington wissen, was ich in der Hand habe, dachte er.

»Die Dokumente und Datensticks liegen schon auf Ihrem Arbeitstisch. Ihr Ostankino-Report kommt dazu. Alles zusammen wird dann in mein Büro zurückgebracht. Morgen. Wenn Sie dafür in der Nacht arbeiten müssen, tun Sie’s eben.«

Putin erhob sich, kam um den Schreibtisch und reichte Rykow, der ebenfalls aufgestanden war, die Hand. »Wir werden nun eng zusammenarbeiten, Herr Oberst. Wir werden, wie sagt Trump, der Welt einen neuen Lauf geben. Vertrauen und Verschwiegenheit sind dafür unerlässlich. Vertrauensbruch, Sie wissen das, wird beim Geheimdienst mit dem Tod bestraft. Verschwiegenheit und Vertrauenswürdigkeit dagegen reich belohnt. Ich investiere schon in Sie. Mit der U-Bahn werden Sie von nun an nicht mehr fahren. Wenn Sie den Kreml verlassen, werden Sie einen nagelneuen Volvo übernehmen.«

Rykow war wie vor den Kopf geschlagen. Benommen verbeugte er sich, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro. Draußen, vor der Tür, fiel ihm ein, dass er seinen Mantel vergessen hatte. Klopfte kurz und trat noch mal ein.

Putin stand neben dem Schreibtisch und wandte Rykow den Rücken zu. Vor der Telefonanlage stand eine halb geleerte Flasche Wodka. »CTAHДAPT«. Der Präsident führte eben ein Glas zum Mund, ruckartig warf er den Kopf zurück. Dass Rykow auf Zehenspitzen seinen Mantel geholt und das Büro zum zweiten Mal verlassen hatte, bemerkte er nicht.

Der schlaksige Mittvierziger mit dem schattenhaften Oberlippenbärtchen, der Rykow am Spasski-Turm abgeholt und zu Putin geführt hatte, brachte ihn nun auch in sein neues Büro. Den Gang mit dem roten Sisal-Läufer runter und dann die siebte Tür rechts. Der andere ging voran, hielt Rykow die Tür auf und trat hinter ihm ein. »Zunächst mal, es wird ja Zeit dafür: Ich bin Viktor Wadulin, erster Sicherheitsberater des Präsidenten. Es gibt noch einen zweiten und einen dritten. Werden Sie kennenlernen.«

Rykow war beeindruckt, legte respektvoll seine Rechte aufs Herz.

»Sie werden zu meinem Team gehören, Herr Rykow. Und zum engsten Umfeld des Präsidenten. Mein Team trifft sich täglich um acht Uhr dreißig zu einer Lagebesprechung in meinem Büro, drei Türen weiter vorn, auf der Linken. Wir beide gehen dann weiter zum Gespräch mit Wladimir Putin, um neun Uhr dreißig. Ich berichte Aktuelles, Sie nehmen dann am Austausch teil, ganz frei, wie Sie mögen.«

Rykow nickte. Oh Mann, jetzt war er von der Parkbank ins Zentrum der Macht gerückt.

»Bevor ich das vergesse, Rykow«, fuhr der andere fort. »Lassen Sie Ihre Dienstpistole zu Hause. Hier darf sich kein Bewaffneter – außer den Sicherheitsleuten – in der Nähe des Präsidenten aufhalten. Wir wollen keine Überraschungen erleben.«

Rykow nickte stumm. Die Makarow lag in seiner Küche in der zweiten Bratpfanne von oben. Im Park hatte er sie dabeigehabt, gesichert im Hosenbund. Sonst aber mochte er sie nicht.

