Abendliche Häuser - Eduard von Keyserling - E-Book

Abendliche Häuser E-Book

Eduard von Keyserling

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Beschreibung

Keyserlings Beschreibung eines zunehmend verarmten Landadels – eine ihm gut bekannte Lebenssituation. Eine "alte Tante" schildert die Situation folgendermaßen: "Wir haben nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt." Im Roman geht es um Generationen. Die jüngere Adels-Generation hängt noch an den Schößen der Alten und hat sich noch nicht emanzipiert. Aber das Abschneiden "alter Zöpfe" scheint unausweichlich. Reihum in allen Häusern gibt es Söhne und Töchter, die in die große Stadt ziehen, um der öden Bedrängnis und der Not zu entfliehen. Aber die, die zurückkommen, sei es aus Einsamkeit oder Pflichtbewusstsein, sind nicht selten gebrochene Individuen ohne Zukunft. So kommt es, dass eine mit letzten Mitteln finanzierte Abendgesellschaft der Auslöser für einen weiteren Aderlass wird, als ein russischer Gast die Männer beim Kartenspiel ausnimmt. Null Papier Verlag

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Eduard von Keyserling

Abendliche Häuser

Eduard von Keyserling

Abendliche Häuser

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: S. Fischer, Berlin, 1914 (260 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962814-52-6

null-papier.de/609

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

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Erstes Kapitel

Auf Schloss Pa­du­ren war es recht still ge­wor­den, seit so viel Un­glück dort ein­ge­kehrt war. Das große brau­ne Haus mit sei­nem schwe­ren, wun­der­lich ge­schweif­ten Da­che stand schweig­sam und ein we­nig miss­mu­tig zwi­schen den ent­laub­ten Kas­ta­ni­en­bäu­men. Wie di­cke Fal­ten ein al­tes Ge­sicht durch­schnit­ten die großen Halb­säu­len die brau­ne Fassa­de. Auf der Freitrep­pe lag ein schwar­zer Set­ter, streck­te alle vier von sich und ver­such­te sich in der mat­ten No­vem­ber­son­ne zu wär­men. Zu­wei­len ging eine Magd oder ein Stall­bur­sche über den Hof lang­sam und läs­sig. Hier schi­en es, hat­te nie­mand Eile. In der of­fe­nen Stall­tü­re lehn­te Mah­ling, der alte Kut­scher mit dem wei­ßen Bart, und gähn­te. In der of­fe­nen Gar­ten­pfor­te stand Gar­be, der Gärt­ner, und ver­zog sein glat­tra­sier­tes Sek­tie­rer­ge­sicht und blin­zel­te in die Son­ne. Dann be­gan­nen die bei­den Män­ner auf­ein­an­der zu­zu­ge­hen, mit­ten zwi­schen Stall und Gar­ten blie­ben sie ste­hen, spra­chen ei­ni­ge Wor­te zu­ein­an­der, schwie­gen, spuck­ten aus, lie­ßen wie­der ei­ni­ge Wor­te fal­len.

Auf der an­de­ren Sei­te des Hau­ses wur­de eine Glas­tür ge­öff­net, die ge­ra­de­wegs in den Gar­ten führ­te, und der Schloss­herr, der Baron von der War­the, wur­de in sei­nem Roll­stuhl von sei­nem Die­ner Chri­stoph hin­aus­ge­fah­ren. Dicht in sei­nen Pelz gehüllt, eine Pelz­müt­ze auf dem Kop­fe, schwank­te die in sich zu­sam­men­ge­bo­ge­ne Ge­stalt im Stuh­le sach­te hin und her. Das Ge­sicht war sehr bleich und in sei­ner stren­gen Re­gel­mä­ßig­keit von ei­ner mü­den Aus­drucks­lo­sig­keit, nur die her­vor­tre­ten­den Au­gen wa­ren noch wun­der­lich klar und blau. Ne­ben dem Roll­stuhl schritt die Schwes­ter des Barons, die Baro­nes­se Ara­bel­la, hin, groß und ha­ger in ih­rem schwar­zen Man­tel und dem we­hen­den Trau­er­schlei­er, das Ge­sicht schmal und mes­ser­scharf zwi­schen den ge­bausch­ten wei­ßen Schei­teln. So ging es die feuch­ten Herbst­we­ge des Parks ent­lang, auf de­nen die Herbst­blät­ter ra­schel­ten. Von den Bäu­men fie­len Trop­fen, und die Wip­fel wa­ren voll lär­men­der Ne­bel­krä­hen. Chri­stoph steck­te das Kinn tiefer in den auf­ge­schla­ge­nen Kra­gen des Li­vree­man­tels und schnauf­te ein we­nig in der An­stren­gung des Sto­ßens. Dann hielt er plötz­lich still, sein Herr hat­te ein Zei­chen mit der Hand ge­macht, der Baron sah zu sei­ner Schwes­ter auf und sag­te mit ei­ner Stim­me, die är­ger­lich und ge­quält klang: »Sag’ mal, Ara­bel­la, was ist die Dach­hau­sen für eine Ge­bo­re­ne?« – »Birk­mei­er, die Fa­bri­kan­ten­toch­ter«, er­wi­der­te die Baro­nes­se ru­hig und wie me­cha­nisch. Be­frie­digt ließ der Baron den Kopf sin­ken, und Chri­stoph schob den Stuhl wei­ter.

