Abgetaucht! - André Storm - E-Book

Abgetaucht! E-Book

André Storm

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Beschreibung

Wer kann am längsten die Luft anhalten? Ein Wagen samt Insassen versinkt im Dortmunder Phoenix-See. Unter ihnen Privatdetektiv Ben Pruss, der sich gerade noch retten kann – im Gegensatz zum Brauerei­besitzer Paul Alt­hoeffer. Für die Polizei ist es ganz klar ein tragischer Unfall, aber bei Ben und seiner Auftraggeberin, der frischgebackenen Witwe Lina Althoeffer, regen sich Zweifel. Hatte es jemand auf den Bierbrauer abgesehen, der bei seiner gewaltigen Körperfülle niemals aus der Luxuskarosse hätte flüchten können? War vielleicht einer der gierigen Erben zu ungeduldig, endlich sein Erbteil einzusacken? Ein Krimi aus der Bier-Stadt Dortmund, in dem nicht nur Autos absaufen. Privatdetektiv Ben Pruss muss höllisch aufpassen, denn er stellt fest, dass es viele Arten des Ertrinkens gibt.

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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Vorhang zu!

Licht aus!

André Storm (Pseudonym), geb. 1974, ist Profizauberkünstler aus Hamm in Westfalen. Seinen »ordentlichen« Beruf hat er schnell abgelegt, und er freut sich noch heute jeden Tag, dass er das Studium zum Elektroingenieur rechtzeitig abgebrochen hat. Sein Schreibtalent nutzte er in den letzten Jahren dafür, in seinen Shows »Helden« auf die Bühne zu bringen, denen man ihre Heldenhaftigkeit auf den ersten Blick nicht unbedingt ansehen kann. Sein Krimidebüt Vorhang zu! erschien 2020, Licht aus! folgte 2021. André Storm ist verheiratet und hat zwei Kinder. www.andre-storm.de

André Storm

ABGETAUCHT!

Kriminalroman

Originalausgabe

© 2022 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von © Siwakorn - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-610-3

E-Book-ISBN 978-3-95441-620-2

Für Sophie, Laura, Max und Lina

INHALT

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

EPILOG

DANKSAGUNG

PROLOG

Der dunkelblaue Mercedes GLS beschleunigt, obwohl in diesem Moment eine Gruppe festlich gekleideter Menschen die Straße am Avo & Cado in Richtung Phoenix-See überquert.

»Mann, Henry«, raunzt der dicke Mann auf dem Beifahrersitz. Es klingt wie ein feuchtes Bellen, und er streicht sich mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. »Fahr der alten Erlbeck bloß nicht den Hintern ab!« Er deutet einen Blick über die rechte Schulter an, doch sein Körper ist zu massig, um die Fußgängertruppe ein zweites Mal mit den Augen zu erhaschen. »Die macht mir die Hölle heiß, wenn was an ihren albernen Jackie-Kennedy-Hut kommt!« Er gibt einen vergnügten Grunzlaut von sich.

Aber Henry zeigt keine Reaktion. Er sieht nur kurz in den Rückspiegel, wobei sein Blick für einen Moment den von Ben trifft. Mit dem stimmt doch was nicht, denkt der, nicht zum ersten Mal an diesem Tag.

»Den nennt man Pillbox-Hut, du Schlauberger!«, sagt die Frau, die neben Ben im Fond des Wagens sitzt.

Bens Körper wird zur Seite gedrückt, als das Auto mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit nach rechts zur Kaipromenade abbiegt. Die Reifen des nachtblauen SUV touchieren den Bordstein auf der linken Fahrspur. Mit einem knarzenden Geräusch lenkt Henry das Fahrzeug zurück in die Spur. Ein entgegenkommender UPS-Wagen blendet zwei Mal kurz auf, als der Mercedes fast dessen Stoßstange touchiert.

»Alles klar mit Ihnen, Henry? Gehen Sie lieber etwas vom Gas«, sagt die Frau neben Ben.

»Alles klar, Frau Althoeffer«, gibt Henry zurück, ohne etwas an seiner Geschwindigkeit zu ändern. »Ich glaube, ich hab mir was eingefangen«, fügt der Fahrer hinzu und hustet pflichtschuldig auf seinen Handrücken.

»Dann machen Sie gleich aber Feierabend und legen sich hin.«

»Lassen Sie uns an der Apotheke raus«, sagt der Mann auf dem Beifahrersitz und zeigt zu dem Gebäude auf der rechten Seite. »He! Halt!«, ruft er, als der Wagen, anstatt zu bremsen, beschleunigt und in die verkehrsberuhigte Zone rauscht.

Ein Fahrradfahrer kann sich gerade noch retten und droht dem Mercedes mit hochgereckter Faust. Ben sieht ihm durch das Seitenfenster nach, dann dreht er den Kopf in Fahrtrichtung und erkennt, dass der See viel zu schnell näher kommt. Der Bootsanleger, an dem einige kleine Segelboote vertäut sind, ist höchstens noch siebzig Meter entfernt.

»HEY!«, rufen Ben und der Beifahrer gleichzeitig, und Letzterer setzt ein atemloses »Henry. Verdammt!« hinzu, während er schwerfällig ins Lenkrad fasst.

In diesem Moment rollen die Vorderreifen über die Betonkante auf den Holzbohlensteg. Ein Geräusch wie ein Kreischen, als der Unterboden des Mercedes den grauen Stein schleift. Ben nimmt das nur am Rande wahr, doch er sieht genau, dass der Kopf des Fahrers herabhängt und schlaff in jede Richtung schlingert. Der Wagen bricht nach rechts aus und verliert buchstäblich den Boden unter den Reifen. Das tonnenschwere Blechmonster bekommt Schlagseite und kippt in den See.

Bens rechte Kopfseite schlägt gegen das geschlossene Seitenfenster, und während der Schmerz aufbrandet, sieht er, dass das Tageslicht einer vollkommenen Schwärze Platz gemacht hat. Er hört ein Tosen, und ein Teil seines Gehirns will glauben, dass das Geräusch aus dem Radio kommt. Sein Körper wird aus dem Sitz gehoben und gegen die Seite der Tür gedrückt. Dann rutscht er in Richtung Dach. Das tobende Wasser und die Schreie verbinden sich zu einem einzigen ohrenbetäubenden Dröhnen.

Ben denkt: Da kommt Wasser aus der Lüftung. Er denkt: Wir müssen raus. Er denkt: Fenster! Und dann schreit er: »Fenster! Macht die Fenster auf. Schnell!« Und seine Hand sucht den Knopf des Fensterhebers. Findet ihn über sich, wo er nicht hingehört. Das Fenster bewegt sich nicht. Und die Frau schreit: »Es geht nicht! Es geht nicht auf!« Und dann schreit sie: »Henry! Henry!« Und Ben sieht den wolkenverhangenen Himmel. Die Welt ist verschwunden, und nur der Himmel ist noch da. Das kalte Wasser tränkt seine Kleidung. Er kniet auf der Wagentür. Ist nicht mehr angeschnallt, obwohl er sich nicht daran erinnern kann, den Gurt gelöst zu haben. Die Frau fällt hart auf ihn. Sie zerquetscht ihn fast. Ihre Arme wirbeln wild umher.

