Abgetrennt - Prof. Dr. Michael Tsokos - E-Book
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Prof. Dr. Michael Tsokos

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Beschreibung

Ominöse Leichenteile tauchen in Kiel auf – ein neuer brisanter Fall für Paul Herzfeld, authentisch und atemberaubend spannend erzählt von Michael Tsokos, Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner. In einem privaten medizinischen Lehrinstitut werden Leichenteile beschlagnahmt. Es besteht der Verdacht der illegalen Beschaffung. In der Kieler Rechtsmedizin erkennt Paul Herzfeld auf einem der beschlagnahmten Arme ein auffälliges Nazi-Tattoo wieder: eine schwarze Sonne. Der versierte Rechtsmediziner beweist anhand von DNA-Untersuchung und Blutprobenvergleich, dass er den Mann, zu dem dieser Arm gehört, schon einmal seziert hat. Verkauft einer seiner Kollegen etwa Leichenteile? Oder stammen die Körperteile von Mord-Opfern? Auf der Suche nach Antworten kommt Herzfeld den Schuldigen so gefährlich nahe - allen voran einem Mann, der buchstäblich über Leichen geht -, dass auf einmal sein Leben nur noch an einem seidenen Faden hängt... "Abgetrennt" ist der 3. Band der True-Crime-Thriller-Reihe um Paul Herzfeld. Band 1 ist unter dem Titel "Abgeschlagen" und Teil 2 unter dem Titel "Abgefackelt" erschienen.

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Seitenzahl: 272

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Michael Tsokos

Abgetrennt

Ein Paul-Herzfeld-Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Rechtsmediziner Dr. Paul Herzfeld ist zurück am Sektionstisch. Sofort wird er mit einem Fall konfrontiert, der ihn in seine eigenen Reihen führt. Gestohlene Leichenteile tauchen auf, darunter ein Arm mit einer seltenen, aber symbolträchtigen Tätowierung: einer schwarzen Sonne. Genau diesen Arm hatte Herzfeld schon einmal seziert. Der Rechtsmediziner ist alarmiert: Verkauft einer seiner Kollegen Leichenteile? Voreilige Schlüsse würden den Ruf der Kieler Rechtsmedizin gefährden, also ermittelt der smarte Rechtsmediziner auf eigene Faust und wird von einem skrupellosen Täter vor spektakulärer Kulisse in eine tödliche Falle gelockt. Währenddessen lässt auch Herzfelds Todfeind Prof. Volker Schneider nichts unversucht, um sich an ihm zu rächen.

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

97. Kapitel

98. Kapitel

99. Kapitel

100. Kapitel

101. Kapitel

102. Kapitel

Nachwort

Danksagung

Die Handlung dieses Buches spielt sechs Monate nach den Ereignissen in »Abgefackelt« und erstreckt sich über einen Zeitraum von sieben Tagen.

 

Paul Herzfeld ist siebenunddreißig Jahre alt und Assistenzarzt am Institut für Rechtsmedizin in Kiel.

Prolog

Das Skalpell glitt durch die weiche Hautdecke und das darunter gelegene Unterhautfettgewebe wie durch ein Stück Butter. Mit einem etwa zwanzig Zentimeter langen, s-förmigen Schnitt legte der Mann die rotbraune Muskulatur der vier Muskeln frei, die das Schultergelenk umgaben und, einer gefächerten Manschette gleich, den Oberarmkopf in seiner Gelenkpfanne hielten. Mit dem Handrücken seiner freien linken Hand, die wie seine rechte in einem blauen Plastikhandschuh steckte, schob er seine Brille, die ihm auf der Nase heruntergerutscht war, wieder hoch, ehe er das Skalpell gegen eines der stabileren Sektionsmesser tauschte, die fein säuberlich aufgereiht auf einem Sideboard aus Edelstahl neben ihm lagen.

Mit einem gekonnten halbkreisförmigen Schnitt durchtrennte der korpulente, knapp zwei Meter große Mann nun die Muskulatur des Schultergelenks, klappte die gefiederten, rotbraunen Muskelbäuche zur Seite und legte den Oberarmkopf frei. Auf der knorpeligen Gelenkoberfläche des blanken Oberarmkopfes spiegelte sich das Licht der grellen Deckenlampen. Als er sich vornüberbeugte, um sein Werk zu betrachten, meinte er für einen kurzen Moment, das Spiegelbild seines Gesichtes wie in einem Zerrspiegel in der weißlich beigefarbenen Kugel des Oberarmendes zu erkennen. Dann durchtrennte er mit mehreren, kurz hintereinander gesetzten Schnitten die knorpelige Gelenkkapsel und schälte den Oberarmkopf vollständig aus der Gelenkpfanne heraus. Der Mann schnaufte und holte kurz tief Luft, bevor er das Sektionsmesser mit einem scheppernden Geräusch auf die Ablage neben sich fallen ließ. Dann umfasste er den Unterarm des Toten mit beiden Händen und zog daran.

Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich der Oberarmkopf aus der Pfanne. Fast schon triumphierend hielt der Mann den abgetrennten menschlichen Arm in die Höhe.

1

19. August, 9.59 Uhr

Kiel. Institut für Rechtsmedizin der Universität,

Sektionssaal

Es fühlte sich gut an, wieder zurück zu sein.

Fast schon beschwingt ließ Paul Herzfeld die metallene Schere, mit der er zuvor Luftröhre und Bronchien des Toten aufgeschnitten hatte, in schnellen Kreisbewegungen um den Ringfinger seiner rechten Hand rotieren.