»So, nun zu Ihrem Büro und zu Ihren Aufgaben.«

Wadulin ließ ihm Zeit, sich in dem Raum umzuschauen. Ein schwerer Eichenschreibtisch aus Sowjetzeiten, ein Besprechungstisch mit vier Stühlen, zwei Fenster hinter altertümlichen Spitzengardinen und Aussicht auf Baumwipfel, hinter dem Schreibtisch ein gerahmtes Porträt Putins – mit verschlagener Miene – und an der gegenüberliegenden Wand das berühmte, nachgestellte Foto von dem Rotarmisten, der auf dem Berliner Reichstag die sowjetische Fahne hisst. Patriotisches Ensemble, dachte Rykow.

»Und hier«, sagte Wadulin, »haben Sie Ihre Identitätskarte, die Sie im Kreml immer an dieser kleinen Kette um den Hals tragen müssen. Verlust ist sofort anzuzeigen.«

Die Sache war perfekt vorbereitet, Rykows Foto war auf der Karte schon eingescannt. Karten-Nummer RN 45002387. »Rykow, Anatoli. Stab des Sicherheitsberaters.« Er legte die dünne Kette mit der Karte um den Hals.

Wadulin übergab ihm feierlich noch einen Ausweis in schwarzlederner Hülle. »Damit dürfen Sie sich draußen ausweisen. Das Teil öffnet Ihnen alle Türen.«

Rykow schlug die erste Seite auf. Passbild. Rykow, Anatoli. Mitglied des Präsidialbüros der Russischen Föderation. Und dann: »Alle Inhaber staatlicher Macht sind gehalten, dem Inhaber dieses Ausweises bei der Erfüllung seiner Aufgaben behilflich zu sein.«

Die Wagenpapiere und den Schlüssel für den Volvo 740 übergab Wadulin ganz unfeierlich. »Viel Spaß. Und nun zu Ihren ersten Aufgaben. Rechts und links vor Ihrer Tür sind inzwischen zwei bewaffnete Posten aufgezogen. Sie haben Anweisung, Sie erst heute Abend oder Nacht aus dem Raum zu lassen, dabei sorgfältig zu kontrollieren und alle Besucher abzuweisen. Hier liegt schon bereit, was Sie nun brauchen.«

Auf dem hässlich klotzigen Schreibtisch lagen neben dem Laptop mit DVD-Laufwerk fünf rotbraune Ledermappen, die mit umlaufendem Reißverschluss versehen waren. Großes Format, mittlere Stärke. Die »Trump Files«! Sammlung seines Missvergnügens. Die Mappen waren nummeriert, von eins bis fünf, und die Ziffern waren in das Leder auf der Vorderseite geprägt. In Gold.

»Ich lasse Sie jetzt allein. In die fünfte Mappe legen Sie noch Ihren Bericht über den Zwischenfall in Ostankino. Die Gewebeprobe des Liquidierten besorgen Sie sich noch heute in der Gerichtsmedizin, das Fläschchen kommt ebenfalls in die Mappe Nummer fünf. Wenn Sie gehen, lassen Sie die Mappen auf Ihrem Schreibtisch zurück. Jemand wird sie ins Büro des Präsidenten tragen. Ach ja: Fotografieren oder Notizen machen ist natürlich streng untersagt. Ihr Hirn ist alles, was Sie mit sich führen.«

Wadulin hob die Rechte kurz zum Gruß und verließ das Büro.

Rykow ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen, und das ausgesessene, kunstlederbezogene Konstrukt seufzte leise, als die Luft aus dem Polster gepresst wurde. Rykow drehte sich sachte hin und her, ließ den Blick schweifen und saugte die Umgebung in sich auf, die ihn nun wohl für Jahre gefangen halten würde. Das Reichstagsbild würde er ersetzen durch die Unterwasseraufnahme mit den bunten Fischen, die er beim Tauchen auf der Krim gemacht hatte und die jetzt hinter der Tür seines Wohnzimmers ein Schattendasein fristete.

