Abenteuer Liebe - Maria G. Baier-D'Orazio - E-Book

Abenteuer Liebe E-Book

Maria G. Baier-D’Orazio

4,9

Beschreibung

Südamerika – Exotik, Rhythmus, Lebensfreude. Lea reizt es, ihren Bruder für kurze Zeit nach Ecuador zu begleiten, wo dieser einen Job angenommen hat. Die Faszination des pulsierenden Kontinents nimmt sie schnell gefangen, genauso wie die Begegnung mit Fernando, der sie mit Hingabe umwirbt. Nach langem Zögern trennt sie sich von ihrem Mann in Deutschland. Mutig will sie das Abenteuer Liebe in einem Land wagen, in dem es Männern um immerwährendes Erobern geht und Frauen bereitwillig dabei mitspielen, wie auch Leas Freundin Coral und deren Schwestern. Fernando scheint zu den Wenigen zu gehören, die anders sind, hat seine Mutter doch alles getan, um ihre Söhne zu verantwortungsvollen Männern zu erziehen. Auch Marco, der diplomierte Schreiner, der Straßenkinder betreut und Fernandos Arbeitskollege Iwan, der politisch engagiert ist, fallen aus dem Raster des Macho heraus. Mit Lea hat Fernando eine neue, tiefer gehende Art von Liebe kennengelernt, die er anfangs gegen die Spielregeln seiner Umwelt verteidigt. Doch als ein jungfräuliches Mädchen ihm die Erfüllung eines uralten Männertraumes verspricht, verfällt er der althergebrachten Rolle des Macho. Die Beziehung mit Lea beginnt auseinanderzubrechen. Als sie sich schließlich von dieser Liebe lossagen will, merkt Fernando, dass er dabei ist, sie ganz zu verlieren. Er setzt alles daran, sich von den Mustern seiner Gesellschaft zu befreien. Doch je stärker er sich zu seiner Liebe - und mittlerweile auch zu sich selbst - bekennt, um so tiefer wird der Abgrund, der sich zwischen ihm und seiner Umgebung auftut. Nur wenige gibt es, die zu ihm halten, die Verführungen dagegen lauern überall.

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Abenteuer Liebe

Südamerika, wo Träume auf Machismo stoßen

Maria G. Baier-D'Orazio

interconnections

Impressum

Reihe Belletristik, Band 5

Abenteuer Liebe

Südamerika, wo Träume auf Machismo stoßen

Maria G. Baier-D'Orazio

Umschlagfotos: Fotolia

Copyright

Verlag interconnections, Schillerstr. 44

79102 Freiburg, T. 0761-700 650, F. 700 688

[email protected],

www.interconnections-verlag.de

ISBN: 978-3-86040-247-4, 2016, Erste E-Book-Ausgabe

ISBN: 978-3-86040-229-0 (Buch)

Eine gefährliche Stadt

Liebe oder Verhängnis?

aufgeschobene Abschied

Glück und Wagnis

Die Entscheidung

Eine andere Welt

Folgenschwerer Besuch

Umzug nach Quito – Leas halbherzige Lösung

Macht eines uralten Traumes

Fernandos tiefgreifende Wandlung

Der Weg führt nur nach vorn

Glossar spanischer Begriffe

Auswahl weiterer Titel

Protagonisten und andere wichtige Personen

Lea: Deutsche, sie ist mit ihrem Bruder nach Ecuador gekommen

Fernando: Ecuadorianer, er arbeitet in der Germanmetal

Paolo: Leas Bruder, in Guayaquil als Betriebsberater tätig

Vincent: Leas Ehemann, ist in Deutschland geblieben

Jochen Wercke: ein deutscher Ingenieur, Gründer und Chef der Germanmetal

Doña Amada: Fernandos Mutter

Jorge: Fernandos ältester Bruder

Emanuel: Fernandos zweitältester Bruder

Alicia: Emanuels Frau

Bolivar: Fernandos jüngerer Bruder

Don José: Fernandos Onkel, der in den USA lebt

Olga: die Frau von Don José

Jessy: Fernandos Cousine, die Tochter von Don José

Coral: Leas Freundin

Doña Hortensia: Corals Mutter

Nancy: eine Schwester von Coral

Marisol: eine Schwester von Coral

Orlando: Marisols Mann

Joe: ein Bruder von Coral

William: ein Bruder von Coral

Leonardo: ein Arbeitskollege von Fernando

Iwan: ein politisch orientierter Arbeitskollege von Fernando

Marco: ein sozial engagierter Arbeitskollege von Fernando

Noemi: eine rebellische junge Ecuadorianerin

Rafael Christian: ein junger Pianist mit besonderer Vergangenheit

Vorwort

Liebe ist immer ein Abenteuer. Wer kann schon vorhersagen, ob eine Liebesbeziehung glücklich bleibt oder ob sie schmerzlich enden wird? Eine Liebe zwischen den Kulturen kann jedoch zu einem doppelten Abenteuer werden, wenn Liebende die kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen des jeweiligen Landes nicht zu meistern vermögen.

Ich selbst bin in einer interkulturellen Familie aufgewachsen. Das hat zweifelsohne in mir die Lust auf einen internationalen Beruf geweckt. Als weltweit tätige Beraterin habe ich in vielen Ländern gearbeitet und gelebt, kenne Kulturen in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Ich habe viele interkulturelle Beziehungen aus der Ferne beobachten oder aus der Nähe miterleben dürfen: den deutschen Mann mit der thailändischen Frau, die deutsche Frau mit dem kamerunischen Mann, den verheirateten deutschen Mann mit der brasilianischen Frau, die ledige deutsche Frau mit dem verheirateten beninischen Mann ...

Glück und Drama, sie liegen oft nah beieinander. Nicht selten ging, hier wie dort, die Ehe in die Brüche, als der Mann oder die Frau den ausländischen Partner kennenlernte.

Die kulturellen Eigenheiten, auf die binationale Beziehungen stoßen, sind für Mann und Frau, aber auch je nach Land oder Kontinent verschieden. In Afrika oder der Karibik trifft die Liebe vielleicht auf Voodoo. In Südamerika stößt sie sich am Machismo. Andernorts kollidiert sie mit der Ehre oder gewissen Tabus. In unserem Land heißt es für solche Paare oft genug, der Diskriminierung die Stirn zu bieten.

Mit all diesen gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen muss die Liebe fertig werden. Wie und ob sie das schafft, davon handelt dieser Roman.

Ich habe über dieses Thema bereits Artikel geschrieben, über die Chance interkultureller Liebe wie auch über deren Herausforderung, hätte also an Stelle des Romans auch ein Sachbuch schreiben können. Doch Sachbücher tun eines: Sie „versachlichen“ das Leben.

Liebe aber ist nicht sachlich. Ihre Höhen und Tiefen kann man nicht in einer Abhandlung einbringen, ohne pathetisch zu wirken. Auch ist es völlig unmöglich, in einem Sachbuch der Innenwelt von Menschen gerecht zu werden, der Tiefe von Gefühlen, dem, was sie hoffen lässt und wagen, woran sie zweifeln oder auch scheitern – was sie so handeln lässt und nicht anders. Verstrickungen, Abhängigkeiten und gesellschaftlichen Einfluss kann man beschreiben – das aber, was sie für den liebenden Menschen bedeuten, lässt sich besser erzählend näherbringen als in einer Abhandlung.

Interkulturelle Liebe gibt es überall. Warum also gerade Südamerika?

Nun, wenn ich einen Kontinent benennen müsste, in dem Liebe in all ihren Facetten eine Hauptrolle spielt, würde ich sagen: Südamerika.

Anders als bei Tabus oder Voodoo, ist die besondere Herausforderung für eine Liebesbeziehung in Südamerika nicht nur allgemein kultureller Art, sondern eng mit der Liebe als solcher verbunden. Machismo betrifft die Liebesbeziehung ganz direkt.

Auch wenn es ein südamerikanisches Phänomen ist, die daraus resultierende Problematik hat durchaus übergreifenden Charakter, denn machohafte Männer gibt es in nahezu jeder Kultur.

Um einen besonderen Reiz einzufangen, den sich viele heute kaum mehr vorstellen können, habe ich das Geschehen um ein paar Jahrzehnte zurückverlegt – in eine Zeit, in der es keine Handys gab, viele kein Telefon hatten, kaum jemand privat einen Computer besaß und man sich noch per Brief verständigte. Diese nahezu technologielose Kommunikation, mit der Langsamkeit und all den Überraschungen, die damit einhergehen, verleiht einem Liebesroman einen zusätzlichen Charme.

Maria G. Baier-D'Orazio

Eine gefährliche Stadt

Aus dem Radio, das der Fahrer des Stadtbusses auf volle Lautstärke gedreht hatte, erklangen sanfte Melodien. Lea lehnte sich in den hart gepolsterten Sitz zurück, lauschte nachdenklich der Musik. Traumwelten von ewiger Liebe und immerwährendem Glück, in zarte, sehnsuchtsvolle Töne gekleidet – was für ein Widerspruch zur Wirklichkeit, die überall in den dunklen Winkeln dieser Stadt zu hausen schien.

Guayaquil – ein bizarres Lebensgebilde, das abstieß und fesselte zugleich. Eine Stadt, die von vielen Besuchern aus Europa bei ihrer Ecuador-Reise schlichtweg ausgelassen wurde.

‚Sehenswürdigkeiten, die gibt es nicht in Guayaquil.‘ Recht schmucklos hatte dies in ihrem Reiseführer gestanden. Krass war ihr damals diese Äußerung erschienen, doch nun deckte jeder Tag gnadenlos ein Stück mehr von der Wahrheit auf, die in diesem Satz steckte.

