Abnehmen mit Torte - Lo Graf von Blickensdorf - E-Book
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Lo Graf von Blickensdorf

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Beschreibung

Als der in Geldnot geratene Self-Made-Graf Lo Graf von Blickensdorf eines Tages sich in einem Wochenendhaus in einem Dorf zurückzieht, um dort in aller Ruhe an seinem Roman zu schreiben, wirbelt in dem kleinen verschlafenen Dorf seine bloße Anwesenheit allerhand Staub auf. Als ihm auch noch der Bürgermeister das alte verlassene Schloss anbietet, hat er plötzlich alle Dorfbewohner gegen sich, die herausgefunden haben, dass er ein „falscher Graf“ ist und erhält aus diesem Grunde sogar Morddrohungen. Mit der geplanten Ruhe ist es vorerst vorbei. Und so ganz nebenbei absolviert der Autor noch ein Diätprogramm – ohne auf seine geliebte tägliche Torte zu verzichten. Sein Ziel sind 10 Kilo weniger – wird er sein Ziel erreichen?

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Seitenzahl: 342

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Lo Graf von Blickensdorf

Abnehmen mit Torte

oder

Abenteuer eines selbsternannten Grafen

oder

und andere Geschichten

oder

Memoiren eines armen adeligen Künstlers

und

was man dabei so alles erlebt

Autobiografischer Roman

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-151-5

www.heypublishing.com

„Gibt es ein schöneres Geräusch als das Klappern von

Kuchengabeln nachmittags um drei?“

(Lo Graf von Blickensdorf)

„So ernst, wie ich heiter tue, bin ich gar nicht.“

(George Bernard Shaw)

Für meine liebe Mutter Lieselotte Gräfin von Blickensdorf (* 1923 – † 2012)

INHALT

1. Ein verhängnisvoller Entschluss

2. Eine turbulente Reise mit Überraschungen oder Der „Führer“ fuhr Fahrrad

3. Meine Ankunft wird neugierig beobachtet

4. Das Schloss und ein interessantes Angebot

5. Hot-Yoga mit Käsesahnetorte

6. Eine etwas stressige Schlossbesichtigung

7. Das Dorffest

8. Besuch aus Afrika

9. Der Aufruhr

10. Die Bürgerversammlung

Die 8 Kernsätze des Adels

11. Die Flucht

Die gesammelten Tortensprüche des Grafen:

1. Ein verhängnisvoller Entschluss

Ich stand am Ortsausgangsschild von Schwenkow und blutete aus der Nase. Mein Kopf dröhnte wie ein Vuvuzela-Konzert, und eisiger Wind pfiff mir durch die Rippen. Zum ersten Mal in meinem Leben verfluchte ich es, Graf geworden zu sein. Ich könnte jetzt schön in einer meiner gemütlichen Berliner Lieblings-Patisserien sitzen und mir ein Maracujatörtchen zu Gemüte führen, dachte ich. Aber nein, ich landunerfahrener Stadtmensch musste ja unbedingt in die „ruhige“ Provinz.

Aber der Reihe nach.

Also, auf einer Party nahm das Schicksal seinen Lauf. Dort traf ich nach langer Zeit einen alten Freund wieder, der sich interessiert nach meinem Wohlbefinden erkundigte. Ich jammerte ihm vor, dass ich eigentlich an meiner nächsten Buchidee arbeiten müsste, dass aber banale Alltagsdinge mich leider immer wieder davon abhalten würden. Da ich leidenschaftlicher Tortenesser bin, sollte es ein geniales Buch über Torte werden, berichtete ich ihm. Wie das genau aussehen sollte, wusste ich selber noch nicht.

Er erzählte mir von seinem kleinen Wochenendhaus auf dem Lande, das er mir anbieten könne. Das wäre für mich genau richtig, ich könne dort ein paar Wochen an meinem Buch arbeiten, schlug er mir vor. Kostenlos! Das ganze hätte allerdings einen kleinen Haken. Die Bevölkerung wäre etwas „… ähhh …, sagen wir mal etwas eigenwillig.“

Wie so oft in meinem Leben, nahm ich diese kleine Warnung nicht so ernst, denn ich vertraute auf meine grundsätzlich positive Einstellung zu meinen Mitmenschen.

Vor allem aber war mir klar, dass ich ein neues Buch herausbringen musste, denn ich bekam viele Zuschriften von Lesern, die immer wieder danach fragten.

Ich erinnere mich immer noch gern an meine erste Buchpremiere, die mein damaliger Verlag in das Hotel Adlon gelegt hatte. Es war ein heißer Septembertag, und ich sollte als PR-Gag mit einem standesgemäßen gesponserten Mercedes-Benz von 1953 vor dem Hotel vorfahren. Es sollte so aussehen, als käme der Graf gerade von seinem Sommersitz „Gut Dünken“ nach Berlin. Da der Sponsor aber nicht so viel Geld dafür ausgeben wollte, wurde die Nobelkarosse nur für eine Stunde gemietet. Was zur Folge hatte, dass ich mit meinem alten Miele Fahrrad, das ich zuweilen ITS („Ich Trete Selbst“) nenne, zum Treffpunkt radeln musste. Das Gute daran: Wer ein Fahrrad hat, braucht für den Sport nicht zu sorgen.

Da noch etwas Zeit war, ging ich Unter den Linden erst einmal meiner Lieblingsbeschäftigung nach: dem Konditern. Im Café Einstein trank ich draußen auf dem Trottoir einen Milchkaffee und teilte mir mit einer Wespe ein Stück Pflaumenkuchen mit Sahne, während ich Möbelpackern zusah, die emsig wie Blattschneiderameisen mit Umzugsgut hin und her liefen.

Und ich sah gerade noch den Halsspeck eines bekannten Politikers, der eilig im Inneren des Cafés verschwand. Je weiter hinten im Café Einstein der Gast sitzt, umso wichtiger ist er, sagt man.

Apropos: Ich war einmal in der Galerie des Café Einstein zur Vernissage einer Fotoausstellung von André Rival eingeladen, wo Claudia Roth von den „Grünen“ die obligatorische Rede hielt und ironisch den auf einem Foto zu sehenden „wunderschönen Guido Westerwelle“ erwähnte. Plötzlich ertönte dicht hinter mir eine laute Stimme: „Nicht nur auf dem Foto!“. Ich drehte mich um – da stand Guido Westerwelle selbst.

