Abgeflogen - Aurel Levy - E-Book

Abgeflogen E-Book

Aurel Levy

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Beschreibung

Für Martina zog er die Pharaonen-Unterhosen aus. Carola sieht in ihm den Staranwalt. Und die verstorbene Oma knüpft das Erbe an unmenschliche Bedingungen. Flugbegleiter Horst-Herbert Hentschel soll Weihnachten mit den zukünftigen Schwiegereltern verbringen. Um kurz vor Zwölf klingelt endlich das Telefon. Seine Firma, die German Imperial Airlines, ist dran. Heiligabend in Tokio heißt die Lösung seiner Probleme. Doch dann gerät er, zusammen mit seiner Bartagame Fittipaldi, in unvorhersehbare Turbulenzen ...

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Seitenzahl: 292

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Aurel Levy

Abgeflogen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

AUREL LEVY

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

Danksagungen

Impressum neobooks

AUREL LEVY

ABGEFLOGEN

ROMAN

www.avila-verlag.de

Copyright © Aurel Levy, 2011

Copyright © AVILA Verlag, Soyen, 2011

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Juliane Grojer, München

Für meine 3 Frauen

PROLOG

Lebende Karpfen haben in einer Badewanne nichts verloren. Nicht mal ausnahmsweise. Da bin ich ganz Carolas Meinung. Man kann sich schlecht dazusetzen. Karpfen haben die miese Angewohnheit, an allem herumzulutschen. Sie sind glitschig, bisweilen schleimig. Reinigungseffekt gleich null. Und duschen geht auch nicht. Karpfen mögen kein Duschgel.

Die Stimmung bei Seizingers war etwas angespannt, als ich zu Besuch kam. Eingeladen hatte mich Elfi, damals noch Frau Seizinger. Ich sollte früher kommen. Sie würden zusammen den Baum schmücken, bei Plätzchen und Glühwein. Ob ich Lust hätte? Klar hatte ich Lust, warum nicht.

Doch hier lauerte der erste Fallstrick. Erwin Seizinger bezeichnete das Friede-Freude-Eierkuchen-Baumschmücken vor versammelter Mannschaft als Weiberkram. Ob ich ihm nicht lieber mit den Fischen helfen wollte! Ich war nicht sicher, was er damit meinte, war aber hin- und hergerissen. Zum einen wollte ich den Hausherrn nicht brüskieren, zum anderen hatte mich eigentlich seine Frau eingeladen. Carola hatte normalerweise zu allem einen Kommentar. Diesmal nicht. Sie blickte beharrlich zur Seite, flankiert von Elfriedes »Geht ihr nur, wir kommen schon zurecht«.

Ich folgte Erwin in die Küche. Dort hatte er ein großes Plastikbrett vorbereitet. Darauf lag ein Messer, wie es Indianer zum Skalpieren verwenden, sowie ein Mini-Baseballschläger aus Hart-Gummi. Erwin forderte mich auf, die Eierlikörflasche aus dem Kühlschrank und zwei Gläser aus der Vitrine zu nehmen und ihm zu folgen. Mir schwante Übles. Im Badezimmer erkannte ich die sich anbahnende Tragödie. In der Wanne schwammen, freundlich lächelnd, zwei dicke, fette Karpfen.

Der alte Seizinger schenkte den Eierlikör ein und prostete mir zu. Dann erklärte er, dass Karpfen sich unbedingt mehrere Tage in klarem Wasser freischwimmen müssten. Nur so sei garantiert, dass das Fleisch seinen modrigen Nachgeschmack verliere. Außerdem, fügte er hinzu, käme es dem Familienzusammenhalt zugute, nicht jeden Tag stundenlang im Bad zu verbringen. Er habe als Student schließlich auch nur einmal in der Woche geduscht. Das härte ab und schaffe Freiräume für die wichtigen Dinge im Leben.

Erwin krempelte die Ärmel seines einwandfrei hellblauen Hemdes hoch und beugte sich über die Wanne. Als er die Hände ins Wasser steckte, kam Leben in die Bude. Offenbar hatten auch die beiden Karpfen begriffen, dass diese Weihnachten unrühmlich enden könnten. Der Zeitpunkt war gekommen, um ihr schuppiges Leben zu schwimmen. Binnen Kürze hatte sich die Wanne in einen brodelnden Hexenkessel verwandelt. Die Fische schlugen mit allen Flossen und zappelten mit Erwins riesigen Pranken um die Wette. Von meiner Warte sah ich wenig mehr, als dass Carolas Vater einige Probleme zu haben schien, der Lage Herr zu werden. Ich rief ihm zu, ob es nicht sinnvoller sei, einfach den Stöpsel herauszuziehen. Er brüllte etwas von »nicht waidmännisch« und dass er schon ganz andere Kaliber fertiggemacht hätte. Schließlich schaffte er es tatsächlich, einen der beiden Karpfen aus dem Wasser und auf das Plastikbrett zu bugsieren. Mit beiden Händen hielt er den Todgeweihten fest. Nun bedeutete er mir, den Totschläger einzusetzen. Meinen fragenden Blick korrekt interpretierend, sagte er: »Na los, nimm den Gummiknüppel und zieh ihm eins über.« Zögerlich griff ich nach dem Totschläger. Er wog viel schwerer, als ich dachte.

»Denk einfach dran, dass es ein schmieriger Typ ist, der Carola eben unter den Schlüpfer gefasst hat.«

Erwin grinste. Der Karpfen schnappte nach Luft und drehte die Augen nach oben, um seinem Mörder ins Gesicht zu sehen. Ich nahm mich zusammen und schlug zu. Dreimal, so fest ich nur konnte.