Der Mann auf dem Beifahrersitz schreit panisch: »Der Gurt geht nicht auf, ich bekomme den Gurt nicht auf, Lina!« Und sie schreit: »Paul! Paul, bleib ruhig und versuch es weiter!«

Ben denkt: Ich brauche einen Stein! Und fast möchte er lachen, als es ihm in den Sinn kommt. Er hat einen Stein. Von diesem bekloppten neuen Zaubertrick. Er greift nach unten oder zumindest dorthin, wo in einer normalen Welt unten ist, und findet seine Requisitentasche. Die liegt nach wie vor im Fußraum, als ginge sie die ganze Angelegenheit nichts an. Er zieht den Reißverschluss auf und tastet darin herum. Der SUV, der eindeutig nicht für diese Art offroad geeignet ist, scheint sich stabilisiert zu haben. Aber das Wasser steigt und steigt. Er sieht, dass der Schaltknüppel kurz davor ist zu ertrinken. Paul hat seinen Oberkörper aus dem Gurt befreit und krallt sich an Henrys Bein fest. Der ist damit beschäftigt, an seiner Nackenstütze rumzufummeln. Ben bekommt den Stein zu fassen. Ein Pflasterstein. Liegt gut in der Hand. Er zieht sich nach oben, greift mit der Linken den Haltegriff auf Linas Seite und schlägt mit der Rechten den Stein auf die Scheibe. Henry hämmert gleichzeitig mit der Metallhalterung der Nackenstütze auf sein eigenes Seitenfenster ein.

Die Scheiben bersten fast gleichzeitig. Das Wasser bedankt sich, indem es Sekunden später mit aller Gewalt die neu geschaffenen Schleusen flutet. Ben wird zurück in den Wagen geschleudert. Ihm geht die Luft aus. Er spürt die Tritte und Schläge, die von Linas Kampf um die Freiheit auf ihn einprasseln. Wo ist das offene Fenster? Dann ein Schlag. Der Wagen hat den Grund erreicht. Linas Bewegungen stocken schlagartig. Er drückt sich an ihr vorbei, findet den Weg ins Freie. Dann greift er durchs Fenster zurück ins Wageninnere. Spürt Haare, Linas Kopf. Er bekommt ihren Oberarm zu greifen und zieht daran. Zwingt ihren Körper durch das Loch in der Tür.

* * *

Er hat das Gefühl, die Luft sehen zu können, doch er kann nicht atmen. Gleich wird er bewusstlos, versinkt wieder. Dann strömt sie in seine Lungen. Sie hat den Weg von selbst gefunden. Röchelnd und hustend reißt er Linas Kopf über die Wasseroberfläche. Dann wird er von hinten gepackt. Er verliert Lina. Jemand zieht ihn. »NEIN! LINA!«

»Alles ist gut«, hört er eine keuchende Stimme hinter sich. »Wir haben sie.«

Er setzt sich auf. Spürt weder Nässe noch Kälte. »Lina?«, ruft er und sieht sie regungslos am Ufer liegen.

Zwei Frauen sind über sie gebeugt. Er blickt zur Wasseroberfläche. In der Sekunde taucht der Rücken eines Menschen auf. Es ist Henry, der Unglücksfahrer. Der Mann, der schon ihn aus dem Wasser gezogen hat, springt erneut in den See und zieht auch Henry ans Ufer. Da sind viele Helfer.

»Da ist noch jemand drin!«, schreit Ben und zeigt auf das Wasser, das muntere Wellen ans Ufer treibt und schon fast vergessen hat, was eben passiert ist.

»Da ist noch jemand drin!« Hilflose Blicke treffen ihn von allen Seiten. Er rennt zum Wasser, muss wieder da rein. Jemand zieht ihn zurück, und er hat keine Kraft, dagegen anzugehen.

KAPITEL 1

Ben trat einen Schritt näher an die Menge heran. Ein schwarzer, trauriger Halbkreis aus Menschen. Manche musterten ihn. Manche lächelten milde. Eine bedeutete ihm, in die vordere Reihe zu treten. Lieber wäre er ein Stück weiter hinten geblieben. Lina, auf der anderen Seite, drehte sich in seine Richtung. Er hatte das Gefühl, ihre Blicke fingen sich. Doch durch die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille waren ihre Augen nicht zu sehen. Lieber mal nicken. Keine Regung von ihrer Seite.

Fast schüttelte es ihn beim ersten Anblick nach über einer Woche. Er hatte nur eine Nacht im Krankenhaus verbringen müssen. Zur Beobachtung. Außer einem fiesen Husten, der nach drei Tagen urplötzlich verschwand, hatte er sich nichts eingefangen. Sie hatte länger bleiben müssen. Von Henry, dem Chauffeur der Familie, dem Mann, der den Unfall ausgelöst hatte, war nichts zu sehen. Ben hatte läuten gehört, dass der immer noch im künstlichen Koma auf der Intensivstation lag.

Weiß behandschuht und mit Zylindern auf dem Kopf erschienen vier Gestalten auf dem Weg, der zur Leichenhalle führte. Zwei rechts, zwei links, trugen sie einen dunkelbraunen Sarg. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als sie ihn würdevoll neben der ausgehobenen Grube auf einem vom Regen getränkten Stück Kunstrasen abstellten. Dann deuteten sie eine Verbeugung an und reihten sich seitab nebeneinander auf. Wie auf Kommando setzte ein ergiebiger Nieselregen ein. Bens Gesicht war binnen Sekunden feucht, doch er unterdrückte den Drang, die Nässe abzuwischen.

Ein unaufhörlich in die Runde nickender Glatzkopf, komplett in Schwarz gekleidet, kam nun ebenfalls den Weg entlang. Der Trauerredner. Seine erste Ansprache in der Trauerhalle hatte Ben versäumt, weil er den letztmöglichen Zeitpunkt zum gerade noch rechtzeitig ankommen verpasst hatte. Der Lautsprecher gab ein dreifaches Plopp von sich, als der Redner das Standmikrofon einschaltete. Er nickte ein weiteres Mal sanft in jede Richtung, und in der Sekunde, in der sich sein Mund öffnete, ertönte ein schmissiges »ZEHN NACKTE FRISÖSEN … ZEHN NACKTE FRISÖSEN …«.

Ben blickte irritiert in die Runde. Alle anderen taten es ihm gleich. Das war mal ein fancy Klingelton! Niemand machte Anstalten, dem Lärm Einhalt zu gebieten. Wieso guckten die in seine Richtung? Als Micky Krause bei »… MIT RICHTIG FEUCHTEN HAAREN!!!« angekommen war, registrierte er, dass seine Hose den Mallorcahit in die Welt synthesizerte.

»Ich bring dich um, Kai Siebert«, zischte Ben durch die geschlossenen Lippen und versuchte möglichst unauffällig, den dämlichen Knopf auf dem Handy zu finden, der den Klingelton stoppte. »Ich schwöre dir, ich bring dich um!«

Kai hatte ihm vor ein paar Wochen eine App – oder was auch immer – aufs Handy gespielt, mit der er in der Lage war, von seinem eigenen Mobiltelefon aus, Bens Signaltöne beliebig auszutauschen. Zehn nackte Frisösen war nach Atemlos durch die Nacht und Sieben Fässer Wein bisher der größte Klopper. Und das an einem Tag, wo der Sack genau wusste, dass Ben auf der Beerdigung von Paul Althoeffer war. Das würde nicht ungestraft bleiben!