Und doch vor we­ni­gen Wo­chen noch war Pa­du­ren die Hoch­burg des ade­li­gen Le­bens in die­ser Ge­gend ge­we­sen, und der Baron Sieg­wart von der War­the hat­te hier eine stil­le, aber un­be­strit­te­ne Herr­schaft über sei­ne Stan­des­ge­nos­sen aus­ge­übt. Der klei­ne rund­li­che Herr mit dem stren­gen, fei­er­li­chen Ge­sicht, das von dem wei­ßen Haar und wei­ßen Ba­cken­bart wie von ei­nem sil­ber­nen Hei­li­gen­schein um­rahmt wur­de, war das Ge­wis­sen die­ses Adels­win­kels ge­we­sen. Öf­fent­li­che Äm­ter moch­te er nicht be­klei­den, in Ver­samm­lun­gen schwieg er. »Ich bin kein Tri­bü­nen­läu­fer«, pfleg­te er zu sa­gen, aber sei­ne An­sicht war den­noch stets die aus­schlag­ge­ben­de, und in je­der wich­ti­gen Sa­che war es die Haupt­fra­ge: »Was sagt von der War­the?« In Sa­chen der Po­li­tik und der Land­wirt­schaft, in Fa­mi­li­en­an­ge­le­gen­hei­ten und Ehren­hän­deln, über­all sprach er das wich­tigs­te Wort mit. Er lieh Geld de­nen, die es nö­tig hat­ten und die er des­sen wür­dig hielt, und wach­te streng dar­über, dass gute alt-edel­män­ni­sche Sit­te hier nicht in Ver­fall ge­riet. Wenn der Baron von der War­the die grei­sen Au­gen­brau­en in die Höhe zog, mit der fla­chen Hand durch die Luft von oben nach un­ten fuhr, als mach­te er einen Sarg­de­ckel zu, und lei­se sag­te: »Hm – ja, scha­de, aber der Mann ist er­le­digt«, dann war der Mann für die­se Ge­gend wirk­lich er­le­digt. Der Baron war sich sei­ner Stel­lung wohl be­wusst, und er ge­noss sie, und sie war viel­leicht die ein­zi­ge wirk­li­che Freu­de sei­nes Le­bens. Im­mer wohl­wol­lend wür­dig zu sein, ge­ach­tet und ein we­nig ge­fürch­tet zu wer­den, mag ein großes Gut sein, es macht je­doch ein­sam und ist nicht ge­ra­de hei­ter. Das gab dem Baron wohl auch den fei­er­li­chen, ein we­nig un­ge­müt­li­chen Aus­druck; er sah aus, als dür­fe er sich nie ge­hen las­sen und als sei ihm die­ses selbst zu­wei­len un­be­quem. Dietz von Egloff, der es lieb­te, von äl­te­ren Her­ren re­spekt­los zu spre­chen, mein­te: »Dem Ge­sicht des al­ten War­the wür­de ich es gön­nen, sich ein­mal eine Stun­de lang nach Her­zens­lust ver­zie­hen zu dür­fen, um sich von der ewi­gen Wür­de gänz­lich er­ho­len zu kön­nen.« Der Baron lieb­te es, wenn es hei­ter um ihn her war, sei­ne Jag­den und sein Rot­wein wa­ren be­rühmt, aber er konn­te sich nicht ver­heh­len, dass die Leu­te sich ge­ra­de dann am bes­ten un­ter­hiel­ten, wenn er zu­fäl­lig nicht zu­ge­gen war. Das moch­te ihn zu­wei­len ein we­nig me­lan­cho­lisch ma­chen, aber er ge­stand sich das selbst nicht ein und war über­zeugt, dass er das bes­se­re Teil er­wählt habe, die Weis­heit, die Wür­de und die Macht. Die jun­gen Leu­te lieb­ten ihn nicht, lach­ten über ihn, wenn sie un­ter sich wa­ren, und nann­ten ihn den »Baron Miss­bil­li­gung«. Al­lein sie fürch­te­ten ihn, und wenn sie in Schwie­rig­keit ge­rie­ten, wand­ten sie sich stets an ihn. Die al­ten Her­ren be­wun­der­ten ihn und lausch­ten sei­nen Wor­ten wie ei­nem Evan­ge­li­um.

Am Ka­min bei der Nach­mit­tags­zi­gar­re lieb­te es der Baron, zu sei­nem al­ten Freun­de, dem Baron Port auf Wit­zow, von sei­nen Grund­sät­zen zu spre­chen: »An­sich­ten, die jun­gen Leu­te wol­len jetzt al­ler­hand An­sich­ten ha­ben. Nun ja, ich be­strei­te ja nicht, es mag al­ler­hand An­sich­ten und Grund­sät­ze ge­ben, die ganz gut und rich­tig sind für an­de­re. Man braucht ja schließ­lich kein Edel­mann zu sein, aber für uns gibt es ge­wis­se An­sich­ten und Grund­sät­ze, die rich­tig und wahr sind, nicht weil je­mand sie uns be­wie­sen hat, son­dern weil wir wol­len, dass sie rich­tig und wahr sind. Mir braucht man nichts zu be­wei­sen und zu er­klä­ren. Ich will, dass das und das wahr und rich­tig ist, weil, wenn das falsch ist, ich nicht mehr der von der War­the bin, der ich bin, und du nicht von Port bist, der du bist, weil wir sonst bei­de alte Nar­ren wä­ren. Siehst du, das sage ich.«

Als sein Freund zu spre­chen an­fing, hat­te der Baron Port sich aus der leich­ten Nach­mit­tags­schläf­rig­keit auf­ge­rüt­telt. Er beug­te den schwe­ren Ober­kör­per nach vorn, leg­te die Hand an das Ohr und hör­te auf­merk­sam zu. Als die Rede zu Ende war, schlug er dem Baron von der War­the mit der fla­chen Hand auf das Knie und mein­te: »Da hast du wie­der recht, Bru­der.« Dann lehn­ten die bei­den Her­ren sich in ihre Ses­sel zu­rück und so­gen be­frie­digt an ih­ren Zi­gar­ren.