Nach einer Weile kam die vom Verlag bestellte schneeweiße Limousine mit meiner selbst entworfenen Familienwappenstandarte am Kotflügel vor dem Café vorgefahren. Mir wurde vom Chauffeur der Wagenschlag aufgehalten. Unter den Augen der staunenden Passanten stieg ich ein. Huldvoll winkte ich ihnen zu. Dann fuhren wir die paar Meter bis zum Hotel Adlon. Dort wurde ich vom Publikum mit Papierfähnchen, ebenfalls mit meinem selbst entworfenen Familienwappen, frenetisch winkend begrüßt. Pressefotografen fotografierten um ihr Leben. Bald kamen auch noch zahlreiche Touristen hinzu, weil sie dachten, Prinz Charles wäre gerade eingetroffen. Ich hatte Mühe, durch die Menschenmenge über den roten Teppich den Hoteleingang zu erreichen.

Es wurde ein für mich unvergesslicher Tag, für den ich immer und ewig Berlin dankbar sein werde. Um es mit Marlene Dietrich zu singen: „Wenn keiner treu Dir bliebe, ich bleib Dir ewig grün, du meine alte Liebe, Berlin bleibt doch Berlin!“

*

Am Tag nach der Party stand ich zu Hause in Berlin-Charlottenburg an meinem Fenster und schaute nachdenklich hinaus auf das Berliner Häusermeer. Der Fernsehturm am Alexanderplatz in weiter Ferne blinkte nervös, als wollte er mir signalisieren: „Beweg dich endlich.“

Sollte ich wirklich ein paar Wochen raus aufs Land? Dabei liebte ich doch die Großstadt so sehr. Nichts gegen etwas Natur, aber die hatte ich im nahegelegenen Charlottenburger Schlosspark auch. Andererseits brauchte ich dringend mal wieder ein neues Buch, damit mein Schornstein wieder rauchte und ich nicht immer meine Teebeutel zum Trocknen aufhängen musste, weil ich sie dadurch mehrmals benutzen konnte. Auch meine Besuche bei der Berliner Tafel waren mehr als unerfreulich. In meinem Portemonnaie herrschte schon seit Monaten Ramadan, und die letzten Tage waren wie eingefallener Käsekuchen. Manchmal wollte ich am liebsten meine schlechten Gedanken gegen Fahrstuhlmusik austauschen.

Ich war zwar schon bei Günter Jauchs „Wer wird Millionär?“ als Gast, hatte es aber leider nicht auf den Kandidatenstuhl geschafft, weil ich die Anfangsfrage etwas zu langsam beantwortet hatte. Andernfalls hätte ich heute keine Geldprobleme.

Und noch etwas sprach für einen Landaufenthalt: Ich hatte vor einiger Zeit mit dem Rauchen aufgehört und sah dadurch um die Hüften herum aus wie eine Aldi-Tüte voller Wasser. Ich hatte keine Lust, so fett zu werden, dass die Elefanten im Zoo Erdnüsse nach mir warfen.

Komisch, dass heute immer mehr Menschen aussehen wie eine stramm aufgeblasene Hüpfburg. Merken die denn nicht, dass sie immer fetter werden? Zugegeben – Tiramisu ist eine prima Antifaltencreme. Aber nach einer Weile stellen sich die dazugehörigen Krankheiten ein, ich sah das in meinem Bekanntenkreis: Falsche Kniegelenke werden nötig, Diabetes klopft an die Tür.

Aber nicht bei mir! Auf dem Lande würde mich nicht nur nichts vom Schreiben ablenken, in gesunder Luft und mit frischen Lebensmittel würde ich auch in Muße abnehmen. Und mit den etwas „eigenwilligen“ Leuten würde ich schon fertig werden. Dass sich mein Leichtsinn und meine grundsätzlich positive Einstellung zu meinen Mitmenschen diesmal bitter rächen würden, konnte ich da noch nicht wissen.

Ich hatte nicht, wie Sie jetzt vielleicht denken werden, aus gesundheitlichen Gründen mit dem Rauchen aufgehört. Nein, ich hatte aufgehört, weil mannicht mehr in Restaurants, Kneipen und Bars rauchen durfte. Und das gemeinsame Rauchen neben den übelriechenden Mülltonnen eines Nobelrestaurants, Seite an Seite mit Staatssekretären des Bundesgesundheitsministeriums, konspirativ wie Junkies am Drogenumschlagplatz am Hannoveraner Hauptbahnhof – das stand einem Grafen nun mal nicht.

Ich war nämlich gerne Raucher. Dafür nahm ich, jedenfalls bis zum Rauchverbot in Lokalen, auch unangenehme Begleiterscheinungen in Kauf. Ich machte die Helmut-Schmidt-Diät – eine ausgewogene Ernährung, bestehend aus Cola und Zigaretten, nach dem Motto: Der Weg zur Lunge muss geteert sein! Seine Ehe mit Loki Schmidt hielt ja nur deshalb so lange, weil sie getrennte Aschenbecher hatten.

Jeden Morgen fühlte sich meine Zunge einst so pelzig an wie ein dicker Perserteppich. Aber es machte mir nichts aus. Ich erinnere mich noch wehmütig an die Fahrten mit der Bahn im verqualmten Raucherabteil, wo ich rauchend und Cola trinkend durch melancholisch-schöne deutsche Landschaften fuhr, mich über die hässlich-schönen Einfamilienhäuser am Rande der Bahnstrecke amüsierte und dadurch auf die eine oder andere gute Idee kam, die ich dann flugs in meinem kleinen Notizbuch mit dem roten Lesebändchen notierte.

Einmal kam ich mit meinem Kollegen Oliver von einer Arbeitsreise aus Casablanca zurück, und da wir zwei Stunden Aufenthalt auf dem Frankfurter Flughafen hatten, suchten wir eine Stelle zum Rauchen. Wer den Frankfurter Flughafen kennt, weiß, dass wir ungefähr die Strecke Berlin-Warschau laufen mussten, bis wir einen Raucherstützpunkt draußen an einem zugigen Notausgang fanden, wo blasse Raucher mit zittrigen gelben Fingern die Asche ihrer Glimmstängel in stinkende, randvolle, weinfassgroße Aschenbecher abschnippten.

Oder ein anderes Mal war ich in einem Designerhotel zum Essen eingeladen, da waren sogar die Rülpser designt („Joop! – oh, Verzeihung!“). Es herrschte dort auch Rauchverbot, und da ich ein Lungenbedürfnis hatte, steckte ich mir draußen auf der Terrasse an einem romantischen Ententeich mit einer einsamen Ente ein Glühwürstchen ins Gesicht. Während ich so den Blauen Tod in mich hinein sog, war ich froh, nicht unter Anatidenphobie zu leiden. Das ist nämlich die Angst, irgendwie, irgendwo von einer Ente beobachtet zu werden.

