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Tritt nie den falschen Leuten auf die Füße! So hatte sich Thorsten das Date mit Melanie nicht vorgestellt. Erst schlittert er mitten in eine irrwitzige Schnitzeljagd, während der ihm Golfbälle um die Ohren fliegen und er seine Angebetete aus den Fängen eines Wikingers befreien muss, bevor beide in getunten Rollstühlen entkommen. Dann wird er auch noch von der Polizei und einem Geheimbund gejagt. Skrupellose Männer und geheimnisvolle Frauen setzen dem Schreibtischhelden auf seiner Odyssee durch ein Labyrinth aus Intrigen, Familienfehden und den Abgründen der menschlichen Seele zu. Thorsten muss all seine Erfahrung, die ihm der jahrzehntelange Konsum von Krimis und Agentenfilmen beschert hat, in den Ring werfen, denn für seine Häscher geht es um nichts Geringeres als das ewige Leben. Wer ist der ruchlose Schurke, der Thorsten zum Golf herausfordert - zu einem Spiel, von dem er keinen blassen Schimmer hat?
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2020
Buch
Tritt nie den falschen Leuten auf die Füße! So hatte sich Thorsten das Date mit Melanie nicht vorgestellt. Erst schlittert er mitten in eine irrwitzige Schnitzeljagd, während der ihm Golfbälle um die Ohren fliegen und er seine Angebetete aus den Fängen eines Wikingers befreien muss, bevor beide in getunten Rollstühlen entkommen. Dann wird er auch noch von der Polizei und einem Geheimbund gejagt. Skrupellose Männer und geheimnisvolle Frauen setzen dem Schreibtischhelden auf seiner Odyssee durch ein Labyrinth aus Intrigen, Familienfehden und den Abgründen der menschlichen Seele zu. Thorsten muss all seine Erfahrung, die ihm der jahrzehntelange Konsum von Krimis und Agentenfilmen beschert hat, in den Ring werfen, denn für seine Häscher geht es um nichts Geringeres als das ewige Leben. Wer ist der ruchlose Schurke, der Thorsten zum Golf herausfordert - zu einem Spiel, von dem er keinen blassen Schimmer hat?
Autor
Gerd Henze lebt seit 1995 in Weinheim an der Bergstraße. Auf seinen vielen Reisen bis in die entlegensten Winkel der Erde zwischen Lüneburger Heide und Salzkammergut hat er die Abgründe der menschlichen Seele studiert und beschreibt diese in vielschichtigen Krimis und Kurzgeschichten.
Geboren wurde er in Rüthen, am nördlichen Rand des Sauerlands, wo er zwischen endlosen Wäldern und fruchtbaren Rübenäckern die Liebe zur Literatur und Philosophie entdeckte.
„Angst ist die Flucht nach hinten, Zorn die nach vorn.“
Thorsten
Der Tod ist ein guter Anfang
Eine Welt voller Barbies und Kens
Hip-Hop auf dem Cembalo
Keine Helmpflicht für Igel
Shitstorm war auch schon mal lustiger
Homöopathie auf einem Ohr
Frösche werden jetzt gemolken
E-Mobilität – schamlos und unzensiert
Ein Fall für die Paketbotengewerkschaft
Ein Tatortreiniger für den Swingerclub
Hinter Gobelins pinkeln
Zwerge sind konzentrierte Riesen
Bücher haben ihr eigenes Parfüm
Taxifahrer müssen nicht jeden mitnehmen
Das Lamm hinter der Zentralheizung
Hände weg von Studienrätinnen
Pfadfinder des Monats
Im Kittchen gibt's kein Boxspringbett
Ich hab schon mit Jungs geknutscht
Die Kampfkunst der alten Leute
Maßnahme zur Verbesserung der CO2-Bilanz
Löcher in der Aura schaden dem Ätherkörper
Der Floh im Bärenpelz
Krötentunnel im Regenwald
Dünger auf den Gottesacker
Eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten
Gummi, das von Felgen fault
Pac-Man im Rausch der Hormone
Bogey an Loch 19
„Ich öffne die Augen und wache doch nicht auf aus diesem fürchterlichen Alptraum. Wer hätte gedacht, dass sie bis zum Äußersten gehen würden ... Wo ich ihnen mein Leben geopfert habe: als Frau, als Mutter, als Freundin?“
„Dann setz dich doch in dein Auto und fahr fort! Schau nach vorn, lass alle Enttäuschungen einfach hinter dir und fang woanders ganz neu an!“
„Abhauen und nach vorn schauen? Etwas Besseres fällt dir nicht ein? Über die Schulter müsste ich blicken, immerzu. Oder glaubst du, sie würden mich so einfach ziehen lassen, bei alldem, was ich über sie weiß? Nein, mein Leben ist verbrannt. Nur im Tod könnte ich Frieden finden.“
„Dann zieh einen Schlussstrich und bring dich um!“