Sechs Monate war es jetzt her, dass er beinahe von einer eiskalten Killerin im schleswig-holsteinischen Nirgendwo getötet worden wäre.

Nach diesem traumatischen Ereignis hatte sich der Rechtsmediziner für ein halbes Jahr beruflich völlig zurückgezogen und sich nur noch um seine kleine Familie gekümmert, sein Privatleben wieder ins Lot gebracht und seiner langjährigen Lebensgefährtin und Verlobten Petra Schirmherr einen Heiratsantrag gemacht. Im Spätherbst würde die Trauung stattfinden, die anschließende Feier sollte nur im engsten Familien- und Freundeskreis begangen werden. Er war geradezu erleichtert gewesen, als Petra Ja gesagt und nicht weiter darauf bestanden hatte, dass er seine Karriere als Rechtsmediziner gegen ein Berufsleben als Land- oder Amtsarzt in einer norddeutschen Kleinstadt eintauschte.

Vor einer knappen Woche war Herzfeld schließlich an seinen alten Arbeitsplatz im Kieler Institut für Rechtsmedizin zurückgekehrt. Hier fühlte sich der siebenunddreißigjährige Facharzt für Rechtsmedizin wieder mitten im Leben, auch wenn er tagtäglich von Tod und Verwesung umgeben war. Außenstehende fragten sich sicherlich, was das für ein Leben sei, inmitten von Toten. Aber die Rechtsmedizin war nun mal das, wofür er brannte: unerklärliche, plötzliche Todesfälle an Leichenfundorten und diese anschließend im Sektionssaal zu untersuchen; Gewalttäter durch akribische Spurensuche an der Leiche gemeinsam mit der Kriminaltechnik zu überführen; Verbrechern, auch wenn diese noch so heimlich und im Verborgenen agierten, auf die Spur zu kommen und sie mit naturwissenschaftlichen Beweisen zu überführen; Unschuldige zu exkulpieren, und Angehörigen Gewissheit zu geben, was einem geliebten Menschen in den letzten Stunden und Minuten seines Lebens wirklich widerfahren war.

»Alles im grünen Bereich, Frau Westphal«, wandte sich Herzfeld an seine Mit-Obduzentin mit den feuerroten Haaren, die den etwa sechs Meter langen Eingeweideschlauch von Dünn- und Dickdarm mit der dafür im Sektionsbesteck vorgesehenen Darmschere mit der erbsengroßen Metallkugel an der Spitze aufschnitt. »Kein Anhalt für eine Tuberkulose bei unserem Toten hier.«

Sektionsassistentin Annette Bartels hatte bereits alle inneren Organe aus seiner Brust- und Bauchhöhle entfernt, sodass der junge Mann nun ausgeweidet vor den beiden Obduzenten auf dem spiegelnden Edelstahl des Sektionstisches lag. Laut bisherigem Stand der polizeilichen Ermittlungen hatte sich der Mann, der aus Aserbaidschan stammte, in den letzten Wochen vor seinem Tod vorwiegend im Nichtsesshaften-Milieu rings um den Kieler Hauptbahnhof aufgehalten. Ein Routinefall für die beiden Rechtsmediziner.

Herzfeld bemerkte, wie Heike Westphal vergeblich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.

»Die letzte Nacht war definitiv zu kurz«, entschuldigte sie sich. »Vier Geschädigten-Untersuchungen in der Chirurgischen Klinik nach der Messerstecherei heute Nacht in der Bergstraße. Ich bin seit halb vier auf den Beinen.«

»Ich habe vollstes Verständnis, Frau Westphal«, erwiderte Herzfeld. »Gähnen ist der stumme Schrei nach Kaffee, hat mir mal jemand gesagt.«

»Und derjenige hatte definitiv recht. Eine ordentliche Dosis Koffein wäre jetzt genau das Richtige für mich. Aber wir sind hier ja auch gleich fertig.«

Herzfeld legte die Schere neben den beiden Lungenflügeln des Toten auf dem am Fußende des Sektionstisches befindlichen Organtisch ab. Unauffällig musterte er seine Kollegin, die gerade den Dünndarm des Toten durch ihre linke Hand gleiten ließ, während sie das an eine Schlange erinnernde Organ mit schnellen Schnittbewegungen der Schere in ihrer rechten Hand der Länge nach aufschnitt und dabei mit konzentriertem Blick den Inhalt und die Schleimhaut musterte. Ihr auch sonst immer blasses Gesicht, das stark zu ihren feuerroten Haaren kontrastierte, schien heute besonders blass.

»Eigentlich ist es der Etikette nach ja an der Dame, das Du anzubieten, aber ich setze mich einfach mal über den Knigge hinweg und mache diesen Vorstoß«, sagte Herzfeld und lächelte sie an. »Schließlich arbeiten wir jetzt seit bald zwei Jahren hier gemeinsam am Institut und haben beruflich schon so einiges zusammen durchgemacht. Paul!«

»Sehr gern – Heike!«, antwortete die Dreiundvierzigjährige, während sie kurz aufblickte und Herzfelds Lächeln erwiderte, ehe sie sich wieder dem Darm des Toten widmete.