Die Hafenmetropole mit ihren eineinhalb Millionen Einwohnern, von denen die meisten in Elendsvierteln lebten, war ein Ungetüm von Stadt, ein Moloch, der sich weit an der Mündung des Rio Guayas dahinzog, lebendig und pulsierend, doch mit einer schonungslosen Nüchternheit, die von einem einzigen Antrieb bestimmt zu sein schien: dem Kampf ums Überleben.

In Guayaquil gibt es zwanzigmal so viele Überfälle und Morde wie in Quito!,hattevor Kurzem jemand zu ihr gesagt. Obgleich sie Quito, die Hauptstadt im Hochland, noch nicht besucht hatte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass der Unterschied so groß sein sollte.

Restaurants, Bars, Krämerläden, Autowerkstätten, Boutiquen, Großhandelsgeschäfte. Die Stadt zog an ihrem Auge vorüber. Je näher das Stadtzentrum heranrückte, umso stärker bevölkerten Straßenverkäufer das Bild: Apfelsinen, Kokossaft, Zeitschriften, Bonbons, Spielzeug, Porzellanlampen, Schuhe, Scheren, Tischtücher, junge Hunde, Schildkröten – es schien nichts zu fehlen in diesem Angebot.

Die meisten der Straßenverkäufer lebten in den riesigen Armenvierteln am Rande Guayaquils, unter rostigem Wellblech auf den kahlen Hügeln im Norden, in schwankenden Hütten auf Pfählen entlang der Mündung des Rio Guayas oder gar im endlos scheinenden Territorium brutaler Gewalt und Unterdrückung: dem Guasmo – wo niemand sich hinwagte, außer jenen, die dort zu leben gezwungen waren, da es nirgendwo sonst Platz gab für sie.

Und so offenbarte sich die Unerbittlichkeit des täglichen Kampfes ums Überleben erst hinter den Fassaden, dann, wenn sie am Abend erschöpft nach Hause zurückkehrten: der Mann, der tagsüber mit allerlei Späßen die drolligen Welpen anzubieten versuchte, die señora, die ihre Trauben mit gleichbleibend liebenswürdigem Lächeln anpries, der kleine Junge, der unermüdlich trällernd mit seinem Schuhputzkasten durch die Straßen zog. Enttäuscht würden sie, nach einer schier ewig währenden Busfahrt in ihrem ärmlichen Zuhause angelangt, die wenigen Sucres zählen die wieder einmal zu nichts reichten: weder um das Wasser zu kaufen, das der Tanklastwagen brachte, noch um sich satt zu essen, und erst recht nicht, um die neuen Schuhe zu kaufen, die man so dringend brauchte, weil durch die alten bereits das Regenwasser drang.

Und doch würden sie bald darauf die Tanzmusik im Radio lauter stellen, würden sie vor das Haus gehen und mit den Nachbarn scherzen, würden sie im Geist, immer und immer wieder, denselben Ausflug am Sonntag planen, zu dem es letztlich nie käme.

So war es, das Leben in dieser Stadt. Eine mitleidlose Wirklichkeit, die sich hinter einer quirligen Fassade verbarg, die alles bunt und überquellend erscheinen ließ – ein sorgloses Leben vortäuschend, das es im Grunde nicht gab. Doch die Menschen von der Küste waren Meister darin, das, was nicht sein konnte, in das zu wandeln, was sie haben wollten: Freude am Leben.

Einige verschafften sich die Freude, die ihnen das Leben vorenthielt, durch Gewalt. Doch all jene, die sich trotz unsagbarer Armut ein Gewissen bewahrt hatten, und das waren die meisten, hielten sich einzig mit ihrem Lebensmut aufrecht: Musik, Tanz, Scherze, die Hoffnung auf ein besseres Morgen, ein romantisches Herz – auch der Ärmste unter ihnen durfte dies haben. Wie mit Zauberhand verwandelten sie so den tristen Alltag in ein Leben, das es wert war, gelebt zu werden.

In Gedanken versunken, bemerkte Lea die Bewegungen neben sich nicht gleich, als eine scharfe Stimme sich herrisch Geltung verschaffte:

„Geld her!“

Sie schrak auf, starrte ungläubig auf den matt glänzenden Pistolenlauf vor ihr. Ihre Hände blieben mit bleierner Schwere auf der Tasche liegen, die sie auf dem Schoß hielt und in der sich einhunderttausend Sucres befanden.

„Geld her! Und die Uhren!“

Zum zweiten Mal ertönte die Stimme. Befehlend. Schärfer als zuvor.

Lea rührte sich nicht. Sie starrte immer noch auf den Pistolenlauf, unfähig, den Blick davon abzuwenden.

„Wird’s bald!“ Die Mündung der Waffe zuckte in kurzer, heftiger Bewegung über die Fahrgäste hinweg, die sie in Schach hielt.

Lea vernahm es, doch es war, als hätten ihre Gedanken sich von der Wirklichkeit gelöst. Wie mit einem bösen Bann belegt, folgten sie dem metallischen Glanz des kurzen, runden Laufes in eine Welt, die ihr völlig fremd gewesen war, bis zu diesem Augenblick.

Eine Waffe. Eine Pistole. Auf sie gerichtet.

Oder war das ein Revolver? Die bizarren Gedanken eines Alptraumes, der lähmte und auf unwirkliche Weise zu faszinieren schien.

Er wird dich erschießen, sagte es in ihr. Doch sie war unfähig etwas zu tun, so als wäre sie Teil einer grotesken Zeitlupe – genau wie der Stadtbus, in dem sie sich befand und der nun so sachte durch die Straßen Guayaquils rollte, als wolle er die Räuber um keinen Preis behindern.

„Verdammte Hurensöhne, versucht ja nicht zu tricksen!“ Mit jähem Ruck wurde der Pistolenlauf vor ihr hochgerissen, zerrte unwillkürlich auch ihren Blick mit sich. So wie sie zuvor auf die Waffe gestarrt hatte, waren ihre Augen nun auf das Gesicht des Mannes geheftet. Er zielte in das Wageninnere, wo seine Kumpane dabei waren, die Fahrgäste zu plündern.

Jung war er, sehr jung. Fast noch ein Kind. Doch seine Miene war nicht die eines Kindes. Darin eingemeißelt stand Unerbittlichkeit. Die Härte dessen, der sich vom Leben nimmt, was er haben will. Auch vom Leben Anderer.

War das Südamerika? Würde es so aussehen, ihr Leben in dieser Stadt?

Der junge Räuber senkte die Waffe, hielt sie nun in Höhe ihres Kopfes. Auf seiner Miene wechselten Anspannung, Gereiztheit und Unruhe in schneller Reihenfolge einander ab. Sie bemerkte, dass er ihr kurze, nervöse Seitenblicke zuwarf. Seine Hände, die den Pistolenknauf umklammert hielten, zitterten.

Er war nervös, viel zu nervös. Ein nervöser Räuber konnte kopflos werden.

Da – einer der Fahrgäste wollte offenbar irgendetwas nicht hergeben. „Hijo de puta, willst wohl Schwierigkeiten machen, was!“, schrie der junge Mann.

Sie spürte im Rücken, dass die anderen fast neben ihr sein mussten. Eine brüske Bewegung. Etwas stieß sie von hinten.

Wilde Flüche. Der Bus bremste ruckartig ab. Vier Gestalten sprangen hinaus, verschwanden in der Dunkelheit der Nacht. Das Letzte, was Lea sah, war ein kurzes Aufblitzen des Neonlichts der Straßenlaterne, das erschreckt zurückzuprallen schien von den blanken Klingen zweier Stilette.

Lähmende Stille im Bus, der sich nun langsam wieder in Bewegung setzte. Lea drehte sich um. Der geräumige Wagen schien leer wie ein Geisterfahrzeug. Kein einziger Fahrgast war zu sehen. Nur zögernd tauchten, vorsichtig über die Rückenlehnen der Sitze spähend, die ersten Köpfe wieder auf.

Keinen Widerstand leisten und schnell in Deckung gehen. In der Hafenmetropole Guayaquil tat man gut daran, diese beiden Ratschläge zu beherzigen.

Warum war sie verschont geblieben? Ganz gleich, wie sie das Geschehen in ihrem Kopf drehte und wendete, es war nicht zu verstehen. Bot es sich doch geradezu an, eine Fremde wie sie zu berauben, in deren Taschen das meiste Geld zu vermuten war.

Hatte es mit der Hose zu tun, die sie heute trug? Sie blickte auf die Nieten, die ihre hellblaue Jeans die ganze Seitenlänge hinab markierten. Die Straßenpolizei trug blaue Hosen mit einem weißen Streifen an der Seite – vielleicht hatte der Räuber beim flüchtigen Hinsehen die Nieten und die weißen Streifen in Verbindung gebracht. Nein. Das konnte es nicht gewesen sein. Denn in diesem Fall wäre sie vermutlich schon tot.

Wurde in Guayaquil jemand bei einem Überfall als Polizist erkannt, ganz gleich ob er Uniform trug oder in Zivil ging, erschossen die Räuber ihn oft auf der Stelle, vorbeugend sozusagen.

Vielleicht war es ihre Ruhe gewesen, die den Räuber verunsichert hatte. Eine ungewöhnliche Ruhe, die Lea sich selbst nicht erklären konnte. Sie schüttelte den Kopf. War es überhaupt Ruhe gewesen? Vermutlich hatte sie einfach nur Glück gehabt – das Glück, zufällig ganz vorne zu sitzen. Lea verstand jetzt, warum die Fahrgäste in den Stadtbussen immer zu den vorne frei werdenden Plätzen überwechselten. Da die Räuber mit ihrem dreisten Werk meist hinten begannen, konnten die Sitze im vorderen Teil des Busses vorteilhaft sein. Oft hatten die Täter schon genug erbeutet, wenn sie vorne angelangt waren, und suchten nur noch so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen.