„Den Gefallen will ich ihnen nicht tun. Steht mir denn nicht auch ein bisschen Glück zu? Soll ich sterben, wie ich gelebt habe – als Opferlamm?“
„Das ist wohl dein Schicksal.“
„Ihn müssten sie bestrafen und nicht mich! Mit ihm hat schließlich alles Unheil seinen Lauf genommen.“
„Die Täter werden geschützt, so ist das nun einmal. Was geschehen ist, kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Warum sollte man ihn wegen einer Entgleisung seiner jugendlichen Triebe richten – nach so vielen Jahren?“
„Entgleisung nennst du das, was er mir angetan hat? Und für diese kleine Unbeherrschtheit soll ich an seiner Stelle auf dem Scheiterhaufen brennen? Verstehe ich dich da recht?“
„Du bist freundlich zu ihm gewesen, hast ihn angelächelt, ihm ein Trinkgeld gegeben.“
„Hast du noch nie Trinkgeld gegeben?“
„Nicht in einem Geräteschuppen.“
„Ich habe eine Bürste gesucht, um meinen Golfsack zu säubern.“
„Du hast die Tür hinter euch geschlossen.“
„Sie ist von allein ins Schloss gefallen.“
„Um Hilfe gerufen hast du aber nicht.“
„Hättest du auch nicht, mit seinen Daumen fest gegen deinen Kehlkopf gepresst.“
„Er war gerade mal sechzehn Jahre alt.“
„Du weißt ja nicht, wie stark ein junger Bursche sein kann. Es war schrecklich, einfach widerlich, diesem wilden Tier hilflos ausgeliefert zu sein. Als es vorbei war, wollte ich nur noch unter die Dusche und ihn mir aus dem Schoß waschen.“
„Da warst du wohl nicht gründlich genug.“
„Heute gibt es bessere Möglichkeiten.“
„Du hättest es wegmachen lassen können.“
„Es konnte am wenigsten dafür. Und außerdem hatte sich Rüdiger so innigst ein Kind gewünscht. Es war ein Geschenk des Himmels, überreicht von einem Teufel.“
„Meinst du Josef war glücklich über das Geschenk, das Maria mit himmlischem Beistand empfangen hatte?“
„Es steht zumindest nichts darüber geschrieben, dass er ihr Vorwürfe gemacht oder sie gar wie ein Flittchen behandelt hätte.“
„Glaubst du an den Himmel?“
„Ich kenne nur die Hölle.“
„Verbrannt siehst du aber nicht aus.“
„Dort lodert kein ewiges Feuer. Die Hölle, das sind die anderen.“
„Und für wen warst du die Andere?“
Die Sonne strahlte warm vom wolkenlosen Himmel herab. Eine sanfte Brise wehte den Duft des frisch gemähten Grases vom Feld neben der Pferdekoppel herüber und die Forellen in dem kühlen Bach, der sich durch den Park schlängelte, schnappten gierig nach den Fliegen, die auf seiner kräuselnden Gischt tanzten.
Sie stellte ihre Sporttasche quer in den engen Kofferraum. Eigentlich könnte sie auch zu Haus trainieren. Sie hatte sich oben im Ostflügel einen hellen Fitnessraum mit Blick auf die gelben Rapsäcker einrichten lassen. Doch sie musste unbedingt gesehen werden. Schon in den vergangenen Wochen hatte sie sich überall gezeigt, bei bester Gesundheit, frohgelaunt, das blühende Leben und der Zukunft zugewandt: im Theater, beim Shoppen, beim Golf, beim Plausch mit Bekannten. Sollte ihr etwas zustoßen, durfte nicht der geringste Zweifel an ihrer Lebensfreude aufkommen.
Lautlos senkte sich der Kofferraumdeckel und das Schloss rastete leise klackend ein. Nicht die Technik verlangte dieses metallische Geräusch, sondern das Sicherheitsbedürfnis des Fahrers, denn ohne akustische Rückmeldung würde er den Schließmechanismus mit den Händen überprüfen und dabei die glänzende Versiegelung der Karosserie beflecken.
So aber richtete sie mit den Spitzen ihrer roten Nägel lächelnd die blonden Haare im Widerschein des unbefleckten Lacks, der ebenso makellos poliert war wie sie ohnehin schon frisiert war. Die vereinzelten grauen Härchen hatte sie erst gestern dezent übertönen lassen, so dass nicht einmal sie ihr Alter andeuten würden.
Sie öffnete die Fahrertür, beugte ihre Knie bis zur Hocke und ließ sich seitlich auf dem tiefen Sportsitz nieder. Sie schlängelte die schlanken Beine unter dem Lenkrad hinweg auf die silbernen Aluminium-Pedale im Hades ihres Achtzylinders, wobei die flachen Hände auf den Oberschenkeln zufällige Aussichten eines nicht anwesenden Beobachters unter ihren knielangen Rock, den sie heute ausnahmsweise nicht trug, verhinderten. Sie ließ den Motor aufheulen.