Erwin grinste noch immer. »Na also. Horst, du hast ja doch Potential. Aus dir wird noch ein richtiger Killer.« Währenddessen ließ er den leblosen Karpfen auf die Seite plumpsen und griff nach dem Messer. Als würde er sein Leben lang nichts anderes machen, stach er mit dem Messer in die Kiemen und zog einen halbmondförmigen Schnitt. Mir wurde schlecht.

»Keine Sorge, der spürt nichts. Dein Schlag hat ihn ins Reich der Träume geschickt. Der Kiemenrundschnitt macht ihm den Garaus. Tod durch Ausbluten. Humaner geht's nicht.«

Mit diesen Worten fasste er den blutenden Fisch und ließ ihn in die Wanne flutschen. Unnötig zu erwähnen, dass diese Aktion für Karpfen Nummer zwei nicht eben deeskalierend wirkte. Er flippte richtig aus, als ihm sein vor sich hinverblutender Kollege entgegentrieb. Erwin war von oben bis unten nass, bis auch dieser Fisch endlich mit dem humanen Kiemenrundschnitt aus unserer Mitte ins Jenseits befördert worden war. Ich war erstaunt über das Repertoire an Schimpfwörtern, das ein Oberlandesrichter aus seinem Sprachschatz hervorzaubern kann. Die Karpfen hatten es ihm nicht leicht gemacht. Die Spritzer aus Fischschleim und Blut, die Gesicht und Hemd bedeckten, mochten ihm unter seinen Jagdkumpels Respekt einbringen, für einen gemütlichen Weihnachtsabend in der Familie taugte das Schlachteroutfit nicht. Auch für mich sollte der Spaß noch nicht vorbei sein. Unter Erwins Anleitung wühlte ich in aufgeschlitzten Fischbäuchen und zog an Eingeweiden, die sich partout nicht von ihrem Eigentümer trennen wollten. Ich war bedient. Und zwar gründlich.

Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass mich der Alte zu mögen schien. Das Fischmassaker war meine Feuertaufe gewesen. Vermutlich betrachtete er mich nun als würdigen Schwiegersohn. Er bot mir das »Du« an. Nachts um halb eins, nach Unmengen von Alkohol. Er sei ab sofort der Erwin. Das gelte auch für seine Frau, die Elfi. Die hatte sich mit ihren Töchtern schon drei Stunden zuvor verabschiedet, um sich wie in jedem Jahr den fünfeinhalbstündigen Director's Cut von Vom Winde verweht anzusehen. Mich hatten sie nicht gefragt. Offensichtlich gehörte ich für sie nach dem Karpfengemetzel zu den Kerlen. Und Kerle sahen sich keine romantischen Monumentalschinken an, Kerle tranken Schnaps. Ich ergab mich in mein Schicksal. Wobei ich zugeben muss, dass der steirische Marillenbrand mit jedem Glas besser wurde. Das war auch nötig. Denn Erwin wurde zunehmend anhänglicher.

Und er hatte eine Botschaft. Einen 10-Punkte-Plan, der mich direkt auf die Überholspur des gesellschaftlichen und beruflichen Erfolgs führen würde:

1. Es gäbe nur einen beruflichen Werdegang, der seit Jahrhunderten als Einziger die tüchtigsten Männer hervorgebracht habe und dies sei die Juristerei.

2. Nach Zivildienst und meiner geplanten Weltreise sei es nun genug des Ausprobierens. In meinem Alter hätte er bereits ein Jahr Studium generale und 2 Semester Jura hinter sich gebracht.

3. Folgerichtig müsste ich mich unverzüglich an einer der besten Unis für Jura einschreiben.

4. Um ein dichtes Kontaktnetz zu knüpfen und dabei Geist und Körper zu stählen, sollte ich sofort bei einer schlagenden Verbindung anheuern.

So ging es weiter, bis ich Punkt 9 als Jahrgangsbester abschnitt, um mir dann 10. aussuchen zu können, ob ich als Notar meine eigene Gelddruckmaschine in Gang setzen, Partner in einer der renommiertesten Münchner Kanzleien werden würde oder als honoriger Richter in seine Fußstapfen treten wollte.

Ich hatte artig genickt und insgeheim gehofft, es nun überstanden zu haben, als Erwin sich zu einem finalen Toast aufraffte: Auf uns Männer und dass den Spaltenpissern – gemeint waren offensichtlich Elfi und seine drei Töchter – regelmäßig klar gemacht würde, wo dem Stier die Eier wuchsen.

Das war Weihnachten 2009. Ich hatte wenig Hoffnung, dass 2010 besser werden würde. Letztes Jahr war Beratungsstunde. Diesmal würde ich nicht so billig davonkommen. Nicht nur Old-Seizinger würde von mir Antworten haben wollen. Mir graute.

Und es blieb nur eine einzige Chance, diesem Zinnober zu entkommen.

KAPITEL 1

Der Geschmack in meinem Mund war fies. Gut, der Wecker hatte zu früh geklingelt. Und dass Tiefkühlpizza mit Zwiebeln und Thunfisch nicht an oberster Stelle der WHO-Liste für ausgewogene und bekömmliche Lebensmittel steht, muss seinen Grund haben. Die Hautfetzen waren es definitiv nicht, die mir wie immer nach dem Genuss besagter Pizza vom Gaumendach herabhingen. Auch hatte ich die Finger von Carolas Zigaretten gelassen. Dennoch spürte ich, dass an diesem frühen Morgen irgendwo zwischen Zungenspitze und Zäpfchen etwas in Maulwurfsgröße munter vor sich hinverweste. Außerdem war mein Mund irgendwie trocken und klebrig. So konnte ich das ganze Elend noch nicht einmal mit einer ordentlichen Portion Spucke herunterschlucken.