Ben hauchte Lina ein stummes »Tut mir leid« entgegen und zog die Schultern hoch. Er spürte den enttäuschten Blick unter ihren dunklen Brillengläsern.

Der Redner räusperte sich und setzte ein zweites Mal an: »Paul hat mir gesagt, er wünscht sich auf seiner Beerdigung ’n bisschen Pep! Den hat er ja wohl jetzt bekommen! Auch wenn ihm Lena Valaitis sicher besser gefallen hätte!«

Ein leises Lachen ging durch die Menge, und Ben überlegte, ob es möglich war, dass ein Kopf vor Scham platzte.

»Paul«, hob der Redner an. »Natürlich komme ich gerne deinem Wunsch nach, es an deinem Grab ein bisschen kürzer zu halten. Paul, wir wünschen dir, dass es da, wo du jetzt bist, genügend Bier gibt. Und hoffentlich auch dein gutes Althoeffer Pilsken …«

Zahlreiche Taschentücher wurden rechts und links gezückt. Ben selbst hatte keins dabei. Im Notfall musste das Revers seine Jacketts dafür herhalten, doch noch war es nicht so weit.

»Und weil du zu Lebzeiten mit Rosen nichts anzufangen wusstest, wollen wir auch heute nicht damit anfangen … Du bekommst die feinsten Hopfenblüten mit in dein Grab, mein Lieber. Wir danken dir dafür, dass es dich gab.« Er machte eine kleine Pause, bei der er sich etwas vom Mikrofon abwendete, bevor er weitersprach: »Prost, mein Lieber!« Er trat zur Seite, woraufhin die Sargträger erneut zum Einsatz kamen und den Sarg mithilfe von dicken Tauen ins Grab hinabließen.

Ben hatte in den letzten Wochen bei den Roadshows zum 250. Jubiläum, bei denen er als Zauberkünstler gebucht war, ein freundliches Verhältnis zu Paul Althoeffer aufgebaut. Chef der Althoeffer Brauerei, die seit 1771 in Dortmund ansässig und seitdem immer in Familienbesitz gewesen war. Da Ben dem Gerstensaft seit seinem letzten Fall, der Sache mit Richard von Dauss, Tabbart Lauber und Kalle Bengel im Frühjahr ohnehin stärker zugeneigt war als sonst, hatte er sich über die Tatsache gefreut, dass es – zusätzlich zur üppigen Gage – zwei Kästen Bier pro Auftritt obendrauf gab. Acht Auftritte in den letzten zwei Monaten. Machte insgesamt zwölf Kisten Bier. Wenn man die vier abrechnete, die Ben und Kai schon plattgemacht hatten. Der krönende Abschluss sollte die Veranstaltung am vergangenen Dienstag auf dem Gelände der Brauerei gewesen sein. Vor dem letzten, wirklich allerletzten Programmpunkt, dem Meet-and-Greet auf der Kulturinsel auf dem Phoenix-See, hatte Paul Althoeffer für den ultimativen Verschwindetrick gesorgt, und niemand würde mehr über Bens Tricksereien reden.

Er kam an die Reihe. Nahm eine Handvoll Hopfenblüten, blieb einige Sekunden still vor dem rechteckigen Erdloch stehen und warf sie auf den Sarg. Dann führten seine Füße ihn zur Familie, und er stellte sich brav in die Reihe, um Hände zu schütteln. Erst Pauls Söhnen Patrick und Mauritz. Mauritz’ Kindern Jara und Miko – eigentlich große Zauberfans – zwinkerte er zu. Daneben stand Romy, die Ehefrau von Mauritz. Gemurmelte »Es tut mir so leid!« und »Herzliches Beileid« lagen in der Luft.

Neben Patrick stand eine winzige, alte Frau, deren schrumpelige Hände zitterten, als hätte ein Witzbold die Griffe ihres Rollators an eine Autobatterie angeklemmt. Das musste Pauls Mutter sein. Paula. Den Namen konnte man sich merken. Ben hatte sie noch nie gesehen, aber sie war in jeder Festtagsrede von Paul Althoeffer präsent gewesen. Sie hatte das Unternehmen nach dem Tod ihres Mannes geführt und die Geschäftsleitung erst mit über siebzig an ihren Sohn abgegeben. Angeblich hatte Paul bis zuletzt jede Entscheidung, die Brauerei betreffend, mit ihr absprechen müssen – eine Anekdote, die bei den Zuhörern oft Gelächter und munteres Kopfnicken ausgelöst hatte.

Als Letztes kam Lina Althoeffer an die Reihe, die Ehefrau von Paul. Die Frau, die bei der Unglücksfahrt zusammen mit Ben auf dem Rücksitz des Mercedes gesessen hatte. Sie lächelte ihn knapp, aber versöhnlich an. Er hatte vor ein paar Tagen nur einmal kurz mit ihr telefoniert und wurde seitdem das Gefühl nicht los, dass sie Geschwister im Geiste waren. Ein Gefühl, das er Henry gegenüber nicht hegte. Lina hatte ihm erzählt, dass der Chauffeur wahrscheinlich einen plötzlichen Ohnmachtsanfall gehabt und damit den ganzen Schlamassel ausgelöst hatte. Sie hatte Schlamassel gesagt. Ben fielen passendere Wörter ein.

Paul Althoeffer war immer noch angeschnallt gewesen, als Taucher ihn eine Stunde später bargen. Er hatte sich offenbar an Henry festgekrallt, dafür sprachen Kratzspuren an dessen linkem Bein und die Tatsache, dass er dort weder Schuh noch Socke trug und das Hosenbein über den Fuß gezogen war. Die Gedanken an den Todeskampf, den beide am Grund des Sees ausgefochten haben mussten, schlichen sich seitdem in Bens Träume.

»Bleiben Sie bitte noch hier, Ben?«, fragte Lina, die mit beiden Händen seine Rechte ergriffen hatte.

»Ich muss …«, begann er, doch sie unterbrach ihn.

»Auf einen Kaffee. Bitte. Ich muss was mit Ihnen besprechen.«

* * *

Ben kannte die geltenden, wenn auch ungeschriebenen Regeln eines Leichenschmauses im Ruhrgebiet. Zumindest, wenn der Verblichene schon an der Siebzig gekratzt hatte. Die Trauergäste setzten sich schweigend, mit betretenen Mienen an die lange Tafel, die, je nach finanzieller Situation, mit weißer Papier- oder Stofftischdecke bedeckt war. Eine üppige Kellnermannschaft schaffte Tabletts mit Streuselkuchen und mit Gürkchen verzierten Käse- und Wurstbrötchenhälften ran. Der Kaffee aus silbernen Kannen schmeckte, als wäre er bereits zu Lebzeiten des Verstorbenen gebrüht worden. Nach dem ersten Stück Kuchen stieg langsam die Stimmung. Heldentaten des Verstorbenen wurden zum Besten gegeben und unterdrückte Lacher waren zu hören. An dieser Stelle entschied es sich: Gingen die Ersten und alle anderen folgen kurz darauf – oder gab es Bier? Letzteres war bei Brauereibesitzer Paul Althoeffers Beerdigung obligatorisch. Frisch gezapft und nahezu zeitgleich mit dem Kaffee fanden das Bier reißenden Absatz.