Herr Hubert hatte aufgetankt, bevor er das Auto nach der Inspektion zurück in die Garage gestellt hatte. Als rechte Hand ihres Gatten musste er sich nicht darum kümmern, doch er liebte den Wagen genau so innig wie sie selbst – wohl die einzige Gemeinsamkeit, die sie noch teilten. Er hatte sie beim Kauf beraten: limitierte Auflage, eine sichere Wertanlage, pries der Verkäufer.
„Wenn man die denn brauchte“, hatte sie nur gedacht.
Sie hatte Herrn Hubert immer gemocht, sich für ihn starkgemacht, als ihr Rüdiger ihn eingestellt hatte, ihn unterstützt, bis er schließlich zum Privatsekretär ihres Mannes aufgestiegen war. Dann hatte sie der scheinheilige Intrigant aus der Firma gedrängt und selbst die Geschäftsführung übernommen. Doch sie war darauf vorbereitet gewesen. Sie wusste noch immer, wie die Geldströme flossen. Sie hatte Dossiers darüber angelegt, wer welche Summen bekam. Selbst an die sensiblen Daten im gesicherten Firmennetzwerk gelangte sie durch eine Hintertür. Manchmal kam man weiter, wenn man sich dummstellte.
Zärtlich strich sie über das lederne Lenkrad und liebkoste den griffigen Schaltknauf. Die breiten Reifen verdichteten den Kies unter ihrer Lauffläche, als sie mit Standgas die Auffahrt hinabrollte. Das Verdeck versank surrend im Schacht hinter ihrem Sitz. Die ersten Meter der Landstraße, in die sie unten einbog, waren schwarz vom Gummiabrieb, den sie bereits in den Asphalt radiert hatte. Sie liebte ihr Auto und hegte wenig Sympathie für Geschwindigkeitsbegrenzungen, doch heute zügelte sie das Drehmoment, das willig an der Antriebswelle lauerte.
Sie war früh dran gewesen und hatte jede Stunde ausgekostet. Sie hatte nach den Fohlen gesehen und war schon vor dem Frühstück ausgeritten. In der Vorlesung über mittelalterliche Freskenmalerei am Vormittag, an der sie als Gasthörerin teilnehmen durfte, wurden gotische Wandbilder in den Kirchen und Klöstern des Alpenvorlands referiert.
„Wusstest du, dass die Malereien häufig nicht nur einen Moment im Leben eines Heiligen darstellen, sondern sein ganzes Wirken in einem einzigen Bild erzählen? Welche Szenen aus meinem Leben würde ein frommer Maler wohl für meine Geschichte auswählen?“
„Wie du die wurmstichigen Äpfel schälst, die dir der Bauer vom Marktstand geschenkt hat ... Wie du in deinen zerrissenen Strumpfhosen auf dem rostigen Fahrrad durch die Gassen strampelst … Wie du dein Anwaltsdiplom entgegennimmst, mit dem schicken Akademikerhut auf dem Kopf ... Wie du dir die Platzreife erarbeitest, im Clubrestaurant, auf der Toilette, auf den Knien, vor deinem Golflehrer ... Wie du deinen Rüdiger verzauberst, am achtzehnten Loch, das du ihm beim Gleichstand geschenkt hast ...“
„Fallen dir denn keine bedeutsameren Augenblicke ein?“
„Ich finde, du solltest dir nichts vormachen. Der Papst wird dich bestimmt nicht heiligsprechen.“
Dieses verschrumpelte alte Weib nörgelte ständig an ihr herum. Doch sie war die Einzige, der sie noch vertrauen konnte – ganz gleich, wie sehr sie ansonsten auch nervte.
Sie würde sie vor dem Training am Marktplatz absetzen. Dort konnte sie an einem Eisbecher sabbern, während sie sich auf dem Laufband schindete.
* * *
Trotz des Fußballfiebers allerorts war erstaunlich viel los im Fitness-Studio. Auch Jennifer hatte sich, wie jeden Freitag Nachmittag, in die jubelfreie Oase geflüchtet. Ihre junge Haut war braungebrannt und in ihrem Bauchnabel glitzerte ein Edelstein.
Sie liefen nebeneinander und schauten von den Bändern aus über den Parkplatz hinweg zu den Bergen in der Ferne.
„Ist das dein Sportwagen dort unten?“, fragte Jennifer.
Sie nickte.
„Wie viel PS hat er denn?“
Sie zuckte bescheiden mit den Schultern.
„Ich stelle es mir unheimlich geil vor, wenn man mit der Karre richtig Gas gibt und dir die Kraft des Motors bis in den Unterleib vibriert“, löcherte Jennifer sie mit einem anzüglichen Grinsen.
Die Walzen zogen unbarmherzig surrend Meter um Meter Laufstrecke unter ihren Sohlen hinweg. Sie tupfte sich mit dem Handtuch die Schweißperlen von der Stirn. Von der Seite her penetrierte schon seit geraumer Zeit eine rockige, verdammt emanzipierte, florale Duftexplosion ihre Nasenlöcher.
„Ich wäre auch gern eine so elegante Frau wie du“, nahm Jennifer die Unterhaltung wieder auf.
„Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hast du dir Klamotten gekauft. Ich habe dich von draußen beobachtet, wie du in der Boutique ein schlichtes, langweiliges Kostüm anprobiert hast. Zunächst war ich enttäuscht, dass du es tatsächlich genommen hast, ...“
Sie erinnerte sich an den Nachmittag. Sie brauchte den faden Fetzen fürs Theater. Am Abend wurde Brechts Proletariats-Drama Die Heilige Johanna der Schlachthöfe aufgeführt. Sie hatte es, dem Anlass entsprechend, einem glänzenden Abendkleid vorgezogen. Ihren Zynismus trug sie lieber im Herzen statt auf dem Hintern. Die Kleine hatte so getan, als ob sie die Auslage begutachten würde.
Ein paar Tage später, sie war mit Sybylle zum Brunch verabredet gewesen, hatte Jennifer im Vorbeigehen gegrüßt, als ob sich die beiden kennen würden. Und neulich erst hatte sie sich auf dem Marktplatz mit Herrn Huberts Tochter und einer anderen Frau unterhalten. Ja, ihre Wege hatten sich in jüngster Vergangenheit häufiger gekreuzt, als es statistisch erwartbar gewesen wäre.
„... doch dann wurde mir klar, dass man sich nach dir umdreht, ganz gleich, ob du wie eine Diva oder wie eine Vorstandssekretärin rumläufst. Ich hingegen muss meine Haut zu Markte tragen, wenn ich auf mich aufmerksam machen will“, schmeichelte ihr Jennifer.
Beim Ausziehen in der Umkleide präsentierte sie stolz ihr erstes Tattoo. Ein Sternenschweif schwang in sanftem Bogen von der Hüfte aus sich nach unten hin verjüngend und lief in immer kleineren Sternchen auf ihrem Schambein aus.
„Was bedeutet diese Tätowierung?“, fragte sie höflich interessiert.
„Nun, die Sterne sind Abenteurern und Reisenden schon seit Jahrtausenden zuverlässige Wegweiser gewesen“, erklärte Jennifer augenzwinkernd.
„Wer einmal dort unten angekommen ist und immer noch nautische Unterstützung benötigt, den kann man getrost zum nächsten Hafen schippern lassen“, meinte sie milde lächelnd.
„Selbst Matrosen, die wissen, wie man Segel setzt, merken häufig nicht, dass die Flaute vorüber ist – und denen muss man in den Nacken blasen ...“, wandte Jennifer ein.
„... sonst ende ich noch wie meine beste Freundin.“ „Was ist mir ihr?“
„Sie hat alles, was einem Mann gefällt, doch der, dem sie gefallen will, begreift einfach nicht, wie sehr sie ihm gefällt.“
Als sich Jennifer nach dem Duschen die Schuhe band, krallte sich die Spitze ihres Höschenbundes tapfer an den Beckenknochen, während die pinken Shorts unaufhaltsam in Richtung Steiß strebten und das vulgäre Detail entblößten.
* * *
Die Bäume entlang der Allee warfen kühle Schatten auf das glänzend orange Cabrio. Die hellblond gefärbte Mähne wirbelte wild im Fahrtwind. Sie reckte die sonnengebräunten Arme weit in den Himmel und die warme Brise streichelte die nackte Haut unter ihrem luftigen Shirt. Heute Abend würden alle nur Augen für sie haben. Ihre Hände griffen gierig nach dem vollen, runden, steifen Leder des Steuerrades. Ihre nackten Schenkel vibrierten wohlig, als sie den Fuß auf dem Gaspedal senkte. Das Fahrwerk krallte sich kompromisslos an den Asphalt.
Ein anderes Auto schlingerte ihr in der Kurve entgegen. Sie reagierte routiniert, doch die Lenkung wollte nicht gehorchen. Der Wagen raste wie auf Schienen geradeaus über den Straßenrand hinaus. Das dumpfe Krachen scheuchte die Vögel vom Acker auf. Die Airbags rundherum waren schon wieder erschlafft. Ihre Beine waren unter dem Lenkrad eingeklemmt, doch sie konnte ihre Zehen bewegen. Hastig griff sie nach dem Gurtschloss, aber es ließ sich nicht öffnen. Feuer schlug aus der Karosserie. Zappelnd wand sie sich in den Gurtbändern.
Der Fahrer des anderen Autos rannte auf sie zu. Flehend streckte sie ihre Arme nach ihm aus. Er war noch so weit weg, inmitten dicken, qualmenden Rauchs. Dann ein lauter Knall. Noch bevor der Fremde den Feuerlöscher auf den Brandherd richten konnte, schlug ein infernalisches Flammenmeer, in dem der Blechklumpen bald verglühen würde, bis über die Baumkrone hinaus. Nein, er würde sie nicht mehr retten können, doch sein Gesicht beschwor Bilder einer fernen Vergangenheit herauf.