Die meisten Menschen hätten sich nun einfach die Zähne geputzt oder einen starken Kaffee gekocht und das Problem wäre erledigt gewesen. Nicht weiter erwähnenswert. In meinem Fall jedoch lagen die Dinge anders. Ich bin alles andere als ein abergläubischer Zeitgenosse. Ich würde mich als durchschnittlich sensiblen, weitgehend unreligiösen, den Naturgesetzen vertrauenden und im Großen und Ganzen klar denkenden Mittzwanziger beschreiben. Die Affinität meiner Mutter zu Sternzeichen war mir immer ein Gräuel. Freitag der Dreizehnte, wie auch immer gefärbte Katzen, homöopathische Zuckerstreusel und Glückskekse schwammen mir in völliger Gleichgültigkeit am Arsch vorbei.

Andererseits: Eine Marienerscheinung bleibt eine Marienerscheinung. Auch wenn man selbst der Einzige ist, dem sich die Gute offenbart hat.

In meinem Fall war es keine Marienerscheinung, sondern ein langer, schlecht schmeckender Pfad der Erkenntnis. Seinen Anfang nahm dies alles vor vielen Jahren. Damals war ich als Kind mit sieben Jahren im Auto eingeschlafen. Meine Eltern waren mit mir auf dem Weg in den Urlaub, nach Südfrankreich. Um Zeit zu sparen, hatte mein Vater einen McDrive angesteuert. Den Cheeseburger hatte ich fast auf, als mich schlagartig die Müdigkeit übermannte. Das Aufwachen war ein Albtraum. Den letzten Bissen hatte ich nicht heruntergeschluckt, sondern wie ein Hamster in einer Backe geparkt. Unbeschreiblich. Sechs minus. Tatsächlich erlitten wir noch in derselben Nacht einen Unfall. Eigentlich nur einen Auffahrunfall mit Blechschaden. Nicht aus Sicht meines Meerschweinchens. Es gab noch ein kurzes Quieken von sich, dann herrschte Ruhe. Meerschweinchenmäßig. Mir war klar, dass da was nicht stimmte.

Was, bitteschön, ein halbverdauter Käse-Fleisch-Brötchen-Klumpen und der Genickbruch eines Meerschweinchens infolge eines Autounfalls miteinander zu tun haben? Isoliert betrachtet nichts. Im Laufe der Monate und Jahre war mir aufgefallen, dass sich unliebsame Ereignisse durch eine unangenehm schmeckende Morgenstunde ankündigten. Ja, noch viel mehr. Ich vermochte eine direkte Korrelation herzustellen zwischen der Tragweite der Geschehnisse und dem Grad der vermeintlichen Fäulnis, den mir meine Zunge signalisierte.

Nun würde ich all diese Dinge normalerweise als Hokuspokus und Scharlatanerie abtun, aber es ist, wie es ist. Ich habe recherchiert. Die Römer analysierten den Vogelflug, die Inkas kauten Kokablätter und ein Stamm im Bergland von Papua-Neuguinea schart sich allmorgendlich lauthals debattierend um die mehr oder weniger lehmartigen Absonderungen ihres Häuptlings, um das Jagdglück für diesen Tag abzuschätzen. Ich hingegen sträubte mich bis heute gegen jede Art der Vorherbestimmung. Zeitweise ging ich so weit, eine Art Protokoll zu führen, das diesen Zusammenhang widerlegen sollte. Anfangs hatte ich mir noch die Mühe gemacht, nach geeigneten Adjektiven zu suchen. Irgendwann bin ich dann der Einfachheit halber auf Schulnoten umgestiegen. Das war wenigstens praktikabel.

Jenem 23. Dezember, dem Morgen nach der Tiefkühlpizza, hätte ich eine glatte Fünf verpasst. Vielleicht sogar eine Fünf minus. Das ist im Nachhinein schwer zu beurteilen. In keinem Fall aber schmeckte der Morgen nach einer Sechs. Schon gar nicht nach einer Sechs minus. Die war reserviert für ganz üble Geschichten. Todesfälle in meinem Umfeld und Havarien von Atomreaktoren.

Dass dieser Dezembertag eine Sechs minus war, hätte ich zu diesem Zeitpunkt niemals gedacht. Nicht, als ich meine Bettdecke zurückschlug.

Trotzdem. Mir blieb nichts anderes übrig, als aufzustehn, mir die Zähne zu putzen und eine Kanne Kaffee zu trinken.

Mit dem Kaffee in der Hand zog ich das Küchenrollo hoch. Der Blick auf die Straßenlaterne stimmte mich zufrieden. Ein typischer Dezembertag. Düster, grau und laut Vorhersage weitgehend niederschlagsfrei. Kein Schneegestöber, kein Eisregen, kein Problem. Gott sei Dank. Von meiner Wohnung in Milbertshofen brauchte ich unter normalen Bedingungen fünfundzwanzig Minuten bis zum Flughafen. Damit hatte ich immer noch eine gute halbe Stunde Luft, um meine Uniform anzuziehen, die vorgebundene Krawatte überzustreifen und Fittipaldi einzupacken. Das würde mich keine zehn Minuten kosten. Hatte ich getestet. Für den Fall der Fälle. Die Stunde Zeit, die mir nach einem Anruf blieb, galt für den Ernstfall. Und wenn man den Kollegen Glauben schenkte, war der gar nicht so wahrscheinlich. Sofern das Wetter mitspielte. Für gewöhnlich wurde man früher informiert.

Bis mittags geschah nichts. Ich saß da. Das heißt, natürlich saß ich nicht einfach nur da. Ich schlich um mein Mobiltelefon herum, in ständiger Angst, es könnte spontan ausgehen, das Netz zusammenbrechen oder ich das Klingeln überhören. Alle fünf Minuten prüfte ich das Display, ob alles stimmte. Ich war erst drei Monate bei der German Imperial und es kursierten Horrorgeschichten, dass man deswegen gekündigt werden konnte. Stichwort Probezeit.