Auch Ben dachte, dass so ein Pilsken trotz der frühen Stunde schmackhaft sein könnte. Aber er blieb standhaft. Schließlich war er mit dem Auto gekommen, und er verteufelte sich schon genug dafür, dass er jede Woche fast eine Kiste erledigte. Und die drei Pullen von gestern Abend pulsierten noch hinter seinen Augen. Aber seit sich Tabbart Lauber, der feiste Rechtsanwalt der Familie von Dauss, mit dem er es in seinem letzten Fall zu tun bekommen hatte, wegen Bens Ermittlungen auf der Flucht befand, war sein Schlaf miserabel geworden. Die Polizei hatte es bis heute nicht geschafft, seiner habhaft zu werden. Man vermutete ihn irgendwo im Ausland, von wo er Ben und seinem Mitbewohner Kai seit Monaten liebevolle Todesdrohungen in Form von Anrufen, E-Mails oder SMS zukommen ließ. Tabbart Lauber war zu Bens Schwarzem Mann geworden. Zu dem Monster unter seinem Bett, vor dem er zum letzten Mal mit acht oder neun Jahren Angst gehabt hatte. Und Hopfen half da. Zumindest bis drei oder halb vier morgens, bis Bens Gehirn entschied, dass es Zeit war, sich die Art und Weise, wie Lauber sich an ihm und Kai – vielleicht schon heute – rächen würde, in bunten Bildern vorzustellen.

Ben nahm auf dem letzten Stuhl an der langen Tafel Platz, die sich wie ein überdimensionales U durch den Saal zog. Direkt neben der Tür, auf der ein goldener Aufkleber darauf hinwies, dass sich dahinter das WC befand. Das Pinkelstein-Aroma, das sich sogleich um ihn schmiegte, sorgte für den letzten Beweis. Er legte das labberige Salamibrötchen, in das er mehr aus Reflex als aus Appetit gebissen hatte, zurück auf den Teller. Es schmeckte nach alter Clownsnase.

»Herr, äh, Pruss.«

Er blickte auf. Ihm gegenüber saß eine Frau, die er bisher nicht beachtet hatte. Jetzt erkannte er, dass es die Sekretärin von Paul Althoeffer war. Wie hieß die noch? Gerber? Gröber? »Ach, hallo«, sagte er und biss schnell doch noch einmal von der Clownsnase ab. Mit vollem Mund sollte man ja bekanntlich nicht reden.

»Ich hab Sie erst gar nicht erkannt. Ich hab meine Brille nicht dabei …«

Ben fiel es wieder ein. Sie hatte bei den Veranstaltungen immer gleich zwei Brillen an goldenen Kettchen auf dem Bauch hängen gehabt, von denen sie aber möglichst keine benutzte. Ein weiteres Indiz für ihre Eitelkeit war die Föhnfrisur. Die Haarpracht schien aus einem einzigen Block zu bestehen, der wochenlang jedem Wind und Wetter trotzen mochte und täglich sicher eine halbe Stunde an Wartungsarbeiten benötigte.

»Machen Sie sich keine Sorgen.«

Da sie keine Anstalten machte weiterzureden, sah Ben sich genötigt zu antworten: »Nein, nein … Worüber denn?« Die gummiartige Masse in seinem Mund schien sich zu vervielfachen.

»Die letzte Rechnung ist ja noch nicht bezahlt. Aber die werde ich nächste Woche sofort anweisen.«

Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Seit die ersten Rechnungen bezahlt waren, war sein Konto deutlich im Plus. Ein Umstand, der wie jedes Mal dazu geführt hatte, dass Ben seine Finanzen komplett aus dem Bewusstsein gestrichen hatte. »Da mache ich mir keine Sorgen«, sagte er und lächelte.

»Und ich hab den Fahrer angewiesen, Ihnen noch mal acht Wochen lang jeweils zwei Kisten zu liefern.«

Was hatte sie gesagt? Noch mal sechzehn Kisten? Wenn es jetzt aus seinem Handy Zehn nackte Frisösen schallte, würde er aufstehen und ein kleines Tänzchen vollführen. Aber Kai Siebert war nicht auf Zack, wenn man ihn brauchte. »Aber das ist doch nicht nötig«, log er. »Vielen Dank. Das Bier ist wirklich toll!«

»Aber nicht, dass Sie mir zu viel davon trinken«, sagte sie milde lächelnd und hob einen Zeigefinger.

»Nein, nein«, versprach er und log damit erneut. Wie sollte man nicht zu viel trinken, wenn man jede Woche zwei Kisten frei Haus bekam, man mit seinem besten Kumpel in einer Jungs-WG wohnte und das Versprechen, schon ganz bald brutal ermordet zu werden, ständig über einem schwebte? Er würde sich auf dem Rückweg gleich noch mit Kopfschmerztabletten eindecken.

Eine Frau trat von hinten an Frau Gerber/Gröber heran, legte ihr eine Hand auf die Schulter und begann zu reden. Von der Seite war erst mal Ruhe angesagt. Der perfekte Zeitpunkt, das Weite zu suchen. Gerade als er sich erheben wollte, fiel sein Blick unwillkürlich auf Lina Althoeffer, und er erinnerte sich daran, dass sie mit ihm sprechen wollte. Sie saß am Kopf des Us, direkt vor einer Fensterfront aus Buntglas, auf der verschiedene Szenen aus dem Brauereileben dargestellt waren. Ein aus Zinn aufgelöteter Spruch verkündete: Edles Bier, du tust mir gut. Gibst mir Zuversicht und Mut. Sie war in eine Unterhaltung mit Pauls Sohn Mauritz vertieft, der neben ihr saß. Mauritz war so was wie ein Althippie. Graue Mähne, die nur entfernt nach Frisur aussah. Er trug einen schwarzen Cordanzug und ein rotes Hemd mit breitem Kragen. Neben ihm auf der anderen Seite saß seine Frau Romy, die bemüht war, ihre Kinder davon zu überzeugen, dass man nicht unbedingt gleichzeitig denselben Filzstift zum Malen brauchte. Das Paar gab ein merkwürdiges Bild ab. Mauritz war ein dürrer Riese mit tief zerfurchtem Gesicht. Auch sein stachelig verluderter Räuberbart konnte die Falten nicht verstecken. Romys Haut hingegen war rosa, zart und so gespannt, dass man sich fast darin spiegeln konnte. Ihre langen, wellig-braunen Haare sahen immer etwas angeklatscht aus. Sie war nicht mal einen Meter sechzig groß, dafür mangelte es ihr eindeutig nicht an Breite. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, hätte Ben schwören können, sie sei Paul Althoeffers Schwester. Umfang und Größe ließen auf denselben Genpool schließen. Zudem trugen beide ihre Haare lang, und selbst die Haarfarbe stimmte. So konnte man sich täuschen. Erst als Romy ihm zuwinkte, merkte er, dass er sie anstarrte. Er mühte sich ein sanftes Lächeln ab und nickte ihr zu. Doch damit war die Sache nicht aus der Welt. Sie stand auf und machte Anstalten, zu ihm zu kommen. Zum Glück verbot sie es den Zwillingen, ihr zu folgen, die sich wie auf Knopfdruck ebenfalls von ihren Stühlen erhoben hatten.