Vor­bild­lich wie die An­sich­ten und die Land­wirt­schaft des Baron von der War­the für sei­ne Nach­barn wa­ren, so war es auch sein Haus, die ho­hen Zim­mer voll weit­läu­fi­ger, schwe­rer Ma­ha­go­ni­mö­bel, großer Ka­chelö­fen, vol­ler Ah­nen­bil­der und al­ten Sil­bers, in de­nen sich ein Le­ben ge­re­gel­ter Wohl­ha­ben­heit be­hag­lich ab­spann. »Un­se­re Vor­nehm­heit ist schlicht«, pfleg­te der Baron zu sa­gen. Er lieb­te das Wort »schlicht« und fuhr gern, wenn er es aus­sprach, mit der fla­chen Hand waa­ge­recht durch die Luft. Dass die bei­den Kin­der des Barons in Pa­du­ren, Fa­stra­de und Bol­ko, Vor­bil­der für alle Kin­der der Nach­bar­schaft wa­ren, das wuss­te je­des Kind der Ge­gend. Die Baro­nin von der War­the war bei der Ge­burt ih­res zwei­ten Kin­des ge­stor­ben, die Baro­nes­se Ara­bel­la stand dem Haus­halt ih­res Bru­ders vor und er­zog die Kin­der, und auch die­se Er­zie­hung wur­de all­ge­mein be­wun­dert. Da war der Haus­leh­rer, Herr Arno Holst, der Bol­ko auf die hö­he­ren Gym­na­si­al­klas­sen vor­be­rei­ten soll­te und die eben er­wach­se­ne Fa­stra­de noch in Li­te­ra­tur und Kunst­ge­schich­te ein­führ­te. Ein schmal­schul­te­ri­ger jun­ger Mann mit kurz­sich­ti­gen brau­nen Au­gen, blon­den Lo­cken und ei­nem hüb­schen Mäd­chen­ge­sicht. Er war sehr mu­si­ka­lisch, sang mit ei­ner schö­nen Ba­ri­ton­stim­me, las Schil­ler­sche Dra­men vor und war von ei­ner fast kna­ben­haft schwär­me­ri­schen Be­geis­te­rung für al­les Schö­ne. Der Pa­du­ren­sche Haus­leh­rer war in der gan­zen Nach­bar­schaft be­rühmt. »Es ist toll«, sag­te Baron Port zu sei­ner Frau, »wenn der War­the sich was an­schafft, so ist es un­fehl­bar ers­ter Güte. Wie er das nur macht? Hat er einen Hüh­ner­hund, so ist der ha­sen­rei­ner als alle un­se­re Hun­de, nimmt er sich einen Haus­leh­rer, so ist das gleich ein un­ge­wöhn­lich schar­man­ter Kerl.«

»Kränk­lich scheint er mir«, sag­te die Baro­nin, die es nicht lieb­te, die Schat­ten­sei­ten an Men­schen und Sa­chen zu über­se­hen. Umso grö­ße­res Er­stau­nen er­reg­te die Nach­richt, Herr Holst habe das Schloss plötz­lich ver­las­sen. In Pa­du­ren tat man so, als sei nichts Be­son­de­res ge­sche­hen, es sei eben an der Zeit, Bol­ko auf das Gym­na­si­um zu schi­cken. Al­lein ein Gerücht, nie­mand wuss­te, wo­her es kam, woll­te nicht ver­stum­men, es er­zähl­te von wun­der­li­chen Din­gen, wel­che sich in Pa­du­ren er­eig­net ha­ben soll­ten. Hat­te sich Herr Holst in Fa­stra­de ver­liebt? Hat­te Fa­stra­de sich in den hüb­schen Haus­leh­rer ver­liebt? Hat­ten sie sich ver­lobt, und hat­te es einen bö­sen Fa­mi­li­en­auf­tritt ge­ge­ben? Nie­mand glaub­te so recht dar­an, den­noch wur­de auf den be­nach­bar­ten Gü­tern eif­rig dar­über ge­flüs­tert, und es war, als sei den meis­ten der Ge­dan­ke nicht un­an­ge­nehm, dass es auf Pa­du­ren auch nicht im­mer so ein­wand­frei her­ge­be, wie es schei­nen woll­te. Von War­thes war na­tür­lich nichts zu er­fah­ren. Bol­ko kam auf das Gym­na­si­um, der Baron war wür­dig und voll Au­to­ri­tät wie im­mer, die Baro­nes­se Ara­bel­la schwieg, und Fa­stra­de sah man wie sonst auf ih­rem klei­nen Schim­mel die Wald­we­ge ent­lang ja­gen im blau­en Reit­kleid. Un­ter der wei­ßen Kna­ben­müt­ze flat­ter­te blon­des Haar um das run­de, über und über rosa Ge­sicht, auf den Lip­pen ein ste­ti­ges Lä­cheln, als lä­chel­te sie dem schar­fen Luft­zu­ge der tol­len Be­we­gung zu. Auch in Ge­sell­schaft war sie wie sonst das un­be­fan­ge­ne hei­te­re Mäd­chen mit dem hin­rei­ßen­den La­chen. Sie bog dann den Kopf zu­rück, öff­ne­te die Lip­pen ein we­nig weit, und die Au­gen wur­den glit­zernd und feucht. »Die Au­gen der klei­nen War­the ma­chen mich durs­tig«, hat­te Dietz von Egloff ge­sagt, »auf der gan­zen Welt habe ich nach ei­nem Ge­tränk ge­sucht, so stark blau und ganz durch­sich­tig, aber das gibt es nicht.«