Ich sinnierte: Wie tragisch Phobien sein können, sieht man an dem Fall eines Mannes in meiner Nachbarschaft. Er hatte eine langjährige Ausbildung bei verschiedenen Clownslehrern gemacht, unter anderem sogar bei dem berühmten Jango Edwards, und arbeitete dann einige Jahre als Clown – bis er Gelotophobie bekam. Das ist die Angst, ausgelacht zu werden. Er musste sofort seinen Beruf aufgeben, die ganzen Ausbildungsjahre waren umsonst. Er wollte auf Nummer Sicher gehen und schulte dann auf Beerdigungsredner um.

Nun, ich hatte also mit dem Rauchen aufgehört, was aber die besagte Aldi-Tüten-Verformung meiner Hüften zur Folge hatte. Die Waage zeigte mir 10 Kilo über meinem Normalgewicht an. Die Hosen passten mir nicht mehr, und wenn ich mir die Schuhe zubinden wollte, klemmte ich mir immer den Bauch ein, als hätte ich ein Sofakissen vor dem Frontspoiler hängen. Das konnte und wollte ich nicht dulden. Das musste weg! Ich wollte nicht werden wie jene dicken Leute, die in ihrem Bauchnabel keine Flusen finden, sondern ganze Pullover. Aber ich wollte auch nicht auf meine geliebte, täglich genossene Torte verzichten, denn dieses Ritual war mir lieb und teuer.

*

Es gab viele Gründe, die mich vom Schreiben an meinem Buch abhielten. Ich nenne hier nur einige. Fangen wir mit meinen Alkoholeskapaden mit Aron an.

Er mochte so Mitte Vierzig sein, sah aus wie der junge Jack Nicholson, war Champagnerliebhaber und sehr, sehr großzügig. „Champagner hat noch keinem geschadet“, lautete seine Devise, wenn er mich wieder einmal zu einem Glas einlud.

„Aron, deine Worte sind heute wieder von der Wahrheit beseelt“, antwortete ich ihm meistens.

Aron gehörte angeblich der halbe Potsdamer Platz. Er war Minderheitengesellschafter einiger Hotels, hatte einen Doktortitel und gab immer an wie eine Lore Affen. Champagner war für ihn ein französisches Iso-Getränk, und er goss sogar seine Zimmerpflanzen damit.

Ich war für Aron so etwas wie ein Hund mit zwei Beinen. Und was macht man mit einem Hund mit zwei Beinen? Um die Häuser ziehen. Mir war es recht, denn solche Abende hätte ich mir ohne ihn nie und nimmer leisten können.

Manchmal rief er mich an: „Komm, Lo, wir saufen heute, bis unsere Locken wieder glatt sind.“ Danach war ich immer dicht wie eine Raumkapsel.

Eines Tages stand ich an einem lauen Sommerabend mit Aron an der Theke der Vox-Bar am Marlene-Dietrich-Platz. Sie wurde mal zur besten Bar Deutschlands gekürt. Früher stand hier an der Stelle das berühmte Vox-Haus, von dem 1923 die erste Radiosendung Deutschlands gesendet wurde.

Zum Vorglühen tranken wir einen „Golden Vox Shrimptini“, eine Kreation aus Wodka, Tabasco, Noilly Prat (französischer Wermut der Extraklasse) und einer goldummantelten Garnele – dekadenter ging es nicht. Wahrscheinlich sehr teuer, vermutlich mehr als ich im Portemonnaie hatte – aber Aron lud mich ja dazu ein. Dekadenz ist ohnehin nur die angenehme Variante von Anarchie, tröstete ich mich.

Plötzlich kamen etliche Banker herein, jeder mit einem Namensschildchen am Revers. Sie werden wohl von irgendeinem Banker-Kongress gekommen sein. Sofort verwickelte Aron sie in ein Gespräch. Sie fachsimpelten in einer Bankersprache, die ich nicht verstand, über etwas namens Sonderzinsen. Dann verschwand Aron kurz und kam triumphierend mit einem Aktenordner zurück. Für einen Augenblick steckten alle ihre Köpfe darüber zusammen, um bald darauf Aron zu bestätigen, dass er tatsächlich Sonderzinsen bekomme. Davon war Aron so euphorisiert, dass er prompt eine Magnumflasche Champagner bestellte. Aber nicht irgendeine, nein, eine bestimmte Marke musste es sein, die es gekühlt nur im einen Kilometer entfernten Hotel Adlon gab und die ein Fahrer extra holen musste. Als er zurückkam, wurde eingeschenkt. Nach fünfzehn Minuten war die Flasche leer und Aron um 2000 Euro ärmer. Die Banker gingen um Mitternacht auf ihre Zimmer, während Aron und ich hinüber ins Mandala Hotel schlenderten, weil er noch englische Pfundnoten in Euro umtauschen wollte. Für uns fing die Nacht jetzt erst an.

Als Aron an der Rezeption das umgetauschte Geld in Scheinen und Münzen zurückbekam, moserte er herum: „Was soll ich denn mit dem Klimpergeld? Ich bin doch kein Zigeuner. Sprechen Sie deutsch?“ Dann schob er die Münzen der errötenden jungen Dame an der Rezeption zurück. „Sie kleiner Goldkäfer, Sie!“ Da sie sehr aufgeregt war, aber äußerlich versuchte, ruhig zu bleiben, schwollen ihre Halsadern an, dass ihr Blut ein herrliches Fleckenmuster aus Rosa und Weiß bildete.

Plötzlich lief ein attraktiver, indisch aussehender Mann an uns vorbei. Als Aron ihn sah, rief er in die Runde: „Seit wann werden denn Rosenverkäufer hier reingelassen?“

Die Dame hinter der Rezeption wurde zur Abwechslung hinter ihrem Makeup ganz blass. Ihr herrliches Fleckenmuster war verschwunden.

„Du wolle Rose kauffe?“, äffte Aron einen Rosenverkäufer nach. Ich lachte gequält und machte unauffällig besänftigende Handbewegungen, denn langsam wurde mir die ganze Situation peinlich.

Der Inder blieb vor einem Lift stehen und schaute belustigt zu uns herüber. Er schien glücklicherweise kein Wort zu verstehen. Meine besänftigenden Handbewegungen schienen Aron noch mehr anzufeuern.

„Hab ich noch irgendwo einen Bentley herumstehen?“, fragte er die Rezeptionistin. Sichtlich dankbar, dass Aron von dem Inder abließ, antwortete sie: „Ich weiß es nicht, Herr Doktor.“

Aron: „Dann fragen Sie doch mal. Vielleicht in der Tiefgarage?“

Die Dame verschwand für einen Augenblick.

Ich fragte ihn neugierig: „Du hast einen Bentley?“

Aron schüttelte den Kopf und schaute mich mit seinem verschmitzten Jack-Nicholson-Blick an: „Ach, man muss doch das Personal immer irgendwie in Trab halten.“

Er war schon etwas bizarr, mein Aron.