Gegen neun schaltete ich zwischen Tasse 5 und 6 den Fernseher ein und blieb bei einem Zeichentrickfilm auf dem Kika hängen. Das Handy stand neben dem Bildschirm. Von der Sendung bekam ich nicht viel mit. Den Ton hatte ich so leise gestellt, dass man den Figuren schon vom Mund ablesen musste, um den Dialogen zu folgen. Eineinhalb Stunden später war mir auch das zu blöd geworden. Ich wagte mich an einfache Hausarbeiten. Zunächst befreite ich den Duschablauf von den Haarwickeln der letzten zwölf Monate. Man hätte daraus ohne Weiteres eine ansehnliche Puppenperücke flechten können. Dann machte ich mich mit einer Rasierklinge an den Kalkablagerungen unterhalb des Kloschüsselrands zu schaffen und taute schließlich mit Unterstützung eines Föhns das Eisfach ab. Der Vormittag verstrich und der Radius um mein Handy vergrößerte sich zusehends. Bis eins blitzten meine vierzig Quadratmeter. Die Kakteensammlung war gegossen und die Scheiben von Fittipaldis Terrarium waren so sauber wie noch nie. Mein Telefon jedoch blieb tot. Mausetot. So tot, dass ich mir ernsthaft Sorgen machte, ob es kaputt war. Allen Freunden hatte ich verboten, mich anzurufen. Für den nicht aufzuschiebenden Katastrophenfall hatte ich ihnen erlaubt, mir eine kurze SMS zu schicken. Offenbar hatten es alle kapiert. Aber ich traute dem Braten nicht. Ich warf mein Uralt-Laptop an und wartete darauf, dass der Computer das Netz fand. Es dauerte nicht lange, bis er sich mit Violoncella32 verband. Mir ein Rätsel, warum der Zugang nicht verschlüsselt war. Klar, es ist nicht okay, einen fremden WLAN-Zugang zu benutzen. Aber erstens hatte meine Nachbarin mit Sicherheit eine Flatrate und zweitens besuchte ich weder Kinderpornoseiten noch lud ich mir über ihren Account Anleitungen zum Bau von Sprengstoffgürteln herunter. Ich betrachtete es gewissermaßen als Ausgleich für das Gefiedel, wenn sie wieder einem dieser Schraazn Geigenunterricht gab. Und ich konnte mir einen eigenen Internetzugang sparen. Liberalitas Bavariae, unter uns Lateinern. Leben und leben lassen. Ich schrieb Benny eine Mail auf sein iPhone mit der Bitte, mir eine Test-SMS zu schicken. Es dauerte keine Minute, bis mir das vertraute Froschquaken den Eingang einer Kurznachricht ankündigte:

hallo. bleiben sie ruhig, es wird ihnen nichts geschehen. dies ist nicht ihr arbeitgeber und sie müssen auch nicht nach asarbaitschan fliegen. frohe weihnachten und dicke eier.

Dicke Eier. Wenn der wüsste. Ich hatte im Augenblick andere Sorgen.

Falls die Firma mich heute nicht rief, dann hätte ich morgen frei. Den 24. Dezember, Heiligabend. Frei. In Wirklichkeit: der unfreieste Mensch auf der ganzen Welt.

Sämtliche Kollegen hatten mir glaubhaft versichert, dass ein Standby-Block über Weihnachten mit meinem niedrigen Dienstalter eine Hundertprozentchance darstellte, das Fest in Karachi, Daressalam oder Winnipeg zu begehen. Flugziele, die schon außerhalb der Feiertagssaison nicht zu den Topfavoriten der Kollegen gehörten. Mir völlig egal. Alles, nur nicht zu Hause bleiben. Von mir aus auch Aserbaidschan.

Was erschwerend hinzukam: Ich hatte für keinen der Seizingers ein Geschenk besorgt. Gut, Carola und ich hatten ausgemacht, dass wir uns in diesem Jahr nichts schenken würden. Das galt aber nicht für den Rest der Familie. Niemand würde mir die Ausrede durchgehen lassen, dass ich am 23. Bereitschaft hatte und somit unmöglich Geschenke besorgen konnte. Natürlich würde Elfriede behaupten, alles wäre kein Problem, sie legten nicht den geringsten Wert auf Geschenke. Aber Carola würde keinen Hehl aus ihrem Zorn machen. Sie würde mich zuerst mit ihren Blicken töten und dann mit zwei Wochen Sexentzug bestrafen.

Mal wieder halt.

Mein Telefon blieb stumm. Stumm, wie nur ein Telefon stumm sein kann. Ich musste mich mit dem Gedanken anfreunden, das Heilige Fest im Hause Seizinger zu verbringen. Folglich mussten Geschenke her. Die Biografie irgendeines Politikers für Erwin, Musik-CDs für Judith und Carina und ... tja, das war die Frage. Was schenkt man einer Zweiundfünfzigjährigen, deren Hauptinteresse ihren drei Töchtern und deren Wohlergehen gilt?

In der Hoffnung auf eine göttliche Eingebung band ich meine Schnürsenkel. Kurz darauf stand ich vor meiner Wohnungstür. Ich hatte die Hand noch an der Klinke, als es mich wie ein Stromstoß durchfuhr: Es klingelte! Mit einer geschmeidigen Bewegung griff ich in die Tasche meines Parkas, nahm das Handy heraus und öffnete die Klappe. Ich presste das Gerät ans Ohr und brachte ein schnelles »Horst Hentschel« heraus.

Keine Antwort. Ich sah auf das Display. Tot. Offenbar war ich mit dem Ohr an den winzigen Schalter mit dem roten Telefon gekommen. Oh nein!Ich wollte gerade die Anrufliste aufrufen, da klingelte es erneut. Allerdings nicht das Handy. Diesmal kam das Klingeln aus meiner Wohnung. Ich nestelte an der Vordertasche meiner Jeans herum, bekam den Schlüssel zu fassen und bugsierte ihn erfolgreich ins Schloss. Mit einem Hechtsprung war ich beim Telefon. Leider war ich nicht der Einzige, der katzengleich reagierte. Während ich nach dem Hörer griff, sah ich ein graues Etwas, einem fliegenden Bettvorleger gleich, vom Treppenabsatz aus, mehrere Stufen gleichzeitig nehmend, an mir vorbei in die Wohnung zischen.