Zwei Jah­re ver­gin­gen, Bol­ko be­zog die Uni­ver­si­tät, Fa­stra­de fei­er­te ih­ren ein­und­zwan­zigs­ten Ge­burts­tag, als wie­der­um eine Nach­richt die Ge­gend in Auf­re­gung ver­setz­te. Fa­stra­de, hieß es, ver­las­se ihr vä­ter­li­ches Haus, um fern ir­gend­wo, in Ham­burg sag­te man, im Kran­ken­hau­se die Kran­ken­pfle­ge zu er­ler­nen. Die Nach­richt be­stä­tig­te sich und war doch so un­glaub­lich. Wie oft hat­ten nicht alle es von dem Baron von der War­the ge­hört: »Un­se­re Töch­ter ge­hö­ren in un­ser Haus, bis sie ihr ei­ge­nes be­zie­hen. Toch­ter ei­nes ade­li­gen Hau­ses zu sein ist ein Be­ruf, der eben­so wich­tig ist wie je­der and­re Be­ruf.« Und noch letzthin, als die zwei­te Toch­ter der Ports nach Dres­den ging, um ihre Stim­me aus­zu­bil­den, hat­te der Baron das eine De­ser­ti­on ge­nannt. Und nun de­ser­tier­te sei­ne ein­zi­ge Toch­ter, ließ die bei­den al­ten Leu­te al­lein. Was war ge­sche­hen? In Pa­du­ren schwieg man dar­über wie im­mer. Man glaub­te zu be­mer­ken, dass der Baron nach der Abrei­se sei­ner Toch­ter stren­ger und un­nach­sich­ti­ger in sei­nen Ur­tei­len war, dass er un­ge­dul­dig wur­de, wenn man ihm wi­der­sprach, aber sonst war kei­ne Ver­än­de­rung be­merk­bar. Gro­ße Jag­den wur­den in Pa­du­ren ab­ge­hal­ten, bei de­nen er ner­vös die Ju­gend zur Hei­ter­keit auf­mun­ter­te. Ja, er selbst be­müh­te sich, hei­ter zu sein, sprach viel von Bol­ko, von dem Stu­den­ten­le­ben, er­zähl­te aus der ei­ge­nen Stu­den­ten­zeit ver­schol­le­ne Stu­den­ten­strei­che, über die nur er und der Baron Port la­chen konn­ten.

An ei­nem No­vem­be­r­abend trat die Baro­nes­se Ara­bel­la in das Ar­beits­zim­mer ih­res Bru­ders, sie fand ihn in sei­nem Ses­sel sit­zend, den Kopf zu­rück­ge­lehnt, das Ge­sicht grau und wie zer­fal­len, die Au­gen ge­schlos­sen, in der Hand hielt er ein Te­le­gramm. »Mein Gott! Sieg­wart!« rief die Baro­nes­se. Matt reich­te er ihr mit der einen Hand das Te­le­gramm, mit der an­de­ren wink­te er. Er woll­te al­lein sein. Das Te­le­gramm mel­de­te, Bol­ko sei im Duell ge­fal­len. Die Baro­nes­se ging, um sich in ihr Zim­mer zu ver­schlie­ßen und zu wei­nen. Im Schlos­se wur­de es eine Wei­le ganz still, als die Nacht aber her­ein­ge­bro­chen war, be­gan­nen Schrit­te un­abläs­sig durch die lan­ge Zim­mer­flucht zu ir­ren, und wenn sie an der Tür der Baro­nes­se vor­über­ka­men, glaub­te die­se et­was wie ein lei­ses Wim­mern zu hö­ren. Den nächs­ten Mor­gen war der Baron bleich und ge­fasst, traf die Vor­be­rei­tun­gen für die Be­stat­tung sei­nes Soh­nes und emp­fing die Trau­er­be­su­che. Er war fei­er­lich und wür­de­voll wie im­mer, nur schi­en es zu­wei­len, als ge­rie­ten die­se Fei­er­lich­keit und die­se Wür­de ins Schwan­ken, als müss­te er sie ge­walt­sam fest­hal­ten wie einen schwe­ren Man­tel, der von den Schul­tern her­ab­zuglei­ten droht.

Nach dem har­ten Schla­ge, der sie ge­trof­fen, zeig­ten die Ein­woh­ner von Pa­du­ren sich nicht in der Nach­bar­schaft. Sie blie­ben zu Hau­se und gin­gen recht schweig­sam in den großen Räu­men ne­ben­ein­an­der her. Ein­mal sag­te die Baro­nes­se Ara­bel­la zu ih­rem Bru­der: »Un­se­re Fa­stra­de, soll un­se­re Fa­stra­de nicht kom­men?« Er aber wink­te är­ger­lich ab. Die Nach­barn trau­ten sich nicht recht in das so still ge­wor­de­ne Schloss, nur der Baron Port be­such­te sei­nen Freund. Dann sa­ßen sie bei­de wie sonst am Ka­min bei der Nach­mit­tags­zi­gar­re, und der Baron von der War­the sprach von sei­nen Grund­sät­zen und den falschen An­sich­ten der jun­gen Leu­te, er woll­te sich wie­der an den ei­ge­nen schö­nen und ver­nünf­ti­gen Wor­ten er­freu­en, aber es war, als schmeck­ten sie ihm nicht mehr, die Stim­me be­gann zu zit­tern, wur­de klein­laut und mut­los und ver­sieg­te end­lich ganz. Dann beug­te sich der Baron Port vor und klopf­te sei­nem al­ten Freun­de sanft auf das Knie.