Wir gingen wieder rüber in die Vox-Bar. Was tranken wir? Natürlich ein französisches Iso-Getränk!

Als Aron gerade wieder bei Herrn Edgar eine neue Rutsche Champagner bestellte, kam eine stark geschminkte Frau im violett glitzernden Abendkleid und weißem Bolero-Jäckchen suchend herein. Die kam Aron gerade recht.

Sofort stürzte er sich umgarnend auf sie, nahm dem heraneilenden Herrn Edgar eilig zwei Gläser vom Tablett und drückte ihr galant ein Glas in die Hand mit dem Satz: „Lassen Sie uns das Feuer unserer Herzen mit Champagner kühlen, Madame.“

Sie war beeindruckt, stellte sich als Lisa vor und erzählte mit einer rauchig dunklen Stimme, dass sie einen Schauspielerkollegen suche, der ihr eine Rolle in einem Film verschaffen wolle. Dabei unterstrich sie ihr gebrochenes Deutsch mit ihren beringten, merkwürdig großen, kräftigen Händen. Wie Männerhände, wunderte ich mich.

Aron forderte, dass wir erst einmal zusammen anstoßen sollten.

Arons Trinkspruch „Sehr zum Wohle, sagt der Pole, fahr nach Berlin, da machste Kohle“ brachte mich zum Lachen. Übermütig stießen wir unsere Kelche klirrend aneinander und genossen den perlenden Champagner.

Aron, der am meisten über seine Witze lachen konnte, kam jetzt so richtig in Fahrt und wollte noch drei Gläser bestellen. Doch als Lisa feststellte, dass sie nicht im Mandala Hotel war, sondern in der Vox-Bar, die zum Grand Hyatt Hotel gehörte, wurde sie nervös und wollte noch mal rasch hinüber ins Mandala Hotel, um ihren Kollegen zu suchen.

Aron und ich reagierten nicht auf ihre hilfesuchenden Blicke, denn sie drohte unsere ausgelassene Stimmung mit ihrer Ernsthaftigkeit zu gefährden. Aron hatte ohnehin abrupt sein Interesse an Lisa verloren, da er an der Theke schon neue „Opfer“ entdeckt hatte, zwei mit Juwelen behängte Frauen. Sie waren Besitzerinnen einer renommierten Privatbrauerei, wie sich später herausstellte.

Lisa setzte eine flehende Miene auf – mit einem AschenputtelBlick, der seine Wirkung auf mich nicht verfehlte. „Können Sie mich kurz ins Mandala Hotel begleiten, Herr Graf?“, flötete sie mit ihrer Sandpapierstimme. „Nur ein paar Minuten.“ Sie klimperte mit ihren langen Wimpern so heftig, dass ich sogar einen leichten Windhauch davon verspürte. „Bitte!“

Da es schon spät war, und ich stets Kavalier alter Schule bin, willigte ich ein, sie zu begleiten.

Beim Hinausgehen hörte ich wieder Arons Satz, den er gerade den beiden Diamantfrauen an der Theke sagte: „Lassen Sie uns das Feuer unserer Herzen mit Champagner kühlen, meine Damen.“ Sie kicherten.

Es regnete leicht. Auf dem Marlene-Dietrich-Platz hakte Lisa sich beherzt bei mir ein. Ich schaute zu ihr hoch, denn sie war fast zwei Köpfe größer als ich. Wir staksten nach rechts um die Ecke. Nun konnte ich sogar ihr Parfüm riechen. Es roch nicht schlecht. Es war eine Mischung aus frischem Zitrus und dem zarten, geheimnisvollen Duft französischer Rosen.

Ich konnte es kaum glauben – da ging ich eingehakt mit einer aufgetakelten Dame, die vielleicht ein Transvestit war und mit Bud-Spencer-Stimme belanglose Sachen plauderte, durch den neonfarbenen Regen. Als wir am Taxistand vor dem Grand Hyatt vorbeiwackelten, dachte ich zu mir: Das glaubt dir niemand. Verrückt! Wie in einer komödiantischen Filmszene. Es war aber Realität und nicht ausgedacht.

Als wir die Rezeption des Mandala Hotels betraten, schaute die Rezeptionsdame mich mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, weil sie dachte, Aron würde wieder jeden Augenblick hinter mir durch die Tür kommen. Sie wirkte etwas entspannter, als Lisa nach ihrem Kollegen fragte und Aron nicht auftauchte.

Die Hoteldame war wohl auf Lisas Erscheinen vorbereitet und verband sie telefonisch mit einem Zimmer. Dann reichte sie Lisa den Hörer, und es folgte ein kurzes Telefongespräch.

Als Lisa auflegte, stand eine Minute später der indische „Rosenverkäufer“ neben uns. Lisa stellte ihn mir vor, und er gab mir höflich die Hand. Als ich seinen Namen hörte, war ich wie vom Donner gerührt! Es war der derzeit wohl erfolgreichste indische Bollywood-Star Sha Rukh Khan!

In einer mir unbekannten Sprache unterhielten sie sich angeregt. Danach verabschiedete sich Sha Rukh Khan lächelnd von uns, und Lisa bat mich, sie noch zum Taxi zu bringen. Vielleicht klappe es ja morgen mit der Filmrolle, sagte sie hoffnungsfroh und deshalb wolle sie so schnell wie möglich ins Bett, damit sie für ihren Auftritt fit sei.

Am Taxistand vor dem Grand Hyatt verabschiedete ich sie galant mit einem Handkuss. Ich bin eben ein alter Kavalier vom Scheitel bis zum Kopf. Da mache ich keine Unterschiede, wie jemand sexuell ausgerichtet ist. Sie hauchte mir mit ihrer Bud-Spencer-Stimme ein tiefes „Bye, bye!“ zu und schenkte mir ein schneeweißes Fluorlächeln. Dann nannte sie dem Fahrer ihr Fahrtziel, das ich nicht verstand, ich schlug die Wagentür zu, und das Taxi verschwand laut dieselnd in der neonfarbenen Berliner Nacht.

Ich ärgerte ich mich, dass mich keiner von meinen Freunden gesehen hatte, wie ich filmszenengleich galant eine attraktive Dame mit Handkuss verabschiedete. Tja, immer wenn man sie braucht, sind sie nicht da.

Als ich zurück in die Vox-Bar ging, kam mir in den Sinn, dass ich mir so etwas als Kind immer gewünscht hatte – große weite Welt!

Ich erinnerte mich, wie ich damals in Münster am Stadtrand lebte, und der einzige Höhepunkt des Jahres war der Spielmannszug des örtlichen Schützenvereins, dessen Mitglieder, blau wie die Feldhaubitzen, am Ende des Tages in mittlerweile unordentlicher Uniform als bunter Haufen an unserem Jägerzaun vorbeischwankten, wie Matrosen bei hoher See.