Guayaquil, Hafenmetropole Ecuadors. Hielten die Gefahren dieser Stadt ihr Leben bereits in ihren Klauen? Viel hatte sie über Ecuador gelesen, über seine bewegte Geschichte, über den Zauber der landschaftlichen Schönheit, über Entdeckungen und Abenteuer. Dass es aber so gefährlich für sie werden könnte, hier zu leben, das hatte sie nicht geahnt.

Hatte sie es wirklich nicht geahnt? Oder hatte sie es nicht glauben wollen? Genauso wie … Ungewollt huschte ein Lächeln über ihre Miene, wurde gleich darauf von einem Schatten überdeckt.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass ihre Freunde sie gewarnt hatten: vor diesen Gefahren und auch vor ganz anderen. Vielen ihrer Freunde war es unbegreiflich, dass sie mit ihrem Bruder hierher gekommen war und Vincent, ihren Mann, für mehrere Monate allein in Deutschland zurückgelassen hatte. Den südamerikanischen Machos sei nicht zu trauen, so hatten sie gemeint, unerschöpflich sei deren Drang, Frauen zu erobern, schwer sei es, ihrem Werben zu widerstehen.

Doch genauso, wie sie über alle Schauergeschichten hinweggehört hatte, die ihr über das Leben in Guayaquil erzählt worden waren, hatte sie auch die Bemerkungen zu den Gefahren der Liebe übergangen. ‚Schürzenjäger, Frauenhelden? Auf so einen Männertyp falle ich doch nicht herein. Ihr müsstet mich wirklich besser kennen‘, hatte sie zu ihren Freunden gesagt.

Gefeit gegen heißblütige Eroberung, ja. Was aber, wenn das Werben ganz anders vor sich ging?

Fernando. Er war eine ganz andere Gefahr für sie, eine, die auf leisen Sohlen ihr Leben betreten hatte und ein gar lockendes Gewand trug.

„Dass du so davongekommen bist.“ Unablässig schüttelte Paolo den Kopf, als seine Schwester ihm am Abend von dem Überfall erzählte. „Dein Land ist fürwahr voller Überraschungen“, wandte er sich an einen jungen Mann, der mit ihnen zu Tisch saß, in ihrer nur spärlich eingerichteten Wohnung.

Marco nickte und hob kurz den Blick. „Ja“, antwortete er, „so vieles ist ungut hier.“ Er beugte den Kopf wieder über den Teller und löffelte schweigend weiter seine Suppe. Marco arbeitete in einem der Betriebe, die Paolo betreute. Er war zufällig an diesem Abend vorbeigekommen und Paolo hatte ihn eingeladen, mit ihnen zu essen. Lea wusste von Marco nicht viel, nur, dass er Kunstschreiner war und dass er wunderschön singen konnte.

„Aber warum ist es der Polizei nicht möglich, diesem kriminellen Treiben ein Ende zu setzen?“, warf sie ein. „Ich habe gehört, dass die Übeltäter oft bekannt sind.“

Marco hielt mit dem Löffeln der Suppe inne und sah auf. „Eben“, erwiderte er ruhig. Lea verstand nicht.

„Ja – aber dann müsste es doch einfach sein, sie zu fassen!“, rief sie aus.

Marco lachte auf. Es war ein kurzes, bitteres Lachen. „Du bist nicht von hier“, erwiderte er, „du kannst das nicht verstehen. Das Problem ist, dass die Täter oft mit der Polizei gemeinsame Sache machen – sie bieten ihr einfach einen Teil der Beute. Welcher Polizist ist da noch daran interessiert, den Dieb oder Räuber zu stellen?“

Lea schwieg einen Augenblick lang betroffen. Dann aber erinnerte sie sich all der Geschichten, die sie gehört hatte, von Polizisten, die ihr Eingreifen mit dem Leben bezahlten. „Aber –“, wandte sie deshalb zweifelnd ein, „es werden doch auch Polizisten bei solchen Überfällen getötet.“

„Nicht alle wollen gemeinsame Sache machen“, erklärte Marco. „Bei anderen wiederum mögen die Räuber sich dessen nicht sicher sein, und da ist es für sie besser, jedem Risiko vorzubeugen.“

„Doch selbst dann, wenn sich Polizisten nicht mit den Banditen zusammentun“, fuhr er fort, „haben sie Angst, sich vor diesen als Hüter des Gesetzes aufzuspielen, und so schweigen sie. Genauso wie die Busfahrer. Auch sie sind oft auf indirekte Weise Komplizen. Wenn ein Überfall im Bus stattfindet, könnten sie doch jemandem auf der Straße ein Zeichen geben oder den Wagen scharf abbremsen und zusammen mit den Fahrgästen die Täter überwinden. Doch sie tun es nicht. Habt ihr euch nicht überlegt warum? Es scheint so eine Art stilles Abkommen zu geben zwischen ihnen und den Räubern: tu ich dir nichts, tust du mir nichts. Anders ist es nicht zu erklären, dass den Busfahrern fast nie Geld abgenommen wird.“ Marco legte den Löffel aus der Hand. Er beugte sich vor, ein Flackern in den Augen, aus denen alle Sanftmut gewichen war.

„Das wahrhaft Schlimme an der Küste ist, dass alle Komplizen sind, und sei es nur dadurch, dass sie nichts dagegen tun. Der costeño ist alles andere als mutig. Er wählt immer den Weg des geringsten Widerstandes.“

Marcos Miene war dunkel geworden, seine Augen schmal. Sein Aussehen erinnerte nun an die Indios aus den Bergen. Da fiel Lea ein, dass sie noch etwas über ihn wusste: er stammte aus Cuenca, einer Stadt im Hochland.

„Oft sind die Täter Halbwüchsige, nicht immer haben sie Schusswaffen bei sich. Manchmal sind sie nur zu zweit oder gar allein. Zwei gegen dreißig oder vierzig. Sagt mir, wären sie nicht leicht zu überwältigen, wenn alle sich gemeinsam erhöben?“ Marcos ganzes Gemüt schien entflammt, wie er so mit weiten Gesten seine Empörung in die Luft zeichnete, den Oberkörper angespannt vorgebeugt.

„Nun beruhige dich doch.“ Paolo lächelte besänftigend. Hitzige Diskussionen und dramatische Szenen behagten ihm nicht.

„Mich beruhigen?“, fuhr Marco auf. „Dreimal schon bin ich Opfer eines Überfalls geworden! Das letzte Mal war es nicht weit von meinem Haus entfernt. Ein Mann drängte mich mit einem Messer gegen eine Mauer, nahm mir die Uhr ab und die goldene Kette, die mir meine Frau zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Im Nachbarhaus schaute eine Frau aus dem Fenster. Ich rief ihr zu, sie solle die Polizei verständigen oder mir sonst wie helfen. Doch wisst ihr, was sie tat?“ Er hielt inne, so als weigere sich sein Mund, das Ungeheuerliche von sich zu geben. „Sie sagte zu dem Mann, der mich beraubte: Der Juan in der Machala nimmt dir das ab, wenn du’s verkaufen willst.“

Erschöpft von seiner Rede oder, was wahrscheinlicher war, von der Erinnerung, die jenes Geschehnis mit aller Macht wieder hatte aufleben lassen, fügte Marco mit leise gewordener Stimme hinzu: „Könnt ihr euch so etwas vorstellen?“ Keiner antwortete ihm. Was hätte man darauf auch sagen sollen.

Paolo ging schweigend in die Küche. Lea machte sich daran, die Teller abzuräumen. Sie seufzte still in sich hinein. Es kam nicht ganz von ungefähr, dass Marco sich so erregte. Die Bewohner des Hochlandes waren bekannt dafür, dass sie einen ausgeprägten Sinn hatten für Recht und Unrecht. Dieser Gerechtigkeitssinn paarte sich mit Sturheit: Sie waren nicht so schnell bereit, Unrecht – oder das, was sie als Unrecht ansahen – hinzunehmen. Sie waren die ersten, die sich zum Streik erhoben, wenn die Regierung volksfeindliche Maßnahmen verkündete. Und sie konnten sich wochenlang weigern, einen erhöhten Buspreis zu bezahlen, dann wenn in Guayaquil schon längst ein jeder widerspruchslos den zusätzlich verlangten Schein hinlegte.

Ja, der Bewohner des Hochlandes war allzeit bereit, sich Dingen zu widersetzen, die ihm nicht gefielen. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass im Hochland die offene Kriminalität – von Einzelfällen abgesehen – kaum überleben konnte. In der Hauptstadt Quito stahl man eher heimlich, im Gedränge. Offene Überfälle auf Stadtbusse gab es dort nicht. Ein einziges Mal hatte Lea davon gelesen, dass ein Mann in Quito des Nachts einen Bus hatte berauben wollen: Die Fahrgäste waren über den Übeltäter hergefallen und hatten ihn, gleich in demselben Bus, zur Polizei gebracht.

In Guayaquil aber schien es, als hätten die Menschen solche Überfälle als etwas Unvermeidliches akzeptiert, als etwas, das zu erleben einfach Pech war, das aber ansonsten zu dieser Stadt gehörte wie die Hitze, der Lärm und der Abfall. Und so machte man es den Banditen und Räubern leicht. Je weniger Widerstand sie antrafen, je weniger Mut ihnen entgegengebracht wurde, umso ungehinderter konnten sie ihr Unwesen treiben.

Marco hatte Recht. Mut war in Guayaquil ein seltenes Attribut. Man zog in dieser Stadt den gefahrlosen, bequemen Weg vor. Sie liebte die Küste und ihre Bewohner, doch wenn sie gerecht sein wollte, musste sie zugeben, dass die Menschen hier mit der Freiheit, die sie vergötterten, oft nicht umzugehen wussten – jene, die ihr Leben dem Unrecht gewidmet hatten, nicht, insofern als sie die Freiheit missbrauchten. Und jene, die nichts dagegen unternahmen, nicht, weil sie die Verantwortung nicht erkannten, die Freiheit in sich trägt.