»Der War­the ist nicht mehr der alte«, be­rich­te­te Baron Port sei­ner Frau, »er hält sich, er hält sich, aber das mit dem Sohn ist für ihn doch zu stark ge­we­sen.«

Ja, es war für ihn zu stark ge­we­sen. Als Chri­stoph ei­nes Nach­mit­tags in das Ar­beits­zim­mer sei­nes Herrn trat, wo die­ser auf ei­nem großen Ses­sel sei­ne Nach­mit­tags­ru­he zu hal­ten pfleg­te, fand er ihn auf dem Fuß­bo­den lie­gend. Der klei­ne Herr lag da, Hän­de und Füße hilf­los von sich ge­streckt, das Ge­sicht grau und wie von ei­ner Qual ver­zerrt in­mit­ten des sil­ber­nen Hei­li­gen­schei­nes der Haa­re und des Ba­cken­bar­tes. Ein Schlag­an­fall hat­te ihn ge­trof­fen, hat­te den ar­men Baron »Miss­bil­li­gung« in ei­nem Au­gen­blick all sei­ner Fei­er­lich­keit und sei­ner schö­nen Hal­tung ent­klei­det und ihn zu ei­nem hilflo­sen al­ten Man­ne ge­macht.

Zweites Kapitel

Die Baro­nes­se Ara­bel­la hat­te sich ent­schlos­sen, am Nach­mit­tage einen Be­such bei der Baro­nin Port zu ma­chen. Die Kran­ken­stu­ben­stil­le des Schlos­ses quäl­te sie wie eine Krank­heit. Sie woll­te Men­schen se­hen und spre­chen, vor al­lem spre­chen. So fuhr Mah­ling sie in der großen Ka­le­sche nach Wit­zow hin­über. Die Herbst­we­ge wa­ren schlecht, das Wet­ter feucht und kalt un­ter ei­nem nied­ri­gen grau­en Him­mel, der Wind wühl­te im fei­nen Ge­zwei­ge der Hän­ge­bir­ken wie in feuch­tem ro­ten Haar. Zwi­schen den Schol­len der auf­ge­pflüg­ten Äcker lag hier und da schon ein we­nig Schnee. Al­les sah un­rein­lich aus und als ob es frie­re. Aber die alte Dame blick­te mit ei­nem lie­bens­wür­di­gen und an­ge­reg­ten Lä­cheln auf die Land­schaft hin­aus. Sie mach­te schon jetzt ihr Be­suchs­ge­sicht, denn sie freu­te sich wirk­lich herz­lich auf ih­ren Nach­mit­tag. Das wei­ße Wit­zow­land­haus mit der nied­ri­gen Trep­pe, vor dem sie jetzt hiel­ten, er­schi­en ihr heu­te be­son­ders an­hei­melnd, auch der große Flur, der stets nach feuch­tem Kalk roch und in dem die Baro­nes­se je­des Mal dach­te: Die gute Ka­ro­li­ne kann sa­gen, was sie will, das Haus ist doch feucht.

Syl­via, die äl­tes­te Toch­ter des Hau­ses, ein schlan­kes, ält­li­ches Mäd­chen mit ei­nem blei­chen Ge­sicht und ei­nem ge­fühl­vol­len, ein we­nig mit­lei­di­gen Lä­cheln, emp­fing die Baro­nes­se. Syl­via hat­te eine Art, die Leu­te zu be­grü­ßen, als sei­en sie krank und be­durf­ten der Teil­nah­me und der Scho­nung. Und das tat der al­ten Dame heu­te wohl. Im Wohn­zim­mer auf dem großen Sofa mit der zu stei­fen Rücken­leh­ne saß die Baro­nin Port, eine sehr star­ke Dame, das Ge­sicht stets rot und er­hitzt un­ter der wei­ßen Blon­den­hau­be. »Nun, mei­ne gute Ara­bel­la«, sag­te sie mit ei­ner lau­ten, tie­fen Stim­me, »da sind Sie, ich habe an Sie schon wie an eine Ver­stor­be­ne ge­dacht.« Die Baro­nes­se lä­chel­te weh­mü­tig: »Ach ja, zu­wei­len möch­te man wirk­lich schon ge­stor­ben sein.«

»Na, na, es kom­men wie­der bes­se­re Zei­ten«, be­schwich­tig­te die Baro­nin, »set­zen Sie sich und er­zäh­len Sie, wie geht es bei Ih­nen?«

»Im­mer das glei­che«, er­wi­der­te die Baro­nes­se, »doch nein, eine gute Nach­richt habe ich, un­se­re Fa­stra­de kommt, ich habe an sie ge­schrie­ben, und sie kommt.«

»So.« Die klei­nen Au­gen der Baro­nin wur­den blank vor Neu­gier­de, und sie lüf­te­te die Blon­den­hau­be ein we­nig an den Ohren, um bes­ser hö­ren zu kön­nen. »So, die kommt also, jetzt erst.«

Die Baro­nes­se zog trau­rig die grei­sen Au­gen­brau­en em­por und mein­te: »Bis­her hat­te es der Va­ter nicht ge­wollt, aber jetzt …«

»Und im­mer we­gen des jun­gen Men­schen?« frag­te die Baro­nin ge­spannt. Die Baro­nes­se nick­te, sie schwieg einen Au­gen­blick, lehn­te den Kopf zu­rück. Sie wuss­te, jetzt wür­de sie über alle die­se Din­ge spre­chen, über die sie so lan­ge hat­te schwei­gen müs­sen. Aber sie konn­te nicht an­ders. Syl­via ging lei­se ab und zu und ser­vier­te den Tee. Die Baro­nin nahm eine Strick­ar­beit mit klap­pern­den el­fen­bei­ner­nen Na­deln, wie be­ru­higt dar­über, dass sie ih­ren Be­such jetzt dort hat­te, wo sie ihn ha­ben woll­te.