»Marlene, du Drecksvieh!«

»Wie bitte?«

»Oh!«

»Herr Hentschel, sind Sie das?«

»Äh, ja, Entschuldigung, ich habe bloß ...«

»Vollmer, Besatzungseinsatz. Guten Tag, wir hätten einen Flug für Sie. Haben Sie was zum Schreiben?«

»Kleinen Augenblick, bitte.«

Im Nu war ich in der Küche. Jetzt bitte nicht nur Köln hin und her. Mitten auf dem Tisch hatte ich Block und Stift platziert. Niemand sollte behaupten, ich hätte für meine Rettung nicht vorgesorgt.

»Okay, schießen Sie los.« Mit dem Fuß kickte ich Marlene weg, die mir mit hoch aufgerichtetem Schwanz um die Beine strich.

»Es geht mit der 362 nach Tokio, Abflug 1445 UTC, also gleich, und am 26. mit der 363 zurück, Landung um 1635 UTC. Und wie gesagt, es eilt. Eine Kollegin hat sich kurzfristig krankgemeldet. Briefing ist in fünfundvierzig Minuten.«

Das war knapp. »Alles klar, kein Problem!«, rief ich. Als ob Gefahr bestünde, dass es sich die Firma noch anders überlegen konnte.

»Danke, Herr Hentschel, und Frohe Feiertage.«

»Ihnen auch, danke!«

Ich blickte auf das Display. Die Verbindung war bereits unterbrochen.

»Jaaaaa!«, schrie ich laut, während ich unter effektvollem Arschgewackel einem brasilianischen Torschützenkönig gleich ins Schlafzimmer tänzelte und parallel meinen Parka auszog. Japan! Was für ein Traum! Erst am Sechsundzwanzigsten zurück! Familie Seizinger traditionell bereits auf dem Weg nach Südtirol! Keine Weihnachten, keine Geschenke!

Dafür Überstunden. Ich rechnete kurz nach. Tokio war einer der langen Flüge und gab hin und zurück über zwanzig Stunden Flugzeit. Damit hatte ich bestimmt zehn Überstunden. Und Spesen gabs für drei Tage. Geld, das ich nach dem Krater, den die Südostasienreise in meiner Finanzlandschaft hinterlassen hatte, gut gebrauchen konnte. Ich war völlig blank.

Doch zuvor gabs da noch ein Problem – und das war grau.

KAPITEL 2

Ich habe nichts gegen Katzen. Auch nicht, wenn sie der Nachbarin gehören. Marlene durfte früher sogar auf meiner Bettdecke schlafen. Als noch Frieden herrschte. Aber seitdem ich sie erwischt habe, wie sie Fittipaldi aus seinem Terrarium angeln wollte, stehen wir beide auf Kriegsfuß. Und jetzt hatte ich es eilig. Ich legte mich bäuchlings vors Bett. Marlene saß in der hintersten Ecke und glotzte mich mit ihren Perseraugen an. Das Biest wusste genau, dass es dort in Sicherheit war. Ich beschimpfte sie, ich drohte, doch nichts half.

Es gibt ein Mittel, das bei 95% aller Katzen außerordentliche Dienste leistet. Marlenes Pupillen weiteten sich. Ich stellte den Regler auf volle Wattzahl und schaltete den Staubsauger ein. Ein Getöse brach los, das den feistesten Säbelzahntiger aus seiner Höhle getrieben hätte. Ein Vorwerkmodell aus der guten alten Nachkriegszeit. Nix Flüstersauger. Der graue Blitz sauste auf demselben Weg davon, auf dem er gekommen war.

Acht Minuten später stand ich vor meiner Haustür und ging die Dinge durch, die ich vergessen haben konnte. Die Uniform am Leib, Geld und Ausweis in der Tasche, Fittipaldi in seinem Leinenbeutel und eine gehörige Portion seiner geliebten Mehlwürmer in der Schachtel. Alles andere hatte ich wohlweislich im Koffer verstaut.

Glücklicherweise stieg im Lift niemand zu. Sobald man eine Uniform anhat, verwandelt man sich automatisch in eine öffentliche Person. Selbst die eigenen Hausbewohner zögern dann nicht, saudämliche Fragen zu stellen. Ich hätte es unbehelligt bis zu meinem Auto geschafft, wäre da nicht der Briefträger gewesen. Keine Ahnung, weshalb er erst nachmittags um halb drei seine Arbeit verrichtete. Ich hoffte inständig, dass er sich auf seine Briefe konzentrieren würde.

»Ah, der Herr Kapitän. Habe die Ehre. Wohin geht die Reise denn heute? Paris, London, New York?«

»Tokio, Herr Postoberrat«, sagte ich so kurz angebunden wie irgend möglich, »und zwar furchtbar eilig«.

»Das glaube ich gerne. Aber doch sicher nicht ohne dies hier!«

Er hielt mir einen großen, weißen Umschlag vors Gesicht.

»Ein Einschreiben, für Herrn Horst Herbert Hentschel persönlich, hiermit übergeben.«

Ich ließ meinen Pilotenkoffer fallen, griff nach dem Kuvert und klemmte es unter meinen Kofferarm. Nicht ohne zuvor den Absender gewürdigt zu haben.

»Ein Servus noch, bitte sehr, Herr Kapitän.« Der Postmann hielt mir den kleinen Plastikstift hin. Ich kritzelte meine Unterschrift auf das Display.

