Abschied auf Italienisch - Andrea Bonetto - E-Book
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Andrea Bonetto

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Beschreibung

In Ligurien ermittelt ein neuer Commissario: »Abschied auf Italienisch« ist der erste Fall für Commissario Vito Grassi und Band 1 von Andrea Bonettos Urlaubskrimi-Reihe aus dem Nordwesten Italiens. Sein römisches Revier hat der mit allen Wassern gewaschene Commissario Vito Grassi im Griff, aber privat gehen ihm die Felle schwimmen. Als er nach dem plötzlichen Tod seines Vaters dessen Haus in Ligurien erbt, wagt er die Flucht nach vorn und lässt sich in die Provinz versetzen. Doch neben atemberaubenden Aussichten auf die Küste der Cinque Terre und dem liebevoll hergerichteten Rustico mit eigenem Olivenhain erwarten Grassi gleich zwei Morde – und eine kluge junge Kollegin, mit der er es sich beinahe schon am ersten Tag verscherzt. Und dann ist da auch noch Toni, die streitbare Mitbewohnerin seines Vaters, die gar nicht daran denkt, aus dem Haus auszuziehen … Die neue Krimi-Reihe um den ebenso sensiblen wie unangepassten Großstadt-Kommissar Vito Grassi im ländlichen Ligurien bietet spannende und herrlich atmosphärische Unterhaltung für die Ferien -  egal. ob im Urlaub im schönen Italien oder auf dem heimischen Balkon. Andrea Bonettos Urlaubskrimi wird Leser*innen von Donna Leon über Pierre Martin und Jean-Luc-Bannalec bis Gil Ribeiro begeistern.

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Andrea Bonetto

Abschied auf Italienisch

Ein Ligurien-Krimi

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Über dieses Buch

In Ligurien ermittelt ein neuer Commissario: »Abschied auf Italienisch« ist der erste Fall für Commissario Vito Grassi und Band 1 von Andrea Bonettos Urlaubskrimi-Reihe aus dem Nordwesten Italiens.

Für den mit allen Wassern gewaschenen Commissario Vito Grassi aus Rom läuft es privat seit einiger Zeit alles andere als rund: Als er das Haus seines Vaters im kleinen Städtchen Levanto in Ligurien erbt, nutzt er die Chance, sich versetzen zu lassen. Doch neben atemraubenden Aussichten auf die Küste des Cinque Terre und dem liebevoll hergerichteten Rustico seines Vaters inmitten eines Olivenhains erwarten Vito gleich zwei Morde – und eine kluge junge Kollegin, mit der er es sich beinahe schon am ersten Tag verscherzt. Dann ist da auch noch Toni, die streitbare Mitbewohnerin seines Vaters, die gar nicht daran denkt, aus dem gemeinsamen Haus auszuziehen …

Die neue Krimi-Reihe um den ebenso sensiblen wie unangepassten Großstadt-Kommissar Vito Grassi imländlichen Ligurien bietet herrlich atmosphärische Unterhaltung für die Ferien, ob im Urlaub im schönen Italien oder auf dem heimischen Balkon. Andrea Bonettos Urlaubskrimi wird Leser*innen von Donna Leon über Pierre Martin und Jean-Luc-Bannalec bis Gil Ribeiro begeistern.

Inhaltsübersicht

Widmung

Ankunft

Toni

Die erste Nacht

Die Tote

Die Quästorin

Ricci

Zusammen

Post mortem

Im Wald

Wellen

Im Tunnel

Der Bürgermeister

Spekulationen

Familienbild

Ohrfeigen

Potemkinsche Dörfer

Tricks

Lupo

Monaco

Rauch

Trauer

Väter und Söhne

Wahrheiten

Dank

Fragen an Andrea Bonetto

Leseprobe »Azzurro mortale«

Für meine Kinder nah und fern

Ankunft

Damals mit Chiara unter dem Sternenzelt in der Wüste von Mexiko. Der Moment, als Lucy die Schulbühne betrat und ihr Abschlusszeugnis entgegennahm. Das Abendessen mit den guten Freunden in der kleinen Seitengasse nahe der Accademia in Venedig. Was machte diese Ereignisse und Orte für den Rest des Lebens so wertvoll? Das Gefühl, mit sich, mit anderen Menschen, mit der Welt im Reinen zu sein? War sein Vater mit sich im Reinen gewesen?

Das fragte sich Commissario Vito Grassi, immerhin auch schon zweiundfünfzig Jahre alt, der am nächsten Tag, einem Montag Mitte März, seinen Dienst in der Questura von La Spezia antreten würde. Er war von La Spezia kommend über die Strada Provinciale 38 in den Parco Nazionale delle Cinque Terre hineingefahren und hatte oberhalb von Monterosso die Abzweigung gefunden, die ihn zu der Stelle führte, an der sein Vater ihn fünf Jahre zuvor zum Anhalten aufgefordert hatte.

Damals waren sie ausgestiegen und an den Rand der einsamen Straße hoch über dem alten Kloster getreten. Sein Vater hatte die Arme ausgebreitet, als wollte er diesen Teil der Welt umarmen. Für ihn war es ein besonderer Moment gewesen. Schau, hatte seine Geste bedeuten sollen, wie Vito Grassi nun verstand: Hier mache ich meinen Frieden mit der Welt. Nach dem Tod meiner Frau, nach den Jahren der Trauer und der Verlorenheit ohne Giulia kehre ich hierher zurück. Fühlst du, Vito, was ich fühle? Verstehst du mich jetzt?

Aber Vito hatte nichts gefühlt und nichts verstanden. Halbherzig war sein Blick Emilios Finger gefolgt, der ihm zeigen wollte, auf welcher kleinen Anhöhe er sein Haus aus eigener Kraft wieder aufbauen wollte. Er hatte die überwältigende Schönheit der Landschaft gesehen, aber er war nicht bei der Sache gewesen – und nicht bei seinem Vater. Stattdessen wurmte ihn Emilios Eigensinn, der von seinen, wie Vito fand, versponnenen Plänen nicht abzubringen gewesen war. Er fragte sich, wovon sein Vater hier leben wollte. Und er fühlte einen Stich im Herzen, weil Emilio mit keinem Wort anerkannte, dass der Tod der Mutter Vito genauso getroffen hatte wie den Vater. Er hatte für diesen Ausflug nach Ligurien unerledigte Fälle in Rom zurückgelassen und eine bevorstehende Auseinandersetzung mit seiner Frau Chiara nur aufgeschoben. Er hatte wieder weggewollt, kaum, dass er angekommen war.

Jetzt, fünf Jahre später, musste er ankommen, denn er hatte eine Entscheidung getroffen.

Grassi stieg aus dem Roadster, trat an den Rand der Straße und nahm die atemberaubende Küstenlinie in sich auf, die in der sinkenden Frühlingssonne spektakulär klar vor ihm lag. Sanft bewaldet und doch wild zerklüftet schien das Land sich ins Meer zu stürzen. Von hier aus konnte er bis nach Frankreich sehen und sogar die schneebedeckten Spitzen der Seealpen ausmachen. In Gedanken folgte er noch mal dem Finger seines Vaters, fand die Anhöhe mit dem Haus. Sein Haus, dachte er leicht beklommen. Und nachdem er sich umgesehen und davon überzeugt hatte, dass niemand ihn beobachtete, schloss er die Augen unter den grauen Haaren, die ihm locker gewellt ins Gesicht wehten, streckte das markante, glatt rasierte Kinn in den Wind und breitete die Arme aus wie damals sein Vater. Er griff nach einem Gefühl der Verbundenheit zu Emilio, aber bevor er es zu fassen bekam, war es schon wieder verflogen. Vito Grassi ließ die Arme sinken und wandte sich von dem Panorama ab. In den spiegelnden Scheiben seines Autos wurde seine schlanke Gestalt mit den langen Beinen wie bei einem Zerrspiegel in die Länge gezogen. Ihn fröstelte. Er stieg wieder ein, folgte eine weitere halbe Stunde langsam fahrend der schmalen, kurvigen Höhenstraße und bog dann nach links in das Tal von Levanto ein. Der Akku des Roadsters stand auf dreizehn Prozent.

Toni

Den Entschluss, aus Rom in die Provinz zu ziehen, hatte Vito Grassi kaum zwei Monate zuvor sehr überraschend für seine Familie und für sich getroffen. An einem grauen Tag Mitte Januar hatte er vom Tod seines Vaters erfahren. Der Kontakt zu ihm war schon seit Jahren eher sporadisch, wenn auch nicht lieblos gewesen. Die Todesnachricht hatte Grassi mit einer ungeahnten Wucht getroffen. Zweiundsiebzig war noch kein Alter, das würde er in zwanzig Jahren auch geschafft haben.