Wir alle müssen einmal sterben, aber niemand möchte es kommen sehen. Der Tod macht dir ein Geschenk, wenn er ohne Anklopfen mit der Tür ins Haus fällt. Nicht jeder wird so großzügig beschenkt, doch jetzt war es so weit. Sie musste diesen Ort verlassen. Ihr letzter Gedanke drehte sich um ein Golfspiel, das sie abseits des Parcours gespielt hatte.
Thorsten ging in die Hocke und hob den Teller von der Fußmatte auf. Er schnüffelte an der Alufolie, unter der ein dezenter, ungemein verführerischer Duft von Vanille in seine Nüstern kroch. Käsekuchen! Seine Nachbarin aus dem Erdgeschoss mischte immer ein paar Löffel Vanillepudding unter den Quark. Seit er ihrem Enkel mit der Bewerbung geholfen hatte, stellte sie ihm jeden Samstag frischen Kuchen vor die Tür. Sie war so stolz, dass sich der Junge wieder gefangen und nach seiner Gefängnisstrafe nun endlich eine anständige Arbeit gefunden hatte. Fünf Jahre hatte er eingesessen, weil er eine Tankstelle ausgeraubt und dabei den Kassierer mit einem Messer schwer verletzt hatte. Jetzt arbeitete der junge Mann in einer Steuerkanzlei und unterstützte ehrbare Klienten, den Staat ganz legal auszunehmen.
Die Straßenlaternen leuchteten seine Wohnung schummrig aus. Er knipste das Licht nicht an. Seine Augen dankten ihm für die Reizarmut, die er ihnen nach einem langen Tag des Starrens auf flimmernde Monitore in der Redaktion gönnte. Er fläzte sich in einen Sessel und hörte die Mailbox auf seinem Handy ab.
„Huhu Thorsten, hier ist Verena. Vergiss unsere Verabredung nicht! Du wirst es nicht bereuen. Bis morgen! Träum was Schönes!“
Verena hatte ihn noch nicht aufgegeben. Bestimmt hatte sie wieder eine aussichtsreiche Kandidatin aufgetan, die sein Singledasein beenden könnte.
Er lächelte. Die Kuscheldecken lagen sauber aufgefaltet an einem Ende seiner Sofalandschaft, die Kopfkissen ordentlich über die Länge aufgestellt. Der zarte Hauch des sinnlich-fruchtigen Eau de Toilettes hatte sich längst verflüchtigt und über den aufgefrischten Polstern schwebte wieder der Geruch einsiedlerischer Enthaltsamkeit. Natürlich würde er hingehen. Er hatte sie seit diesem Abend nicht mehr getroffen.
Keine weitere Nachricht. Er nahm den Teller mit dem Käsekuchen und stach mit der Gabel die Spitze des ersten Stücks ab. Die fluffige Quarkmasse zerschmolz auf seiner Zunge und seine Zähne mahlten selig den knusprig-mürben Boden zu kleinsten Krümeln, die ein himmlisches Butteraroma in seine Geschmacksknospen massierten, welches sich in geradezu göttlicher Harmonie mit der unaufdringlichen Note echter Bourbon-Vanille vermählte.
Wer wohl die Frau in dem schnittigen Coupé mit Hamburger Kennzeichen war, die allem Anschein nach schon eine Zeit lang schräg gegenüber unterhalb des Weinbergs ausharrte? Sie hatte den Kopf gesenkt, als er an ihrem Wagen vorbeigeradelt war. Außer schmalen Schultern, langen Haaren und einer tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe hatte er nichts weiter hinter den beschlagenen Scheiben erkennen können. Ob sie sich seinetwegen die Nacht in der Kälte um die Ohren schlug?
Er schaltete das Regionalfernsehen ein und lud ein weiteres Stückchen Kuchen nach. Tränen des puren Glücks fluteten seine Augäpfel. Kein Bäcker weit und breit konnte es mit der alten Frau Nolte aufnehmen. Auch Franz Knobloch nicht, der ihn aus einem tief gefurchten Gesicht, das von großen Ohren flankiert wurde, vom Bildschirm her angrinste. Der ehemalige Bäckermeister und davor Grenadier der 6. Armee, der seinen Laden am Rand der Innenstadt gehabt hatte, feierte seinen hundertsten Geburtstag.
„Seit Stalingrad habe ich keinen so saukalten Winter wie diesen erleben müssen“, krächzte er den aufgesetzt fröhlichen Reportern zu.
Der Bürgermeister, der Vorsitzende der Bäckerinnung, der Vorstand des Kriegervereins und andere, die es in die Medien zog, nickten brav und gratulierten dem alten Kameraden, der in seinem Fernsehsessel aus speckigem Leder kauerte und nachdenklich mit dem Kopf schüttelte, wobei die eigens zu dem besonderen Anlass angelegte, aber nur notdürftig fixierte Zahnvollprothese das eingefallene Wangenfleisch wölbte.