Zurück in der Vox-Bar bekam ich gerade noch mit, wie Aron dem Mutter-Tochter-Gespann vorlog, dass er gerade mit seinem Privat-Jet in Schönefeld zwischengelandet sei, aber von der Flugaufsichtsbehörde keine Genehmigung zum Weiterflug bekomme, weil an seinem Jet etwas nicht in Ordnung sei. „Dann lass ich die Schüssel hier einfach stehen, zum Verschrotten“, flunkerte er den beiden Frauen vor, dass es nur so eine Pracht war. Die Privatbrauereibesitzerinnen nickten beeindruckt, nippten an ihrem Schampus und glitzerten und klunkerten um die Wette.

Ihre vermutlich sündhaft teuren Diamantgehänge funkelten wie Fahrgeschäfte auf der Kirmes. Um mir so etwas leisten zu können, muss ich wahrscheinlich mindestens tausend Bücher schreiben, dachte ich.

Aron nahm mich etwas zur Seite und fragte mich, was mit Lisa wäre? Ich berichtete ihm, dass sie nach Hause gefahren sei. Das meine er nicht. Dabei zwinkerte er mir zu. Ich verstand nicht, was er hören wollte.

„Was meinst du denn?“, fragte ich ihn.

„Na, du weißt schon.“

„Nee, was denn?“

„War das nun ein Mann oder ne Frau?“

„Woher soll ich das denn wissen?“

„Na ja, ich hab gedacht, du fühlst mal nach, ob die Olle ne Gangschaltung hat?!“

Hatte ich natürlich nicht. Aber dann lag ich mit meiner Vermutung wohl richtig, dass Lisa ein Transvestit war. Egal, es war jedenfalls eine buchreife Episode. Sicherheitshalber notierte ich mir die wichtigsten Eckdaten in mein kleines Notizbuch mit dem roten Lesebändchen.

Mit Aron habe ich schon viele solcher Geschichten erlebt. Das ist nützlich für einen Buchautoren, hat leider aber den Nachteil, dass ich durch die Unmengen Alkohol danach ein paar Tage krank bin. Wenn ich betrunken bin, habe ich nicht nur eine rote Nase wie mein Lieblingskomiker W.C. Fields, sondern mir treten dabei auch an den Schläfen die Adern stark hervor.

Mein guter Freund Kögl nennt das immer „Natterngezücht“ und kann daran sofort erkennen, dass ich gerade voll wie eine irische Kirchengemeinde bin.

So ging es mir dann auch an diesem Abend, der bis in den späten Morgen reichte. Immerhin: Es war teuerster französischer Schaumwein, der in meinen Adern pulsierte.

Von meinem letzten Buch hatte Aron 200 Exemplare gekauft, um sie dann in seinen Saufnächten nach und nach zu verschenken (und ich hoffe, er tut es auch wieder mit diesem Buch!). Ich erlebte das sogar einmal indirekt mit, als ich an einem Herbstregentag mit meiner lieben Freundin, der Jazzsängerin Nina Ernst,

ins Kreuzberger Yorckschlösschen ging.

Ich mag das legendäre Yorckschlösschen, insbesondere Herrn Dähmlow, den liebenswert-schrulligen Wirt, der immer zu allerlei skurrilen Späßen aufgelegt ist. Ich erinnere mich noch an eine legendäre Silvesterfeier im Yorckschlösschen. Es war herrlich dekoriert, und an der Decke schwebten goldene Helium-Ballons. Herr Dähmlow kam auf die Bühne, zeigte auf die Ballons an der Decke und sagte in seiner trockenen Art ins Mikrofon: „Um Punkt 24 Uhr holen wir uns alle einen runter und lassen dann draußen einen fliegen.“

Als wir das Yorckschlösschen betraten, spielte die Lenard Streicher Swingin’ Ballroom Band. Nina wurde, wie das unter Musikern so üblich ist, zu einem Gastauftritt aufgefordert. Es war ein wildes, stimmungsvolles Konzert, so dass nicht nur das Publikum, sondern auch die Kellner und Kellnerinnen ausgelassen tanzten. Die Rockabilly-Elemente erinnerten mich an die ersten legendären Konzerte meines alten Freundes Götz Alsmann, dessen Anfangsjahre ich in Münster miterleben durfte.

Da ich schon seit einiger Zeit etwas untertanzt war, schwoofte ich ebenfalls. Danach saß man noch mit der Band etwas zusammen und fachsimpelte über Musik. Dabei schaute mich der Bandleader Lenard immer so unauffällig auffällig von der Seite an. Das fand ich sehr merkwürdig.

Nach ein paar Whiskeys hatte er wohl Mut gefasst und sprach mich an. Ob ich zufällig der Autor des Buches „Werden Sie doch einfach Graf!“ sei? Als ich dies bejahte, sprühte ein Lobeshymnen-Feuerwerk über mein Buch aus ihm heraus, dass ich ganz verlegen wurde. Es stellte sich heraus, dass mein Freund Aron ihm mein Buch nach seinem Konzert in der Vox-Bar geschenkt hatte. Noch in der Nacht habe Lenard zu Hause im Bett darin angefangen zu lesen und dann nicht mehr aufhören können, erzählte er mir eifrig. Mittags hatte er es durchgelesen. Ohne zu schlafen! Ein größeres Kompliment konnte man mir nicht machen. Wir feierten noch bis tief in die Nacht …

Es gibt aber leider auch Menschen, mit denen ich, was mein Buch anging, schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Als einige vermögende Bekannte erfuhren, dass ich ein Buch geschrieben hatte, bekundeten sie Interesse und wollten gern eins haben. Wenn ich ihnen dann eine Widmung reingeschrieben hatte und höflich um 16,90 Euro bat, schauten sie mich an wie ein Pferd, das zum ersten Mal vor die Kutsche gespannt werden soll. Sie gingen frech davon aus, dass sie das Buch von mir geschenkt bekommen – dabei geben sie an einem Urlaubstag so viel Geld aus wie ich im ganzen Monat.

Und das Seltsamste daran war: Von den „Geschröpften“ wurde ich dann später nur noch sehr kühl gegrüßt. Mit einem Blick, als hätte ich ihr Tafelsilber mitgehen lassen. Und das alles wegen läppischer Sechzehnneunzig? Na bravo, feine „Freunde“ sind das. Geiz ist die Armut der Reichen, schrieb er Aphoristiker Werner Mitsch treffend.