»Was den hier …«, Herzfeld deutete auf den toten Aserbaidschaner auf dem Sektionstisch vor sich, »… anbelangt, würde ich gleich im Anschluss, wenn ich das Protokoll diktiert habe, Oberkommissar Tomforde anrufen und ihm mitteilen, dass wir ein Tötungsdelikt durch äußere Gewalteinwirkung definitiv ausschließen können und die toxikologischen Untersuchungsergebnisse abwarten – wenn du nichts dagegen hast. So aromatisch, wie der aus allen Körperhöhlen und seinem Magen riecht, tippe ich auf zwei bis drei Promille, wenn nicht sogar mehr. Ich würde mir aber zusätzlich gern noch sein Myokard unter dem Mikroskop ansehen, vielleicht hat er an einer Herzmuskelentzündung laboriert. Die Textur des Herzmuskels erscheint mir etwas zu aufgelockert. Was meinst du?«

Westphal nickte nur stumm als Antwort.

»Du wirkst sehr müde, Heike. Was hältst du davon, wenn ich für den Rest der Woche deine Dienstbereitschaft übernehme?«, bot Herzfeld an. »Petra und Hannah sind noch bis zum Wochenende mit Petras Eltern in Sankt Peter-Ording. Der letzte Urlaub als Nicht-Schulkind für meine Tochter. Sie wird nächste Woche eingeschult. Ich bin zurzeit also sozusagen Strohwitwer. Und ganz ehrlich, mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Etwas Ablenkung könnte ich gut gebrauchen. Und zudem hast du in den letzten sechs Monaten während meiner Abwesenheit ja auch genug Dienste geschoben …«

Ohne auf sein Angebot mit auch nur einem Wort einzugehen, erwiderte sie: »Sagen Sie, Herr Herzfeld … äh, ich meine … sag mal, Paul …« Sie ließ die Darmschere sinken, ehe sie langsam weitersprach. Es schien fast so, als würde sich die Rechtsmedizinerin jedes der nun folgenden Worte genau zurechtlegen.

»Ohne dir zu nahe zu treten – ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen … Aber da du nicht im Institut warst, und ich dich während deiner Auszeit nicht stören wollte … Wahrscheinlich geht es mich auch nichts an. Aber ich muss ständig daran denken. Ach, ich weiß einfach nicht, wie ich es sagen soll.«

Die Assistenzärztin machte ein betrübtes Gesicht.

»Sag es einfach freiheraus. Was ist los? Worum geht es?«, ermunterte Herzfeld sie.

»Es geht um ihn.«

Herzfeld sah Westphal zwar mit einem erstaunten Blick an, wusste aber sofort, worauf seine Kollegin hinauswollte. »Um ihn? Du meinst Schneider?«

»Ja. Ich denke oft daran, wie wir beide den unbekannten Toten, der am Falckensteiner Strand an der Mole im Wasser trieb, obduziert haben. Am ersten Februar dieses Jahres. Ich erinnere mich noch ganz genau an das Datum und auch noch sehr genau an dein Gesicht, Paul, als aufgrund des Zahnstatus des Toten klar war, dass es nicht Schneider ist. Wie gesagt, ich will dir nicht zu nahe treten, aber du hattest dir insgeheim gewünscht, dass es sich bei dieser im Gesicht völlig entstellten Wasserleiche um ihn handelte, richtig?«

»Ja, Heike«, antwortete Herzfeld und stieß unbeabsichtigt einen tiefen Seufzer aus.

Professor Doktor Volker Schneider, bis Anfang des Jahres noch stellvertretender Institutsdirektor der Kieler Rechtsmedizin, der sich nicht nur als Serienmörder entpuppt, sondern auch, nachdem Herzfeld ihm auf die Schliche gekommen war, bei einem regelrechten Amoklauf mehrere Menschen getötet und Herzfelds Verlobte Petra entführt hatte.

»Ich übertreibe nicht, wenn ich dir sage, dass ich monatelang fast paranoid war, was Schneider anbetraf, nachdem er von der Schleibrücke gesprungen und spurlos von der Bildfläche verschwunden war. Überall meinte ich ihn zu sehen. Jeder hochgewachsene Mann mit ähnlicher Körperstatur ließ mich zusammenfahren. Er war so präsent! Heute ist das anders.«

»Anders?«, wollte Westphal wissen. »Du meinst, es spielt jetzt für dich keine Rolle mehr, was mit ihm passiert ist?«

»Ich habe meine Ängste überwunden. Oder vielmehr, ich habe es geschafft, mit der Erinnerung an ihn sowie mit der Unsicherheit, ob er noch lebt und Petra und mir vielleicht weiter nach dem Leben trachtet, so gut es geht, zu leben.« Jetzt war es Herzfeld, der ein betrübtes Gesicht machte. »Und dann passierten diese schrecklichen Dinge im Elbklinikum in Itzehoe, und meine Angst vor Schneider trat daraufhin in den Hintergrund. Seitdem denke ich so gut wie nicht mehr an ihn.«

Herzfeld spielte damit auf die rätselhaften Todesumstände eines Pathologen vor etlichen Monaten an, bei denen er dem Chef eines skrupellosen Großkonzerns mit seinen Nachforschungen auf die Schliche kam, was ihn wiederum in das Fadenkreuz einer Killerin gerückt hatte.