Er brauchte ein wenig Ablenkung von der Weltpolitik, denn er wusste, was auf ihn zukam. So viel war ja schon klar zu erkennen: Trump würde sich mit China anlegen und den pazifischen Raum beanspruchen. Dafür musste er den Rücken frei haben und Putin einen fetten Happen der geteilten Welt in den geöffneten Rachen werfen. Vermutlich einen europäischen Happen. Russland war nach dem vergeigten Krieg in der Ukraine in schrecklichem Zustand, seine dezimierte Armee ein Trümmerhaufen. Das Bündnis mit Trump könnte einen Ausweg weisen, Russland wieder zur Großmacht an der Seite Amerikas aufbauen und dafür – so viel stand fest – den Chinesen Xi vom Sockel stoßen. Rykow mochte Putin nicht sonderlich, den kalten Fisch, er hatte in der Ukraine alles falsch gemacht und Russland erst mal ruiniert. Aber beim Wiederaufbau würde er ihm helfen. Das gebot ihm sein Patriotismus. »Slava Rossija!« Ehre der Heimat!

Rykow gab sich einen Ruck, setzte sich auf und nahm die erste Mappe. Die anderen vier legte er vorsichtig auf den Boden. Als er den Reißverschluss geöffnet hatte, fiel der Blick auf acht Datensticks, die durch Gummischlaufen in zwei Reihen gehalten wurden. Rykow ahnte, womit er es zu tun hatte, atmete tief durch und steckte den ersten Datenträger in seinen Laptop. Mit einem einzigen Klick war die Datei geöffnet, und ein verrauschtes Schwarz-Weiß-Video flimmerte über den Bildschirm. Bingo! Trumps Moskauer Sex-Orgie aus den Neunzigerjahren, von Gerüchten umwuchert, aber nie hieb- und stichfest bewiesen. Hier war der Beweis. Offenbar war vom benachbarten Raum aus ein kleines Loch durch die Wand gebohrt worden, und eine Kamera-Sonde nahm auf, was sich in einer lange Nacht in Trumps Suite abspielte.

»Hotel Baltschug« stand auf der Brust des weißen Bademantels, den Trump trug, als er die Tür öffnete und drei Prostituierte einließ. Mitte zwanzig, bildschön, zwei blond, eine brünett. Zwei rasiert, eine zart behaart, wie sich zeigte, als Trump, damals noch Geschäftsmann, die Damen genussvoll ausgezogen hatte. Was dann folgte – Rykow schob einen Stick nach dem anderen ein und ließ die Bilder im Schnelldurchlauf vorüberrauschen –, war eine Lektion in Sexualpraktiken. Der Amerikaner, riesenhaft und unangenehm teigig, nahm jede Prostituierte einzeln und alle drei gemeinsam.

Die Russinnen ließen es geschehen und simulierten ihre Höhepunkte, ihr Stöhnen, Seufzen und Schreien mit Hingabe. Sie waren Absolventinnen der GRU-Sex-Akademie. Zwischendurch labten sich die vier in der Sitzgruppe an Häppchen und Champagner. Der Amerikaner warf immer wieder Tabletten ein, um die erschöpfte Manneskraft zu stählen, zerschlug Stühle und wischte Vasen von der Kommode. Die Suite wurde zum Sperrmüllplatz.

Je länger das Schauspiel dauerte, desto übler wurde Rykow. Dreieinhalb Stunden brachte er mit der Orgie zu. Die Handlung erschöpfte sich in Wiederholungen, dann steckte er den achten, den letzten Datenträger ein. Am Ende der Aufzeichnung mussten sich die drei Frauen nebeneinander aufs Bett legen, Trump stellte sich zwischen sie – und pinkelte auf alle drei herab.

Rykow hatte genug. Er verschloss die erste Mappe und nahm die zweite. Die war hochpolitisch. Vier CDs hielten jene siebeneinhalb Stunden an Telefongesprächen und E-Mail-Nachrichten fest, die am 6. Januar 2021 im Oval Office registriert worden waren, während ein rechtsradikaler Mob den Kongress stürmte und verwüstete. Nach diesen siebeneinhalbstündigen Aufzeichnungen wurde seither in Washington fieberhaft gesucht. Irgendjemand hatte sie verschwinden lassen, vermutlich in Trumps Auftrag. In Moskau lagen sie, in Kopie, in Putins Safe. Rykow konnte sich nicht verkneifen, leise zu pfeifen.