Das kauzige alte Männlein, das da aufgedreht im Blitzlichtgewitter herumfeixte, hatte sie alle überlebt: die Gesellen, die er zeitlebens in der Backstube drangsaliert hatte, die Verkäuferin, die er bedrängt, geschwängert und dann entlassen hatte, seine Ehefrau, die nur ein einziges Mal gewagt hatte, sich zu beschweren, und die man danach nie mehr lachen sah, und selbst seine Kinder. Einzig seine jüngste Tochter lebte noch. Zu seinem großen Tag war sie nicht gekommen. Thorsten wusste, warum. Er hatte die gebrochene Frau vor einigen Jahren interviewt.
Die Kulturstiftung des Mittelstands, die ihn mit der Studie beauftragt hatte, ließ über ihr Vorstandsmitglied Hubert anfragen, ob man die aus seiner Sicht nicht repräsentativen, polarisierenden Passagen dieses Kapitels nicht etwas abschwächen könne. Sicher, der Veteran sei bestimmt nicht in allen Lebenslagen ein leuchtendes Vorbild gewesen, doch dürfe man darüber nicht vergessen, welche Grauen er in Krieg und Gefangenschaft habe miterleben müssen. Thorsten mochte sich gar nicht erst vorstellen, welche Schrecken der hochdekorierte Soldat seinerseits entfesselt und unter das Feld von Blut und Ehre gepflügt hatte. Am Ende informierte man ihn, dass man seine Abhandlung über die Zeitzeugen von Krieg und Wirtschaftswunder vorerst nicht herausgeben würde.
Der rassige Zweitürer parkte noch immer am Straßenrand. Er stand am Fenster und ließ die Kuchengabel andächtig in das zweite Stück Backwerk sinken. Ob er der Frau unten eine heiße Tasse Tee und Kekse bringen sollte? Sie musste doch frieren.
Nicht, dass es ihr am Ende so erging wie dem elegant gekleideten Herrn, der an einem Februarwochenende, auf dem Höhepunkt der Kälteperiode, gänzlich freud- vor allem aber leblos in seinem schwarzen Stutzer und brandneuen italienischen Glattlederschuhen auf der Sitzbank im Wartehäuschen der Bushaltestelle Bismarckplatz aufgefunden wurde.
Müde schlurfte Thorsten hinüber zur Pinnwand und betrachtete im Flackerlicht des Fernsehers die Fotos. Eine wirklich seltsame Sache war das mit dem Erfrorenen gewesen. Seine steif gekrümmten Finger klammerten sich an eine Flasche edelsten Highland-Malts, dem verschwenderische siebzehn Jahre umsorgte Ruhe in einem Fass aus amerikanischer Weißeiche gegönnt worden waren, in dem zuvor ein nicht minder vornehmer, halbtrockener Portwein herangereift war, dessen leichte Süße das würzige Holz imprägniert hatte, und nun das mild-torfige Bouquet des Whiskys mit einem Anflug von Vanille und Karamell aufs Vorzüglichste abrundete. Dass diese praktisch unbezahlbare Köstlichkeit nicht in angemessenem Rahmen bei Zimmertemperatur oder gar leicht erwärmt genossen wurde, um ihr auch wirklich alle Geschmacksnuancen zu entlocken, sondern to go und quasi on-the-rocks, erregte den Argwohn der Ermittlungsbehörden. Wäre sie wenigstens mit weichem Quellwasser von den abgefüllten einundsechzig Volumenprozenten auf trinkbare vierzig Prozent verdünnt gewesen, hätte das Schlimmste wohl vermieden werden können.
Die gerichtsmedizinische Untersuchung indes ergab keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung, die auf ein herbeigeführtes Ableben hindeuteten. Festgestellt wurden lediglich ein Promillewert von zwei Komma sieben und eine Fettleber, die aber nach Sachlage eigenverschuldet waren. Aus Sicht der Ärzte war der Tote stark alkoholisiert im Freien eingeschlafen und infolgedessen an Unterkühlung gestorben.
Thorsten prüfte die goldgelbe Färbung des Macallen, den er in seinem Tumbler schwenkte. Das Lebenswasser benetzte dabei die Innenseite des Glases und ölte in gediegenen Schlieren zurück in die Pfütze, die auf dem massiven Kristallboden schwappte. Er verdünnte den fünfzehn Jahre gelagerten Single-Malt mit einem Schuss handwarmen Wassers und stellte ihn zu seinem Kuchen, wo er noch etwas atmen sollte.
Das im Magen des verblichenen Fremden sichergestellte Menü aus Austern, rohem Thunfisch, Kalbsbries und Champagner-Sorbet deckte sich exakt mit der Speisefolge, die anlässlich eines Gala-Abends auf dem herrschaftlichen Landsitz vor den Toren der Stadt kredenzt worden war. Zu diesem waren neben dem Bürgermeister auch der Polizeipräsident sowie weitere Würdenträger des Ortes geladen.