»Ach, Ben, gut, dass ich Sie noch treffe, dann brauche ich Sie nicht anzurufen.« Sie tätschelte Frau Gerber/Gröber, die immer noch im Gespräch war, im Vorbeigehen den Rücken und lächelte sie abwesend an. Sie lief um den Tisch herum, umrundete Bens Stuhl und legte ihm beide Hände von hinten auf die Schultern. Dann beugte sie sich mit ihrem Mund zu seinem linken Ohr. Ben, der zu einer Salzsäule erstarrt war, spürte den heißen Atem am Ohr, als sie flüsterte: »Wegen Freitag.«

Hatte sie das wirklich gesagt? Was, wegen Freitag?

»Äh«, antwortete er knapp, und sie ruckelte leicht an seinen Schultern, als ließe sich damit sein Erinnerungsvermögen wachrütteln.

»Kindergeburtstag«, hauchte sie, und da fiel es Ben wieder ein. Klar, er war am Freitag als Zauberer für den neunten Geburtstag von Jara und Miko gebucht. Ach ja, und am Samstag hatte ihn Patrick für irgendeinen Herrenabend oder so was engagiert. Na, das würde wohl alles ins Wasser fallen. Zum Glück.

»Jaja«, antwortete er. »Klar. Fällt aus.«

Jetzt schlug sie ihn sanft mit der rechten Hand. »Ach, Ben. Nein, natürlich nicht«, sagte sie in einer Tonlage, die sich nicht fürs Flüstern eignete. »Die Kinder freuen sich total, ich kann den Kindergeburtstag nicht absagen. Außerdem brauchen die beiden Abwechslung. Die haben ihren Opa schließlich vergöttert.«

Na, dachte Ben. Sollte ihm auch recht sein. »Okay«, sagte er. »Bleibt es bei fünfzehn Uhr?«

»Herr Pruss, tststs …«, flötete sie, und langsam wurde Bens Ohrmuschel nicht nur wärmer, sondern auch feuchter. Er unterdrückte den Drang, sich zu schütteln. »Wir haben nie von fünfzehn Uhr geredet. Wir machen eine Pyjamaparty, weil ich vorher noch Frühdienst habe. Die Show soll so gegen achtzehn Uhr dreißig stattfinden. Das haben Sie wohl vergessen.«

Nie gewusst, träfe es eher, dachte Ben. Aber irgendwie klingelte es bei ihm. Die Frau redete eindeutig zu viel. Sie quetschte mit ihren Händen seine beiden Schultern und redete wieder. »Aber kommen Sie gerne schon um vier, Ben, dann können Sie mit den Kindern schon Kaffeeklatsch machen. Und nach der Show wollen wir grillen. Da sind Sie natürlich auch herzlich eingeladen.«

Klar, dachte Ben. Den Fehler würde er garantiert nicht machen. Das würde nur darauf hinauslaufen, dass er die Kinder die ganze Zeit bespaßen durfte. Nicht mit ihm. »Ich komme so früh wie möglich«, versprach er. »Ich hab aber vorher noch einen Termin und …« Er tat so, als dächte er angestrengt nach. »Und nachher leider auch.«

»Wir freuen uns auf Sie«, hauchte Romy, tätschelte ein letztes Mal Bens Schultern und ließ von ihm ab.

Er atmete tief durch und erhaschte dabei Linas Blick, die im Vorbeigehen kurz zu Romy rüberlächelte und dann ihrerseits zu Ben kam. Sie tätschelte ihn nicht an, sondern setzte sich auf einen frei gewordenen Stuhl neben ihm. Ben fielen die Augenringe auf, die jetzt, da sie die Sonnenbrille abgenommen hatte und die Schminke durch die Tränen abgewischt war, deutlich sichtbar wurden. Schon bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Wochen hatte er gedacht, dass sie und ihr jetzt verstorbener Ehemann Paul merkwürdig nebeneinander aussahen. Sie war zierlich, dabei groß gewachsen, elegant und stets auf ihr Äußeres bedacht. Deutlich jünger war sie auch, höchstens fünfzig. Paul hingegen war der hemdsärmelige Typ gewesen, untersetzt und übergewichtig, mit langen, braunen Haaren, die von seiner hohen Stirn wallend in den Nacken gefallen waren und meistens etwas fettig gewirkt hatten.

»Können wir uns kurz unterhalten, Ben?«, fragte sie.

»Aber klar«, antwortete Ben, der froh um jede Sekunde war, die er früher hier wegkam.

Sie wollte etwas sagen, hielt kurz inne und schlug vor: »Vielleicht gehen wir kurz raus.« Sie drehte sich um und deutete auf eine unbeschriftete Seitentür, durch die bisher nur das Personal aus und ein gegangen war.

»Gerne«, sagte Ben, der nicht sicher war, ob das Wort passte. Er erhob sich vom Stuhl, als ein Mann von der Seite auf Lina zutrat. Mit seiner Nickelbrille, dem schwarzen, dreiteiligen Anzug mit Einstecktuch und Taschenuhr an Goldkette war er derjenige, der am feierlichsten gekleidet war.

»Frau Althoeffer«, sagte er mit leiser Stimme und hielt seine rechte Hand in ihre Richtung ausgestreckt.

»Herr von Dunnwitz«, sagte Lina und rang sich ein Lächeln ab. Sie ergriff seine Hand, und er sagte: »Ich hatte eben keine Gelegenheit … Mein herzlichstes Beileid, Frau Althoeffer. Paul war einer meiner ältesten Klienten.«

»Danke, vielen Dank«, sagte Lina, und Ben hatte das Gefühl, sie versuchte, ihre Hand aus seiner zu lösen. Doch noch ließ er sie nicht frei.

»Sie können sicher sein, dass ich mich auch um all Ihre Belange kümmere …«

»Jaja, vielen Dank«, sagte Lina, deren Lächeln eingefroren wirkte. Sie riss ihre Hand los und schnappte sich ihre Kaffeetasse vom Tisch, die sie entschlossen mit beiden Händen vor den Bauch hielt. »Ich melde mich dann bei Ihnen.«

»Erst melde ich mich, meine Liebe«, sagte Herr von Dünnpfiff oder wie der noch mal hieß, und – Ben dachte, er sähe nicht richtig – zwinkerte ihr zu. Lina beließ es bei einem Nicken, wandte sich wieder Ben zu und ließ den Ich-kümmere-mich-um-all-ihre-Belange-Typ einfach stehen. »Wollen wir?«, sagte sie.

Hinter der Tür befand sich die für Ruhrpottkneipen obligatorische Kegelbahn. Ein düsterer, schmaler und langer Raum, dessen unzählige Zinnteller an den Wänden und verstaubte Pokale auf unter der Decke angebrachten Regalbrettern von Kegelmeisterleistungen der vergangenen Jahrtausende erzählten. Das einzige Licht fiel aus zwei Buntglasfenstern in den Raum, hinter dem sich der beleuchtete Toilettengang erstreckte. Wer hier eine Kugel schieben wollte, war erst mal gezwungen, Getränkekisten und offene Umzugskartons mit Weihnachtsdeko wegzurücken.

»Ich wollte Ihnen noch einmal persönlich danken, Ben. Sie haben mir das Leben gerettet«, begann Lina.