Und Alfred Adler, seines Zeichens Psychotherapeut, schrieb zu diesem Thema: „Mit Neid eng verwandt, meist damit verbunden, ist der Geiz. Damit ist nicht nur jene Art des Geizes gemeint, die sich darauf beschränkt, Geldstücke zu sammeln, sondern jene allgemeine Form, die sich im wesentlichen darin ausdrückt, dass es jemand nicht über sich bringt, dem andern eine Freude zu machen, der also mit seiner Hingebung an die Gesamtheit oder an Einzelne geizt, eine Mauer um sich auftürmt, um nur selber seiner armseligen Schätze sicher zu sein.“

Also, meine lieben reichen Freunde – kauft dieses Buch, und alle folgenden! Gern auch mehrere von jedem, zum Verschenken. Denn auch dieses Buch gibt's nicht umsonst. Das letzte Hemd hat keine Taschen.

An jenem champagnerfeuchten Morgen fuhr ich, wie so oft, vom Grand Hyatt mit dem Fahrrad wackelnd nach Hause, denn Berlins öffentliche Verkehrsmittel kommen für mich zu später Stunde nicht in Frage. Erst recht nicht, wenn ich Alkohol getrunken habe. Ich sag’s mal so: Wenn du der einzige Fahrgast ohne Hals-Tattoo und Springerstiefel bist, kommen dir zwei Haltestellen doch recht lang vor …

Am nächsten Spätnachmittag war ich noch immer schwerstens verkatert. An solchen Tagen mag ich noch nicht mal Torte essen. Da rief Lisa mit der Bud-Spencer-Stimme an und erzählte mir, dass sie gerade mit Sha Rukh Khan für seinen Film „Don“ am Brandenburger Tor eine Szene drehe. Ich freute mich trotz meiner Kopfschmerzen wie ein paniertes Schnitzel mit ihr, dass es geklappt hatte. Von dem Gelage mit Aron hatte ich jedenfalls noch Tage später die Blutgruppe „Champagner positiv“.

*

Während ich noch so das Für und Wider einer Landreise überlegte, tauchte vor meinem Fenster eine rumänische Musikkapelle auf. Ein Trompeter, ein Akkordeonspieler und ein schulpflichtiger Junge mit Tamburin spielten lustige Weisen wie aus einem Fellini-Film, während ein junges Mädchen die spärlichen Geldbeträge von der Straße aufsammelte, die aus den umliegenden Fenstern geworfen wurden.

Auch ich wickelte eine 2-Euro-Münze in ein Stück des gestrigen „Tagesspiegel“ ein und warf sie aus dem Fenster, sorgfältig darauf bedacht, dass sie nicht auf dem Balkon unter mir landete oder im Straßengulli verschwand.

Das Mädchen hob mein Päckchen auf und öffnete es, küsste die Münze und warf einen glutäugigen Blick hoch zu mir. Nun sah sie aus wie auf einem der unzähligen Kaufhausölbilder mit dem Titel „Zigeunerin“. Auch die Kapelle bedankte sich freundlich bei mir und spielte plötzlich viel lauter und schneller.

Geld scheint zu motivieren, dachte ich mir. Wie bei mir! Ich beschloss, das Angebot meines Freundes anzunehmen. Aber nur ungern. Trotz der etwas „eigenwilligen“ Nachbarn. Mit eigenwilligen Menschen konnte ich eigentlich schon immer gut umgehen, das hatte sich in meiner Vergangenheit schon öfter gezeigt – das das klappt nur eben nicht immer. Doch davon später mehr. Ich beschloss, meine Reisefaulheit zu überwinden. Ich verreise halt nicht gern, ich fahre mir allerhöchstens mal durch die immer spärlicher werdenden Haare.

Nun galt es, alles genau zu planen: Was mache ich mit meinem Fahrrad? Denn ohne mein geliebtes Miele-Fahrrad fahre ich nirgendwo hin. Wie komme ich mit meinem ITS aufs Land? Der Transport machte mir Sorgen. Und was nehme ich alles mit? Fragen über Fragen.

2. Eine turbulente Reise mit Überraschungen oder Der „Führer“ fuhr Fahrrad

Mein alter Freund Kutte musste mir helfen, die Reise mit dem Fahrrad zu bewältigen. Ich kenne ihn noch aus alten Hausbesetzerzeiten. Kutte war ein Riese von Mensch, sah aus wie ein etwas zu groß geratener Ozzy Osborne und war immer schwarz gekleidet (wie ich früher). Seine Hände sind etwa so groß wie Tiefkühlpizzas, und seit seiner Pubertät trägt er einen langen dunkelbraunen Pferdeschwanz, der mittlerweile mit grauen Strähnen durchzogen ist. Kutte ist unter anderem ein gescheiterter Wurstbudenbesitzer und nennt sich jetzt „Schrauber“, denn er lebt mehr schlecht als recht vom Auto-An- und -verkauf. Auf ihn ist immer Verlass, und er hatte mir schon oft geholfen. Wer sahen uns nicht sehr oft, aber wenn, dann immer sehr intensiv. Außerdem konnte ich über seinen Berliner Mutterwitz immer lachen. Kutte war einer, den man gerne am Tresen treffen will, wenn das Leben mal wieder zu entgleisen droht.

Kutte musste mir helfen. Ich rief ihn an.

„Jraf, alte Säule! Na? Wo quietscht der Käse?“ berlinerte Kutte, wie immer.

Ich erläuterte ihm mein Problem mit dem Fahrrad.

„Keen Problem, Jraf. Dit wer’n wa schon fingern, wa?“

Auf Kutte war eben immer Verlass!

*

„Es kommt ein Zeitpunkt im Leben, an dem du realisierst, wer dir wichtig ist, wer es immer sein wird und wer es nie war! Mach dir keine Gedanken über die Menschen aus deiner Vergangenheit, denn es gibt einen Grund, warum sie es nicht deine Zukunft geschafft haben.“ Ein schönes Zitat unbekannter Quelle.

Von vielen Menschen, die mir nicht gut taten oder die mich in meiner Entwicklung ausbremsten, habe ich mich in letzter Zeit getrennt. Sie saugen einem viel Kraft und Energie aus Körper und Seele, und dann bleibt nur noch die eine Möglichkeit: sich zu trennen.