»Ach ja! Was man nicht er­lebt«, be­gann die Baro­nes­se, »und den­ken Sie sich, ich hat­te doch von al­lem nichts ge­merkt, ich mer­ke so et­was nie. Erst als ei­nes Ta­ges die bei­den sich an der Hand fass­ten und in das Schreib­zim­mer mei­nes Bru­ders gin­gen, da pack­te mich der Schre­cken, die Knie zit­ter­ten mir so sehr, dass ich mich set­zen muss­te.«

»Also ein­fach eine Ver­lo­bung«, be­merk­te die Baro­nin sach­lich.

»Ja«, er­wi­der­te die Baro­nes­se, »die ar­men Kin­der dach­ten sich wohl so et­was, aber mein Bru­der mach­te dem al­len schnell ein Ende.«

»Wie er­trug es Fa­stra­de?« in­qui­rier­te die Baro­nin wei­ter.

Die Baro­nes­se seufz­te, die­se lang­ver­schwie­ge­nen Din­ge her­aus­zu­sa­gen, er­griff sie so stark: »Fa­stra­de, Sie ken­nen sie ja, ist ein so star­kes und mu­ti­ges Mäd­chen, wenn sie ge­lit­ten, hat sie es uns nie ge­zeigt. Und wie die Zeit ver­ging, glaub­te ich, sie hät­te ihn ver­ges­sen. Da kommt nun die­ser Ge­burts­tag, an dem sie dem Va­ter er­klärt, sie muss fort in ein Kran­ken­haus, sie ist voll­jäh­rig, sie hat Geld von ih­rer Mut­ter; was ge­spro­chen wur­de, weiß ich ja nicht, Sie ken­nen mei­ne Feig­heit; wenn so et­was in der Luft liegt, ver­krie­che ich mich in mein Zim­mer. Da kommt nun das Kind, weiß wie ein Tuch und sagt: ›Ich rei­se.‹ – ›Lie­bes Kin­d‹, sage ich, ›nur eins möch­te ich wis­sen, ist es sei­net­we­gen?‹ Sie sieht mich ru­hig an und sagt klar und fest: ›Er ist krank und in Not, da muss ich bei ihm sein.‹ Was konn­te ich da sa­gen, ich habe ja nie recht was zu ihr sa­gen kön­nen. Als sie noch ein klei­nes Mäd­chen war, fühl­te ich, dass sie von uns bei­den im­mer die Klü­ge­re und Stär­ke­re war. So reis­te sie denn. Es war gute Schlit­ten­bahn, ich stand im großen Saal am Fens­ter und hör­te noch den Schel­len ih­res Schlit­tens zu, die man bei uns ja so weit von der Land­stra­ße hört, da kam mein Bru­der aus sei­nem Zim­mer, setz­te sich an den Ka­min, sto­cher­te mit der Zan­ge in den Koh­len her­um und mur­mel­te so vor sich hin: ›Auf dem Pos­ten blei­ben will kei­ne. Das ist wohl auch schwe­rer, ein Fräu­lein von der War­the zu sein, als so et­was an­de­res.‹«

»Also sie fuhr di­rekt zu dem jun­gen Men­schen«, sag­te die Baro­nin scharf.

»Nun ja«, er­wi­der­te die Baro­nes­se zö­gernd, »er war krank, lag im Kran­ken­haus, da hat sie ihn wohl ge­pflegt, und dann, dann starb er.«

Die Baro­nin ließ die Ar­beit sin­ken und blick­te über­rascht auf: »Er starb? Gott sei Dank!«

»Wol­len wir uns nicht ver­sün­di­gen, lie­be Ka­ro­li­ne«, mein­te die Baro­nes­se weh­mü­tig, »der arme jun­ge Mensch! Vi­el­leicht war es so bes­ser.«

»Viel bes­ser«, be­stä­tig­te die Baro­nin, »über­haupt, die Sa­che ist dann nicht so schlimm, aber das kommt von der Ge­heim­tue­rei, da denkt man gleich wer weiß was.«

»Und dann, lie­be Ka­ro­li­ne«, ver­setz­te die Baro­nes­se und lä­chel­te ge­rührt, »un­se­rer Fa­stra­de kann man dies al­les nicht an­rech­nen, sie hat ein zu hei­ßes Herz. Als un­ser klei­ner Hund um­kam, sie war noch ein klei­nes Kind, da hat sie doch die gan­ze Nacht ge­weint und ge­ra­de­zu ge­fie­bert. Und spä­ter, als die alte Wär­te­rin Knaut starb – mein Bru­der hat­te ge­wünscht, dass die Kin­der bei der Be­er­di­gung mit auf den Fried­hof ge­nom­men wer­den, sie soll­ten sich früh an sol­che Pf­lich­ten ge­wöh­nen, sag­te er –, nun gut, am Abend, es war im Juni, ist Fa­stra­de fort. Man sucht sie und wo fin­det man sie? Sie sitzt auf dem Fried­ho­fe in der Abend­däm­merung am Gra­be der Knaut, sie will die Knaut nicht al­lein las­sen. So war sie im­mer.«

Von ih­rem Sitz aus konn­te die Baro­nes­se die däm­me­ri­ge Zim­mer­flucht ent­lang se­hen, an de­ren Ende jetzt die brei­te Ge­stalt des Baron Port er­schi­en und lang­sam her­an­kam. Er war von sei­nem Nach­mit­tag­schla­fe auf­ge­stan­den und schi­en ver­stimmt, er be­grüß­te die Baro­nes­se kurz und setz­te sich an den Tisch. »Wir spre­chen von der Fa­stra­de«, sag­te die Baro­nin, »sie kommt end­lich nach Hau­se.«

Der Baron mach­te eine ab­weh­ren­de Hand­be­we­gung und beug­te sich über die Tee­tas­se, wel­che sei­ne Toch­ter vor ihm hin­ge­stellt hat­te.