»Danke schön, danke sehr, und grüßen Sie mir Japan.«

»Geht klar, mach ich. Frohe Weihnachten!«

Wenn mich mein Zeitgefühl nicht trog, dann konnte es kaum mehr als eine halbe Stunde sein bis zum Briefing.

Mein Gepäck landete im Kofferraum, den Umschlag schleuderte ich auf den Beifahrersitz. Kurz darauf bogen Fittipaldi und ich in die Moosacher Straße.

»Nee, oder? Das find ich jetzt echt beschissen. Wie kann denn das sein, dass jemand sich so kurz vorher krankmeldet? Das weiß ich doch vorher, wenn's mir nicht gutgeht!«

Carola was not amused. Im Gegenteil. Sie war auf hundertachtzig oder, um bei den in diesem Fall viel passenderen anglo-amerikanischen Ausdrücken zu bleiben: Carola was pissed. Und zwar gründlich.

Ich hingegen bemühte mich um Schadensbegrenzung.

»Keine Ahnung, versteh ich auch nicht.«

»Aber die müssen dir doch irgendwas gesagt haben!«

»Dass sich eine Kollegin kurzfristig krankgemeldet hat. Ja.«

»Und sonst nichts?«

»Nein, ist ja auch egal. Hör mal, Carola, um das Warum ...«

»Das kann dir doch unmöglich egal sein! Es geht um Weihnachten. Nur weil irgendeine Scheiß-Stewardess keinen Bock hat, an Weihnachten zu fliegen.«

Ich überlegte, was ich darauf antworten sollte.

»Wahrscheinlich hast du noch nicht mal nachgefragt, warum ausgerechnet du jetzt fliegen musst, oder?«

»Ich bin in der Probezeit, Carola.«

»Weißt du was? Du hast dich mal wieder nicht getraut, den Mund aufzumachen. Die hätten dich auch für ein halbes Jahr auf den Mond schicken können. Und du hättest es mit dir machen lassen. Wann immer es um was geht, dann zieht mein toller Freund den Schwanz ein.«

»Carola, das ist doch Quatsch ...«

»Und was ist danach? Kommst du mich wenigstens in Sterzing besuchen?«

»Ich weiß noch gar nicht, wie es weitergeht. Ich meld mich bei dir, sobald ich ...«

»Verstehe, ist schon klar. Also dann, schöne Weihnachten, und wir sehen uns vielleicht nächstes Jahr. Ciao.«

Aufgelegt.

Ich wusste, dass ich mir jedes weitere Wort sparen konnte. Wie so häufig in letzter Zeit, war ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Für gewöhnlich kam ich mit ihrer Impulsivität ganz gut zurecht, aber in manchen Situationen war an Carola nicht ranzukommen.

Schade, ich hätte ihr zumindest noch ein Frohes Fest gewünscht. Ich würde ihr aus Japan eine SMS schreiben. Bis nach meiner Tour würde sie sich beruhigt haben. Wenn sich der erste Sturm gelegt hatte, würde ihr klar werden, dass ich nichts dafürkonnte.

Ich schaltete das Autoradio an.

Mir gingen Carolas Worte nicht aus dem Kopf: »Wann immer es um was geht, dann zieht mein toller Freund den Schwanz ein.« Das hatte sie gesagt.

In diesem Satz steckte sehr viel von dem, was unsere Beziehung ausmachte. Es lief nicht rund.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mein Handy verkrampft festhielt. Ich seufzte und legte es zu dem Umschlag auf dem Beifahrersitz.

Nichts an dem Umschlag war ungewöhnlich. Ein stinknormaler, weißer DIN A 4 Umschlag. Nichts deutete daraufhin, dass dieser Brief mein Leben ändern sollte. Bis auf den Absender vielleicht: Notariat Bender und Smoltaczek. So wie es meine Oma vor ihrem Tod angekündigt hatte.

Manchmal frage ich mich, wie sich die Dinge entwickelt hätten, hätte ich die Zeit gehabt, den Brief gleich zu öffnen. Wenn ich nicht weggeflogen wäre. Nina nicht kennengelernt hätte. Schwer zu sagen. Manchen Sachen sieht man ihre Bedeutung nicht an.

KAPITEL 3

Ein Briefing ist eine komische Sache. Besonders dann, wenn man als Letzter erscheint. Zwölf Menschen hocken auf Stühlen ringsherum an den Wänden und schauen dich an. Manche mögen das nicht. Sie kommen möglichst früh, um dem zu entgehen. Für mich stellte sich diese Option nicht. Weder heute noch sonst. Ich hatte meistens Probleme damit, überhaupt rechtzeitig zu erscheinen, so dass ich fast immer die Tür hinter mir schloss.

Artig begann ich meine Begrüßungsrunde. Beginnend mit der P2 wiederholte ich gebetsmühlenartig »Topsi, hallo« und hatte den Namen desjenigen, dem ich mich soeben vorgestellt hatte, schon wieder vergessen, als ich die nächste Hand schüttelte. Mit Namen bin ich schlecht. Gesichter kann ich mir locker merken, aber Namen sind für mich dermaßen flüchtig, dass Carola mich oft fragt, ob ich mich nicht bereits auf der Zielgeraden zur Frühdemenz befinde.

Zwei Dinge waren mir bereits am ersten Tag meines Grundlehrgangs aufgefallen: Die German Imperial Airlines war die Firma des Händeschüttelns und der Abkürzungen. An beides hatte ich mich schneller gewöhnt, als ich dachte. Am hilflosen Blick meiner Freunde erkannte ich, dass ich ihnen wieder zu viele Buchstaben und Zahlenkombinationen um die Ohren gehauen hatte.