Sich von Menschen trennen zu können, kann man nicht früh genug lernen. Leider war ich lange Zeit viel zu gutmütig und tolerant. So manche sogenannte Freunde begleiten einen durchs Leben, obwohl man schon lange nicht mehr zusammen passt. Viele meiner ehemaligen sogenannten Freunde müssten erschrecken, wenn sie statt ihres Gesichts ihren Charakter im Spiegel sähen. Da hilft dann nur noch ein radikaler Schnitt. Das geht oft nicht ohne Komplikationen und Emotionen. Ich musste erst einmal lernen, mich von den sogenannten Freunden, die meine Gutmütigkeit ausgenutzt hatten, zu trennen. Aber so schafft man sich Raum für die Menschen, die einem wichtig und wertvoll sind. Die wahren Freunde. Ich habe es nie bereut. Seitdem habe ich viel mehr Erfolg im Leben! Um meine Veränderung zu versinnbildlichen, hier ein Gedicht von dem tibetischen Meditationsmeister Sogyal Rinpoche (Verlag Droemer Knaur):

Autobiographie in fünf Kapiteln

1 Ich gehe die Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich falle hinein. Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung. Es ist nicht meine Schuld. Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

2 Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich tue so als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, schon wieder am selben Ort zu sein. Aber es ist nicht meine Schuld. Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

3 Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich sehe es. Ich falle immer noch hinein … – aus Gewohnheit. Meine Augen sind offen, ich weiß, wo ich bin. Es ist meine eigene Schuld. Ich komme sofort heraus.

4 Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich gehe darum herum.

5 Ich gehe eine andere Straße.

Von diesem Gedicht kann man über den Umgang mit falschen Freunden viel lernen. Mein langjähriger Freund Kutte war jedoch einer, der es mit Bravour in meine Zukunft geschafft hatte.

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Also ging es ein paar Tage später los. Die Reise ins Wochenendhaus meines Bekannten stand kurz bevor. Ich war schon ganz aufgeregt. Es war ein herrlich sonniger Tag, und die Vögel zwitscherten um die Wette, als wollten sie auf dem Eurovision Song Contest den ersten Platz machen. Nur besser. Ich hatte alles für meinen Landausflug vorbereitet und musste nur noch den Wasserhaupthahn in meinem Badezimmer zudrehen. Sicher ist sicher.

Ein gellender Pfiff erreichte mich oben in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Ein schneller Blick aus dem Fenster genügte – Kutte war da. Er stand mit seinem alten, zimtfarbenen 70er-Jahre-Jaguar in der zweiten Reihe vor meinem Haus.

Neben ihm lehnte Willi am Auto, sein Kalfaktor. Willi war der beste Kumpel von Kutte und so etwas wie sein persönlicher Butler (das Wort Kalfaktor, falls Sie sich das fragen sollten, geht auf das mittelalterliche calefactor zurück, was so viel wie Heizer heißt). Für Willi war Kutte der Größte, deshalb sagte er nie viel, sondern lachte bei jedem Witz von Kutte wie Ernie aus der Sesamstraße. Nämlich so: „Chr, chr, chr.“

Willi hatte eine Halbglatze, auf der viele Treuepunkte der Sonne zu sehen waren – nämlich Sommersprossen. Er trug ständig dieselbe abgewetzte blaue Jeansjacke, aus der immer aus der linken Brusttasche ein Päckchen Tabak herauslugte. Auf seinen Knöcheln der linken Hand stand eintätowiert: H-A-S-E. Und dazu kam es so: Willi saß einmal wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ein paar Tage in Untersuchungshaft. Er fühlte sich unschuldig und hasste die ganze Welt. Deshalb wollte er sich H-A-S-S auf seine Handknöchel tätowieren. An jedem Tag schaffte er einen Buchstaben. Doch als er am vierten Tag plötzlich unverhofft entlassen wurde, war sein ganzer Hass verraucht. Jetzt stand auf seiner Hand aber nur H-A-S. Um dem Ganzen doch noch einen Sinn zu geben, ergänzte er das Wort um ein E. Nun stand da eben H-A-S-E. Weil er im Chinesischen Sternzeichen Hase war, log er alle an, die danach fragten.

Einmal erzählte Willi mir, dass er seine Frau, von der er mittlerweile „glücklich geschieden“ sei, nur geheiratet habe, weil sie Bier als Haarfestiger verwendete. So war er sicher, dass immer welches im Haus sein würde. Sein Leben lang war Willi straffällig gewesen, und die Polizei hatte inzwischen von Willi mehr Fotos gemacht als seine Eltern zu seiner Kinderzeit.

Außerdem hatte ich mal ein Techtelmechtel mit seiner Kusine, das sehr unschön endete. Aber das steht alles in meinem vorigen Buch.

Den ledernen Rollkoffer voller Unterhosen und nichts als Buchideen im Kopf verließ ich meine Wohnung. Bei der netten hilfsbereiten Frau Ast, der Hauseigentümerin, hatte ich schon einen Tag vorher meinen Briefkastenschlüssel abgegeben mit der Bitte, meinen Briefkasten regelmäßig zu leeren.

In einer Collegemappe hatte ich mein Notebook (ein schreckliches englisches Wort! Aus diesem Grunde werde ich es im Folgenden nur noch „Klapprechner“ nennen), meine Papiere und etwas Bargeld. Kutte empfing mich unten auf der Straße gut gelaunt wie immer: „Hoffe, wohl jeruht zu haben, Jraf“, und machte einen übertriebenen Hofknicks.

„Chr, chr, chr“, lachte Willi.

Ich nahm es zur Kenntnis, und Kutte nahm mir beflissen meinen Koffer und die Collegemappe ab. Ich begrüßte die beiden. Ich hatte gedacht, dass Willi mitfährt, aber Willi erklärte mir ernst, dass sein alter Kumpel Kutte ihm nur eine Mitfahrgelegenheit gegeben hatte, weil er in meinem Kiez „geschäftlich“ zu tun hätte.

Bei der Gelegenheit übergab ich Kutte meinen antiken Grafenstock zum Restaurieren. Den brauchte ich ja nicht in der Walachei. Kutte konnte einfach alles. Ein handwerkliches Multitalent.

Man hörte das unermüdliche Rauschen der nahegelegenen Stadtautobahn A 100, das sich mit dem metallisch surrenden Geräusch der S-Bahn vermengte. Um die Großstadtsymphonie zu vervollkommnen, jaulte gegenüber vor Lidl auch noch ein angeleinter Köter sein Klagelied. Heimatklänge.

Plötzlich zu allem Überfluss ein lautes Hupen. Es war ein riesiger schwarzer BMW X5, den meist zierliche Frauen von einsfünzig Körpergröße fahren. Dieses Mal saß aber ein südeuropäisch aussehender junger Schnösel mit hässlich-fettigem Proll-Araber-Haarschnitt darin. Ihn störte es anscheinend, dass Kutte in zweiter Reihe parkte und er mit seinem riesigen Schiff dort kaum vorbei passte. Aus dem Autoradio dröhnten nervig jaulende, orientalische Klänge.

„Du kannst mir ma anne Pupe schmatzen“, schrie Kutte ihm hinterher und zeigte ihm einen Stinkefinger, während Willi schadenfroh sein obligatorisches „Chr, chr, chr“ zum Besten gab. Plötzlich blieb der BMW stehen, krachend und knirschend schaltete der Fahrer seinen Rückwärtsgang ein. Er hatte wohl Kuttes Stinkefinger im Rückspiegel gesehen. Die schwarze Protzschüssel setzte mit quietschenden Reifen zurück.