Seit seine Frau Giulia, Vitos Mutter, an Krebs gestorben war, hatte Emilio alleine gelebt. Und nachdem sich für den Geschichtslehrer an einer Scuola Secondaria die Gelegenheit ergeben hatte, sich früher pensionieren zu lassen, war er auf die Idee gekommen, ein Haus in Ligurien, der Region seiner Kindheit, zu kaufen. Das heißt: Ein Haus war es eigentlich erst gegen Ende von Emilios Leben gewesen, davor eher ein Projekt. Eine Ruine, die Emilio weitestgehend allein und mit etwas Hilfe von ein paar alten Freunden aus Jugendtagen über fünf Jahre etappenweise erst zu einem Haus und dann zu seinem Heim gemacht hatte. Vito hatte seinen Vater ein einziges Mal in Levanto besucht. Chiara hatte vorgeschlagen, Vito solle seinem Vater zu Beginn ein paar Tage zur Hand gehen. Er hatte es versucht, war jedoch während seines einwöchigen Besuchs das Gefühl nie losgeworden, im Weg zu stehen. Das Vorgehen seines Vaters war ihm ein Rätsel. Er schien einem Bauplan zu folgen, der nur in seinem Kopf existierte und bei dem das Bauen selbst das Ziel war. Lediglich Emilios Schlafzimmer war damals halbwegs bewohnbar gewesen, weshalb Vito ein Zelt auf der Wiese vor dem Haus aufschlagen musste.

Emilio Grassi hatte sich Zeit gelassen. Mit scheinbar unendlicher Geduld sammelte er Natursteine von den fast zwanzigtausend Quadratmetern Land, die das Haus umgaben, rührte seinen eigenen Mörtel an und formte so auf den Resten des verfallenen Rustico nach und nach sein Haus. Gesprochen hatte Vito ihn in dieser Zeit selten. Erst im letzten Lebensjahr seines Vaters konnten sie öfter telefonieren, weil Emilio sich endlich ein Smartphone angeschafft hatte. Dieser kleine Schritt in die Moderne war für ihn wohl oder übel notwendig geworden, weil er für die Wasserversorgung einen neuen Brunnen bohren lassen musste. Das konnte er beim besten Willen nicht mehr selbst bewerkstelligen, für diese Bauarbeiten musste er erreichbar sein.

Wie überrascht Vito gewesen war, als er plötzlich Textnachrichten von Emilio erhielt. Und noch überraschter, als Bilder des bescheidenen Hauses in Levanto folgten. Es war schön geworden: fünf Zimmer, eine große, zum Wohnzimmer hin offene Küche, ein einfaches, aber modernes Bad, eine Terrasse, von der aus man zwischen zwei Berghängen ein Stückchen Meer sehen konnte. Sogar ein separates Pizzahäuschen hatte Emilio noch hinter dem Haus gemauert. Es war seine letzte Tat gewesen.

In Gedanken sah Vito seinen Vater am Hang oberhalb des Hauses stehen und sein Werk betrachten. Er hatte es noch vollbracht. Und das konnte den chronisch sarkastischen römischen Polizisten immerhin ein wenig trösten. Insgeheim hatte er gehofft, dass Emilio und er noch Zeit miteinander würden verbringen können. Nachdem er die Bilder des Hauses gesehen hatte, hätte er sich sogar vorstellen können, mit ihm auf der Terrasse zu sitzen und im letzten Licht eines warmen Sommertages eine Flasche Wein zu leeren. Vito galt manchen als launisch, aber eigentlich neigte er zur Gefühligkeit. Ganz anders als sein Vater. Emilio hätte vermutlich nur zehn Minuten stillsitzen können.

So gründlich und beharrlich Emilio beim Bau seines Hauses gewesen war, so wenig Sinn hatte er für das Ordnen persönlicher Dinge und Papiere gehabt. Und so kam es, dass die Behörden in Levanto einige Tage lang nichts vom einzigen Familienangehörigen in Rom wussten, nachdem Emilio Ende Januar mit einem schweren Schlaganfall in das Ospedale San Nicolò eingeliefert worden und dort kurz darauf gestorben war.

Die Mail, die Vito schließlich Tage nach Emilios Einäscherung und Beisetzung über den Tod seines Vaters informierte, war mit »Toni« unterschrieben. Den wenigen Zeilen entnahm Vito, dass Toni offenbar als eine Art Gärtner für Emilio gearbeitet hatte und nach dessen Tod im Haus lebte und darauf aufpasste. Vito war sehr recht, dass sich jemand kümmerte, bis er eine Entscheidung darüber getroffen hatte, was geschehen sollte.

In der ersten Nacht nach dieser Nachricht hatte er lange wach gelegen, über verpasste Momente nachgedacht und über Gespräche mit seinem Vater, die nie stattgefunden hatten. Als er nach kurzem, unruhigem Schlaf allein in der Dämmerung erwacht war – Chiara war wegen seiner Schnarcherei auf das Sofa gezogen, wie so oft in letzter Zeit –, hatte er eine Entscheidung getroffen: Er würde Emilios Haus nicht einfach verkaufen oder vermieten.

Also beantragte er bei seiner Dienststelle die Versetzung nach La Spezia und versuchte, seiner Familie zu erklären, was sie ihm ohnehin nicht abnahm: dass der eingefleischte Römer einen Tapetenwechsel brauchte. Chiara erwiderte, dass sie ihre gut gehende Landschaftsgärtnerei natürlich nicht aufgeben würde für eine solche Schnapsidee, und die Kinder waren mit sich selbst beschäftigt. Sein Sohn Alessandro studierte Politik in Pavia, seine Tochter Lucy Kunst in Berlin. Es wurden zwar keine Wetten abgeschlossen, aber übereinstimmend war die Familie der Ansicht, dass Vito es nicht lange in der ligurischen Idylle aushalten und bald reumütig nach Rom und ins Leben zurückkehren würde.

Dann ging alles sehr schnell. Sein Kollege im Kommissariat von La Spezia schied mit Burn-out aus dem Dienst aus, und schon Mitte März packte Vito eine Tasche mit seiner üblichen Kleidung: Jeans und Jacketts, eine Kollektion groß gemusterter Hemden und schwarze Halbschuhe. Er brauchte ein ganzes Wochenende, um sich für die hundert Lieblingsplatten aus seiner umfangreichen Sammlung zu entscheiden. Am Ende machte er es wie Noah: ein Paar von jeglicher Art. Billie Holiday und Miles Davis; Kendrick Lamar und Beastie Boys; Gregory Porter und Aretha Franklin; Talking Heads und St. Vincent; Stones und Beatles. Wobei Vito es sich bei den Beatles leicht machte und einfach die ganze Vinyl-Mono-Box in den Fußraum vor dem Beifahrersitz lud. Plattenspieler und Verstärker mussten ja auch noch in den kleinen Sportwagen. Er hoffe inständig, dass die 300-Watt-Endstufe seiner Anlage die Sicherungen im Haus nicht überforderte.

Auf dem Weg von Rom nach Ligurien machte er in Grosseto eine längere Mittagspause an einem der wenigen Supercharger auf der Strecke. Zu Hause hatte er den Roadster einfach jeden Abend an die Garagensteckdose gehängt und höchstens bei Wochenendausflügen mit Chiara ans Meer auf die Reichweite geachtet. Bei zügiger Fahrt auf der Autostrada und so vollgepackt ließ der Akku schnell nach. Der Roadster war ein Elektroauto der ersten Generation, im Grunde ein schicker englischer Sportwagen, vollgestopft mit amerikanischer Technik und Laptop-Akkus, noch keiner dieser modernen rollenden Tabletcomputer, die alberne Namen mit i oder q davor trugen.

Nach einem Caffè und einem Cornetto bremste Grassi sich und rollte mit Dauertempo neunzig weiter durch die braune Maremma.