Er hörte jene siebeneinhalb Stunden komplett ab, stand zwischendurch immer wieder auf, öffnete ein Fenster und sog die kühle Moskauer Luft tief in seine Lungen. Kein Zweifel: Trump hatte den Mob damals nicht nur angestachelt, er hatte auch die Sicherheitsbehörden aufgehalten – Nationalgarde, FBI und CIA –, bis der mediale Tsunami ihn aus dem Weißen Haus hinwegzufegen drohte.

Mike Pence etwa rief ihn aus dem Kongress an, verfolgt vom Mob und mühsam versteckt, flehte Trump an: »Mr President, dies ist ein Putschversuch. Wenn Ihnen mein Leben und das Leben vieler Abgeordneter lieb ist, geben Sie der Nationalgarde Schießbefehl.«

Trump indes blieb kühl. »Mike, du warst schon immer ein Feigling. Mach dir nicht in die Hose. Diese Leute sind Patrioten, die besten, die Amerika aufzubieten hat.«

Es wurde sogar ein Rädelsführer zu ihm durchgestellt. »Herr Präsident, ich frage Sie, den Anführer der zweiten amerikanischen Revolution: Was sollen wir tun?«, und Trump antwortete: »Hängt Nancy Pelosi an den Füßen auf, wenn ihr sie erwischt. Und prügelt sie mit euren Gürteln durch, bis sie nicht mehr quiekt.« Allein diese Passage, Rykow hatte keinen Zweifel, würde Trump politisch umbringen, vermutlich sogar ins Gefängnis befördern für zwanzig oder dreißig Jahre.

Rykow war fertig. Als hätte ihm jemand das Blut in die Füße gedrückt und den Kopf leer geblasen. Die restlichen Ordner konnte er nur noch kursorisch durchgehen. Der dritte enthielt eine Auflistung der Termine aus dem Jahr 2016, an denen sich russische Agenten in New York und Washington mit Abgesandten Trumps getroffen hatten, um Unterstützung im Wahlkampf zu besprechen. Zu jedem Treff gab es ein Gedächtnisprotokoll aus russischer Feder. Daneben enthielt die Ledermappe den Nachweis, dass es sich bei jenen drei Komma fünf Millionen Dollar, die Joe Bidens Sohn Hunter angeblich aus Moskau erhalten hatte, aus der Schatulle der Milliardärin Jelena Baturina, um ein Fake der GRU handelte.

Die vierte Mappe offenbarte zahllose Dokumente über die Millionenkredite, die Trump als Geschäftsmann aus Russland erhalten hatte. Für Hotel- und Bauprojekte, die nie verwirklicht wurden. Die Kredite indes durfte der Amerikaner behalten. Das fünfte und letzte Lederetui bewahrte jene Protokolle auf, die er selbst, Rykow, nach seinen »Back-Channel«-Treffen mit Conolly angefertigt hatte. Auch wenn er kaum noch denken konnte: Rykow nahm das zum Anlass, nun seinen Bericht über den Zwischenfall von Ostankino zu schreiben. Vorher rief er bei der GRU an, in der für Amerika zuständigen Abteilung, und fragte nach den letzten Erkenntnissen über den Toten aus dem Park.