»Und Ihre Ger­trud kehrt ja auch wie­der zu Ih­nen zu­rück«, ver­setz­te die Baro­nes­se.

Da be­gann der Baron zu spre­chen, hei­ser und un­deut­lich, als läge ihm nichts dar­an, dass er ver­stan­den wer­de: »Ja, zu­rück kom­men sie alle, aber wie? Die Ner­ven ka­putt, zer­zaust wie die Hüh­ner nach dem Re­gen, der arme War­the hat­te ganz recht, kei­ne will auf dem Pos­ten blei­ben. Frü­her hat­ten die ade­li­gen Fräu­lein nie sol­che Ta­len­te, die aus­ge­bil­det wer­den muss­ten, das ist auch so die neue Zeit.« Die­ses knar­ren­de Schel­ten schi­en ihm wohl­zu­tun, er fuhr da­her fort, ver­biss sich in sei­nen Är­ger: »So bin ich ges­tern bei Dach­hau­sens zu Mit­tag. Na, dass es dort nach Finanz riecht, da­für kön­nen sie nichts, sie ist ja eine Fa­bri­kan­ten­toch­ter, aber er ist ein bra­ver Jun­ge, und ei­ner der Un­se­ren. Gut, es wird also ein Reh­bra­ten ser­viert, ei­ner un­se­rer ehr­li­chen, hei­mat­li­chen Bö­cke, aber rings­um auf der­sel­ben Schüs­sel lie­gen so hal­be Oran­ge­scha­len voll Oran­ge­ge­fro­re­nem, so das süße Zeug, das man beim Kon­di­tor kriegt.«

»Ist das gut?« frag­te die Baro­nes­se teil­neh­mend.

Der Baron zuck­te mit den Schul­tern: »Gut! In Ber­lin und Pa­ris ver­sucht man mal so aben­teu­er­li­ches Zeug, aber hier bei uns – ich kann mir nicht hel­fen, mir kommt so was per­vers vor. Na und un­ser an­de­rer Nach­bar, der Egloff in Si­row, dass er sein Haar ge­schei­telt trägt wie ein Men­no­ni­ten­pre­di­ger, ist sei­ne Sa­che, das soll ame­ri­ka­nisch sein. Also vo­ri­gen Tag war ich Ge­schäf­te we­gen bei ihm, da stell­te er mir so einen klei­nen Kerl vor, schwarz wie ein Tin­ten­fass, der ist ein por­tu­gie­si­scher Mar­quis, und einen lan­gen Grau­haa­ri­gen mit ei­ner blau­en Bril­le, der ist wie­der ein pol­ni­scher Graf. Und die Groß­mut­ter, die alte Baro­nin, sieht die­se un­heim­li­chen Leu­te strah­lend an und freut sich, dass ihr Dietz so vor­neh­me Be­kann­te hat. Und wenn sie abends in ih­rem Zim­mer sitzt und sich von dem Fräu­lein von Dus­sa die from­men Bü­cher vor­le­sen lässt, dann horcht sie hin­aus auf das To­ben der Her­ren im Spiel­zim­mer und ist glück­lich, dass ihr Dietz sich so gut un­ter­hält dort am grü­nen Tisch, wo er das Fa­mi­li­en­ver­mö­gen ris­kiert.«

Der Baron schüt­tel­te sich wie von Wi­der­wil­len über­mannt und schloss düs­ter: »Eins weiß ich, ich wer­de die­se Ko­mö­die nicht mehr lan­ge an­zu­se­hen ha­ben, mein Par­kett­sitz wird bald leer sein.«

Alle schwie­gen; die Däm­me­rung war vollends her­ein­ge­bro­chen. Als ihr Va­ter zu spre­chen be­gon­nen, hat­te Syl­via sich er­ho­ben und ging laut­los die Zim­mer­flucht auf und ab, zu­wei­len blieb sie an ei­nem Fens­ter ste­hen und schau­te hin­aus auf den schwe­fel­gel­ben Strei­fen, der am Abend­him­mel über dem schwar­zen Wal­de hing; eine, die bleich und nach­denk­lich auf ih­rem Pos­ten ge­blie­ben war.

Da die Dun­kel­heit kam, mach­te die Baro­nes­se sich auf den Heim­weg. Als sie im Wa­gen saß, sag­te sie sich, dass es dort bei Ports nicht eben hei­ter ge­we­sen war, aber sie hat­te spre­chen kön­nen, und das emp­fand sie wie eine Er­leich­te­rung nach al­lem Schwei­gen.

Drittes Kapitel

Es war reich­lich Schnee ge­fal­len, die Abend­däm­merung lag blau über der wei­ßen De­cke. Die Baro­nes­se Ara­bel­la hat­te zwei Lam­pen im großen Saal an­zün­den las­sen und ging nun un­abläs­sig dort auf und ab, die ein­ge­fal­le­nen Wan­gen leicht ge­rötet. Oft blieb sie ste­hen und lausch­te hin­aus auf ein Schel­len­ge­läu­te, das fern von der Land­stra­ße her­über­tön­te. Sol­chem Schel­len­ge­läu­te zu­zu­hö­ren, wie es von der Stra­ße her­klang, an den Bie­gun­gen schwä­cher wur­de, wie es sich ent­fern­te oder nä­her kam, war ihr stets eine ge­wohn­te Be­schäf­ti­gung an stil­len Win­ter­aben­den ge­we­sen, und wie be­deu­tungs­voll war die­ses Ge­läu­te zu­wei­len, an dem Abend, da Fa­stra­de von ih­nen fuhr, und wie­der­um an je­nem Abend, da die Glo­cke der Es­ta­fet­te im­mer nä­her kam, wel­che die Nach­richt von des ar­men Bol­ko Tode brach­te. Seit­dem schi­en es der Baro­nes­se, als könn­te sie aus den Stim­men der Schel­len et­was von dem her­aus­hö­ren, was dort auf der Land­stra­ße zu ihr her­an­kam. Heu­te, glaub­te sie, heu­te klän­gen die Schel­len be­son­ders hell und er­re­gend, es war Fa­stra­de, die da kam. Die alte Dame freu­te sich, aber in die­ser Freu­de lag eine Auf­re­gung, die sie fast schmerz­te.