Der oder die P2, P steht für Purser, zu deutsch verantwortlicher Flugbegleiter, hebt sich durch die 2 vom P1 ab, ebenfalls ein Purser, aber eine Stufe niedriger. Ihre Aufgabe ist es, den Flugbegleitern gehörig den Marsch zu blasen. Der P2 ist der Offizier, der seinen Feldwebel, den P1, wissen lässt, was er seinen Soldaten, also uns Flugbegleitern, mitzuteilen hat. Manchmal tut er das auch auf direktem Wege. Unsere P2 hieß Ingeborg Meyer-Küthke, stammte aus Bamberg und war eine echte Dame.

»So, ihr Lieben, nachdem wir jetzt komplett sind. Eins vorweg. Wollt oder besser müsst ihr alle nach Tokio, oder hat sich jemand verirrt?« Schweigen und Kopfschütteln. »Gut, dann legen wir los, bevor gleich die Cockpit kommt. Für alle, die mich noch nicht kennen, ich bin die Inge.«

Das Briefing lief ab, wie Briefings so ablaufen. Zuerst wurden die Arbeitspositionen verteilt. Da ich als Dienstjüngster sowieso das nehmen musste, was übrig blieb, konnte ich mich entspannt zurücklehnen. Plötzlich fiel mir der Umschlag wieder ein. Er ruhte noch immer unangetastet in meinem Pilotenkoffer. Ich würde also frühestens während meiner Pause dazukommen, ihn zu öffnen. Meine Großmutter hatte zu ihren Lebzeiten nicht nur einmal erwähnt, dass Dr. Smoltaczek sich um das Erbe kümmern würde, wenn sie »einmal nicht mehr sei.« Und jetzt war es so weit. Ich hatte an jenem Tag noch mit ihr telefoniert. Sie klang quietschfidel und schien sich zu freuen, dass ich sie besuchen kam. Wie jeden Donnerstag. Zwei Stunden später war sie tot. Ihre Nachbarin, die ihr die Tageszeitung bringen wollte, hatte sich noch gewundert, dass sie nicht aufmachte. Sie ist mit dem Ersatzschlüssel rein. Meine Oma saß in ihrem geliebten Sessel. Den Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass sie nicht mehr lebte. Selbst die Fernsehzeitung lag noch auf ihrem Schoß. Als ob sie gerade eingeschlafen sei. So war es vermutlich auch. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass ...

»Okay, Horst, dann bleibt für dich die 4R, ja?« Inge sah mich über ihre rahmenlose Brille hinweg an.

Ich nickte lächelnd. »Ja, klar, gerne.«

Es muss bescheuert geklungen haben. Die Hälfte der Crew lachte.

»Na, dann sind ja ganz offensichtlich alle happy.« Sie blickte in die Runde. »Wie sieht's mit medizinischen Vorkenntnissen aus? Ist jemand vorbelastet? Ex-Sanitäter oder Krankenschwester?«

Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Kollegin neben mir zu Wort meldete. »Ich war mal Hebamme. Das ist zwar schon über zehn Jahre her, aber wenn es nicht gerade eine Steißlage ist, kriegen wir das schon hin. Fahrradfahren und Kinder zur Welt bringen verlernt man angeblich nicht.«

»Sehr schön, gut zu wissen.« Inge nickte Helga freundlich zu. »Sonst noch jemand?« Nach einer Pause fuhr sie fort. »Wir haben heute nämlich laut meinen Unterlagen keinen Arzt an Bord. Das muss zwar nichts heißen, aber eventuell müssen wir uns im Fall des Falles selbst helfen. Lasst uns ganz kurz zusammen durchsprechen, wie wir vorgehen. Angenommen, wir kommen zu einem Gast, der zusammengekauert in seinem Sitz hockt. Was machen wir zuallererst?«

Keine 15 Minuten später nahm ich in der hintersten Reihe des Busses Platz, der die Crew zum Flugzeug bringen würde. Ich hatte mein Telefon in der Hand und überlegte, ob ich Carola nochmal anrufen sollte. Sie würde sich bestimmt nicht melden, soviel war klar. Ich bin der deutlich Harmoniebedürftigere von uns beiden und kann es nicht ausstehen, im Streit auseinanderzugehen. Es blieb ein fader Nachgeschmack. Auf der anderen Seite: Was hätte ich ihr sagen sollen? Dass es mir leid täte, sie alleinzulassen? Um eine bescheuerte Antwort einzukassieren?

Das Beste wäre gewesen, ihr einfach Frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, dass ich sie liebhatte.

KAPITEL 4

Seit unserem Start in München waren zwanzig Minuten vergangen. Während Sarah, Nina, Miriam und ich die Getränkewägen aufbauten, kümmerte sich Attila um die heißen Essen. Dem Geruch nach würde unser Sprüchlein heute lauten: »Would you like chicken or pasta?«

Wir standen in der hinteren Flugzeugküche, nur durch eine Wand von der Passierkabine getrennt. Der Fahrtwind, das Rauschen der Klimaanlage und das turbinenartige Pfeifen der Umluftöfen vereinigten sich zu einem Geräuschpegel, der sich wie ein schützender Kokon um alles Gesprochene legt.

»Sag mal, Topsi, woher kommt eigentlich Topsi? Auf der Crewliste heißt du Horst-Herbert.« Sarah sah mich fragend an. Mit ihren hervortretenden Augen und dem blassen Teint erinnerte sie mich an meine Englischlehrerin. Rotblonde Haare und das Klischee wäre perfekt.