Der Privatsekretär des Schlossherrn erinnerte sich noch lebhaft an den Gast, dem er zu später Nachtstunde höchstpersönlich ein Taxi gerufen hatte. Er bedauerte Herrn Peeters plötzliches, wenn auch unter Abwägung seiner offen zur Schau getragenen Leidenschaft für alles Alkoholische absehbares, Dahinscheiden sachlich. Man habe den renommierten Genetiker der Universität Nimwegen eingeladen, um ihn für die Mitarbeit an einem Forschungsprojekt zu gewinnen. Die Flasche Malt, die nun unglückseligerweise in der Asservatenkammer der Polizei vor sich hin dümpeln würde, stamme zweifellos aus dem Bestand seines Arbeitgebers.
Der Taxifahrer bestätigte über den von der Behörde bestellten Dolmetscher, den angetrunkenen Effendi trotz anfänglicher Bedenken in die Stadt gefahren zu haben. Beim City Döner sei er ausgestiegen und zu Fuß in Richtung Hotel weitergegangen. Vielleicht sei ihm schlecht gewesen, vielleicht habe ihn auch eine Notdurft hinaus in die Kälte getrieben – verstanden habe er ihn nicht. Er habe während der Fahrt in einem Kauderwelsch – womöglich sei es so etwas wie Deutsch gewesen – vor sich hin geflucht.
An der Bushaltestelle, die auf dem Weg lag, musste er sich wohl ausgeruht haben. Nachdem alle Fakten zusammengetragen waren, ebbten sowohl der Aufklärungsdrang als auch die mediale Wertschöpfung rasch wieder ab und der Fall wurde als tragisches Missgeschick ad acta gelegt.
Der Fernseher in seinem Rücken informierte Thorsten über das Verschwinden eines totgeborenen Embryos aus dem örtlichen Krankenhaus. Es war nur deswegen aufgefallen, weil sich die trauernde Mutter umentschieden hatte und ihr totes Kind nun doch würdevoll bestatten wollte, statt es zusammen mit dem anderen infektiösen Krankenhausmüll verbrennen zu lassen.
„Wirklich seltsame Dinge gehen hier auf einmal vor sich“, befand er.
Dem Rätsel um den toten Holländer war er weiter auf der Spur geblieben. Vor vier Wochen lag ein USB-Stick, der ohne Absender mit der Post gekommen war, auf seinem Schreibtisch im Büro. Darauf waren auch Daten eben jenes Wissenschaftlers gespeichert. Sie beschrieben haarsträubende Experimente am menschlichen Erbgut. Thorsten hatte ihn kontaktiert, um die Glaubwürdigkeit des Materials zu prüfen. Dieser hatte ihn jedoch wenig überzeugend abgewiesen, woraufhin er nach Nimwegen gefahren war, um den Mann von Angesicht zu Angesicht zur Rede zu stellen.
„Hören Sie, das mag ja alles sein, doch das hier stammt definitiv nicht von mir!“
„Aber da steht doch Ihr Name und der Ihres Instituts taucht auch auf.“
Thorsten erinnerte sich, wie der Holländer mit fahrigen Fingern die Daten überflogen und die Urheberschaft vehement bestritten hatte. Kurz drauf lag er hier tot im Städtchen. Das roch nach einer handfesten Story.
Er ließ die Aufnahme, die er heimlich von ihrem Gespräch gemacht hatte, weiter abspielen.
„Sie behaupten also, dass Sie nicht an einem Verfahren forschen, wie man Teile des menschlichen Genoms verändern kann, so dass Defekte dauerhaft ausgemerzt oder aber gewünschte Eigenschaften verstärkt werden?“
„Nein, doch, ja … Aber das, woran wir hier forschen, ist reine Theorie. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie eine derartige Genoptimierung die natürliche Evolution beschleunigen, vielleicht sogar eines Tages ersetzen könnte!“
„Wenn ich mir die Tabellen und Testreihen anschaue, dann scheint mir, dass Ihre Arbeit längst über den theoretischen Ansatz hinaus gediehen ist.“
„Wir bewegen uns immer noch im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben.“
„Einer Ihrer Fachkollegen, dem ich das Material vorgelegt habe, ist da ganz anderer Meinung.“
„Das kommt auf die Interpretation an. Sehen Sie denn nicht, welche Chancen sich aus unserer Forschung ergeben? Starke, gesunde Kinder mit herausragenden intellektuellen Fähigkeiten!“
„Und wer pflegt die Alten und Kranken, wer schneidet die Haare, wer repariert das Wasserrohr und wer backt das Brot – in einer Gesellschaft voller Dichter und Denker?“
„Auch diese Eigenschaften könnte man gezielt herausarbeiten.“
„Was ist mit dem Recht des Einzelnen, selbst über sein Schicksal bestimmen zu dürfen? Das bleibt dann wohl auf der Strecke.“
„Das Selbstbestimmungsrecht wird unnötig romantisiert. Wie weit reicht es denn, wenn man in das falsche soziale Umfeld hineingeboren wird? Welche Wahl hat ein Kind denn schon, wenn es bei ungebildeten Eltern aufwächst? Was spricht dagegen, wenn wir künftig wertvolle Veranlagungen fördern und optimieren, statt sie wie bisher unnötig zu verschwenden?“
„Und wer soll schöpfergleich darüber entscheiden, welche Anlagen künftig wünschenswert sind und welche nicht? Wie wollen Sie vorhersehen, ob die Mutation, die Sie gerade ausschalten, die Spezies insgesamt nicht einmal voranbringen würde?“
„Das können Computersimulationen übernehmen.“
„Genau so zuverlässig wie Wettervorhersagen?“
„Die werden auch immer genauer.“
„Und doch wird man oft genug nass, wenn man sich darauf verlässt. Mann, hören Sie doch auf! Menschen am Reißbrett entwerfen – normiert, zweckoptimiert … Wer will schon in einer Welt voller Barbies und Kens leben?“
„Sie übertreiben maßlos, weil Sie Angst haben.“
„Vor skrupellosen Autokraten, die sich Soldaten mit aggressiven Erbanlagen zusammensetzen lassen, um ihre Macht zu zementieren, während alle anderen zu handzahmen, willenlosen Lämmern gezüchtet werden? Natürlich habe ich davor Angst.“
Thorsten stoppte das Band. Angesichts der nur mäßig begeisterten Ermittlungen zum Tode des Holländers hatte er davon abgesehen, dem Staatsanwalt die Unterlagen zu übergeben. Handfestere Beweise, die eine Vertuschung unmöglich machten, mussten her. Vielleicht war diese Story ja endlich sein großer Durchbruch.