»Was glaubst du? Was ist damals nach seinem Sprung von der Schleibrücke mit ihm passiert? Ist er gestorben?«, konkretisierte Heike Westphal ihre Frage. »Oder hat er den Sprung in den Fluss überlebt? Eigentlich ist das doch so gut wie ausgeschlossen. Das Wasser war eiskalt, es tobte ein Schneesturm, die Schlei war regelrecht entfesselt. Aber seine Leiche wurde schließlich nie gefunden.«

Herzfeld ließ sich Zeit, ehe er antwortete. So viele Gedanken und beklemmende Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf. Dann sah er Heike Westphal geradewegs in die Augen und sagte: »Ich weiß es nicht.«

2

19. August, 16.13 Uhr

Kiel-Mettenhof. Epimetheus Institut

Der untersetzte Mann löste den Knoten seiner dunkelroten Seidenkrawatte und zog sie unter dem Haifischkragen seines Hemdes hervor. Dann legte er die Krawatte zusammen mit den schweren, silbernen Manschettenknöpfen, die er zuvor aus den Knopflöchern der Umschlagmanschetten des Hemdes gezogen hatte, auf den mit schneeweißem Klavierlack überzogenen Konferenztisch vor sich ab. Anschließend öffnete er die oberen beiden Knöpfe seines hellblauen, von einem hochpreisigen Hamburger Maßkonfektionär geschneiderten Businesshemdes und krempelte die Ärmel hoch.

Es war wieder ein verdammt heißer Augusttag. Eine Klimaanlage wäre nicht schlecht, sinnierte er. Er lehnte sich auf dem bequemen, mit weißem Leder bezogenen Konferenzstuhl weit zurück und legte seine Füße, die in leichten italienischen Lederschuhen steckten, auf der Tischplatte vor sich ab.

Schon wieder vier neue Verträge abgeschlossen, dachte er. Es läuft wie am Schnürchen. Gestern zwei Verträge, heute vier … Diese reichen Trottel lassen sich aber auch zu leicht beeindrucken. Alles würden sie für die zukünftige Karriere ihrer Kinder als Mediziner tun. Geld spielt bei denen keine Rolle. Gut fürs Geschäft. Gut für mich …

Zufrieden blickte er aus dem breiten Panoramafenster des Konferenzraums im sechzehnten Stock des Gebäudes in Richtung der westlichen Stadtausläufer. An klaren Tagen konnte er sogar die riesigen Kräne der Werftanlagen auf dem Ostufer der Kieler Innenförde sehen – was ein durchaus erhabenes Gefühl war, wie er fand. Ich hier oben, die dort unten.

Heute war die Kieler Förde allerdings unter einer Dunstglocke vor seinen Blicken verborgen. Aber das tat seiner guten Laune keinen Abbruch.

Es läuft wie am Schnürchen. Auch wenn das hier kein Penthouse über den Dächern von Paris, New York oder Berlin war, hatte er es bei seinen früheren beruflichen Aktivitäten schon deutlich schlechter getroffen. Die Geschäfte des Epimetheus Instituts florierten. Weil er ein Gespür dafür hatte, wann eine Geschäftsidee funktionierte und wann man besser die Finger davon ließ. Und wen er für seine Zwecke vor seinen Karren spannte und danach wie eine heiße Kartoffel wieder fallen ließ.

Dieser naive Trottel aus der Rechtsmedizin. Nicht nur naiv, auch gutgläubig. Ein willfähriger Gehilfe. Hält man ihm eine Mohrrübe vor die Nase, schnappt er danach. Aber so sind sie eben alle.

Der Mann lächelte zufrieden. Er hatte schon immer gewusst, wie man andere Menschen manipulierte.

Trotzdem reichte das Material nicht, das ihm dieser Kaspar aus der Rechtsmedizin anlieferte. Das Geschäft mit den Verträgen brummte. Da durfte er sich nicht lumpen lassen und musste auch etwas bieten.

Es ist Zeit für Nachschub!

Der Mann griff vor sich auf der Tischplatte nach einer nagelneuen Prepaidkarte, die ihrem Benutzer nicht zuzuordnen und somit einer Telefonüberprüfung durch Funkzellenabfrage entzogen war, und steckte sie in ein billiges Handymodell. Er sendete eine SMS an eine Handynummer, die er auswendig kannte. Wie immer, wenn er Kontakt zu Milan Gavrilovic – »dem Serben«, wie der Mann in einschlägigen Kreisen nur genannt wurde – aufnehmen wollte. Wenige Minuten später erschien die achtzehnstellige Nummer eines ständig wechselnden, aber nie registrierten Satellitentelefons auf dem Display des Billighandys. Mehrfach hatte er in der Vergangenheit die Dienste des Serben in Anspruch genommen. Er drückte die Wahltaste.

»Da sluṧam«, meldete sich nach wenigen Augenblicken eine heisere Stimme am anderen Ende der Leitung.

3

20. August, 02.04 Uhr

Kiel. Wohnung Paul Herzfeld

Erst war es nur ein weit entferntes Geräusch, vielleicht Glockenläuten oder eine Türklingel. Der Ton bewegte sich scheinbar auf ihn zu, wurde immer lauter, zog Herzfeld weiter aus seinem Traum heraus, zurück in das Dunkel seines Schlafzimmers. Bis er benommen nach dem Mobiltelefon neben sich auf dem Nachttisch tastete. Als er das Gerät ergriff, blendete ihn das helle Display-Licht in der Dunkelheit, und er musste mehrmals die Augen zusammenkneifen und wieder öffnen, ehe sich seine Pupillen den neuen Lichtverhältnissen angepasst hatten. Blinzelnd erkannte er die Nummer: Tomforde. Herzfeld nahm das Gespräch mit einer Wischbewegung über das Display entgegen.