Er hatte so einen Gesprächseinstieg befürchtet. Wenn sie jetzt noch anfing zu weinen, würde er Herrn von Dünnpfiff rufen müssen. Tatsächlich erschienen Tränen in ihren Augen, und anstatt wegzurennen, vollführte Bens Körper halbautomatisch eine Kaskade an Bewegungsabläufen, die nacheinander ein Umarmen, ein Schulterklopfen und ein Kopfstreicheln andeuteten, ohne seinem Gegenüber näher als dreißig Zentimeter zu kommen. »Das musste getan werden«, hörte er sich sagen, und wenn jetzt zufällig eine Kegelkugel vor seinen Kopf flog, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt.

Sie lachte. Dann nahm sie einen Schluck Kaffee, wohl um zu verdeutlichen, dass sie die Tasse nicht nur zur Zierde bei sich trug. »Kalt schmeckt er noch schlimmer als lauwarm«, sagte sie. Dann stellte sie die Tasse auf der Ecke eines Colakastenstapels ab. »Ich wollte auch nicht weiter darauf rumreiten, keine Angst. Ich muss mit der ganzen Situation erst mal klarkommen. Meine Gedanken kreisen auch immer um Henry.«

»Verständlich«, meinte Ben.

»Ja, aber nicht nur, weil er im Krankenhaus liegt.« Sie machte eine Pause und sagte dann: »Sie sind doch auch Privatdetektiv, Ben.«

»Äh. Ja.« Er würde sich nie an das Gefühl gewöhnen, das ihn überkam, wenn jemand »Privatdetektiv« zu ihm sagte.

»Ich möchte Sie engagieren.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte, dass Sie sich die Sache mit dem Auto noch mal genauer ansehen. Ich glaube, das war nicht einfach ein Unfall.«

»Mmh«, machte Ben und zog die Stirn kraus. »Das müssen Sie mir näher erklären.«

»Kommt es Ihnen nicht komisch vor, dass Henry, ein gesunder, junger Mann, plötzlich einfach so bewusstlos wird?«

Ben ließ sich Zeit mit der Antwort. »Komisch kommt es mir schon vor. Allerdings habe ich mich erkundigt und erfahren, dass so etwas gar nicht mal so selten vorkommt. Gerade bei jungen Männern übrigens. Das kann die unterschiedlichsten Ursachen haben. Einen Herzfehler zum Beispiel. Und Henry ging es an dem Tag ja ziemlich schlecht, das konnte man eindeutig sehen.«

»Ohne Zweifel. Die Frage ist nur, warum es ihm schlecht ging. War er wirklich körperlich krank oder hatte er wegen etwas anderem Stress?«

»Zum Beispiel, weil er geplant hatte, das Auto in den See zu fahren, meinen Sie?«

»Zum Beispiel.«

»Aber er ist ja nun mal selbst fast dabei draufgegangen. Und vielleicht passiert das wirklich noch.«

»Ich weiß. Aber vielleicht ist der Plan schiefgegangen? Er hat eben nicht damit gerechnet, dass mein Mann … dass Paul …« Sie machte eine kurze Pause, nachdem sie den Namen ausgesprochen hatte, und blinzelte einige Male schnell hintereinander. »Dass er sich an ihm festkrallt.«

Ben nickte. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich das so direkt sage, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Mann sich aus dem Auto hätte befreien können, war relativ gering. Dass Sie und ich rauskommen, war auch nicht zu hundert Prozent sicher. Gerade, weil das Auto seitlich in den See gefallen ist. Wenn ich den Pflasterstein nicht dabeigehabt hätte …« Er ließ den Satz unvollendet, und Lina nickte. Dann redete er weiter: »Aber ich gehe nicht davon aus, dass Henry mich beseitigen wollte. Er hat ja bis kurz vor der Abfahrt an der Brauerei nicht mal gewusst, dass ich mitfahren würde. Also müssen wir annehmen, dass Henry einen Anschlag gegen Ihren Mann oder Sie oder gegen Sie beide geplant hatte. Aber was sollte sein Motiv gewesen sein? Wird er irgendwas erben? Oder hätte er was von Ihnen geerbt?«

»Von mir bestimmt nicht.« Sie stieß ein freudloses Lachen aus. »Und von meinem Mann? Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Das Testament wird erst nächste Woche eröffnet.« Sie deutete mit ihrem Daumen zur geschlossenen Tür. »Das war eben übrigens Hillwig von Dunnwitz. Der Rechtsanwalt und Notar meines Mannes.«

»Der, der sich um all Ihre Belange kümmern wird«, sagte Ben, und Lina lächelte.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Ich mag ihn nicht besonders. Und finden Sie nicht, dass er wie das perfekte Klischee eines Notars aussieht?«

Ben nickte. Der Typ sah schon von Weitem so nach Rechtsanwalt aus wie Ben nach Zauberer, wenn er mit Zylinder, Zauberstab und Kaninchen hier aufgekreuzt wäre.

»Bei dem liegt jedenfalls das Testament«, fuhr Lina fort. »Dann werden wir bald erfahren, ob Henry was geerbt hat. Mein Mann hat ihn erst im Frühling als Chauffeur eingestellt, weil er seinen Führerschein abgeben musste.« Sie zog die Mundwinkel nach unten, bevor sie weitersprach: »Alkohol am Steuer … Er war eben ein guter Kunde seiner eigenen Firma.« Dann, nach einer kleinen Pause: »Mein Mann mochte Henry, glaube ich. Aber dass er so einen Narren an ihm gefressen hat, um ihn im Testament zu bedenken und es ihm dann auch noch zu sagen, das glaube ich nicht.«

»Können Sie sich einen anderen Grund vorstellen?«

»Keinen Schimmer. Ich hab mir schon den Kopf zerbrochen.« Sie schüttelte den Kopf. »Deshalb komme ich ja zu Ihnen.«

»Lina«, begann er zaghaft. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da helfen kann. So ganz überzeugt bin ich ehrlich gesagt nicht. Ich …« Er machte eine Pause und überlegte. In den letzten Tagen hatte er auf YouTube alles zum Thema »Auto fährt in einen See« angesehen und sich über eine Sache gewundert. Bei den meisten Autos in den Videos funktionierte der elektrische Fensterheber noch eine ganze Weile problemlos. Die waren allerdings nicht, wie der Mercedes, seitlich ins Wasser gefallen, sondern aufgerichtet hineingefahren. Er hatte sich damit begnügt anzunehmen, dass es einen Kurzschluss gegeben hatte, als das Auto im Wasser lag und zwei Türen komplett untergetaucht waren.

Oder war der elektrische Fensterheber für die hinteren Sitze abgeschaltet gewesen? Das erklärte aber nicht, warum auch Henrys Fenster sich nicht mehr hatte bedienen lassen.