Die dreizehn Prozent Akkuladung waren nicht das einzige Problem für seinen Wagen auf der letzten kurzen Etappe. Vito hatte das gut ein Kilometer lange Privatsträßchen, das zu Emilios Haus führte, völlig vergessen. Gegen diesen schlecht asphaltierten Trampelpfad war die Via Appia Antica eine deutsche Autobahn. Das Sträßchen war kaum breit genug für ein Auto. Vito musste erschrocken in die seitlichen Büsche ausweichen, um nicht frontal mit einem rasant entgegenkommenden Mountainbiker zusammenzustoßen. Die Spurrillen waren so tief und der Mittelstreifen so steinig, dass es einem normalen Auto den Tank aufgeschlitzt oder den Auspuff abgerissen hätte. Die Spitzkehren waren so eng und steil, dass Vito bei jedem Stoß der beinharten Federung dachte, er würde gerade seinen eigenen zerfetzten Frontspoiler überfahren. Auf den letzten steilen Metern zählte er auf dem kleinen grauen Display in der Mittelkonsole bang die Restkilometer herunter. Als er endlich durch das schmale rostige Tor den Hausplatz erreichte, schien der Roadster sofort in einen erschöpften Schlaf zu fallen. Punktlandung. Grassi atmete auf.

Am Haus wartete die nächste Überraschung: »Toni« war kein Gärtner, sondern eine Gärtnerin. Sie hatte ihren dunklen dichten Haarschopf zu einem losen Dutt zusammengesteckt und musterte Vito Kaugummi kauend und ein wenig misstrauisch aus zusammengekniffenen braunen Augen über den hohen Wangenknochen. Grassi schätzte sie auf Mitte vierzig.

»Buongiorno, ich bin Vito«, stellte er sich vor. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen.«

»Hallo, Vito.« Sie putzte die rissige rechte Hand notdürftig an der Latzhose ab, in der ihr drahtiger Körper steckte, und streckte sie ihm hin. »Oder muss ich ›Commissario‹ zu dir sagen?«

Er lachte auf, erleichtert darüber, dass ihre Stimme freundlicher klang, als es ihre Miene ausdrückte. »Nicht nötig, Vito reicht.«

Nach dem Händedruck standen sie einander unschlüssig gegenüber. Sie schien nicht die geringste Lust zu haben, mit weiterem Small Talk das Eis zu brechen.

»Ich dachte wegen des Namens, du wärst … na ja, ein Mann.«

»Und jetzt bist du enttäuscht?« Sie biss fester auf ihren Kaugummi.

Grassi schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, nur überrascht. Wofür ist ›Toni‹ die Abkürzung?«

»Egal, bleib einfach bei Toni.«

Nicht viele Menschen schafften es, Grassi in Verlegenheit zu bringen. Er fragte sich, ob sie ihn nur necken wollte oder ob sie ihn bewusst bei ihrer ersten Begegnung eiskalt auflaufen ließ. »Va bene, wir können uns ja später noch besser kennenlernen. Dann werde ich mal meine Sachen reinschaffen.«

»Geh über die Terrasse, aber putz dir die Schuhe ab. Ich habe auf dem Olivenhain noch zu tun, wir sehen uns später.« Toni drehte sich um und ließ ihn stehen.

Die erste Nacht

Er schaffte es nicht, mehr als zwanzig Schallplatten auf einmal über den braunfleckigen Rasen und die grauen Steinplatten der kleinen Terrasse ins Haus zu tragen. Den zwanzig Kilo schweren Verstärker musste er auf der Hälfte der Strecke absetzen, weil seine Finger lahm wurden. Grassi stemmte schnaufend die Hände in die Hüften und blickte in der einsetzenden Dunkelheit über Haus und Grundstück. Das einstöckige Rustico stand auf dem einzigen ebenen Absatz eines dicht bewaldeten Höhenzugs. Hinter dem Haus stieg das Gelände steil an, rechter Hand war der Abhang zum Teil gerodet worden, um Platz für einen Olivenhain mit gut zwei Dutzend Bäumen zu schaffen. Mittendrin sah er Toni in einiger Entfernung an einem Baum arbeiten. Das scharfe, entschlossene Schnappen einer Schere, mit der sie gezielt Äste und Zweige abschnitt, war bis zum Haus zu hören. Sie bemerkte ihn und hob kurz die Hand. Wer war sie?, fragte er sich. Warum hatte sie nicht schon in ihren E-Mails mitgeteilt, dass sie nicht nur Gärtnerin war, sondern seit wer weiß wie lange im Haus wohnte? Er gab ein Zeichen zurück, dann hievte er den Verstärker wieder hoch für die zweite Etappe ins Haus.

Nach einer halben Stunde standen alle seine Habseligkeiten in einer Ecke des weiß getünchten Wohnzimmers. Draußen war es dunkel geworden. Grassi nahm seine Kleidertasche und ging ins Schlafzimmer. Der Schrank war noch voll mit den Sachen seines Vaters: überwiegend karierte Hemden, Jacketts, Fleecejacken in Dunkelgrün, Grau und Beige, Wollhosen, säuberlich zusammengelegt und gestapelt, eine kleine gelbe Plastikwanne, gefüllt mit handgestrickten Socken. Wer hatte ihm die gestrickt? Seine Mutter noch? Dafür sahen die Socken noch zu gut aus. Toni etwa? Allerdings wirkte sie auf Grassi nicht wie der Typ, der abends mit klappernden Nadeln vor dem Fernseher saß. Zumal es im Haus keinen Fernseher zu geben schien. Solide Schuhe standen ordentlich aufgereiht auf dem Schrankboden. Auf der oberen Ablage waren ein paar bunte Kappen mit Werbeaufschriften gestapelt, daneben lag eine Zigarrenkiste, an die Grassi sich erinnerte. Er nahm sie herunter und öffnete sie. Wie damals enthielt sie Emilios alte Manschettenknöpfe. Das Paar aus in Gold gefasstem, braunem Achat hatte sein Vater zu besonderen Anlässen getragen. Vito sah ihn vor sich, wie er mit ausgestreckten Armen vor seiner Frau stand, die ihm die Knöpfe mit geschickten Fingern anlegte, die Hemdärmel noch einmal zurechtzupfte und anschließend mit beiden Händen über die Arme des Jacketts strich. Zuletzt hatte Emilio die Knöpfe bei der Beerdigung seiner Frau getragen und Vitos Hilfe beim Anlegen abgelehnt. Lange her.

Grassi hängte seine Hemden und Jacketts über freie Bügel neben die Kleidung seines Vaters und stellte sein zweites Paar Schuhe zu den anderen auf den Schrankboden. Dann sah er sich im Schlafzimmer um. In dem ungemachten Doppelbett schlief offenbar Toni, aber sonst hatte sie sich in dem Zimmer nicht eingerichtet, sondern schien aus einem Koffer zu leben, der neben dem Bett stand. Vito fragte sich, wo er schlafen sollte. Er spürte, dass es noch nicht der richtige Zeitpunkt war, auf sein Recht als neuer Hausherr zu bestehen, und er beschloss, zunächst auf das Sofa zu ziehen.

Im Bad hing ein Schränkchen mit Glastüren an der Wand. In einem Fach standen Deo, Hautcreme und Zahnpasta. Von Toni vermutlich. Grassi legte seine Badutensilien in das leere Fach daneben.

Toni trat durch die Terrassentür ins Haus. Der Satz »Ich geh duschen« war der einzige Hinweis darauf, dass sie seine Anwesenheit wahrgenommen hatte. Sie warf ihren Kaugummi in den Mülleimer unter der Spüle.

»Warte doch mal«, sagte Grassi. »Ich finde, wir sollten uns ein bisschen unterhalten. Ich wüsste gern, woher du kommst, wie lange du schon hier wohnst, wie lange du bleiben willst?«

Toni war stehen geblieben. »Wieso? Willst du mich loswerden?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Toni blickte auf sein weniges Gepäck in der Wohnzimmerecke. »Hast du denn vor, hierzubleiben?«

»Erst mal schon. Und dann muss ich sehen, wie es so läuft.«

»Das geht mir genauso«, sagte sie, drehte sich um und verschwand im Flur.