»Horst-Herbert, ja. Ich weiß schon, ist nicht der Brüller. Den Spitznamen Topsi hab ich von meinem Onkel. Der kam eines Tages zu Besuch. Da war ich ungefähr zwei und er meinte zu mir: Na, Tropi, du bist aber ganz schön groß geworden. Und ich hab dann geantwortet: Ich bin nich der Topsi, ich bin der Orsti. Meine Eltern fanden das so witzig, dass sie bei Topsi geblieben sind.«

»Und warum sagte dein Onkel Tropi zu dir?«

»Mein Onkel war ein ganz Lustiger. Und die ganz Lustigen haben damals nicht geplante Kinder so bezeichnet. Tropi steht für trotz ... Pille.«

»Verstehe. Aber vielleicht solltest du deinem Onkel dankbar sein. Topsi klingt zwar auch nicht suuper-sexy, aber besser als Horst-Herbert ist es allemal.«

»Also ich finde Topsi gar nicht so schlecht. Klingt doch nett. Nicht so seriös wie Horst-Herbert.« Nina lächelte mich an. Ich lächelte zurück.

Ich hatte diese Gespräche schon so häufig erlebt, dass ich sie in- und auswendig kannte. Einig waren sich alle immer darin, dass Horst-Herbert Hentschel ein echter Scheißname ist. Horst-Herbert heißen nur Männer, die als Ehefrau eine Nordhold oder Edelgard abbekommen. Typen, die stellvertretender Schriftführer im Taubenzüchterverein sind und einmal im Jahr an der Für Sie-Leserreise auf die Blumeninsel Madeira teilnehmen, nachdem sie sich vorher im ADAC-Laden mit kostenlosen Straßenkarten eingedeckt haben. Horst-Herbert – schlimmer wäre nur noch Karl-Ingo gewesen. Gesprochen mit doppeltem G. Keine Ahnung, was meine Eltern damals geritten hat. Vermutlich war es ihre Rache an dem ungewollten Störenfried gewesen. Dafür, dass ich sie aus einer sorglosen Pärchenzeit und Reisen quer durch Europa mit ihrem Bully herausgerissen und in ein kleinbürgerliches Familiendasein gezwungen hatte. Horst-Herbert klingt wie der Spacko, der sich am Morgen nach einem Fest über die sumpfigen Reste in den Biergläsern hermacht, ohne zu merken, dass gut die Hälfte als Aschenbecher missbraucht worden ist. Horst-Herbert ist die gescheiterte Existenz, die nach einer Superzeit in einer balinesischen Hippie-Kommune nicht mitbekommen hat, dass Aussteigen nur als junger Mensch cool ist und der nun als Mittfünfziger im Krankenhaus Bettpfannen von Hand auswischen darf. Weil er den Absprung ins Establishment nicht rechtzeitig geschafft hat.

»So viel korrekter hört sich Topsi aber auch nicht an«, bemerkte Attila.

Na Bravo!, dachte ich. Fehlte bloß noch, dass Miriam ihren Senf dazugab. Doch Miriam sortierte Zuckertütchen in den Getränkewagen.

Stattdessen kam mir Sarah zu Hilfe: »Attila Huber würde ich mich auch nicht taufen lassen, wenn ich es mir aussuchen könnte.«

»Warum denn nicht? Das hat wenigstens einen internationalen Touch. Attila Huber, damit hast du in einem Namen den gesamten Spannungsbogen der Kulturen mit drin. Wie eine Brücke zwischen Okzident und Orient, verstehst du?« Der Deutsch-Türke stand breitbeinig da und gestikulierte mit der Rotweinflasche, die er gerade öffnen wollte. Er grinste Sarah an. Mit seinem Mongolenbart und dem kurzen Zopf war er definitiv viel mehr Attila als Huber.

»Ja klar, Spannungsbogen. Verstehe!«, erwiderte Sarah. Aber es waren nicht ihre Worte, die mich aufmerken ließen. Vielmehr war es eine Geste, die ich beinahe übersehen hätte, weil ich mich schon wieder Attila zuwandte. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie sich Sarahs Backe zweimal kurz wölbte, weil sie von innen mit ihrer Zungenspitze dagegen drückte. Attila wandte sich seinen Weinflaschen zu. Das war auch besser so, denn die Touristenklasse war im Gegensatz zum Rest des Fliegers gut besucht. Inge hatte uns nicht umsonst zu fünft nach hinten geschickt.

Sarah und Miriam würden zusammen den einen Gang übernehmen, Nina und ich den anderen. Attila war die Galleymaus. Als solche würde er sich in der Bordküche um die Essen und den Nachschub kümmern, wenn wir draußen bei den Gästen waren und etwas brauchten. Ich hatte auf meinen wenigen Flügen gelernt, dass der Service je nach Besetzung dieser Position mehr oder weniger glatt lief.

»Hey, Mann, du weißt schon, dass du ganz schön Dusel gehabt hast?« Attila knallte die Weinflaschen auf den Wagen.

»He?«

»Weil du dich hier bei uns frei bewegen kannst. In der Business herrscht ne andere Temperatur. Dort müsstest du immer hübsch mit dem Rücken zur Wand.«

Bevor ich etwas darauf antworten konnte, war Sarah zur Stelle: »Wer weiß, vielleicht steht er ja drauf. Ich hab vor kurzem gelesen, dass jeder vierte Hetero-Mann grundsätzlich an Sex mit anderen Männern interessiert ist.«

»Wo hast du denn den Scheiß her? Das kann doch nur aus irgendeiner Homozeitschrift stammen«, schoss Attila zurück. »Von den Jungs in meinem Freundeskreis ist definitiv niemand zum Afterboarding bereit.«

»Pssst, leiser!« Nina hatte den Finger auf den Mund gelegt. Vergeblich. Attila und Sarah waren nicht zu bremsen.

»Nee, so war das auch nicht gemeint. Es stand auch drin, dass die Männer das lediglich dann machen würden, wenn sie den aktiven Part übernehmen dürften. Also immer schön die Kontrolle behalten, weißte.« Sarah war vor dem Getränkewagen in die Knie gegangen, um eine Colaflasche herauszuholen. Sie blickte mich mit rollenden Augen an.

»Na, Topsi, keine Lust? Wir binden Attila auf dem Essenswagen fest und du ...«

»Ach nee, lass stecken ...«