,Wir hier an der Küste lieben es, den einfacheren Weg zu gehen.‘ Es war nicht lange her, dass noch jemand dies gesagt hatte, einer, der selbst costeño war. Fernando.

Der Morgen spannte, kaum dass die Sonne aufgegangen war, einen makellos blauen Himmel über die Stadt, so als wolle er damit alle Untaten der Nacht vergessen machen. Durch das offenstehende Fenster fuhr eine frische Brise herein, ließ Lea erschauern. Es war noch früh am Morgen. Zu dieser Tageszeit konnte es auch im tropisch heißen Guayaquil recht frisch sein. Als sie eine der Seekisten öffnete, um ihr einen Pullover zu entnehmen, fiel ihr Blick auf ein gerahmtes Foto und eine Kette, die daneben lag. Sie nahm die Kette in die Hand, betrachtete lange das goldene Herz mit dem tiefblauen Saphir. Ein Sonnenstrahl verfing sich im Gold, ließ das Herz für einen kurzen Augenblick aufblitzen. ‚Lea, lass mich dein sein – ein einziges Mal nur.‘ Das waren Fernandos Worte gewesen, als er ihr diese Kette schenkte. Sie schüttelte den Kopf. ‚Was hätte es für einen Sinn?‘, wiederholte sie leise ihre Worte von damals.

Sie sah auf, ihr Blick fiel geradewegs auf das Foto. Vincent.

Konnte sie sich einen besseren Mann wünschen als ihn? Verständig, hilfsbereit, liebevoll – ein Mann, um den viele Frauen sie beneideten. Acht Jahre waren sie schon zusammen.

Langsam öffnete sie die Faust, in der sie die Kette umschlossen hielt, und betrachtete sie erneut. Ja, was hatte es für einen Sinn, Illusionen mit sich herumzutragen, Gefühle zu nähren, die besser unbeachtet blieben. Entschlossen ließ sie die Kette, so wie sie war, in eine Ecke der Kiste hinabgleiten. Leise klirrend schlug das Schmuckstück an der metallenen Innenwand der Kiste an, bis es schließlich ganz unten angelangt war.

Lea nahm das Foto von Vincent heraus und klappte den Deckel zu. Unschlüssig sah sie sich um, einen Platz für das Bild suchend. Doch sie fand keinen. So legte sie es wieder zurück.

Sie würde einen passenden Platz dafür finden, später.

Seufzend sah sie sich in der Wohnung um. Die Seekisten, in denen sie das Nötigste mitgebracht hatten, zierten verlassen die Ecken der hohen dunklen Räume. Hier und da lagen ein paar Hosen oder Sportschuhe, von Paolo achtlos aus dem Gepäck gezogen, dazwischen Stapel von Büchern, die mit jedem Schritt auf dem federnden Holzboden bedenklich zu schwanken begannen. Darüber hinaus war die Wohnung, bis auf den Tisch, ein paar Stühle, drei Sessel und die beiden Betten, die sie rasch gekauft hatten, immer noch so gut wie leer.

Nur die Küche war bereits ausgestattet. Dafür hatte ihr Bruder gesorgt, der nicht lange darauf verzichten konnte, für seinen verwöhnten Gaumen und den ebenso anspruchsvollen Magen den eigenen Kochkünsten zu frönen. So hatte er rasch den gebrauchten Herd ausgemacht, ebenso wie den alten Kühlschrank, der zwar bisweilen beängstigende Rüttellaute von sich gab, sonst aber leidlich zu funktionieren schien. Nun war es an ihr, die Wohnung vollständig einzurichten. So war sie mit ihrem Bruder übereingekommen.

Es war eine einzigartige Gelegenheit, mit Paolo hierher zu kommen. Zum Glück konnte sie sich solch kreative Einschnitte in ihrem Beruf leisten: zumindest in dieser Hinsicht hatte es sich bezahlt gemacht, dass sie die freie Mitarbeit beim Carmenia-Bildungswerk in Köln einer festen Anstellung vorgezogen hatte.

Sie hätte niemals den Fuß auf diesen Kontinent gesetzt, wenn ihr Bruder sich nicht entschlossen hätte, den Job bei der Fedebancanzunehmen. Alleine hätte sie eine solche Reise nicht gewagt. Und Vincent? Ein Lächeln glitt über ihre Lippen. So viele gute Eigenschaften Vincent auch haben mochte, Abenteuerlust gehörte nicht dazu. Zwei, drei Monate, so hatte sie es mit Vincent abgemacht, dann würde sie zurückkehren.

Die Tage in der neuen Umgebung vergingen wie im Flug. Viel gab es für Paolo zu erledigen, um in seiner neuen Wahlheimat Fuß zu fassen. Das meiste davon hatte er seiner Schwester überlassen, die, wie er meinte, genug Zeit dafür hatte. Da es in dieser Stadt keine Briefträger zu geben schien, die einem die Post nach Hause brachten, hatten sie ein Postfach gemietet. Paolo hatte Lea aufgetragen, regelmäßig nachzusehen, ob etwas für ihn angekommen sei. So hatte sie sich auch heute auf den Weg in die Stadt gemacht.

Ja, Paolo hätte auf alles verzichten können, nur nicht auf die Briefe aus Italien. Gabriellas Briefe. Er wartete so gut wie jeden Tag auf Post von seiner Freundin. Jede Woche waren es mindestens zwei Briefe, die sie ihm schrieb. Lea lächelte, vergaß für einen Moment die brütende Hitze, die sich auf sie gelegt hatte, sobald sie ihren Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Zum Glück hatten sie kein Telefon in ihrer Wohnung, sie würden gewiss einzig von diesen Rechnungen arm werden. In der ersten Woche noch hatte Paolo einen Anschluss beantragen wollen. Die raue Wirklichkeit dieser Stadt hatte ihn aber bald eingeholt: Hier dauerte es Monate, wenn nicht Jahre, bevor man ein Telefon bekam – ohne das nötige ‚Geschenk‘ für den Beamten vielleicht niemals. Dies, wie auch die hohen Kosten, erklärte, warum so wenig Menschen in Guayaquil ein Telefon besaßen.

Kaum war sie im Stadtzentrum angelangt, überkam sie bereits der Wunsch, wieder nach Hause zurückzukehren. Schwüle lastete auf der Stadt wie eine übergroße, hermetisch dichte Glocke. Lea schleppte sich durch die Straßen. Die Hitze trieb den Schweiß aus allen Poren, hatte sich auf sie gelegt wie ein Mantel, der bei jedem Schritt schwerer wurde. Guayaquil liegt am Meer, doch an diesem Tag wehte kein einziger Luftzug, der Linderung hätte bringen können.

Das rastlose Treiben in den engen Straßen, die von Abgasen geschwängerte Luft, die einen kaum noch atmen ließ, das sich gegenseitig übertönende Anpreisen von Waren, ungeduldige Hupen, die drängend und schrill Vorrechte einklagten – Lea wusste nicht, wie sie das, was von allen Seiten auf sie einstürmte, abwehren sollte. Es erschöpfte sie.

Um das wuchtige Postgebäude herum, das einen ganzen Häuserblock für sich allein beanspruchte, waren unzählige Kioske und Verkaufstische aufgebaut: der magische Ort für liebende Herzen. Sie blieb stehen und betrachtete die Auslagen. Eine überquellende Fülle von Gedichten, Liebesgeständnissen, Treueschwüren. Te quiero para siempre – Perdóname – Nadie como tú. Kärtchen, Wandbilder, Papierblumen, Grußkarten, Plastikrosen, Püppchen.

Wer etwas suchte, um seine Liebe zu gestehen oder um seiner Angebeteten eine Freude zu bereiten, wer um Verzeihung bitten oder eine Frau zurückerobern wollte – hier fand er alles, was er brauchte. Da wurde auf rosafarbenem Briefpapier ewige Treue versprochen. Gedichte, unterlegt mit zart schimmernden Herzen, beteuerten Reue und Besserung. Liebespaare auf überdimensionalen Fotokarten entführten in ferne Traumwelten, in denen es außer Leidenschaft und Begehren nichts zu geben schien.

Ein solches Angebot vor einem Postgebäude in Köln, Berlin oder Frankfurt? Lea musste ein Lächeln unterdrücken. Unvorstellbar.

Ja, es war romantisch, das südamerikanische Herz.

Sie dachte an den ersten Abend, an das kleine gemütliche Fest, mit dem Paolo offiziell von der Fedebancempfangen wordenwar. Marco hatte auf jenem Fest gesungen. Als er zur Gitarre gegriffen hatte, war alles um ihn herum verstummt. Nach wenigen Klängen schon hatte sie gewusst, warum. Seine Stimme griff an die verborgene Wehmut des Herzens. Kehlig war sie und rau, doch das, was von ihr ausstrahlte, war weich und zart, hüllte ein in tröstliche Nähe. Noch nie in ihrem Leben waren ihr Lieder so unter die Haut gegangen. Nichts daran war sentimental.

Gedankenverloren schlenderte Lea weiter, an den zahllosen Ständen entlang, die sie passieren musste, um zu den Postfächern zu gelangen. Die Auslagen nahm sie nur noch unbewusst wahr.

Da hielt unversehens eine Karte ihren Blick fest. Ein Liebespaar, darüber zarte goldfarbene Lettern. What’s the world without love?

Ein fein geschnittenes Gesicht schob sich aus der Erinnerung hervor. Dunkle Augen, dichtes Haar, das in tausend winzig kleinen krausen Löckchen bis auf die Schultern fiel, ein voller sinnlicher Mund, in dessen Winkeln ein kaum wahrnehmbares Lächeln saß.

‚Bitte, erkläre mir doch, was das auf Spanisch heißt.‘ Genau mit dieser Karte war Fernando eines Tages zu ihr gekommen. Es war nicht schwer gewesen zu erraten, dass die englische Sprache nur als Vorwand diente.