In Grassis anfängliche Irritation über Tonis Reserviertheit mischte sich Ärger. So wollte er sich von einer Fremden in seinem Haus nicht abspeisen lassen. Wenn sie ihm freiwillig keine Auskunft über sich geben wollte, würde er sie sich verschaffen. Also wartete er, bis Wasser rauschte, dann ging er auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer, kniete sich neben den Koffer und zog den Reißverschluss auf. Sein Blick fiel auf einen unordentlichen Kleiderhaufen, den er schnell und achtlos durchwühlte, bis er auf eine harte Schicht darunter stieß. Er schob die Kleidung beiseite und entdeckte einen Haufen Bücher. Sie lagen nach Dicke und Format fein säuberlich wie bei einem Tangram so angeordnet, dass sie die Form des Koffers genau ausfüllten und eine gleichmäßige Fläche bildeten. Grassi überflog die Titel: Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Grey, Hannah Arendt: Macht und Gewalt, Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit, ein Buch über das geheime Leben der Bäume. Da waren auch ein paar englische Bücher, George Orwell: Down and out in Paris and London. Den Wälzer mit dem gruseligen Clown darauf erkannte er, weil er damit vor vielen Jahren einmal seinen Sohn nachts unter der Bettdecke erwischt hatte. Fasziniert betrachtete er Tonis kleine Wanderbibliothek. Sein Blick blieb an einem Umschlag hängen, auf dem eine Frau den Mund in großer Qual zum Schrei weit aufgerissen hatte. Grassi nahm den Band aus dem Bücherpuzzle. »Horrorism« stand darauf. Er schlug es wahllos an einer Stelle auf und las:

»Wer vom Schrecken ergriffen ist, zittert und flieht, um zu überleben, um sich vor einer Gewalt zu retten, die ihn zu töten trachtet.« Er drehte das Buch um und überflog die Rückseite. Wenn Grassi es richtig verstand, handelte es sich um ein philosophisches Buch über das Weibliche in der Gewalt der heutigen Zeit. Er runzelte die Stirn, aber bevor er den Sinn erfassen konnte, fiel etwas aus dem Buch in den Koffer. »Asino, du Esel«, beschimpfte sich Grassi leise, als ihm klar wurde, dass es sich bei der abgelaufenen Zugfahrkarte nach Corniglia um ein Lesezeichen handeln musste. Und natürlich hatte er keine Ahnung, wo im Buch es hingehörte. Also steckte er es zu der Seite, die er gerade gelesen hatte, passte das Buch wieder im Bücherpuzzle im Koffer ein, verteilte die Kleidungsstücke und klappte ihn zu.

Er achtete darauf, den umlaufenden Reißverschluss bis zur richtigen Stelle zuzuziehen. Das Wasser der Dusche rauschte noch immer. Grassi sah sich weiter um. Die Taschen einer auf dem Bett liegenden dunkelroten Daunenweste waren bis auf ein kleines Taschenmesser und ein angebrochenes Päckchen Kaugummi leer. Halb unter dem Bett lag ein kleiner schwarzer Segeltuchrucksack mit Lederriemen. Er prägte sich die Lage ein, zog ihn hervor und entnahm ihm eine große schwarze Brieftasche aus Leder, wie Kellner sie nutzen. Dreißig Euro Bargeld, eine Karte der BancoPosta und endlich die gesuchte Carta d’identità: Antonella Solinas, geboren am 25. Februar 1976 in Sassari, Augenfarbe braun. Auf dem Bild hatte sie sehr kurze Haare und diesen strengen, tadelnden Blick, sodass Grassi sich ertappt fühlte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass das Wasserrauschen aufgehört hatte. Hastig steckte er den Ausweis zurück, schloss die Brieftasche und bekam den Dorn des zweiten Verschlusses lautlos fluchend erst wieder in den Riemen, als sich im Flur die Tür des Badezimmers öffnete. Mit drei großen Schritten war er im Wohnzimmer.

Toni tauchte Sekunden nach ihm auf, barfuß und mit feuchten, strähnigen Haaren. Sie war in Jogginghose und Sweatshirt geschlüpft.

»Ich habe Hunger«, verkündete Grassi.

»Wir haben Käse, und ein bisschen Brot müsste auch noch da sein.«

Froh, etwas zu tun zu haben, nahm er den Taleggio aus dem Kühlschrank und den Brotkorb von der Anrichte, füllte eine einfache Tonkaraffe mit Wasser und stellte alles auf den Tisch und setzte sich. Toni zog eine Schublade auf, entnahm ihr ein spitzes Messer, trat zu Grassi und schaute auf ihn herunter. Sie setzte das Messer an und schnitt sich ein dickes Stück Käse ab.

»Gibt es WLAN im Haus?«, fragte er.

»Nein.«

»Das Netz hier ist nicht berauschend. Wie kommst denn du ins Internet?«

»Gar nicht.« Sie zuckte mit den Achseln. »Oder ich geh in die Bar.«

Grassi hatte einen einzigen kleinen Balken auf seinem Handy. Er musste unbedingt wissen, wie das Spitzenspiel zwischen Parma und seiner AS Roma ausgegangen war. Auf der Fahrt hatte er über RAI den Pausenstand erfahren. Da hatte die Roma noch eins zu null zurückgelegen. Gegen den Tabellenvorletzten! Bestimmt hatte seine Mannschaft das Spiel noch drehen können. Aber die Seite von tuttosport.com brauchte ewig, um sich aufzubauen, sodass er schließlich aufgab.

»Aber Strom haben wir hoffentlich verlässlich. Ich muss nämlich mein Auto aufladen.«

»Das ist ein Elektroauto?«, fragte sie belustigt.

»Ja, und ich brauche ein langes Kabel. Gibt es so was im Haus?«

»Kabel sind im Keller. Vielleicht musst du den Wagen noch näher ans Haus fahren, damit es reicht.« Sie nahm einen Bissen Brot und goss sich ein Glas Wasser ein, das sie in einem Zug trank. »Ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett.«

 

Mit den letzten Ampere rollte Grassi den Roadster so nahe ans Haus heran, wie es ging. Das längste Kabel aus der Waschküche reichte trotzdem nicht. Am Ende bastelte er im Licht seiner Handytaschenlampe eine notdürftig funktionierende Konstruktion aus mehreren mit Steckerleisten verbundenen Kabeln.

Toni hatte in seiner Abwesenheit nicht nur Tisch und Küche aufgeräumt, sie hatte auch ein sauberes weißes Leinentuch über die Sofamatratze gespannt sowie zwei bunte Wolldecken und ein Kopfkissen daraufgelegt. Als Gast bin ich zumindest schon mal akzeptiert, dachte Grassi. Er wusch sich den Staub von der Reise vom Körper, löschte das Licht und kuschelte sich halb aufrecht auf dem Sofa zusammen.

Grassi nahm sein Handy in die Hand. Das leuchtende Display ließ die neue Umgebung noch schwärzer erscheinen. Er schrieb eine kurze Nachricht in den Familienchat: »Bin gut angekommen. Tutto bene. Schlaft alle schön!« Sekunden später hatte Lucy schon mit einem Kuss-Emoji geantwortet. Auch Alessandro reagierte ungewöhnlich schnell mit einem hochgestreckten Daumen. Von Chiara kam nichts, aber sie schlief sicher längst tief und fest und ungestört von seinem Schnarchen allein in ihrem großen Bett in Rom. Er schloss die Augen und dachte daran, wie schnell sich seine Familie in alle Winde zerstreut hatte. Alles änderte sich, das war der Lauf der Welt, das Schaukeln der Dinge. Grassi sah Etappen der Reise an sich vorüberziehen und fragte sich zum hundertsten Mal, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

 

Grassis erste Nacht in Levanto. Wie still es war. Still und schwarz. Die nächtlichen Geräusche der Stadt hatten stets beruhigend auf ihn gewirkt. Irgendwo war in Rom immer eine Sirene zu hören. Der Verkehr rollte. Menschen blieben nachts auf der Straße vor der Osteria im Erdgeschoss stehen und unterhielten sich zum Abschied noch zwanzig Minuten lang. Junge Leute lieferten sich Rennen mit ihren aufgemotzten Rollern. In der Stadt kamen die Geräusche und gingen wieder, schwollen an und ebbten ab. Waren da und wieder weg wie das Wetter. Das unaufhörliche Grundrauschen sagte Vito, dass er zu Hause war, und ließ ihn gut schlafen. Hier hielt ihn die undurchdringliche Stille wach. Als er beinahe eingenickt war, riss er erschrocken die Augen auf, weil Schüsse durch das Tal hallten. Wilderer, dachte er. Danach steigerten das stündliche Kirchturmglockengeläut, das sanfte Rascheln in den Bäumen, die heimlichen Geräusche von Tieren im Wald seine Beklemmung nur. Ob er sich daran würde gewöhnen können?

Je länger er nicht schlief, desto weniger konnte er einschlafen. Und dann machte Grassi noch den Fehler, auf die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr zu schauen, festzustellen, dass es kurz vor halb zwei war, die Nacht immer kürzer wurde und damit die Chance immer geringer, an seinem ersten Arbeitstag bei seiner neuen Chefin einen ausgeschlafenen Eindruck zu machen.

Das Sofa war viel zu weich, und die Liegefläche fiel zur Lehne ab. Auf dem Bauch zu schlafen, wie er es gern tat, war so nicht möglich. Er wälzte sich eine weitere Stunde hin und her, bis er es nicht mehr aushielt und aufstehen musste. Er schlurfte in die Küche, stand am Fenster und trank ein Glas Wasser, während er in den nachtschwarzen Wald und in den grandiosen Sternenhimmel starrte. Der Mond warf die lebendigen Schatten der sich in sanften Böen biegenden Olivenbäume auf Grasflächen und Buschwerk.