„Schönen Gruß vom Getriebe: Der Gang war drin!“, johlte Kutte vergnügt. Als der Wagen neben ihm zum Stehen kam, schrie Kutte den Fahrer an, bevor dieser Luft holen konnte: „Ick hau dir gleich ne Wendeltreppe in`n Hals, dann kannste dein Essen zu Fuß runtertragen!“

„Chr, chr, chr“, machte Willi.

Als der BMW-Fahrer mitbekam, dass wir zu dritt waren und er wahrscheinlich den Kürzeren ziehen würde (den er wahrscheinlich auch in seiner Hose hatte, denn sonst würde er ja nicht so ein Angeberauto fahren), machte er sich mit quietschenden Reifen davon, obwohl die Straße eine verkehrsberuhigte Zone war.

„Verfatzda! Jeh ma aus de Oojen“, schrie Kutte ihm hinterher und wandte sich wieder Willi und mir zu. Er nahm mir mein Gepäck ab und verstaute es gewissenhaft im Inneren seines Luxusgefährts.

Dann ging ich zu der alten Schinkel-Gaslaterne vor meinem Haus, die schon dem alten Heinrich Zille nächtens den Weg geleuchtet hatte und die ich seit über zwanzig Jahren für mein altes schwarzes Miele-Fahrrad, Baujahr 1953, als Dauerparkplatz benutzte.

Als ich mein ITS von der Laterne schloss, hielt ein gelbes DHL-Postauto neben mir, mit dem wahrscheinlich besten und pfiffigsten Paketzusteller der Welt: Herrn Meier. Manchmal bringt er mir meine Pakete bis in mein Stammcafé am Klausenerplatz. Genial, der Mann! Herr Meier hielt in der einen Hand eine Zigarette und rief mir aus seinem Wagen in leicht sächselndem Dialekt heraus zu: „Heute habe ich nichts für Sie, Herr Graf.“

Ich erklärte ihm, dass ich für ein paar Wochen zu verreisen dächte und er gegebenenfalls meine Pakete bei Frau Ast, meiner Wohnungsvermieterin, abgeben könnte. Er nahm es zur Kenntnis, machte eine grüßende Handbewegung und wünschte mir eine gute Reise, „Herr Graf!“.

Dann ging ich mit meinem Tretross zurück zu Kutte. „Jrafenwetter, wa?“ rief Kutte mir über die Straße zu, während er zwei große rot-blau karierte Einkaufstaschen aus Plastik, wie sie oft von Osteuropäern benutzt werden, aus dem Kofferraum holte und Willi in die Hand drückte.

Als ich einen neugierigen Blick hinein warf, entdeckte ich erstaunt, dass sie ein paar aufgeblasene Luftballons enthielt. Willi bemerkte meinen Blick und stellte die Taschen schnell beiseite an den Straßenrand, als wenn er etwas zu verbergen hätte. Dabei schaute er mich an wie ein Dackel, der gerade etwas Unartiges gemacht hat. Ich wollte Willi nicht in Verlegenheit bringen und fragte ihn instinktiv nicht, was es mit den Luftballons auf sich hatte.

Das Geheimnis der beiden Taschen sollte sich alsbald sowieso von alleine auflösen – leider zu Ungunsten von Willi. Doch davon später.

Gemeinsam hievten wir mein Fahrrad in den mit Umzugsdecken ausgepolsterten Kofferraum des Jaguars. Es passte nicht ganz hinein, so dass das Vorderrad herausragte. Aber Kutte beteuerte, dass das nicht so schlimm sei.

Willi mischte sich ein und schlug vor, das Vorderrad abzubauen.

„Dann können wir es ganz rein schieben. Das geht ruck-zuck.“

Dafür erntete Willi von Kutte einen bösen Blick.

„Hab ick von Bockwurscht jeredet, det du dein Senf dazu jibst?“

Willi schaute Kutte mit Dackelblick an und bereute sichtlich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Dann befestigten beide, schweigend wie ein eingespieltes Team, mein Fahrrad und die Kofferraumklappe fachmännisch mit Expandergurten.

Aus einem vorbeifahrenden Auto hörte man aus dem Autoradio Peter Fox schreien: „Guten Morgen, Berlin, du kannst so hässlich sein, deine Nächte fressen mich auf …“ Wie Recht er hat, der Herr Fox, dachte ich.

Ich sah, wie Kutte sich einen Flecken von seiner Hose wischte.

Jetzt bemerkte ich erst, dass Kutte sich neu eingekleidet hatte! Als ich ihn darauf ansprach, sagte er verunsichert: „Hab ick mir für’n schmalen Taler jekooft.“

Ich schaute ihn prüfend von oben bis unten an. Schwarzes Sakko mit mitternachtsblauem Futter, schwarzes Hemd und schwarze Cargohose.

„Seh ick jetze nich aus wie een Loddel?“

„Jau …“, sagte Willi und lachte sein stakkatohaftes „… chr, chr, chr.“

Kutte warf Willi böse Blicke zu: „Gleich klatschtet – aber keen Beifall!“

Willi schaute bedröppelt zu Boden.

„Nein“, log ich. „Eher wie ein Werbemensch. Ja, genau, du siehst aus wie ein erfolgreicher Werbemensch.“

Tatsächlich liefen in den 90er-Jahren alle Zuhälter am Stuttgarter Platz so in Schwarz herum. Dazu eine protzige Rolex am Handgelenk und ein schwarzer Ford-Mustang vor der Tür.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass mein Fahrrad sicher befestigt war, verabschiedete sich Willi von uns, schnappte sich seine rätselhaften Taschen und schlurfte schnurstracks auf den riesigen Rewe-Markt an der Sophie-Charlotten-Straße, Ecke Knobelsdorffstraße zu.

Kutte rief Willi noch etwas hinterher.

„Willi?“

„Ja?“

„Lass dich nich anquatschen!“

„Chr, chr, chr.“

Herrlich die beiden, dachte ich.

*

Kutte und ich fuhren los, wendeten in einer Einfahrt, überholten den schlurfenden Willi und winkten ihm grinsend zu.

Als wir in Wannsee vor einer roten Ampel standen, entdeckte ich einen uralten Teddybär auf dem Armaturenbrett. So einen hässlichen mit kahlen Stellen, wie Mr. Bean ihn immer in seinen Sketchen hatte. Ich roch daran. Er hatte das Aroma vergangener Kinderzeiten.

„Ein neuer Talismann, Kutte?“, fragte ich.

„Nee, dit is mein alter Teddy. Hab ick wiedergefunden. Er heißt Genscher.“