»Moin, Herr Doktor«, ertönte die dröhnende Stimme von Oberkommissar Michael Tomforde. »Ich habe gerade erfahren, dass Sie Ihre Kollegin Frau Doktor Westphal beerbt haben, was die rechtsmedizinische Rufbereitschaft heute Nacht anbelangt.«

»Hallo, Herr Tomforde«, murmelte Herzfeld schlaftrunken. »Wie spät ist es?«

»Es ist mitten in der Nacht. Wie Sie sich wohl denken können, Herr Doktor, würde ich Sie nicht zu dieser Zeit wecken, wenn es nicht wichtig wäre. Ich benötige Ihre Expertise hier an einem Tatort mit mindestens einem Toten.«

»Was ist passiert?«, wollte Herzfeld wissen.

»Es hat einen Bombenanschlag in der Kieler Innenstadt gegeben.«

4

20. August, 02.24 Uhr

Kiel. Kaistraße,

Eros-Center

Die Szenerie erinnerte Herzfeld an einen Kriegsschauplatz. Die direkt an der Kieler Förde gelegene Kaistraße, die ihren Namen dem mit Mauern befestigten Hafenufer und den Kaianlagen verdankte, war ein Relikt der einst bedeutenden Hafenstadt Kiel und nun weiträumig durch mehrere Polizeistreifenwagen abgeriegelt. Das eingeschaltete Blaulicht spiegelte sich zuckend auf dem dunklen Asphalt wider. Einige Schaulustige hatten sich in kleineren Grüppchen hinter dem rot-weißen Flatterband versammelt, das Polizeibeamte offensichtlich hastig gespannt hatten, um die Neugierigen auf Abstand zu halten.

Gegenüber dem großen Fährterminal für die nach Skandinavien auslaufenden und von dort wiederkehrenden Passagierfähren erkannte Herzfeld zwei Löschzüge der Feuerwehr. Die Löschfahrzeuge, Einsatzleitwagen sowie weitere Begleitfahrzeuge standen vor einem heruntergekommenen sechsstöckigen Gebäude aus den 1970ern, in dem eines der vielen Laufhäuser und Bordelle am Kieler Hafen untergebracht war.

Herzfeld sah zwischen den immer wieder geschäftig hin und her eilenden Feuerwehrleuten bereits von Weitem zahlreiche leicht bekleidete Frauen, teils in Decken der Feuerwehr gehüllt, und diverse Männer, sehr wahrscheinlich die Freier.

Als sich Herzfeld näherte, hatte er den Eindruck, dass Letzteren die Situation ungleich unangenehmer zu sein schien als den Freudenmädchen. Auf dem Weg zu einem uniformierten Polizeibeamten, dem er seinen Dienstausweis schon von Weitem entgegenhielt, musste Herzfeld über unzählige Trümmerteile steigen, die vor der Straßenfront des Bordells auf Bürgersteig und Straße lagen. Das Etablissement, auf dem in riesigen, roten Leuchtschriftlettern Eros-Center stand – daneben ein blinkendes Herz von der Größe eines Kleinwagens –, war nicht zu übersehen. Nachdem er sich bei dem Polizeibeamten kurz ausgewiesen hatte, brachte der ihn zu Oberkommissar Tomforde, der ihn im Eingangsbereich des Eros-Centers bereits erwartete.

»Noch mal moin, Herr Doktor«, begrüßte ihn der Ermittler mit dem Pferdeschwanz und dem stoppeligen Kinn und schnippte seine Zigarettenkippe zur Seite. Sie landete in einem kleinen Funkenregen auf der Straße.

Michael Tomforde war ein echtes Urgestein der Kieler Kripo mit mittlerweile dreißig Jahren Berufserfahrung. Ein knorriger Typ, aber das Herz am rechten Fleck und ein überragender Ermittler, wie Herzfeld aus eigener Erfahrung wusste.

»Ich bringe Sie kurz auf den aktuellen Stand, und dann gehen wir rein, sobald wir das Okay von der Einsatzleitung der Feuerwehr erhalten. Das kann nicht mehr lange dauern.«

Der breitschultrige Oberkommissar griff in eine der hinteren Taschen seiner ausgebeulten und völlig ausgewaschenen Jeans, beförderte ein Päckchen Tabak und Blättchen zutage und begann, sich eine neue Zigarette zu drehen.

»Also, gegen halb zwei hat es hier im vierten Stock eine Explosion gegeben. Bei der Evakuierung des Gebäudes durch die Feuerwehr, die nach etwa fünfzehn Minuten vor Ort war, ist eine männliche Leiche in einem der Zimmer gefunden worden, das die Damen für die Verrichtung ihrer Dienste nutzen. Stand jetzt: Keine weiteren Toten auf der Etage, aber die Kollegen von der Feuerwehr durchkämmen gerade noch mal die anderen Stockwerke zusammen mit unseren Jungs vom Kampfmittelräumdienst, auch im Hinblick auf weitere Explosivstoffe im Gebäude.«

»Und die Dame, die das Zimmer üblicherweise für ihr Gewerbe nutzt, was ist mit der?«, wollte Herzfeld wissen.