Da stand ein Mann im geöffneten Tor! Grassi hatte ihn so unvorbereitet entdeckt, dass ihm schlagartig die Haare im Nacken zu Berge standen. Doch schon Bruchteile einer Sekunde später schob er sich in einer fließenden Bewegung aus dem möglichen Sichtfeld des Mannes, sodass er ihn selbst am Fensterrahmen vorbei noch beobachten konnte. Hatte der Fremde zu ihm nach oben geschaut? Hätte er Grassi sehen können? Er glaubte es nicht. Das Tor befand sich ein paar Meter unterhalb seiner Position am Fenster. Wenn der Mann zu ihm nach oben schaute, müssten sich die Sterne in der Scheibe spiegeln.

Die Gestalt stand unbewegt. Grassi setzte die schemenhaften Eindrücke im Kopf blitzartig zu einem Phantombild zusammen: Das Tor reichte ihm bis zur Schulter, stämmige Statur, schwere Schuhe, vielleicht Militärstiefel, Funktionsjacke mit ausgebeulten Taschen, Hose mit ausgebeulten Seitentaschen. Doch am wichtigsten und bedrohlichsten: Der Mann schien eine Art Maske mit großen Augenöffnungen im Gesicht zu tragen, und er hielt ein längliches Objekt in der Hand, das Grassi als Gewehr identifizierte. Noch immer rührte sich der Eindringling nicht. Wie lange standen sie einander jetzt schon gegenüber? Zehn Sekunden? Da hob der Mann langsam das Gewehr, drehte sich nach rechts und zielte … Vito runzelte die Stirn … zielte auf seinen Roadster! Der im nächsten Augenblick von dem schmalen Lichtstrahl einer auf dem Gewehr montierten Taschenlampe getroffen wurde. Glänzend orangefarbener Lack in tintenschwarzer Aura. Der Lichtstrahl wanderte für ein paar Sekunden über das Auto, dann verlosch er wieder, was Grassi fast so sehr erschreckte wie das Auftauchen des Mannes. Als sich seine Augen wieder an das Dunkel gewöhnt hatten, war der Fremde verschwunden.

Grassi kam in Bewegung. Stellte die Flasche ab, ertastete in seiner Kleidertasche zielsicher die Beretta unter den zusammengelegten T-Shirts, drückte die Klinke der Terrassentür herunter. Jede einzelne Handlung war ruhig und zielgerichtet, leise und schnell. Wenige Sekunden später stand er barfuß in Boxershorts, die Waffe im Anschlag, an der Hausecke und spähte in Richtung Toreinfahrt. Keine Spur des Mannes war zu sehen. Grassi bewegte sich mit kurzen, tastenden Schritten eng an der Hauswand entlang bis zum Vorplatz. Nur eine Sekunde lang streckte er den Kopf um die Ecke, das reichte ihm, um die Situation zu erfassen. Der Mann hockte jetzt direkt an der Hauswand bei der geöffneten Tür zur Waschküche und drehte Grassi den Rücken zu. Der trat einen Schritt vor, in der Rechten die Beretta, die er mit der Linken stützte.

»Keine Bewegung«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben. »Gewehr hinlegen.«

Der Mann stieß einen kieksenden Japser aus, ließ sofort das Gewehr fallen, verlor das Gleichgewicht, und noch während er rückwärts auf den Hosenboden plumpste, rief er: »Nicht schießen!« Dann blieb er wie ein Käfer auf dem Rücken liegen.

»Zeig mir dein Gesicht«, sagte Grassi.

Der Mann rupfte an seinem Nachtsichtgerät herum, und gerade, als sein Gesicht frei war, fiel der Strahl einer Taschenlampe darauf. Grassi hatte Tonis Auftauchen schon erwartet.

»Francesco? Ma sei matto?«, stieß sie heiser aus.

Grassi trat auf den Mann zu, der jünger war, als er erwartet hatte, höchstens Ende zwanzig. Feine blonde Haare rahmten sein rundes rosiges Gesicht ein, das der kreisförmige rote Abdruck der Maske noch breiter wirken ließ. Lag es am Licht der Taschenlampe, dass die Pupillen in den eng zusammenstehenden Augen so aussahen, als würden sie zittern, ohne zu fokussieren? Stand er womöglich unter Drogen?

»Toni, Gott sei Dank!«, rief der Mann, der immer noch auf dem Rücken lag und die Hände in Ergebenheit in die Luft streckte. »Ich wollte nur nach dem Rechten sehen, und da stand dieses fremde Auto, und die Tür war offen.«

»Vito, nimm die Pistole weg!«, fuhr Toni ihn an.

»Dann sollte dein Freund nicht nachts mit einem Gewehr herumschleichen, das ist nicht ungefährlich.« Grassi sicherte die Beretta.

»Steh auf«, sagte Toni unwirsch. »Ich habe dir oft genug gesagt, dass du den Blödsinn lassen sollst. Ich kann …« Sie warf Grassi einen Blick zu. »Wir können auf uns selbst aufpassen, klar?«

»Ist klar, natürlich, verstanden«, sagte Francesco. »Jetzt ist ja auch wieder ein Mann im Haus, wenn ich das gewusst hätte …« Der junge Mann hatte sich auf die Knie gedreht und erhob sich schwerfällig.

»Geh nach Hause!«, unterbrach ihn Grassi. »Und wenn du uns das nächste Mal besuchen willst, dann bitte bei Tag und unbewaffnet.«

Francesco nickte, nahm seine Maske und sein Gewehr unter den Arm und stapfte mit gesenktem Kopf davon. Am Tor drehte er sich noch einmal um und rief: »Scusa, Toni.«

Grassi sah ihm kopfschüttelnd hinterher.

»Du hast untenrum nichts an«, sagte Toni.

»Ich weiß. Keine Zeit.« Vitos Puls kam langsam wieder runter. »Was ist los mit dem Kerl? Ist der gemeingefährlich?«

»Francesco ist nicht besonders helle, doch er tut niemandem was. Aber seit Emilios Tod denkt er, er müsse auf mich aufpassen. Lass ihn einfach in Ruhe.«

»Mir scheint, der sollte lieber auf sich selbst aufpassen.«

Toni deutete auf die offene Tür zur Waschküche, durch deren Spalt das Stromkabel zu Grassis Roadster führte. »Was ist damit? Lassen wir sie offen?«

»Tja, ich würde sie zumachen, wenn ich eine andere Möglichkeit sähe, den Wagen aufzuladen. Für heute Nacht bleibt es so. Wir werden schon nicht geklaut. Morgen denke ich mir was aus.«

Sie betraten das Haus über die Terrasse und schlossen hinter sich ab. Drinnen überlegte Grassi kurz, ob er sich bei Toni über das Schlafarrangement beschweren sollte, unterließ es jedoch. »Ich könnte nach dem Schreck ein Glas Wein vertragen. Du auch?« Er rechnete fest mit einer weiteren Abfuhr.

»Na gut«, sagte Toni überraschenderweise. »Wenn du dir endlich eine Hose anziehst.«

Grassi lachte. »Okay.« Er schlüpfte in seine Jeans, öffnete eine Flasche Rotwein und reichte Toni ein Glas. Sie saßen einander gegenüber, er auf dem Sofa, sie im Schneidersitz auf einem der hölzernen Küchenstühle.

Grassi hob sein Glas. »Wollen wir noch mal anfangen?«

Sie erwiderte die Geste. »Von mir aus.«

Sie tranken.

»Das Auftauchen von Francesco scheint dich weniger erschreckt zu haben als mich. Nachts kann es hier aber schon ein bisschen einsam und unheimlich sein, oder?«

»Wahrscheinlich kommt dir das so vor, weil du aus Rom kommst. Ich finde nicht die Einsamkeit unheimlich, sondern die Aggressivität einer großen Stadt. Betrunkene, frustrierte junge Männer, Einbrecher.«

»Einbrüche sind hier allerdings auch ein Problem«, stellte Grassi fest, der sich mit den Statistiken vertraut gemacht hatte.

»Schon, doch wenn die kommen, dann tagsüber. Und nur in die Häuser, wo es was zu holen gibt. Wir hatten schon lange keinen Ärger mehr mit denen.«

Ihm war aufgefallen, dass sie »wir« gesagt hatte. »Du meinst, als mein Vater noch lebte.«

»Ja, natürlich.« Sie trank schnell einen Schluck Wein und sah für einen Augenblick sehr traurig aus.