Was wäre die Welt ohne die Liebe? – Sie löste ihren Blick von den goldfarbenen Lettern. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Doch die Erinnerung hielt hartnäckig ihre Gedanken fest. Du bist so anders als die Frauen hier. Bewunderung hattein seinen wachen Augen gestanden, als er dies, wenige Tage später, zu ihr sagte. Es hatte ihr gutgetan, es zu hören.

Jede Begegnung mit ihm, und war sie auch noch so nebensächlich, zog sie immer mehr in seinen Bann. Sie hatte versucht, ihm auszuweichen, Fernando aber schien es geradezu darauf anzulegen, ihr zu begegnen. Seine Phantasie, sich Vorwände auszudenken, war schier unerschöpflich.

Als er ihr dann zu ihrem Geburtstag die Kette schenkte mit dem blauen Saphir auf dem goldenen Herzen, hatte er keinen Vorwand mehr gesucht. Er hatte ihr das Geschenk verstohlen in die Hand gedrückt, als er schon dabei war, von ihrem Geburtstagsfest nach Hause zu gehen. Zuvor hatte er sich Mut antrinken müssen, für das, was er ihr sagen wollte.

Lass mich dein sein –! Das Feuer, das sie bei diesen Worten durchfahren hatte, war ihr Warnung genug.

Nein!, hatte sie erwidert, und ihre Antwort hatte nicht nur den geschmerzt, dem sie galt. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Sie ging rasch weiter, versuchte, die Tür zu ihrem Herzen, durch die Fernando so unvermittelt wieder hereingekommen war, mit aller Gewalt zu schließen. Eilig bemühten sich tausenderlei Gedanken, in ihrem Kopf, eine Schutzwand hochzuziehen: sie hatte gar nichts eingekauft – gleich wäre sie bei den Postfächern – ob Vincent wohl geschrieben hatte – er musste ihr doch noch zum Geburtstag gratulieren ...

Ihr Geburtstag. Zum ersten Mal hatte sie ihn ohne Vincent verbracht –. Sie schüttelte den Kopf, ging schneller. Gedanken konnte man durch Gedanken vertreiben, doch Gefühle?

Da kamen ihr unversehens ein ovales, blaugerändertes Abzeichen zu Hilfe, eine beigefarbene Uniform. Ein Schreck durchschnitt ihre Gedanken. Policía de migración, die Fremdenpolizei.

Die Schirmmützen tief in die Stirn gedrückt, standen die beiden Beamten reglos da, fixierten sie mit ihren Blicken. Sie hatten sich diesen strategisch günstigen Ort ausgesucht, um Ausländer abzupassen und deren Papiere zu kontrollieren. Obwohl ihre Dokumente in Ordnung waren, ließ der Anblick dieser Polizisten sie jedes Mal von Neuem unruhig werden.

Warum ein schlechtes Gewissen wach werden konnte, auch wenn man nichts zu verbergen hatte? Wie auch immer die Antwort auf diese Frage lauten mochte, die Kontrollen erinnerten sie daran, dass ihr Aufenthalt begrenzt war. Schon lag über ein Monat hinter ihr. Anders als sonst ließen die Beamten Lea diesmal an sich vorübergehen, ohne sie zu behelligen, folgten ihr nur mit den Blicken, wie sie zum Postfach ging, es aufschloss.

Ein weißer Umschlag lag darin. Es war nicht die Schrift Gabriellas, mit den geschwungenen, bauchigen Buchstaben und all den kleinen Schleifen und Kringeln daran, die so aussahen, als machten sie das Leben zu einer Spielwiese. Es waren kleine, weniger schwungvolle Schriftzüge, doch sie waren weit gezogen und von wohltuender Gleichmäßigkeit. Sie ließen an einen besonnenen, großzügigen Menschen denken.

Sie beschloss, Vincents Brief im nahegelegenen Stammcafé zu lesen. Die junge Frau an der Theke kannte Lea inzwischen. Sie nickte ihr zu, schob, nach ein paar Minuten, schweigend den Kaffee zu ihr hin. Lea nahm die Tasse mit an einen der Tische und setzte sich.

Sie sah sich im Lokal um. Es waren fast nur Frauen da, wie immer zu zweit, zu dritt oder in Begleitung ihrer Kinder. Ganz selten nur konnte man eine Frau allein ein Lokal betreten sehen. Sie waren hübsch hergerichtet. Die Frauen hier wussten sich zu kleiden, zu schminken, zu frisieren. Sich so begehrenswert wie möglich zu machen, auch das konnte ein Lebensinhalt sein.

Leas Blick streifte die gegenüberliegende Wand, die ganz mit Spiegeln verkleidet war. Das Bild, das sie erhaschte, flachte so stark gegen die äußere Erscheinung der anderen Frauen ab, dass es den Augen wehtat. Sie musterte die Frau mit der weiten, verwaschenen Bluse, die ihr von dort entgegensah: ein unordentlicher Haarschopf, der das Fehlen einer zähmenden Friseurshand schon von Weitem verriet; bleiche Wangen, auf denen keine Spur von Rouge zu finden war; ein Mund, dem das lockende Rot eines Lippenstiftes vorenthalten wurde.

Lea löste ihre Augen von dem farblosen Spiegel-Ich und öffnete Vincents Brief. Er gratulierte ihr zum Geburtstag, der nun schon zehn Tage zurücklag, erzählte von seiner Arbeit, schrieb, dass er bereits darauf warte, dass sie wiederkäme. Ihr Blick blieb an den letzten Worten hängen: Ich liebe dich, dein Vincent.

Lange starrte Lea darauf. Sie selbst ging sehr sparsam um mit solchen Worten. Gedankenverloren nippte sie am Kaffee, der zu erkalten begann. Ihr Blick wanderte erneut zum Spiegel, blieb diesmal an großen, ernst dreinsehenden Augen hängen. Sie waren von einem Blau, das man nur selten sah, ein dunkles, tiefes Blau, das bisweilen unergründlich schien.

Sie sah wieder auf den Brief. Sie selbst hatte noch nie einen Brief mit ‚Deine Lea‘ enden lassen, an niemanden – auch an Vincent nicht.

Seltsam, dass ihr das erst heute auffiel.

Sie steckte den Brief weg, trank den Kaffee aus, der nun vollends kalt geworden war, und machte sich auf den Weg nach Hause.

Sie wollte die Linie sechs nehmen. Die Busse dieser Linie brauchten nur die halbe Zeit. Mit der Arroganz einer Buslinie, die sich etwas Besseres wähnt, was sie, nebenbei bemerkt, tatsächlich war, verschafften die Chauffeure sich überall Durchfahrt: ältere Busmodelle wurden einfach zur Seite gedrängt, kleinere Personenwagen übersahen sie grundsätzlich. Bei Gelb noch über die Ampel zu preschen, war schließlich gar unverzichtbar, galt es doch, den guten Ruf als eines der schnellsten Transportmittel der Stadt zu wahren. Damit die Fahrer dieser Luxus-Linie die Bedeutung des Tempos auch wirklich in Erinnerung behielten, waren von der Busgesellschaft Stechuhren an Kontrollstellen entlang der Route eingerichtet worden. Sie schienen auf besonders kurze Zeitintervalle eingestellt zu sein. Bei Überschreiten der festgesetzten Zeiten mussten die Fahrer Strafe zahlen. So ließen sie immer dann, wenn ein hastiger Blick auf die Uhr ihnen verriet, dass die Zeit drängte, die am Straßenrand winkenden Fahrgäste einfach stehen – besonders dann, wenn es Frauen waren. Denn Frauen konnten nicht aufspringen, wie die Männer es taten.

Die Männer hatten sich recht schnell auf diese Art der Dienstleistung eingestellt. Ob von der Straße oder vom Gehsteig aus, sie vermochten es immer, auf den Bus aufzuspringen. Mit einer nur um Weniges verringerten Geschwindigkeit deutete der Fahrer an, dass er bereit war, sie mitzunehmen, und die Männer sprangen auf, ob jung oder alt, mit einer Aktentasche unter dem Arm oder mit schweren Einkaufstüten beladen.

Und sie sprangen dann mit genau derselben in Hunderten von Einsätzen geübten Eleganz auch wieder von den fahrenden Bussen ab. Es gehörte Wendigkeit dazu, eine Portion jugendlicher Elan vielleicht. So waren die Männer gar nicht daran interessiert, dass dieser Brauch, der in anderen Breiten als unhöflicher Akt des Fahrers hätte gelten können, ein Ende nähme. Mit dem Auf- und Abspringen konnten sie beweisen, dass sie fit waren, sportlich – und jung.

So überwanden auch Herren mit grauen Schläfen sich dazu, mit erzwungener Dynamik den Sprung aufs Trittbrett zu wagen. Musste der Fahrer dann aber abbremsen, weil ersichtlich wurde, dass der Herr es doch nicht mehr schaffte, war die Bloßstellung beschämend. Er würde dann, die ganze Fahrt über, den Blick unverwandt und starr zum Fenster hinaus richten. Unablässig würde ihn der Gedanke quälen, dass er sich, am Ziel angelangt, unbedingt beweisen musste, dann, wenn es um das Abspringen ging. Dabei gäbe es eine Angst, die ihn beherrschen, ja fast verzehren würde: die Angst, dass der Busfahrer sich an ihn erinnern könnte. Dies würde das Allerschlimmste nach sich ziehen: wenn der Fahrer den ‚Alten von vorhin‘ zum Aussteigen auf die Tür zugehen sähe, würde er sofort den Bus abbremsen und würde ihn sittsam aussteigen lassen – so wie eine Frau …

Ja, das Auf- und Abspringen war mehr als nur ein Sport oder gar ein durch das rüpelhafte Benehmen von Busfahrern erzwungenes Verhalten.