»War zum Zeitpunkt der Explosion nicht anwesend. Sie war bei einer Bekannten im Stockwerk darunter. Sie stammt aus Rumänien oder Bulgarien. Warum sie zum Zeitpunkt der Explosion nicht in ihrem Zimmer war, und ob sie uns Hinweise auf die Identität des Opfers geben kann, werden wir nach ihrer Vernehmung im Präsidium wissen. Im Moment ist die Dame aber wohl nicht vernehmungsfähig. Sie steht laut Notärztin unter Schock. Wir müssen uns noch etwas gedulden.«

»Was meinen Sie, Herr Tomforde, ist das das Aufflammen eines neuen Krieges im Kieler Rotlichtmilieu? Ich dachte, die Albaner und Rocker hätten Frieden geschlossen. Zumindest berichtete mir das kürzlich mein Schwager in spe, Lars Schirmherr, der bei den Kieler Nachrichten arbeitet.«

Tomforde steckte sich die fertig gedrehte Zigarette in den Mund und zündete sie an. Nachdem er eine imposante Rauchwolke aus seinen Nasenlöchern geblasen hatte, antwortete er: »Ja, das stimmt. Eigentlich herrscht hier an der Pier schon längere Zeit Ruhe, die Machtverhältnisse sind wohl geklärt. Aber vielleicht ist ein neuer Möchtegern-Big-Player in unserer schönen Hafenstadt erschienen. Das werden wir rausfinden.« Nach einer kurzen Pause fügte er trocken hinzu: »Mit so einem Bums aus dem Verkehr gerissen zu werden, hat nicht allen Freiern gutgetan.« Dabei deutete er mit einer Kopfbewegung zu der Gruppe zerknirscht aussehender Männer.

»Zwei ältere Herren sind mit Verdacht auf einen akuten Herzinfarkt mit Rettungswagen in die Uniklinik abtransportiert worden«, erklärte Tomforde, während zwei Feuerwehrmänner in schwerer Brandschutzkleidung und Schutzhelmen, mit Atemschutzgeräten und den dazugehörigen Pressluftflaschen auf dem Rücken aus dem Eingang des Bordells traten. Nachdem sie ihre Atemschutzmasken abgenommen hatten, stellte sich der eine der beiden, ein Mann von etwa Mitte fünfzig mit hagerem Gesicht und eingefallenen Wangen, als Einsatzleiter vor. Er wandte sich an Tomforde, den er gut zu kennen schien.

»Ihr könnt rein, Michael. Einsturzgefahr besteht nicht. Auch keine weitere Explosionsgefahr, keine defekten Leitungen. Zu einem Brand ist es nicht gekommen. Unsere Arbeit hier ist getan. Wir rücken ab.«

»Warte noch kurz, Holger«, sagte Tomforde. »Was kannst du mir zur Ursache der Explosion sagen?«

»Eine Gasexplosion schließe ich definitiv aus. Wenn du mich fragst, war das Sprengstoff. Alles Weitere steht dann heute Nachmittag in meinem schriftlichen Einsatzbericht.«

»Weitere Tote habt ihr nicht gefunden?«

»Korrekt. Das, was noch übrig ist, stammt alles von einer einzigen Person, wenn du mich fragst«, sagte der Einsatzleiter, der es jetzt offenbar eilig hatte.

»Okay, dafür habe ich ja Doktor Herzfeld aus der Rechtsmedizin hier«, sagte Tomforde, während er seine Zigarette wegschnippte, und deutete auf Herzfeld.

»Viel Spaß bei der Puzzlearbeit mit dem Toten«, sagte der Einsatzleiter trocken und an Herzfeld gewandt. Dann entfernte er sich schnellen Schrittes in Richtung der Feuerwehrfahrzeuge. Der Mann schien froh zu sein, dass sein Job genau an der Stelle endete, an der Herzfelds Arbeit begann.

Herzfeld und Tomforde zogen sich in dem langen, üblicherweise nur mit Schwarzlicht und ein paar roten Spotlights ausgeleuchteten Gang im vierten Stock weiße Overalls der Spurensicherung, Plastikfüßlinge und Gummihandschuhe über. Der etwa vierzig Meter lange Flur, der über die gesamte Länge des Gebäudes verlief und von dem die Zimmer abgingen, in denen die Damen ihrem Gewerbe nachkamen, wurde nun von einem Scheinwerfer der Kriminaltechniker taghell erleuchtet. Erstaunlicherweise war er durch die Explosion nicht sonderlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Lediglich die Tür samt Rahmen des Raums, in dem sich die Explosion ereignet hatte, waren von der Druckwelle der Detonation beschädigt worden.

Herzfeld und Tomforde betraten, gefolgt von zwei Kriminaltechnikern und einem Polizeifotografen, das Zimmer, in dem sich ihnen ein Bild der Verwüstung bot. In der Luft hing der typische Geruch von Schwarzpulver, der in Herzfeld Erinnerungen an die Silvesterknallerei seiner Jugend hochkommen ließ.