Die Kollegen hatten ganze Arbeit geleistet. Bei der Durchsicht von Video-Aufnahmen aus den Foyers der Moskauer Luxus-Hotels erkannten sie ihn wieder, den Glatzkopf. Im »Novotel«. Er war als Harry Lyndon gemeldet, wohnhaft in New York. Bei der Öffnung seines Zimmers stießen sie unter der Matratze auf sein Mobiltelefon, das zuletzt wiederholt in der Funkzelle von Langley eingecheckt worden war. Das war nicht zu toppen: In Langley saß das CIA-Hauptquartier. Harry Lyndon wurde zudem in einem Zeitungsbericht als Mitglied von Trumps »Transition-Team« im Washingtoner »Meyer-Building« erwähnt. Auf einem Foto war er sogar hinter Trump festgehalten worden. Sie waren mit ihrer Vermutung also auf der richtigen Spur: Trump hatte offenbar Lyndons Mission in Auftrag gegeben, ebenso wie seine anschließende Liquidierung.

Rykow druckte das Protokoll aus und steckte es in die fünfte Mappe. Es war dreiundzwanzig Uhr siebzehn. Er trat aus dem Büro, hob die Hände und ließ sich von den beiden Posten geduldig untersuchen. Dann lief er zum Parkplatz hinter dem Senatspalast und suchte seinen Volvo, dunkelblau sollte er sein.

Das Türschloss schnurrte leise, als er den Knopf zur Öffnung am elektronischen Schlüssel drückte. Auf dem Fahrersitz atmete er tief durch. Und noch mal. Und noch mal. Es roch herrlich nach frischem Leder. Aber er durfte sich jetzt nicht vergessen.

Rykow stellte Sitz und Spiegel ein, dann startete er, passierte langsam den Spasski-Turm, fuhr zur Moskauer Gerichtsmedizin, die er gut kannte, fragte sich bis zum zuständigen Pathologen durch – und hatte Glück, ihn noch zu treffen. Professor Abraham Spitzman.

Ein Jude, schon wieder ein Jude, dachte Rykow, der seine antisemitischen Aversionen, vom Vater übernommen, bedenkenlos mobilisierte wie so viele »patriotische« Russen. »Herr Professor, ich gehöre dem Sicherheitskabinett des Präsidenten an. Hier ist mein Ausweis. Ich verpflichte Sie, mir eine Gewebeprobe des gestern aus Ostankino angelieferten Toten auszuhändigen. Er heißt übrigens Harry Lyndon und ist Amerikaner. Woran, meinen Sie, ist er gestorben?«

Der Arzt, ein schmächtiger Mann in hellblauem Kittel, antwortete: »Wir haben Spuren von Myotoxin in seinem Blut gefunden. Führt zu sofortigem Herzstillstand. Wie und wo das Gift in seinen Körper kam, wissen wir aber nicht.«

Rykow schlug nochmals seinen Befehlston an: »Er ist an plötzlichem Herzversagen gestorben, das können Sie sicherlich mittragen. Einen internationalen Eklat durch die Verabreichung von Gift wollen Sie gewiss nicht verantworten. Schließen Sie den Fall ab und überstellen Sie die Leiche an die amerikanische Botschaft. Aber vorher schneiden Sie mir bitte noch ein Stückchen von ihm ab.« Rykow lachte schmutzig.

Der Arzt beeilte sich: »Aber sicher. Ich habe schon Proben genommen. Bringe Ihnen gleich eine. Und ansonsten verfahren wir so wie besprochen.«

Acht Minuten später hielt Rykow das kleine Glas in der Hand, ein blasses Häutchen trieb in der klaren Flüssigkeit. Er fuhr zurück zu seiner Wohnung. Den Skalp des Amerikaners, er grinste bei der Formulierung, würde er anderntags auf den Schreibtisch des Präsidenten legen.

Matt Sandler wachte in vollkommener Dunkelheit auf, für ein paar Momente ohne jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Sein rechter Unterarm wurde angenehm von einem Körperteil erwärmt, das Matt nach kurzer Irritation glaubte, als Oberschenkel identifizieren zu können. Die Kuppen seiner Zeige- und Mittelfinger berührten sanft ein Stück Haut, das nach den Gesetzen der Anatomie nur zu einem Hintern gehören konnte.