Lina ließ Ben Zeit, seinen Gedanken zu Ende zu bringen. Dann sagte sie: »Es gibt noch eine Merkwürdigkeit. Und ich finde, dass es mehr als nur merkwürdig ist.«

»Und das wäre?«

»Vor zwei Wochen hat Henry mich gefahren. Als ich ins Auto eingestiegen bin, lag auf dem Beifahrersitz so ein gelbes Dings, das ich noch nie gesehen hatte. Ich hatte es erst gemerkt, als ich mich draufgesetzt hab.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab es ihm in die Hand gedrückt und ihn gefragt, was das denn sei. Er hat nur gesagt, ein Werkzeug fürs Auto, und hat es mir aus der Hand genommen.«

»Ja, und was war es?«

»Das wusste ich bis vorgestern auch nicht. Und die ganze Sache ist mir überhaupt erst wieder nach dem Unfall in den Sinn gekommen. Wegen dem Schriftzug, der auf dem Teil stand.«

»Der da wäre?«

»RESQME.« Sie buchstabierte das Wort. »Also wie Rescue me, rette mich. Das ging mir die letzten Tage nicht mehr aus dem Kopf, und ich hab das mal gegoogelt. War nicht schwer zu finden. Das Ding war ein Nothammer, um im Notfall eine Scheibe einzuschlagen. Einer, den man sich an den Schlüsselbund hängen kann.«

* * *

»Ich wusste nicht mal, dass es so was gibt«, fuhr Lina fort, nachdem sie Bens skeptischen Blick aufgenommen hatte. »Und jetzt frage ich Sie, wofür braucht man einen Nothammer im Auto?« Sie machte eine vielsagende Geste mit den Händen. »Und eins noch«, fügte sie rasch hinzu. »Er hat das Teil genommen und links unter dem Lenkrad in so ein kleines Fach gesteckt. So eins mit Deckel.«

»Okay.« Ben rieb sich mit Daumen und Zeigefinger das Kinn. »Aber wenn er einen Nothammer im Auto hatte, warum hat er dann mit der Nackenstütze auf das Fenster eingeschlagen?«

»Sehen Sie?«, gab sie als Antwort.

Ben überlegte eine Weile, dann sagte er: »Vielleicht wollte er, für den Fall, dass doch jemand überlebt, und die Wahrscheinlichkeit ist ja durch meine Anwesenheit noch mal gestiegen, es möglichst echt aussehen lassen?«

»Das ist mir auch in den Sinn gekommen. Oder bin ich jetzt komplett irre?«

Ben zog sich einen Holzstuhl unter dem Tisch hervor, an dem irgendwann mal die Kegelbrüder gesessen hatten, und ließ sich darauf fallen. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Vielleicht sollte man da wirklich mal ein bisschen genauer hinsehen.«

KAPITEL 2

Bens Tageshonorar lag bei 500 Euro plus Spesen, was deutlich unter dem lag, was andere Privatdetektive verlangten, aber schließlich hielt er sich immer noch für einen Anfänger. Ein Zeichen, dass an dieser Einschätzung was dran war, war die Tatsache, dass er keine genaue Vorstellung davon hatte, wie er jetzt vorgehen sollte. Das war bei einem Ehegatten, der fremdging, leichter. Wie konnte er etwas über Henry herausfinden, ohne Staub aufzuwirbeln? Lina hatte ihm sagen können, welches Fitnessstudio Henry besuchte (er hatte es ihr gegenüber mal erwähnt, als sie sich bei einer Fahrt über das Thema unterhalten hatten), aber sie kannte weder seinen Nachnamen noch seine Adresse. Das werde sie schon rausfinden, hatte sie Ben versichert. Mal sehen, ob er nicht schneller an die Informationen rankommen würde. Aber erst mal war etwas anderes wichtiger.

»Alter!«, schrie er in Richtung Couch. Die genau richtige Dosis Rage hatte er problemlos zwischen Wohnungstür und Wohnzimmer aufgebaut und war bereit, jemandem gehörig in den Hintern zu treten. »Bist du eigentlich vollkommen bescheuert? Du wusstest doch ganz genau, dass ich auf einer Beerdigung bin! Zehn nackte Friseusen? Ich glaube, es hackt! Die wollten gerade den Sarg in die Grube lassen, da fängt der Scheiß an, und alle haben geglotzt, als hätte ich mir die Hose runtergezogen.« Er hob drohend den Zeigefinger und trat einen Schritt näher an die Person auf der Couch heran, deren unterdrücktes Lachen sich mit jedem von Bens Worten mehr und mehr in ein ungezügeltes Kichern verwandelte. »Das hast du zum letzten Mal gemacht, Kai Siebert. Sonst reiße ich dir den Arsch auf! Aber richtig! Was machst du da überhaupt wieder für einen Scheiß?« Er machte Anstalten, auf den Laptop auf Kais Oberschenkeln zu blicken.

Der klappte das Gerät schnell zu und stellte es neben sich auf die Couch. »Geht dich gar nichts an!«, rief er und gab sich Mühe, ernst zu klingen. Sie blickten sich einige Sekunden wortlos an, dann prusteten sie los. Kai verprügelte kichernd seinen Schenkel, während Ben sich vor Lachen krümmte und auf den Sessel fallen ließ. Fast hatten sie sich beruhigt, als Kai ein weiteres Mal atemlos »Zehn nackte Friseusen …« hauchte und damit den Lachanfall erneut entfachte.

»Wow, das tat gut«, sagte Ben kurze Zeit später, als aus beiden nur noch vereinzelte, erschöpfte Gluckser kamen. Ben zog die Nase hoch und wischte sich, zum zweiten Mal heute, aber diesmal aus anderen Gründen, mit dem Revers die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Oh Mann … Aber ehrlich … Du musst das sein lassen. Ich hab jetzt wieder einen Job. Lösch das!« Er fingerte das Handy aus seiner Hosentasche und hielt es seinem Mitbewohner hin.

Der machte keine Anstalten, das Handy an sich zu nehmen. »Da kann man nichts löschen. Das ist eine Sicherheitslücke. Nicht sehr nützlich, aber lustig. Wird bestimmt in irgendeinem der nächsten Updates behoben.«

Ben verzog skeptisch den Mund und steckte das Mobiltelefon zurück in die Hosentasche. »Dann lass es aber trotzdem!«, befahl er und wusste, dass er genauso gut fordern konnte, dass Kai sich Engelsflügel umschnallen und durch die Thier-Galerie tanzen sollte.

»Neuer Job?«, fragte Kai und nahm den Laptop zurück auf seinen Schoß, wie ein Kind sein Kuscheltier.

»Zauberei oder das andere?«

»Das andere«, gab Ben zurück. »Die Frau von dem Althoeffer hat mich eingestellt, weil ich mir die Sache mit dem abgesoffenen Auto mal genauer angucken soll. Die meint, da wäre vielleicht irgendwas nicht ganz sauber.« Ben gab seinem Freund die wichtigsten Fakten.

»Mmmh«, meinte Kai, als Ben geendet hatte. »Ist schon ein bisschen merkwürdig, wenn das mit dem Nothammer stimmt. Warum sollte jemand, der einen Nothammer hat, die Scheibe mit der Nackenstütze einschlagen?«

»Ja. Aber keine Ahnung, ob das stimmt. Vielleicht wollte sie mich damit auch nur ködern. Wäre natürlich gut, wenn ich das checken könnte. Aber ich weiß gar nicht, wo die Karre jetzt steht.«

»Widliczek«, antwortete Kai knapp.