Die Männer liebten es. Sie liebten es, weil sie daran ihre Männlichkeit beweisen konnten, Tag für Tag und ganz öffentlich. Wer nicht mehr aufspringen konnte, nach dem brauchte eine Frau nicht mehr hinzusehen. Er musste dann wirklich alt sein, oder seine Männlichkeit hatte vielleicht durch eine langwierige Krankheit gelitten, und auch dann lohnte es sich nicht, sich näher mit ihm zu befassen.

Frauen sprangen grundsätzlich nicht auf fahrende Busse auf. Dazu fehlte den meisten von ihnen die männliche Sportlichkeit, außerdem waren die Frauen hierfür auch nicht richtig angezogen – mit den engen Röcken, die sie liebten, und den hochhackigen Schuhen. Doch selbst dann, wenn sie Hosen trugen und sportlich waren und wenn sie das Verlangen in sich spüren mochten, es doch einmal zu wagen und so wie die Männer aufzuspringen – selbst dann hüteten sie sich davor, es diesen gleichzutun. Es gehörte sich einfach nicht, und außerdem: welchen Mann hätte eine solche Frau zu beeindrucken vermocht?

Nein, von Mannweibern hielt man hier nicht viel. So sprangen die Frauen niemals auf, auch wenn die Busse sie immer und immer wieder stehenließen, wenn sie dadurch zu spät zur Arbeit kamen oder wenn sie im Regen standen, bis die Kleidung durchweicht war, die Frisur zerstört. Eine zerstörte Frisur konnte wiederhergestellt werden, der Ruf aber, ein Mannweib zu sein, war niemals wieder rückgängig zu machen.

Lea, die von diesen ungeschriebenen Gesetzen nichts wusste, sprang öfter auf den Bus auf, wenn dieser nicht allzu schnell fuhr. Doch manches war nicht nur eine Frage der Moral, sondern auch ein Problem der richtigen Technik. Als sie einmal versucht hatte, vom fahrenden Bus abzuspringen, hatte dies mit aufgeschlagenen Knien geendet und einer zerrissenen Hose. Mitleidige Blicke hatten sich auf sie gerichtet, aus denen stiller Tadel sprach und ein Nichtverstehen, das an Ablehnung grenzte. Um ihre Ehre zu retten, hatten einige begonnen, lauthals auf den Fahrer zu schimpfen, der eine Frau nicht so aussteigen ließ, wie es sich gehörte.

Diesmal aber hielt der braune Bus mit seinen eleganten gold-grünen Streifen und dem aufgemalten Tiger tatsächlich ganz ordentlich vor Lea und ließ ihr Zeit zum Einsteigen – nicht so wie sonst, wo er sofort wieder ruckartig anzufahren pflegte, sobald sie den Fuß aufs Trittbrett gesetzt hatte.

Rhythmische Salsaklänge tönten ihr mit voller Lautstärke entgegen. Die Musik bei der Fahrt zur Arbeit, zum Einkaufen, egal wohin, war für die Guayaquilener unverzichtbar. Sie hätten eher ein Nachsehen gehabt, wenn der Motor ausfiele oder die Bremsen nicht richtig funktionierten, als dass sie es dem Fahrer verziehen hätten, den Kassettenrekorder nicht auf der Stelle repariert zu haben, als dieser kaputtzugehen drohte. Es galt dies für alle Busse, nicht nur für die Linie sechs. Ganz gleich ob die aufgelegte Musik flott ausfiel oder romantisch – die Auswahl folgte den unvorhersehbaren Stimmungslagen des Fahrers – Hauptsache es war Musik. Lange Fahrten wurden dadurch kürzer, regnerische Tage weniger grau. Der öde Gang zur Arbeit, zur Behörde oder wohin auch immer die Pflicht einen beordert hatte, bekam Farbe, Leben.

Musik und Tanz, das hatte Lea vom ersten Tag an bemerkt, war für die Menschen in Guayaquil nicht nur irgendeine Nebensächlichkeit: sie waren fester, wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Auf eine Weise, die sie wohl niemals ganz würde verstehen können, schienen die Küstenbewohner geradezu durch die Musik zu leben. So wie ein welkes Blatt sich mit den ersten Tropfen Wasser aufrichtet, das es durstig in sich aufnimmt, so erblühten die Menschen hier, sobald ihr Herz von den ersten Klängen einer Melodie berührt wurde.

Diese Liebe zur Musik ging in Wirklichkeit noch viel tiefer, als Lea es zu diesem Zeitpunkt hätte ahnen und begreifen können. Durch Lieder wurden Freundschaften angebahnt und Botschaften überbracht, es wurden Wünsche offenbart und Liebesabenteuer angetragen. Es war geradeso, als hätten die Menschen, insbesondere die Männer, ein ganzes Musikarchiv in ihrem Kopf (oder im Herzen), das für jeden Anlass das passende Lied parat hielt.

Als Lea im Bus nach hinten ging, um sich auf einen der freien Plätze zu setzen, richteten sich wie immer die Blicke aller männlichen Fahrgäste auf sie. Es waren nicht nur die blauen Augen, die das Geheimnis ihrer Herkunft preisgaben. Auch ihre Kleidung und die kurzen dunklen Haare verrieten unfehlbar die gringa, die Fremde. Glatt und schmucklos, passte das in losen Strähnen ungeordnet in die Stirn fallende Haar ebenso wenig zu einer ecuadorianischen Frau – schon gleich gar nicht zu einer aus Guayaquil – wie die weite Bluse, die alles verdeckte und nicht einmal recht erkennen ließ, ob es sich beim Träger um einen Mann oder eine Frau handelte. Doch auch der etwas zu forsche Gang und ihr gerader, direkter Blick, den sie nicht wenigstens zum Schein senkte, wenn man sie ansah, waren untrügliche Zeichen dafür, dass sie eine Fremde sein musste.

Lea hatte sich noch nicht an die Blicke der Männer gewöhnen können. Interessiert und abschätzend richteten sie sich auf sie, es sprach unverhohlene Neugier daraus. Manchmal wandelte sich diese Neugier, durch ein leichtes, nahezu unmerkliches Hochziehen der Augenbrauen kundgetan, in eine Einladung zum Flirt. Andere Male aber war sie gepaart mit einer unmissverständlich zu Erkennen gegebenen Begierde. Diese wurde dann im Vorübergehen in Worte gekleidet, in schmeichelnd zugeraunte Komplimente – viel öfter aber, so wollte es ihr scheinen, in plumpe Anzüglichkeiten. Nein, sie konnte nicht begreifen, was an dieser Art des Werbens so unwiderstehlich sein sollte.

Zu Hause angekommen, entledigte Lea sich der verschwitzten, staubig gewordenen Kleidung. Sie duschte, zog ein altes Hemd und eine bequeme Hose an und legte sich dann auf ihr Bett, um ein wenig auszuruhen. Bis Paolo käme, war noch viel Zeit. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte an all das, was sie bisher erlebt hatte: der Überfall, die Stadt, die Freunde, Fernando.

Sie hatte ihn aus ihren Gedanken verbannt, doch er tauchte immer wieder auf – ungefragt, lebendig, greifbar. Lass mich dein sein – ein einziges Mal nur.

All die offenen und versteckten Anträge, die sie von Männern hier gehört hatte und die sie so verabscheute – warum hatte sie sich nicht daran gestoßen, dass Fernando ihr eine Nacht antrug, obwohl sie sich kaum kannten?

Die Antwort darauf tauchte nur zu deutlich vor ihrem Geist auf: ein gewinnendes Lächeln, braune Haut, die sich glatt und samtartig über ausgeprägte Muskeln spannte, Leben und Kraft, die aus jeder Faser seines Körpers zu sprühen schienen.

Ein einziges Mal nur –.

Sie schüttelte den Kopf. One-night-stand, ein kurzes Abenteuer? Von einem Fest, einem Besuch in der Diskothek einen Mann mit zu sich nach Hause nehmen, um dann am nächsten Morgen, so als wäre nichts gewesen, lückenlos zum Alltag überzugehen? Zu so etwas taugte sie nicht. Sie war noch nie der Typ dafür gewesen und würde es vermutlich auch nie werden. Sie wusste, dass sie dann, wenn sie sich auf Fernando einließ, ihm immer mehr Platz einräumen würde, bis er schließlich zu ihrem Leben gehörte. Und dann?

Etwas in ihr schmerzte. Ein Brief. Drei Worte, gleichmäßig und ruhig auf das Papier gezogen. Ich liebe dich.

Vincent. Bald würde sie zu ihm zurückkehren.

Die schmiedeeiserne Tür des Hauseingangs quietschte in den rostigen Angeln. Sie hörte Paolos Schritte auf der Treppe. Lea sah auf die Uhr. Wieso kam Paolo um diese Zeit nach Hause, es war noch nicht Mittag. Und überhaupt …

Lea setzte sich auf dem Bett auf, horchte. Waren dies nicht die Schritte von mehreren Personen? Hatte Paolo jemanden mitgebracht?

Sie hörte, wie die Wohnungstür aufging. „Hallo, Lea, wo steckst du?“

Vielleicht hatte ihr Gehör sie doch getäuscht, schien es doch so, als sei Paolo allein zur Tür hereingekommen. Sie schlüpfte rasch in ihre Sandalen und ging den langen schmalen Gang nach vorn, zum Wohnzimmer.

„Ciao!“ Die halb offene Mappe unter dem Arm, die Hemdsärmel hochgekrempelt, die wirren Locken nur recht und schlecht gebändigt, sah Paolo ihr entgegen. Die Tür hatte er nicht hinter sich geschlossen.

„Dachte schon, du wärst gar nicht hier“, sagte er. „Wäre schade gewesen, wo ich doch jemanden mitgebracht habe.“ Er wandte sich zur Tür.