»Wenn das hier so eine friedliche Gegend ist, wovor hat Francesco dann Angst?«

»Hauptsächlich vor Wildschweinen. Und er behauptet, ein Wolf hätte eines seiner Hühner gerissen.«

Grassi nickte. »Mein Vater hatte doch ein Gewehr im Haus, oder? Hast du es schon mal benutzt?«

Toni legte den Kopf schief und verzog die Mundwinkel. »Ist das ein Verhör?«

»Es interessiert mich einfach. Heute Nacht habe ich Schüsse gehört. Und ich denke natürlich auch an verrückte Nachbarn.«

»Na ja, auf Francesco zu schießen, war noch nicht nötig, aber – ja, ich habe mich damit schon mal gegen Wildschweine verteidigen müssen. In den letzten Nächten habe ich sie ein paarmal in der Nähe des Hauses gehört. Ich will nur nicht, dass sie die Erde um die Olivenbäume herum aufwühlen. Wenn es sein müsste, würde ich schießen, aber nur in die Luft. Ich töte keine Tiere.«

»Und mein Vater?«

»Emilio war nicht so zimperlich. Bei ihm gab es hin und wieder Wildschwein zu essen.«

Grassi grinste gähnend. »Er hat sich hoffentlich nicht dabei erwischen lassen.«

Sie verzog das Gesicht. »Einmal schon.«

Er fühlte eine angenehme Schwere in sich. Jetzt würde er endlich schlafen können, allerdings lag ihm noch eine Frage auf der Zunge, die er unbedingt stellen musste, vor der er sich gleichzeitig scheute. Einerseits, weil sie zu persönlich war, um sie einer im Grunde wildfremden Person zu stellen. Andererseits, weil sie ans Licht bringen konnte, dass diese wildfremde Person mehr über ihn wusste als er über sie.

Toni hatte ihr Weinglas geleert. Sie sah müde aus und entfaltete langsam ihre Beine. Bevor die Gelegenheit verstreichen konnte, sagte er ein bisschen zu beiläufig: »Hat mein Vater manchmal über mich gesprochen?«

»Über dich?«

Es war eine blöde Gegenfrage, denn sie hatte ihn genau verstanden.

»Ja. Woher hast du zum Beispiel gewusst, dass ich Commissario bin?«

Toni lächelte müde. »Ich habe dich gegoogelt. Außerdem hat Emilio mal gesagt, dass du ein guter Polizist bist.«

Grassi spürte eine kleine, überraschend wohlige Welle der Wärme von hinten über seine Kopfhaut ziehen, die im nächsten Augenblick eine unangenehme Kälte hinterließ: Sein Vater, der politisch linke Lehrer, hatte ihm, Vito, eine berufliche Anerkennung gezollt. Aber nicht etwa von Angesicht zu Angesicht, o nein, sondern einem Menschen gegenüber, dem er offenbar mehr traute als ihm. Der Stich reichte aus, um die Wärme zu vertreiben und wieder den Zyniker in Grassi hervorzukitzeln: »Er hat die Worte ›gut‹ und ›Polizist‹ in einem Satz gebraucht? Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Kannst du glauben, oder auch nicht. Er hat sogar überlegt, dich um Hilfe zu bitten, als er Probleme mit der Polizei bekommen hat.«

Sie saßen noch eine Weile beisammen und redeten, ehe Toni sich ins Schlafzimmer zurückzog. Und Grassi lag wieder schlaflos auf dem Sofa. Die Müdigkeit war verflogen und sein Kopf voller wirrer widersprüchlicher Gefühle. Zweimal noch ging er in die Waschküche und prüfte, ob die Tür trotz des Kabels nicht doch zu schließen war. Als das partout nicht ging, lief er unter dem Sternenzelt über den Vorplatz und schloss zumindest das schmiedeeiserne Tor am Eingang zum Grundstück. Danach legte er eine Platte auf, über der er schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, gerade, als die Kirchturmuhr von Legnaro vier schlug.

Die Tote

Rhythmisches, leises Knacken durchstieß stetig die morsche Oberfläche seines Schlafes. Im Traum nahm er den Takt auf und ging ihm nach, bis sein Herzschlag dem Geräusch folgte und er langsam zu Bewusstsein kam. Vito lag unbequem auf dem Rücken, steif und eingeengt. Er drückte sich vom Sofa hoch. Der Gürtel seiner Jeans klemmte eine Hautfalte am Bauch schmerzhaft ein. Es war noch dunkel. Fahles, blaues Licht lag im Raum. Es kam von der Anzeige des Verstärkers. Die Nadel des Plattenspielers lief endlos durch die Auslaufrille. Er sah auf seine Armbanduhr. Zehn nach sechs.

Vito schlug die Decke ganz zurück, tastete mit dem Fuß im Dunkel nach dem Tretschalter der Stehlampe neben dem Sofa, ging zum Plattenspieler und legte die Nadel wieder an den Anfang der dritten Seite von Exile On Main Street. Die Lautstärke stellte er leise, um Toni nicht zu wecken.

Der Gitarrenriff von »Happy« setzte ein.

Glücklich schien auch sein Vater in den letzten Jahren gewesen zu sein, wenn er der nächtlichen Erzählung von Toni Glauben schenken durfte. Glücklicher jedenfalls, als Vito sich das vorgestellt hatte im fernen Rom. Ihm war es immer so vorgekommen, als hätte sein Vater in Ligurien ein selbst gewähltes Einsiedlerleben geführt. Und ein Mensch, der sich zurückzog, musste in Vitos Augen aus irgendeinem Grund traurig sein. Jetzt fragte er sich, vor wem sich Emilio eigentlich zurückgezogen hatte, wenn nicht von der Welt?

Zumindest in den letzten vier Jahren war Toni ihm offenbar so etwas wie die Tochter geworden, die Emilio nie gehabt hatte. Vito wusste noch immer nichts über sie, aber so, wie sie in der Nacht von seinem Vater erzählt hatte, war zwischen den beiden eine Nähe gewesen, die zwischen Vater und Sohn verloren gegangen war. Toni hatte die meiste Zeit bei ihm gewohnt, ihm beim Bau geholfen und mit ihm das Stück Land gerodet, das zum Olivenhain wurde. Sie hatten gemeinsam gekocht und gegessen, gelacht und geschwiegen. Erst gestern hatte Vito erfahren, dass sein Vater zwei Jahre zuvor beinahe an einer Blutvergiftung gestorben wäre, die er sich durch eine Verletzung mit einem Spalteisen zugezogen hatte. Er hatte seinem Sohn nichts davon erzählt. Toni hatte Emilio damals schließlich gegen seinen Willen ins Krankenhaus gebracht und ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.

Vito hatte immer gedacht, dass Emilio kein besonders guter Vater gewesen war. Nun stellte sich heraus, dass Vito der allenfalls mittelmäßige Sohn gewesen war. Die Stones sangen »I just want to see his face«.

Vito kramte in seiner noch nicht ausgeräumten Tasche nach frischer Unterwäsche und ging ins Bad. Aus dem Tal tönte das Echo von Polizeisirenen.

Als er aus der Dusche kam, war von Toni immer noch nichts zu sehen oder zu hören, darum schnappte er sich sein Jackett und die Autoschlüssel und verließ das Haus.

Der Roadster-Akku zeigte eine Restreichweite von hundertsieben Kilometern. Grassi hoffte, dass das für die Fahrt nach La Spezia reichen würde. Bergab war die Straße noch prekärer zu befahren als bergauf, und obwohl er den Roadster nur rollen ließ, schlitterte er in den engen Kurven immer wieder über den morgenfeuchten, brüchigen Asphalt in seitliche Äste, die knirschend am Lack entlangschrammten, sodass Vito mit Phantomschmerzen das Gesicht verzog. Am linken Rand des kleinen Kreisverkehrs, von dem aus der Corso Roma zum Strand abging, schien warmes Licht aus großen Fenstern einer Bar auf den Bürgersteig. Genau, was Grassi jetzt brauchte. Lautlos glitt sein Wagen auf den Parkplatz gleich neben der Bar Levanto. Kaum war er ausgestiegen, bemerkte er die neugierigen Blicke zweier Männer, die an einem Tischchen vor dem Bareingang saßen, Caffè tranken und eine Morgenzigarette rauchten. Sie trugen grasgrüne Overalls mit Warnwesten darüber, die Arbeitskleidung von Straßenreinigern. Zwei hüfthohe, graue Rollcontainer standen hintereinander an der Hauswand.