»Widli … was?«

»Widliczek«, sagte Kai erneut. »Der schleppt für die Bullen und die Feuerwehr hier in Dortmund die Autos ab. Bestimmt steht die Karre noch auf seinem Hof. Der ist direkt an der B 236, wenn du Richtung Phoenix-See fährst.«

* * *

Ben parkte seinen rostroten Ford Fiesta, den sein Kumpel Uwe im letzten Monat ein weiteres Mal durch den TÜV gemogelt hatte, direkt neben dem Firmengelände auf einem Grünstreifen. Er stieg aus und vollführte seine obligatorische Geste – sich zu allen Seiten umsehen. Danke, Tabbart Lauber, und danke, Kalle Bengel, für das bisschen Paranoia in meinem Leben, dachte er. Durch den grünen Metallzaun war das Grundstück einzusehen. Er blickte auf eine unüberschaubare Zahl Fahrzeuge jeden Alters und jeden Zustands. Die abgewrackte Schrottkarre genauso wie der nagelneue Porsche. Ben ging am Zaun entlang in Richtung Zufahrt, ohne den Mercedes zu entdecken. Er hatte Kais schnell geschossene Information ungefragt für bare Münze genommen und dabei nicht bedacht, dass der dazu neigte, Dinge ganz-genau-zu-hundert-Prozent-das-kann-gar-nicht-anders-sein zu wissen, die sich hinterher als pure Fantasie herausstellten.

Dann sah er ihn. Der Mercedes sah aus, als bräuchte er nichts weiter als ein paar neue Scheiben und ein Lotus-Clean-Waschprogramm. Er stand auf dem gegenüberliegenden Teil des Platzes. Ben würde durch die Einfahrt hindurch und am offiziellen Eingang und vielen Bürofenstern vorbeimüssen. Rein und wieder weg. Simpel, beherzt und mannhaft. Nicht nach links und rechts schauen, einfach geradeaus. Die einfachsten Pläne waren die besten und außerdem …

»Hey! Sie da!«, ertönte eine Stimme hinter ihm, und Bens Beherztheit und Mannhaftigkeit verpuffte wie drei Tropfen Sprit in einem Sechszylinder.

Ben drehte sich um und setzte sein freundlichstes Lächeln auf. ENTwaffnen, bevor sich überhaupt jemand BEwaffnen konnte. »Guten Tag«, sagte er und blickte einem bulligen Kerl in die Augen, aus dessen ölbeschmiertem Blaumann-Overall man problemlos eine Hängematte für ihn und Jenny hätte schneidern können.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Bulle, sah Ben mit eher mittelmäßigem Interesse an und fummelte eine kleine, schwarze Schnupftabakdose aus der Brusttasche.

»Ja also, wissen Sie, es ist so«, begann Ben, ohne an seinem Lächeln zu rühren. »Ich bin in der letzten Woche mit dem Auto da vorne …« Er deutete in die entsprechende Richtung, was der Bulle nicht mitbekam. Der war damit beschäftigt, einen ordentlichen Priem Schnupftabak in die Daumengabel seines Handrückens zu schichten. »… also mit dem Mercedes in den Phoenix-See gefahren. Und jetzt liegt da noch was von mir drin, was ich unbedingt brauche. Vorne. Da links neben dem Lenkrad in so einem kleinen Fach.«

Der Bulle zog sich unbeeindruckt den schwarzen Knaster in die Nase, bevor er sich zu einer Erwiderung entschloss. »Sie waren das?« Er verzog die Stirn. »Ich hab gehört, der Typ liegt noch im Koma im St. Josef. Aber so bewusstlos sehen Sie mir gar nicht aus.«

Ben stieß ein kurzes Lachen aus. »Nein, nein. Ich bin auch nicht gefahren. Ich saß hinten in dem Auto auf der Beifahrerseite. Ich hatte zum Glück einen Pflasterstein, und mit dem …«

»Aber Sie haben vorne im Wagen was vergessen? Obwohl Sie hinten saßen?« Offensichtlich war sein Nikotindruck noch nicht gestillt, denn plötzlich hatten sich aus dem Nichts eine platt gedrückte Zigarettenschachtel in der einen Hand und ein Feuerzeug in der anderen manifestiert.

»Was?«, fragte Ben und sein Lächeln entgleiste. »Nein, nein … Also ich meine Ja«, stellte er klar. »Ich saß hinten und hab vorne im Fach was abgelegt, was ich jetzt gerne eben ganz schnell …« Er machte einige Schritte in Richtung des Wagens, ohne den freundlichen Facharbeiter aus dem Blick zu lassen.

»Und das wäre?«, fragte der Bulle ungerührt, während er einen tiefen Zug durch den Glimmstängel saugte.

»Ach so«, sagte er. »Das müssen Sie ja sicher quittieren, oder? Klar!« Der Bulle zeigte keine Regung. »Also das ist ein Nothammer. So ein kleiner Nothammer, den ich da …«

»Sie erzählen mir, da liegt ein Nothammer im Auto?«

»So ein kleiner für den Schlüsselbund.« Er deutet mit Daumen und Zeigefinger eine Größe an, von der er nicht wusste, ob sie überhaupt zutraf.

»Und im Phoenix-See schwimmen Sie rum und kloppen die Scheibe mit der Nackenstütze ein?«

»Das war der Fahrer. Ich saß ja hinten und kam da nicht dran, deshalb hab ich den Pflasterstein genommen. Ich bin nämlich Zauberer und …«

»Könn’ Sie nicht«, unterbrach der Bulle ihn.

»Wie bitte?«, fragte Ben.

»Könn’ Sie nicht holen. Ich darf keinen einfach so an die Autos lassen. Der Nächste, der kommt, erzählt mir, dass er das Autoradio in irgend ’nem Wagen vergessen hat. Soll ich den das dann auch ausbauen lassen?«

»Na, das ist ja schon ein bisschen weit hergeholt, wissen Sie? Ich könnte doch eben schnell …« Er deutete wieder in Richtung Mercedes.

Der Bulle schüttelte den Kopf.

»Ganz schnell?«

Das Kopfschütteln hörte nicht auf.

»Keine Chance, oder?«

Das Schütteln stoppte schlagartig, und der Bulle zog die Augenbraue hoch, als wäre er kurz davor anzubieten, es Ben als Arschgeweih auf den Rücken zu tätowieren.

Und dann fasste Ben kurzerhand einen neuen Plan. Man konnte hier sicher noch Stunden stehen und reden oder …

Er drehte sich um und rannte los. Ein Griff würde genügen, und er hätte das Scheißding. Oder auch nicht, wenn es nicht da war. Blaumann-Bulle war nie im Leben so flink wie er. Er griff in die Hosentasche und fand ein Tempotaschentuch. Zum Glück wenig benutzt, denn jetzt war ihm noch was anderes eingefallen. Da stand das Wrack vor ihm. Doch warum war das Seitenfenster geschlossen? … Mist, das war es gar nicht, das war irgendeine braune Nuckelpinne mit einem tanzenden Elvis hinter der Windschutzscheibe. Noch zwei Reihen weiter … Er steckte den Kopf durchs Seitenfenster. Da war das dämliche Fach. Er fummelte es auf. Tatsächlich, da lag ein gelbes Dingens. Er griff es durch das Taschentuch am äußersten Rand und drehte den Kopf in Richtung Blaumann-Bulle. Sicher würde er gleich dessen nikotingeschwängerten Atem in seinem Nacken spüren. Er würde sich, geschickt Haken schlagend, an dem dicken Tanzbären vorbeimogeln und …

Niemand war hinter ihm. Der Typ stand nach wie vor an seinem Platz, qualmte in aller Ruhe seine Kippe und beobachtete Ben mit unbewegter Miene.

Dann eben so, dachte Ben, rannte im größtmöglichen Abstand an ihm vorbei und rief: »Danke noch mal. Ich bin dann auch wieder weg!«

* * *