Also doch. Warum brachte Paolo jemanden mit, ohne ihr Bescheid zu sagen! Sie sah sich im Geiste: das Haar ungekämmt, mit dem verwaschenen Hemd, das sie trug, und den alten Hosen, die sich wahrlich nicht herzeigen ließen. Hoffentlich war es nicht jemand Wichtiges, der da kam. Die Antwort sollte sie gleich erhalten.

„Fernando“, rief Paolo laut nach draußen. „Hast du Angst hereinzukommen?“ Lea fuhr zusammen. Im Türrahmen tauchte eine dunkle Gestalt auf. Zögernd trat Fernando ein. Sein Blick flog über Leas Miene. „Ich hatte nicht die Absicht, euch zu überfallen“, sagte er und senkte den Blick. „Ich habe nur zufällig Paolo getroffen –“ Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Lea nickte nur. „Komme gleich wieder“, murmelte sie und floh nach hinten. Im Spiegel des Badezimmers betrachtete sie ihr Abbild. Sie kämmte ihre Haare, sah sich prüfend an. Umziehen konnte sie sich jetzt nicht mehr, das wäre zu auffällig gewesen. Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel und ging wieder nach vorne.

Paolo hatte inzwischen Musik aufgelegt. Fernando saß in einem der Sessel, ein Glas Wasser vor sich. „Lea, haben wir kein Bier mehr im Haus?“, fragte Paolo, als er seine Schwester kommen hörte. „Ich hätte Fernando lieber etwas anderes angeboten als Wasser.“

„Oder trinkst du gerne Wein?“, wandte er sich an Fernando.

„Oh nein“, wehrte dieser ab. „Das bin ich wirklich nicht gewöhnt.“

„Also werd‘ ich schnell nebenan ein paar Flaschen Bier besorgen.“ Mit diesen Worten befand Paolo sich schon halb auf dem Weg zur Tür. „Kümmere du dich um unseren Gast“, rief er Lea noch zu, dann war er schon verschwunden.

Lea blickte zu Fernando. Dieser sah sich in der Wohnung um. „Hübsch habt ihr es hier“, bemerkte er.

„Hm ja“, antwortete sie wenig geistreich. Ihr Gehirn war wie ausgetrocknet. Sie blickte auf seine schlanken, dunklen Hände, die das Glas Wasser hielten und es ein wenig hin und her drehten. Mit einem Mal stach ihr ein Ring ins Auge, den er am kleinen Finger der linken Hand trug. Dass sie noch gar nicht daran gedacht hatte, dass er vielleicht …

Aber was dachte sie da nur! Abrupt erhob sie sich von dem Sessel, auf dessen Kante sie sich gesetzt hatte. „Paolo wird sicher gleich kommen“, sagte sie, lauter als beabsichtigt, so als könne sie damit die Gedanken vertreiben, die sich unerlaubterweise aufdrängten.

„Gefällt dir die Musik?“, wechselte sie das Gesprächsthema.

Fernando, dem ihr eigenartiges Verhalten sehr wohl aufgefallen war, lächelte still. „Diese Musik ist für unsere Ohren – sagen wir einmal: ungewöhnlich“, erwiderte er. Paolo hatte, aus welchem Einfall auch immer heraus, Verdi aufgelegt. Lea musste unwillkürlich lachen.

„Ich weiß nicht, was in Paolo gefahren ist, dass er ausgerechnet diese Musik ausgesucht hat. Es ist das einzige, was er an klassischer Musik besitzt.“

Dann verfielen sie beide erneut in Schweigen.

Paolo war bald zurück. „Das hier ist doch besser als Wasser“, rief er lachend aus und stellte das Bier auf dem Tisch ab. Lea griff zum Flaschenöffner, der dort lag. Doch auch Fernando hatte in derselben Absicht danach gelangt.

Ihre Hände berührten sich einen winzigen Augenblick. Für Lea war es Feuer. Rasch, fast heftig zog sie die Hand zurück. Fernando öffnete die Flasche, er hielt den Blick dabei gesenkt.

Paolo fegte geschäftig im Zimmer umher. Zuerst holte er die Gläser, dann musste er nach der Musik sehen, dann wiederum ging er in die Küche, um nachzusehen, ob noch Gebäck da sei, um gleich darauf unverrichteter Dinge zurückzukehren und nach der Zeitung zu angeln. Mit einem lauten Plumps ließ er sich in den noch freien dritten Sessel fallen. „Kommt gar kein interessanter Film dieses Wochenende“, kommentierte er, als er die Kinoanzeigen in der Zeitung studiert hatte. „Ich hab' eine Idee. Wie wäre es, wenn wir morgen schwimmen gingen? Was meinst du, Lea?“

Lea blickte zögernd in Fernandos Richtung. Sie wusste nicht, ob Paolo damit auch ihn eingeladen hatte. „Ja-a“, antwortete sie gedehnt. „Keine schlechte Idee.“

„Kommst du mit, Fernando?“, fragte Paolo gleich hinterher.

Fernando blickte verstohlen zu Lea. „Gerne“, gab er zur Antwort. Er trank sein Bier aus und erhob sich. „Ich glaube, es ist Zeit für mich. Ich muss in die Germanmetal zurück, kann nicht einfach so kommen und gehen, wie Paolo es tut."

„Kommen und gehen wie Paolo?“ Lea zog die Augenbrauen hoch, sah fragend zu ihrem Bruder.

„Tut mir leid, nein.“ Fernando merkte, wie seine Worte aufgefasst worden waren. „Ich wollte nicht –“

„Ist schon gut, Fernando“, bremste Paolo ihn. „Es stimmt ja, was du sagst: Ein Betriebsberater, noch dazu einer aus dem fernen Europa, hat einfach mehr Freiheiten als ein ecuadorianischer Mechaniker – auch wenn dieser im Arbeiterparadies des Herrn Wercke beschäftigt ist.“ Er lachte. „Aber morgen ist Samstag, und da hat selbst ein ecuadorianischer Arbeiter frei. Also dann bis morgen, sagen wir um zehn Uhr, im Schwimmbad.“

Als sich die Tür hinter Fernando geschlossen hatte, ging Lea ohne ein Wort zu sagen in die Küche. Nun war sie am besten dort aufgehoben, wo sie sich beschäftigen konnte, ohne nachdenken zu müssen. Sie holte Tomaten und Zwiebeln aus dem Kühlschrank, machte sich mechanisch ans Waschen, Schälen, Schneiden.

Aus dem Badezimmer, das direkt an die Küche grenzte, drangen das Plätschern von Wasser und Paolos fröhliches Pfeifen. Die Räume waren nur durch Trennwände aus Holz abgeteilt. Diese reichten nicht ganz bis an die Decke, so konnte man sich über die Wand hinweg unterhalten. „Lea, warst du auf der Post?“, rief Paolo herüber. „Kein Brief von Gabriella?“ Lea schüttelte den Kopf, als könne Paolo dies durch die Wand hindurch sehen.

Gabriella. Leas Gedanken wanderten zurück. Paolo und Gabriella waren ein ganz anderes Paar als Vincent und sie. Es war Paolo sehr schwer gefallen, seine Freundin in Italien zurückzulassen. Diese Trennung aber war die einzige Möglichkeit, die er gesehen hatte, um seine Freiheit zu ertrotzen. Gabriella stammte aus einfachen Verhältnissen, die Beziehung mit ihr hatte zu Hause einen tiefen Riss erzeugt. Gabriella passte nicht zu den Karriereplänen, die Paolos Vater sich für ihn ausgedacht hatte. Nun aber hatte Paolo – mit dem simplen Job, wie ihr Vater abschätzig zu sagen pflegte – diese Karrierepläne ganz bewusst noch mehr untergraben.

Er wollte den Riss unwiderruflich zum Abgrund werden lassen. Ein unerbittlicher Kampf war seitdem zwischen Vater und Sohn entbrannt. Ein Kampf, bei dem es bislang nicht den Anschein hatte, als sei der Schwächere auch der Verlierer.

Tausend Mal schon mochte Josef, ihr Stiefvater, es bereut haben, zu jener Zeit nachgegeben zu haben, als ihre Mutter es sich, vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren, in den Kopf gesetzt hatte, den damals sechsjährigen Paolo aus dem Waisenhaus in Neapel als Adoptivsohn aufzunehmen. Als Bankier gehörte ihr Vater, und damit ganz selbstverständlich auch seine Familie, zu den gehobenen Kreisen. Nach Italien waren sie nur deswegen gezogen, weil er dort die Filialleitung einer Bank angeboten bekommen hatte. Während sie selbst sich den Erwartungen ihres Vaters meistens angepasst und auch mit Vincent, dem Diplom-Chemiker in gutbezahlter Stellung, einen Mann gewählt hatte, der ihrem Vater genehm war, hatte es wegen Paolo zu Hause oft Streit gegeben. Ihr Bruder tat sich schwer damit, vorgefertigten gesellschaftlichen Bildern zu entsprechen. Zwar hatte er sich noch dem Willen des Vaters gebeugt und war mit viel Widerstreben Betriebswirt geworden. In der Liebe aber hatte er nie über sich bestimmen lassen. So war die Liebe letztlich auch der Anstoß dafür geworden, viel mehr aufs Spiel zu setzen, seinem Vater gegenüber aufs Ganze zu gehen.

„Von dir kriegt man auch nicht immer eine Antwort oder?“

Sie sah überrascht auf. Paolo stand, barfuß und mit nassen Füßen, in der Tür, ein Badetuch lose um die Hüften geschlungen. In Gedanken versunken hatte sie ihn nicht kommen hören.

„Was sagtest du? Ach so, ja, das heißt nein: Es war keine Post für dich da.“ Sie beugte sich wieder über das Gemüse.

„Sag mal“, Paolo lehnte sich an den Türrahmen und blickte seine Schwester prüfend an, „hat der Besuch dich gerade durcheinander gebracht?“

Lea schrak hoch. „Nein – wieso?“, stotterte sie.