Das Zentrum der Explosion hatte sich im Bereich der straßenseitigen Fensterfront des Zimmers befunden, denn dort war die Zerstörung am größten. Die Fensterscheibe fehlte vollständig, und der Fensterrahmen war komplett herausgesprengt, sodass jetzt ein etwa einen Meter hohes und einen Meter fünfzig breites Loch in der Außenwand des Gebäudes klaffte, durch das die Positionslichter einiger Schiffe im Kieler Hafen hereinleuchteten. Darüber an der Zimmerdecke war ein etwa achtzig Zentimeter durchmessendes Loch zu sehen. Auf dem Boden lagen massenhaft Trümmerteile – Bruchstücke von hölzernen Möbeln, Einrichtungsgegenstände, Plastikverschalungen, Putz, Teile von Mauerwerk, größere und kleinere Stofffetzen und reichlich Schaumstoffmaterial, das sehr wahrscheinlich das Innenleben einer Matratze dargestellt hatte. Dazwischen befanden sich Dildos in unterschiedlichen Größen, schwarze Lederriemen, verchromte Ketten und Latex-Gurte, deren Verwendung sich Herzfeld nicht auf den ersten Blick erschloss, sowie Glasscherben, die von Trinkgläsern oder einer Karaffe herzurühren schienen. Und in all diesem Chaos, inmitten dieser Zerstörung, lagen blutige Körperteile, teilweise von Mobiliarresten, Putz und Mauerwerkstücken bedeckt. Herzfeld erkannte einen Torso – offensichtlich waren die Gliedmaßen als Folge der wuchtigen Explosion allesamt vom Körper des Mannes abgetrennt worden. Dass es sich um einen Mann handelte, war anhand des ausladenden Brustkorbes und der buschigen Brustbehaarung eindeutig. Der Tote musste von hünenhafter Gestalt gewesen sein, wie wohl auch Tomforde festgestellt hatte, da der Oberkommissar mit einem demonstrativen Blick auf einen Oberarm deutete, dessen gewaltiger Bizeps sich unter der tätowierten Oberhaut hervorbuckelte.

»Das sollte wohl mal ein Bein werden?«, bemerkte er trocken.

Unter einem blauen Leder-BH, den ein Kriminaltechniker gerade einsammelte und in einem Asservatenbeutel verschwinden ließ, lag ein Kopf. Die vormals blonden, schulterlangen Kopfhaare und der Vollbart waren stellenweise angesengt, mit kleinsten Putzteilchen verschmutzt und blutverschmiert. Trotz der Wucht, die die Detonation gehabt haben musste, war der Kopf noch recht gut erhalten und das Gesicht des Toten partiell noch zu erkennen. Die Mimik schien zum Zeitpunkt seines Todes eingefroren zu sein. Er glotzte Herzfeld aus weit aufgerissenen, glasigen Augen an, den Mund halb geöffnet, wie zu einem stummen Schrei geformt.

Dreißig Minuten später hatte sich Herzfeld einen Eindruck vom Tatort verschafft. Er wusste, dass die Arbeit der Kriminaltechniker noch viele Stunden in Anspruch nehmen würde, bis alle verfügbaren Spuren gesichert und die Lage aller Gegenstände und Leichenteile zueinander ausreichend dokumentiert waren, ehe die Leichenteile in die Rechtsmedizin transportiert wurden.

Tomforde wirkte zunehmend gehetzt und trieb die Kriminaltechniker immer wieder zur Eile an. Alle paar Minuten blickte er auf die Uhr an seinem linken Handgelenk, eine altmodische, schwarze Casio-Digitaluhr, die ihrem Aussehen und Abnutzungsgrad nach noch aus den 1980ern stammte und Herzfeld bereits bei früheren Zusammentreffen mit dem Ermittler aufgefallen war.

»Sie haben es aber verdammt eilig, Herr Tomforde! Noch was vor heute?«, rief Herzfeld, während er sich vor der Zimmertür auf dem langen Flur aus seinem Spurensicherungsanzug schälte.

Tomforde machte ein paar Schritte auf den Rechtsmediziner zu und brummte missmutig: »Wenn ich nicht auf die Tube drücke, taucht hier bald ungebetener Besuch auf. Ich gehe davon aus, dass meine Granden im Präsidium, sobald sie von der Sache Wind bekommen, den Staatsschutz hinzuziehen werden. Wegen Terrorverdacht und so. Bisschen die Zuständigkeit verlagern und Verantwortung abgeben. Sie kennen das ja. Am Ende läuft das nur darauf hinaus, dass die Jungs vom Staatsschutz mit einer riesigen Bugwelle hier auflaufen, alles verzögern, jeden unserer Schritte und jede Überlegung von uns dreimal hinterfragen und wir noch heute Mittag hier herumstehen.« Mit diesen Worten trat Tomforde wieder in die Mitte des Zimmers zurück und trieb die beiden Kriminaltechniker und den Fotografen erneut zur Eile an.

Am Himmel über der Kieler Förde, an dem sich bereits die erste Morgenröte abzuzeichnen begann, kreischten Möwen, als Herzfeld schließlich um Viertel nach vier vor die Tür des Eros-Centers in die kühle Morgenluft trat. In einer halben Stunde würden die Strahlen der aufgehenden Sonne die Silhouetten der Schiffe, Fähren und Krananlagen im Kieler Hafen in ein effektvolles Licht tauchen, bis sich dann schließlich die gleißenden Sonnenstrahlen des neuen Hochsommertages auf dem Wasser der Kieler Förde spiegelten.

Herzfeld überlegte gerade, ob er direkt ins nahe gelegene Institut fahren oder doch noch versuchen sollte, zu Hause zwei Stunden Schlaf zu bekommen, als er ein tiefes »Doktor Herzfeld!« über sich hörte.

Herzfeld schaute nach oben.