»Bella macchina«, urteilten die jungen Männer unisono und nickten ihm anerkennend zu.

Grassi war zwar am Montagmorgen im Allgemeinen nicht besonders gesprächig, aber über sein Auto gab er gern und jederzeit Auskunft.

»Grazie.«

»Lotus?«, fragte der Rundliche.

»No«, sagte der Dünne mit Kennerblick. »Americano.«

»Was fährt der so in der Spitze?«, fragte sein Begleiter.

»Knapp über zweihundert. Aber es geht um die Beschleunigung.«

»Also, mir würde da das Motorengeräusch fehlen«, sagte der Dünnere. »So ein Schlitten muss doch röhren wie ein Rennwagen, sonst sehen einen die Mädchen am Strand nicht.«

»Aber die Frauen finden Klimaschutz gut.«

»Hoffentlich nicht nur die Frauen«, entgegnete Grassi. »Wisst ihr zufällig, wie die Roma gestern gegen Parma gespielt hat?«

»Parma hat zwei zu null gewonnen«, gab der Untersetzte zur Antwort.

»Madonna!«, entfuhr es Grassi. »Und Neapel?«

»Gewonnen. Mit einem mickrigen Törchen gegen Milan.«

Grassi winkte ab und zog die Tür zur Bar auf.

»Hauptsache, wir gewinnen nächste Woche gegen Cagliari.« Der Dicke meinte damit die Mannschaft von La Spezia. »Ich glaube, wir können dieses Jahr die Liga halten.« Er sah seinen Freund an: »Und Genua holen wir auch noch ein.«

»Einen Punkt habt ihr aus den letzten drei Spielen geholt«, sagte der Dünne höhnisch. »Vergiss es!«

»Und davor Milan geschlagen!«

»Schön für euch«, rief Grassi angesäuert im Gehen zurück.

»Caffè?«, fragte der Mann hinter dem Tresen, der mit den zurückgegelten schütteren strohblonden Haaren und der ovalen randlosen Brille eher an einen Buchhalter als an einen Barista erinnerte.

»Sì, caffè e un bicchiere d’acqua. Außerdem …«, Grassi warf einen Blick in die Vitrine, »… una brioche con marmellata.«

Der Barista lud mit geübten Handgriffen die Kaffeemaschine, drückte aufs Knöpfchen und legte das gewünschte Brioche auf einen Teller, während der Caffè durchlief. Nach ein paar Sekunden stand beides vor Grassi.

»Prego.« Der Barista sah ihn neugierig an. Grassi gefiel die unprätentiöse helle Bar mit der einladenden Front. Auch der Caffè schmeckte ihm. Er war stark, erdig und bitter. In Rom servierten immer mehr Bars eine moderne Geschmacksrichtung, die als »schokoladig« angepriesen wurde, die er aber einfach ein bisschen langweilig fand.

»Ich bin gerade erst hergezogen.Vito Grassi.«

Der Barista schien kurz zu überlegen. »Grassi, sagen Sie? Sind Sie zufällig mit Emilio verwandt?«

Vito nickte. »Emilio war mein Vater.«

»Mein herzliches Beileid. Emilio hat oft bei mir seinen Caffè getrunken.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Piero. Mir gehört die Bar.«

»Vito.«

Er fragte sich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass sein Vater schon aus der Tasse getrunken hatte, die er jetzt in der Hand hielt.

Piero riss ihn aus den Gedanken. »Er hat immer da drüben gesessen.« Er deutete auf einen Hocker an der Ecke des im sanften Morgenlicht matt glänzenden, leicht delligen Edelstahltresens. Piero hebelte den benutzten Siebträger aus der Maschine und sagte über die Schulter gewandt. »Sie sind Commissario in Rom, oder?«

Wieder dieses warme Gefühl auf der Kopfhaut. Diesmal hielt es an. »Bis gestern, ja. Jetzt bin ich bei der Staatspolizei in La Spezia. Und ich wohne in Emilios Haus.«

»Molto bene. Ihren Vater würde es sicher freuen. Er war sehr stolz darauf.«

Grassi spülte das letzte Stück Brioche mit einem Schluck Wasser hinunter.

»Wenn Sie Polizist sind, haben Sie wahrscheinlich mit der Toten im Tunnel zu tun, oder?«

»Was für eine Tote in welchem Tunnel?«

»Auf der Ciclopedonale zwischen Levanto und Bonassola. Ich weiß sonst auch nichts. War heute Morgen überall auf Facebook. Sind Sie da nicht?«

Grassi schüttelte den Kopf.

»Die Leiche ist heute früh gefunden worden, und jetzt sind alle am Strand unten, vor allem jede Menge Carabinieri. Wird ein Commissario bei so was nicht automatisch informiert?«

»Kommt auf den Fall an. Wenn Sie Ihren Konkurrenten ermorden, kriegen Sie’s mit mir zu tun. Wenn einer Ihrer Gäste nicht zahlen will, rufen Sie die Carabinieri. Und wenn Sie falsch parken, kassiert die Polizia Locale. So schaffen wir in Italien Ordnung durch Unordnung.«

»Ich habe jedenfalls immer gesagt, irgendwann passiert da ein Unglück.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, in dem alten Eisenbahntunnel, der zum Radweg ausgebaut wurde. In der Hochsaison geht’s da doch zu wie in Mekka. Familien, Rentnergruppen, Partyvolk, alles drängt da durch zu den schönen Buchten. Weil im Ort ja immer weniger Platz ist am Wasser. Und dann noch diese Radrennfahrer, alle diese Möchtegern-Pantanis! Ich habe immer gesagt, irgendwann kracht es da. Die in Monterosso sind schlauer.«

»Schlauer als wer?«

»Als wir hier in Levanto! Theoretisch würde der Tunnel auch Monterosso, die erste der fünf Ortschaften, mit Levanto verbinden. Aber die Cinque Terre haben entschieden, ihn nicht zu öffnen, um sich wenigstens von dieser Seite die Völkerwanderung zu ersparen. Der Tunnel endet also hier in Levanto. Und das haben wir jetzt davon.«

Der Commissario trank sein Wasser aus, zahlte, bedankte sich und verließ die Bar. Der Laden und sein Besitzer schienen ein guter Ersatz für fehlende Social-Media-Kompetenz zu sein. Hierher würde er regelmäßig kommen.

Er bestieg seinen Roadster und fuhr auf dem Corso Roma in Richtung Strand, der nur wenige Hundert Meter entfernt war. Auf halber Strecke lag die Carabinieri-Station von Levanto. Das hohe, weiße Stahltor war zur Seite geschoben. Ein Grüppchen Beamte stand am Straßenrand neben ihren Einsatzfahrzeugen. Grassi bremste und hielt vor dem Eingang der Station. Ein grimmig aussehender Carabiniere bemerkte ihn und machte durch ungeduldige Schritte in seine Richtung und heftiges Winken klar, dass Grassi weiterfahren sollte.

»Guten Morgen, Kollege!«, rief Grassi.

»Weiterfahren, weiterfahren!« Entweder der Beamte hatte ihn nicht gehört, oder er ignorierte den »Kollegen«.

Also hielt Grassi dem Mann seinen Dienstausweis hin. »Ich bin bei der Polizei. Commissario Vito Grassi aus La Spezia. Was ist denn passiert?«

Der Carabiniere wirkte immer noch unwirsch, trat aber an das heruntergelassene Seitenfenster heran. »Leichenfund im Tunnel, mehr weiß ich nicht. Sie fragen am besten den Capitano Bruzzone selbst. Mischt sich denn die Polizia di Stato schon ein?«

»Nein, nein. Ich bin nur von Berufs wegen neugierig«, sagte Grassi mit einem Zwinkern, hob kurz die Hand und gab Saft. Er folgte dem Corso Roma, bis der auf die Passeggiate a Mare stieß. Links konnte er die prächtigen Villen erkennen, die leichthin an der südlichen Steilküste klebten und mit ihren verschlossenen Läden aus der Ferne wirkten, als schliefen sie. Um das alte Casinò im Bauhausstil standen Baumaschinen, aber die Außenfarbe wirkte frisch, und das ganze Gebäude schien sich schon zu strecken. Im Sommer würde hier wieder pralles Leben sein. Das Meer vor ihm war so ruhig wie der blaue Himmel darüber. Kaum ein Lüftchen war zu spüren. Als Grassi den Wagen nahe dem Tunneleingang am Ende des Parkbereiches abstellte, hatte sich die Atmosphäre geändert: Ein Dutzend Fahrzeuge – Einsatzwagen der Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr – verteilten sich vor dem Tunnel. Niemand schien in Eile. Näher als zweihundert Meter kam man nicht an den Tunnel heran, da die Zone nur für Fußgänger und Radfahrer gedacht und jetzt mit einem rot-weißen Band abgegrenzt war. Hier an der Absperrung standen Neugierige und ehrlich Betroffene, aus dem Konzept gebrachte Jogger und Radfahrer, ein paar Jugendliche, die zu spät zur Schule kommen würden.