„Meinte nur so.“ Paolo fuhr sich durch das nasse Haar, warf einen nachdenklichen Blick auf Lea und ging sich ankleiden.

Eine seltsame Stimmung lag über ihnen, als sie wenig später beim Essen saßen: Lea schien mit ihren Gedanken in einer anderen Welt zu weilen, Paolo aber war gezielt am Nachdenken.

„Wie hattest du dir eigentlich deinen Aufenthalt hier vorgestellt?“, fragte er unvermittelt. Lea wandte ihm den Blick zu.

„Was meinst du damit?“

„Ich meine, ob du nur Touristin sein willst oder ob du auch daran interessiert wärst, hier mitzuarbeiten?“

Lea runzelte die Stirn. Bei was sollte sie nur mitarbeiten? Paolo betreute Betriebe, die von einem Zusammenschluss verschiedener Banken des Landes, der Fedebanc, gefördert wurden. Seine Welt war die der Wirtschaft: Organisation, Preiskalkulation, Vermarktung. Sie aber war Sozialpädagogin, arbeitete in der Erwachsenenbildung. Ihre Welt war eine ganz andere.

Paolo hatte ihr Erstaunen bemerkt. Er lachte. „Nun, die Wirtschaft scheint hier nicht das einzige Problem zu sein. Der Vorsitzende der Fedebancsagte erst gestern zu mir, dass sie erhebliche Probleme hätten mit der Beteiligung der Leute an ihren Programmen. Sie haben mit dem gegenwärtigen Kursangebot vor sechs Jahren begonnen, doch der Zuspruch ist sehr schwach. Sie könnten gut jemanden gebrauchen, der ihnen hier und da ein paar Tipps gibt, wie man zur Teilnahme an Kursen motivieren und wie man Versammlungen interessanter gestalten könnte. Da ich ihnen auch noch verraten habe, dass du gut zeichnen kannst, waren sie begeistert davon, dich für bestimmte Aufgaben einzusetzen. Sie hatten seit längerem vor, die von Technikern und Beratern ausgearbeiteten Unterlagen pädagogisch ansprechender zu gestalten und zu illustrieren. Es wäre dies natürlich kein richtiger Job und viel zahlen können sie dir auch nicht, aber vielleicht interessiert es dich trotzdem.“

„Einige der Leute kennst du ja schon“, ergänzte er, mit einem versteckten Seitenblick auf sie. Ihre Reaktion entging ihm nicht: Einem kurzen Aufleuchten auf ihrer Miene war ein gequälter Ausdruck gefolgt.

Sie setzte eben dazu an, den Kopf zu schütteln, als Paolo fortfuhr: „Ich glaube, dass du bei dieser Arbeit selten in die Betriebe kämst, du würdest mehr mit den Leuten der Fedebanczusammenarbeiten. Das Gestalten der Unterlagen kannst du ohnehin zu Hause machen.“

„Meinst du?“ Sie zögerte immer noch. „Eigentlich hatte ich mir eher vorgestellt zu reisen, etwas vom Land zu sehen.“

Paolo nickte. Ja, sie hatte viel reisen wollen, ursprünglich. War denn aber nicht bereits ein Monat vergangen, ohne dass sie Guayaquil auch nur für einen Tag verlassen hätte?

„Wie auch immer“, sagte er und seine Miene war ernst geworden. „Du solltest diese Arbeit wirklich nur annehmen, wenn es dir Spaß macht, andernfalls ist es besser, nichts zu tun.“ Es gab kaum etwas, das er ernster gemeint hätte als diese Worte. Nur zu schmerzlich war die Erinnerung daran, dass er sich zu einem Beruf hatte drängen lassen, der nicht seinem innersten Wesen entsprach.

„Vielleicht lässt sich das ja alles miteinander verbinden: Du machst zuerst eine Reise durch das Land und dann arbeitest du ein wenig mit, oder auch umgekehrt. Und dann fliegst du wieder nach Hause.“

Er sah sie abwartend an. „Arbeiten bringt einen manchmal auf andere Gedanken“, fügte er an, blind auf eine Vermutung zusteuernd, die ihn nicht mehr losließ. In Gedanken bereute er es, dass er Fernando eingeladen hatte, am Tag darauf mit ihnen schwimmen zu gehen. Doch nun war es zu spät.

Am nächsten Morgen, sie hatten sich schon fertig gemacht für den Besuch des Schwimmbades, klingelte es unten an der Tür. Paolo sprang die Treppen hinab und kehrte nach einigen Minuten mit langer Miene zurück. „Kein Recht mehr auf sein Wochenende“, schimpfte er vor sich hin.

Man hatte ihm ausrichten lassen, dass er zu einer außerordentlichen Sitzung der Fedebancgehen müsse. Ein Herr aus der Hauptstadt, offenbar ein Abgeordneter, war überraschend zu Besuch gekommen.

„Du wirst wohl allein schwimmen gehen müssen“, sagte er.

„Allein?“ Leas Augen weiteten sich.

Paolo legte die Stirn in Falten, fuhr sich mit hilfloser Geste durch die Locken. Hatte er es doch geahnt! Er seufzte still. Er sah Probleme auf sich zukommen und hatte auch noch selbst dazu beigetragen. Doch nun konnte man Fernando nicht einfach versetzen. „Ja“, sagte er, „allein.“

Und er bereute seine Idee vom Vortag einmal mehr.

Als Lea zum Schwimmbad kam, sah Fernando ihr erstaunt entgegen. So hatte das Schicksal sie also alleine zusammengebracht. Er setzte sich auf den Rand des Schwimmbeckens, auf Lea zu warten. Bereits mit der Badehose bekleidet, ließ er die Beine in das kühle Wasser hängen und dachte über diesen Zufall nach. Er musste in letzter Zeit häufig an Lea denken, sie war inzwischen in seinem Geiste von der gringa, der Fremden aus Europa, zu ‚Lea‘ geworden.

Aber was wollte er nur damit? Hatte sie ihm nicht deutlich genug gesagt, dass er ihr gleichgültig war? Fernando runzelte sinnend die Stirn. Dass er ihr gleichgültig war? Nein, das hatte sie nicht gesagt. Sie hatte nur gesagt, dass zwischen ihnen nichts sein durfte. Und das war nicht dasselbe.

Dieser Gedanke zauberte auf seinem Gesicht ein kleines Lächeln hervor, das aber gleich darauf wieder verschwand. ‚Lass dich mit keiner verheirateten Frau ein', hatte sein Kollege Carlos einmal zu ihm gesagt. ‚Das bringt nur Ärger. Und wenn du dich tatsächlich einmal, sozusagen wider Willen, in eine verheiratete Frau verlieben solltest, so rate ich dir, dich nicht zu sehr darin zu verstricken. Bewahre dir eine Distanz, sonst kommst du in Teufels Küche.‘ Vermutlich hatte Carlos recht. Fernando nickte nachdenklich vor sich hin. Was aber sollte man mit den Gefühlen anfangen, die da waren?

Er sah Lea von der Umkleidekabine her auf sich zukommen. Das war aber gewagt. Sein Blick hatte sich an ihrem Badeanzug festgehakt, besser gesagt: dort, wo er endete. Sie schien nichts darunter anzuhaben. Das kannte er nur von Pin-Up Girls auf den Titelseiten amerikanischer Zeitschriften. Die ecuadorianischen Frauen waren, ob aus eigener Überzeugung oder auf Grund der konservativen Gesellschaftsmoral, in der Hinsicht nicht sehr freizügig. Sie pflegten meist mit Unterwäsche unter dem Badeanzug schwimmen zu gehen.

Lea wusste nichts von diesen Gepflogenheiten. Mit einem Lächeln setzte sie sich neben ihn, unbefangen im Hinblick auf seine Gedanken, die ihr – hätte sie diese gekannt – gewiss recht fremd gewesen wären. „Kannst du gut schwimmen?“, fragte sie, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

„Geht so.“ Er lachte.

„Ich kann schwimmen“, meinte sie, „fürchte mich aber vor tiefem Wasser.“

„Soll ich dir ein wenig das Tauchen beibringen?“, ergriff Fernando die Gelegenheit. „Dabei kann man gut die Angst verlieren.

„Tauchen?“ Sie verzog das Gesicht. Das Wasser war nicht ihr Element und würde es vermutlich nie werden.

„Ist nicht schlimm, wirklich“, versicherte er. „Du musst nur die Luft anhalten und dich dann langsam unter Wasser sinken lassen, sieh mal, so.“ Er ließ sich ins Wasser gleiten, verschwand in der Tiefe. Lea blickte zweifelnd auf die kleinen Wellen, die gurgelnd über ihm zusammenschlugen. Da tauchte er auch schon wieder auf. „Komm“, meinte er lachend und zog sie langsam vom Beckenrand herunter. Geschickt fing er sie an der Taille auf. Sie spürte seine Hand auf ihrer Haut am weiten Rückenausschnitt und wollte sich gleich losmachen. Dennoch verharrte sie einige Augenblicke reglos. Es war so, als leiste der Körper den Gedanken Widerstand, als wolle er die lockende Berührung auskosten, die er so unvermittelt erfahren hatte.

Fernando versuchte ihr beizubringen, wie sie sich wenigstens für kurze Zeit unter Wasser halten konnte. Als sie von den zahllosen Versuchen und vom vielen Wasserschlucken müde war, hängte sie sich protestierend an den Beckenrand.

„Mag nicht mehr“, keuchte sie. Fernando lachte und schwang sich auf den Rand des Schwimmbeckens. Er sah sie von oben her an. Das nasse Haar hing ihr ins Gesicht, Wassertropfen perlten auf ihrer weißen Haut. Der Ausschnitt ihres Badeanzuges ließ, von oben betrachtet, tiefen Einblick zu.