Es war Tomforde, der seinen Kopf aus der von der Explosion gerissenen Öffnung steckte und rief: »Was ich vergaß, Herr Herzfeld: Willkommen zurück!«

5

20. August, 04.17 Uhr

Kiel. Stillgelegte Gleisanlagen,

Nähe Bahnhofstraße

Obwohl er bewusstlos war, ging der Atem des Mannes, der vor Milan Gavrilovic auf dem Schotterbelag neben den Bahngleisen zwischen Unkraut und Plastikmüll lag, heftig und stoßweise. Der Serbe schätzte das Alter des Mannes auf siebzig bis fünfundsiebzig. Vielleicht war er aber auch deutlich jünger, das wusste man ja nie bei diesem Pennerpack, das bei jedem Wetter Tag und Nacht auf der Straße verbrachte, soff und sich unzureichend und ungesund ernährte – und entsprechend vorgealtert und krank war. Die runzelige Halshaut des auf dem Rücken liegenden Mannes hing faltig zu beiden Seiten herunter und ähnelte im fahlen, gelblichen Licht der Straßenlaterne der Haut eines uralten Reptils.

Sein Opfer hatte erstaunlich viel Gegenwehr geleistet. Das hatte Gavrilovic nicht erwartet. Aufgrund seiner schmächtigen Statur und seines schleppenden Ganges – sein linkes Bein hatte er beim Gehen merkwürdig nachgezogen – war Gavrilovic davon ausgegangen, dass er leichte Beute sein würde, ähnlich wie die Alte vor zwei Tagen. Aber der Mann hatte bis zuletzt gekämpft. Gut, ein fairer Kampf war es zu keinem Zeitpunkt gewesen. Sobald Gavrilovic ihm den mit Chloroform getränkten Lappen ins Gesicht gedrückt hatte – wobei er darauf achtete, nicht selbst zu tief den süßlichen Geruch des Baumwolltuches einzuatmen –, war alle Gegenwehr aus dem Alten gewichen.

Gavrilovic sah sich schnell nach allen Seiten um, während er den mit Chloroform getränkten Lappen am ausgestreckten Arm und mit spitzen Fingern in einem großen, durchsichtigen Gefrierbeutel verschwinden ließ und den Druckverschluss des Beutels zusammenpresste. Er verstaute ihn im vorderen Fach der Umhängetasche, die über seiner rechten Schulter hing. Dann ließ er die Tasche von seiner Schulter gleiten und hockte sich neben den Bewusstlosen in den Schotter.

Erneut sah er sich um. Er war immer noch allein. Trotzdem musste es jetzt schnell gehen. Rasch leerte er den Inhalt des großen Hauptfaches seiner Tasche neben sich aus: Kabelbinder, eine Dose Vaseline und der auf etwa Schuhkartongröße zusammengefaltete Leichensack aus schwarzem Wachstuch. Mit wenigen geschickten Handgriffen fixierte er die Handgelenke des Bewusstlosen mit einem Kabelbinder vor dessen Bauch. Dann zog er einen weiteren Kabelbinder mit einem surrenden Geräusch um die Fußgelenke des Mannes, der bei dem vorausgegangenen Kampf einen seiner völlig ausgetretenen Schuhe verloren hatte. Gavrilovic öffnete die Dose mit Vaseline, nahm eine etwa bohnengroße Portion auf die Kuppe seines linken Zeigefingers und schmierte damit die Lippen, die Haut um den Mund und die Nase des Mannes ein.

Aus dem Augenwinkel nahm Gavrilovic eine Bewegung wahr. Er fuhr auf. Nur eine Ratte. Ein erneuter rascher Blick nach links und rechts, und er hockte sich wieder neben den Mann auf dem Boden, der jetzt leise stöhnte und zu sich zu kommen schien. Mit seiner linken Handfläche bedeckte Gavrilovic die Mundöffnung des Mannes, mit Zeigefinger und Daumen drückte er die Nasenflügel des Obdachlosen fest zusammen. Das Stöhnen erstarb augenblicklich, auch die rasselnden Atemgeräusche setzten für einen kurzen Moment aus. Gavrilovic wusste, gleich würden die Erstickungskrämpfe einsetzen, normalerweise begleitet von wild zuckenden und ausholenden Bewegungen der Arme und Beine, was jedoch wegen der Kabelbinder nicht möglich war. Gavrilovic kniete sich auf den Brustkorb des Mannes, genau im richtigen Moment, da sein Oberkörper jetzt von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. Der Serbe wusste genau, was er tat, er hatte seine Methode in den letzten Monaten perfektioniert.

Skrupel, einen Menschen zu töten, verspürte er nicht. Über diesen Punkt war er schon lange hinweg.

6

20. August, 12.09 Uhr

Kiel. Institut für Rechtsmedizin der Universität,

Sektionssaal

»Wussten Sie eigentlich, dass Menschen, die bei einer Explosion sterben, den Knall der Detonation nicht hören, weil sie schon tot sind, bevor ihr Ohr das Explosionsgeräusch an ihr Gehirn weitergeben kann?«

Während Herzfeld diese Sätze zu Tomforde sagte, legte er das etwa fünfzig Zentimeter lange Parenchymmesser, mit dem er zuvor das Gehirn in insgesamt sechzehn zwischen einem und 1,5 Zentimeter dicke Scheiben geschnitten hatte, auf den Sektionstisch, auf dem sich die Überreste des noch nicht identifizierten Explosionsopfers aus dem Bordell befanden.

Tomforde, dem der Schlafmangel der vergangenen Nacht deutlich anzusehen war, runzelte die Stirn.

»Nein, ich wusste nicht, dass derjenige den Knall überhaupt nicht hört. Ist das, weil die Trommelfelle platzen?«, fragte er mit müder Stimme.