Jetzt war das Ge­klin­gel ganz nahe, es mach­te einen großen Bo­gen im Hofe und hielt vor der Freitrep­pe. Geräusch­voll öff­ne­te Chri­stoph die Hau­stü­re. Die alte Dame stand re­gungs­los da und horch­te auf die Schrit­te im Flur. Fa­stra­des Stim­me mit ih­rem me­tal­li­gen Schwin­gen sag­te. »Gu­ten Abend, Chri­stoph, wie un­ver­än­dert Sie sind, nur grau sind Sie ge­wor­den.« – »Wir sind hier alle grau ge­wor­den, gnä­di­ges Fräu­lein«, er­wi­der­te Chri­stoph. Jetzt öff­ne­te sich die Tür, und Fa­stra­de stand da in ih­rer hüb­schen, auf­rech­ten Hal­tung. Über dem schwar­zen Trau­er­klei­de nahm sich der blon­de Kopf, das run­de, von der Fahrt leicht ge­röte­te Ge­sicht wun­der­bar hell und far­big aus. Sie lä­chel­te ihr Lä­cheln, das ihr so leicht auf die Lip­pen stieg, und die Au­gen, von der Däm­me­rung ver­wöhnt, blin­zel­ten in das Licht. Die Baro­nes­se stand noch im­mer wie hilf­los da und wein­te. Erst als Fa­stra­de sie in ih­rer be­kann­ten schüt­zen­den Art in die Arme nahm, den al­ten zer­brech­li­chen Kör­per hielt und lei­te­te, da fühl­te die Baro­nes­se wie­der die gan­ze Wär­me die­ser Ge­gen­wart, nach der ihr alle Jah­re hin­durch ge­fro­ren hat­te.

Fa­stra­de führ­te die Baro­nes­se zum Sofa, ließ sie dort nie­der­sit­zen, setz­te sich ne­ben sie und hielt die bei­den al­ten Hän­de in den ih­ren. Die Baro­nes­se wein­te still vor sich hin, Fa­stra­de saß ru­hig da und ließ ihre Bli­cke im Zim­mer um­her­schwei­fen, such­te die Sa­chen an ih­ren ge­wohn­ten Plät­zen auf. Es stand al­les dort, wo es einst ge­stan­den, al­les war un­ver­än­dert, und den­noch schi­en es ihr, als sei es ver­blas­s­ter, farb­lo­ser als das Bild, wel­ches sie die gan­ze Zeit über in ih­rer Erin­ne­rung her­um­ge­tra­gen, das Ge­tä­fel schi­en dunk­ler, die Sei­de der Mö­bel ver­schos­se­ner, die Kris­tal­le des Kron­leuch­ters un­durch­sich­ti­ger. All das er­schi­en Fa­stra­de wie eine Sa­che, die wir sorg­sam ver­schlie­ßen, und wenn wir sie end­lich wie­der her­vor­ho­len, wun­dern wir uns, dass sie in ih­rer Ver­bor­gen­heit alt und blass ge­wor­den ist. Und auch die Töne des Hau­ses wa­ren die alt­be­kann­ten. Aus dem Zim­mer ih­res Va­ters hör­te man die fet­te, knar­ren­de Stim­me des In­spek­tors Ruh­ke drin­gen, aus dem Ess­zim­mer klang das Klir­ren von Glä­sern, das Klap­pern von Tel­lern her­über, und end­lich im klei­nen Ka­bi­nett ne­ben dem Saa­le sang eine ganz dün­ne, zit­tern­de Stim­me eine hüp­fen­de Me­lo­die lei­se vor sich hin. Das war die ur­al­te Fran­zö­sin Couchon, die schon die Leh­re­rin der Baro­nes­se ge­we­sen war. Sie saß an der grün ver­han­ge­nen Lam­pe in sich zu­sam­men­ge­bo­gen, das Ge­sicht ganz klein un­ter der eng­an­lie­gen­den grau­en Sam­met­hau­be, leg­te ihre Pa­ti­ence und träl­ler­te lei­se ihre ver­schol­le­ne fran­zö­si­sche Me­lo­die. Das er­griff Fa­stra­de so stark, dass sie laut sa­gen muss­te: »Ah, Ruh­ke ist bei Papa, und Chri­stoph deckt im Ess­zim­mer den Tisch, und Couchon sitzt noch bei ih­rer Pa­ti­ence und singt.«

»Ja, Kind«, sag­te die Baro­nes­se, »wir ha­ben nichts an­de­res zu tun, als zu sit­zen und zu war­ten, bis ei­nes nach dem an­de­ren ab­brö­ckelt.«

Fa­stra­de er­hob sich schnell von ih­rem Sitz, als woll­te sie et­was ab­schüt­teln: »Ich will Couchon be­grü­ßen«, sag­te sie und ging in das Ka­bi­nett hin­über. Die alte Fran­zö­sin hob ihr klei­nes Ge­sicht zu Fa­stra­de auf, lä­chel­te mit dem lip­pen­lo­sen Mun­de und sag­te: »Te voilà, ma fil­let­te, à la bon­ne heu­re.«1