Grassi streckte diesmal seinen Ausweis dem Carabiniere an der Absperrung schon entgegen. »Guten Morgen. Commissario Grassi, La Spezia. Wo finde ich denn den Capitano Bruzzone?«

Der Beamte wirkte noch nicht ganz ausgeschlafen, aber sein Sinn für Humor war offenbar schon wach. Er warf kaum einen Blick auf Grassis Ausweis, hob nur das Absperrband und sagte: »Immer geradeaus bis zur Leiche. Sie können ihn nicht verfehlen.«

»Wie weit ist es denn bis zum Fundort?«

»Die Leiche liegt in der zweiten Galleria. Mehr als ein paar Minuten werden Sie nicht laufen müssen. Oder Sie warten einfach, bis die Kollegen fertig sind und aus dem Tunnel kommen.«

Grassi sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb acht. Seinen Termin bei Questore Feltrinelli hatte er zwar erst um elf, aber er wollte nicht auf dem schnellsten Weg nach La Spezia fahren, um sich vorher noch ein wenig in seinem neuen Revier umzuschauen.

»Sie haben nicht zufällig ein Fahrrad für mich?«

»Machen Sie Witze?«

Grassi zuckte mit den Schultern und lief los. Nach etwa zweihundert Metern trat er in den Tunnel ein. Der ehemalige Bahntunnel war etwa fünf Meter hoch, aber nur gut drei Meter breit. Neben zwei Fahrradspuren quetschte sich ein gelb abgegrenzter Streifen für Fußgänger an die Tunnelwand. Hier konnten kaum zwei Menschen nebeneinanderlaufen, ohne Radfahrern in die Quere zu kommen. Die Rentnergruppen, von denen Piero gesprochen hatte, würden im Gänsemarsch gehen müssen. An der Decke hingen alle fünf Meter Lampen, trotzdem war die Beleuchtung schummrig, denn das meiste Licht wurde von den grob gehauenen, grauschwarzen Tunnelwänden und vom Asphalt geschluckt. Nichts für Menschen mit Angst vor engen Räumen, dachte Grassi. Zwei Tunnelabschnitte musste er durchqueren, bis es wieder hell wurde. Das grelle Licht, das Grassi am Ende des Tunnels sah, stammte von Scheinwerfern, die am Fundort der Leiche aufgestellt worden waren. Gut zwanzig Meter vor dem Ausgang war ein Quadrat nahe einer Nische in der Wand kriminaltechnisch untersucht, markiert und abgesperrt worden. Männer in weißen Overalls packten ihre Sachen zusammen. Sie hatten ihre Kapuzen heruntergezogen und die Schutzbrillen bereits abgenommen.

An der Decke am Tunnelausgang sah Grassi eine Kamera, die auf die breiter werdende Promenade gerichtet war. Die entsprechende Kamera am Eingang musste er übersehen haben. Hinter der Galleria führte der Weg einige Hundert Meter unter freiem Himmel direkt an der steinigen Küste entlang. Eine Treppe führte zu einem Strand hinab, der malerisch zwischen scharf geschnittenen Felsen lag. Bänke boten einen Blick aufs Meer. Neben den Bänken standen ein weißer Kastenwagen der Polizia Scientifica, der Gerichtsmedizin aus La Spezia, und ein Leichenwagen. Die Leiche lag schon in einem glänzenden schwarzen Sack auf einer Rollbahre. Ein groß gewachsener Carabiniere mit Schirmmütze bemerkte Grassi und kam ihm entgegen. Der Commissario erkannte den Capitano an den drei Sternen auf dessen Schulterklappen.

»Capitano Bruzzone, buongiorno!«

»Guten Morgen, Commissario. Mein Kollege hat Sie schon über Funk angekündigt.« Dem Capitano der Carabinieri stand ein Grundmisstrauen ins Gesicht geschrieben. Die italienische Idee, staatliche Polizeigewalt nicht nur in eine Hand zu geben, war eine gute und demokratische Tradition zur Vermeidung von Machtkonzentration. Aber fünf Polizeiorganisationen unter der Führung verschiedener Ministerien bei sich zum Teil überschneidenden Zuständigkeiten führten zwangsläufig auch zu häufigem Kompetenzgerangel. Dazu kamen sehr unterschiedliche Mentalitäten aufgrund von Tradition und Organisation. Die Carabinieri waren eine streng militärische Einheit. Der Capitano war nach Haltung und militärischem Haarschnitt zu schließen von Kopf bis Fuß – und wahrscheinlich auch mit Leib und Seele – ein Soldat, der polizeiliche Aufgaben erfüllte. Der Commissario musste dem Capitano dagegen vorkommen wie ein Zivilist mit zu langen Haaren. Hierarchisch standen die beiden auf derselben Stufe, aber aus Sicht des Capitano der Carabinieri Bruzzone konnte der Besuch des Commissarios der Polizia di Stato schwerlich als Privatvergnügen gewertet werden.

»Ich bin inoffiziell hier, mich treibt nur berufliche Neugier. Außerdem bin ich gerade erst nach Levanto gezogen, ich strecke also sozusagen die Fühler aus«, sagte der Commissario leichthin. Er musste zu Bruzzones länglichem Gesicht und seinen kleinen Augen aufschauen.

»Nun, was kann ich Ihnen erzählen, um Ihre Neugierde zu stillen: Die Leiche ist weiblich und bereits identifiziert. Alles Weitere muss die Obduktion ergeben.«

Grassi schaute auf einen Mann im weißen Overall, der bei dem Leichensack gestanden hatte, jetzt seine Einweghandschuhe mit einem Schnalzen von den Händen rupfte, sie achtlos auf den Boden fallen ließ und sich ihnen näherte. Bruzzone stellte sie einander vor, und Grassi schüttelte Dottore Andrea Penza die Hand. Dessen Blick war gleichzeitig wach und melancholisch. Er war kleiner als Grassi, untersetzt und völlig kahl. Der Commissario schätzte ihn auf Ende fünfzig.

»Woran ist das Opfer denn gestorben, Dottore?«, fragte Grassi.

»Wenn ich das schon wüsste, Commissario, würde ich es Ihnen trotzdem nicht verraten, oder?«, sagte Penza mit einem Seitenblick auf den Capitano. Offensichtlich wollte er nicht zwischen die Fronten geraten.

Der Capitano verzog keine Miene, also fuhr Penza fort: »Die Tote hat einige äußerliche Verletzungen; welche davon tödlich waren, weiß ich noch nicht. Die Verletzungen erinnern mich an solche, die ich schon bei Unfallopfern gesehen habe. Wäre nicht der erste Zusammenstoß von Radfahrer und Fußgänger im Tunnel. Aber der erste tödliche.«

»Ja«, sagte Grassi. »Ich kann mir gut vorstellen, dass es hier auch mal eng wird.«

»Wir hatten schon einige Zusammenstöße auf der Ciclopedonale«, ergänzte Bruzzone, »besonders im Sommer, wenn die Touristen kommen.«

»War das Opfer denn Touristin?«

»Nein. Eine Frau aus der Nähe von Framura, genauer aus Montaretto.« Bruzzone räusperte sich. »Ist Ihre Neugierde damit befriedigt? Gut, dann können wir hier weitermachen.« Der Capitano gab das Zeichen, die Rollbahre mit der Toten in den Leichenwagen zu schieben. Der Fahrer warf seine Zigarette über die Brüstung auf den Strand. Penza bekreuzigte sich.

»Eine Einheimische stirbt also nachts in der Nebensaison bei einem Unfall in einem leeren Tunnel«, sagte Grassi.

»Sie haben sicher keine Zeit, sich den Kopf über einen Fall zu zerbrechen, der Sie nicht kümmern muss«, sagte Bruzzone spitz. »Und ich würde hier gern fertig werden.« Der Wink mit dem Zaunpfahl war nicht zu übersehen, also verabschiedete Grassi sich von Penza und spazierte an der Seite des Capitano zurück in den Tunnel.

»Wo in Levanto wohnen Sie, wenn ich fragen darf?«, lenkte Bruzzone das Gespräch ins Private, ohne tatsächlich interessiert zu wirken.