Im Fernsehen stellten sich die Kandidatinnen für das Amt der diesjährigen Weinkönigin vor. Die jungen Frauen waren fachlich, charakterlich und optisch bestens auf ihre bevorstehenden Aufgaben vorbereitet. Wie sie wohl ausschauen würden, wenn sie von eingestaubten, engstirnigen Wissenschaftlern entworfen worden wären?
Thorsten schlüpfte in seine Schuhe und schlappte zur Wohnungstür. Er wollte die Frau in dem Auto fragen, ob sie ihm den USB-Stick mit den Forschungsdaten zugesteckt hatte.
Ein Ploppen in seinem Rücken erschreckte ihn. Dumpf wie ein Sektkorken, doch Silvester war lang vorbei. Vielleicht ein kleiner Vogel, denn für Insekten und Fledermäuse war es noch zu kalt? Doch statt eines verirrten Nachtschwärmers war der Kunststoffpfeil einer Kinderarmbrust von seiner Fensterscheibe gebremst worden und klebte nun dort an einem Saugnapf. Um den Schaft herum war ein Zettel gewickelt und mit einem Gummiband befestigt. Er löste das Geschoss und las:
„Wenn du meinst, es sei schwierig, neue Leute kennenzulernen, dann heb doch mal einen falschen Golfball auf!“
Thorsten rannte runter auf die Straße. Als er die Haustür öffnete, war die Frau im Coupé verschwunden. Zurück in seiner Wohnung lümmelte er sich grübelnd in seinen Sessel. Ein Anflug von kaltem Rauch störte sein Wohlbefinden. Er schnüffelte an seinem Pulli. Keine Spur von Nikotin in den Baumwollfasern – stattdessen rangelte ein fernes Rauschen der Meeresbrise seines Weichspülers noch wacker mit den Ausdünstungen eines arbeitsreichen Tages. Irritiert griff er nach dem Teller. Das angestochene Stück Käsekuchen war weg, auch das Whiskyglas war leer. Dafür lag auf dem Beistelltisch ein großer brauner Umschlag. Er sprang auf und lief zurück ins Treppenhaus. Unten fiel die Haustür ins Schloss.
„Neben meiner Arbeit ist Golf meine große Leidenschaft, obwohl ich schweren Herzens eingestehen muss, dass ich bei meinen Geschäften sicherer abschlage als auf dem Platz“, erzählte der großgewachsene, gutaussehende Herr, der ihr gegenüber saß und wohl dreißig Jahre älter sein mochte als sie.
„Mein Vater war ein ausgezeichneter Golfer. Er hat als Profi sogar ein paar bedeutende Turniere gewonnen. Mir hingegen gelingen die besten Schläge am neunzehnten Loch, geistvoll parlierend und mit einem Glas Champagner in der Hand“, erklärte Rüdiger von Herrenhagen und neigte das schlanke, hohe Stielglas unaufdringlich zum Prosit.
„Ich fürchte, mein Handicap kann ich nicht durch Training, sondern nur durch Schummeln verbessern“, flüsterte er ihr scherzend zu, wobei er sich konspirativ umschaute.
Er hatte sie zum Dinner eingeladen. Er war der wichtigste Kunde der Grafikagentur, bei der sie erst wenige Stunden zuvor einen lukrativen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte.
Das Schicksal und der Zufall hatten Melanie hierher geführt. Vergangene Woche hatte sie den Umschlag mit dem Jobangebot aus ihrem Briefkasten gezogen. Das beigefügte Bahnticket erster Klasse und die Einladung zum Vorstellungsgespräch schmeichelten ihr, machten sie aber auch misstrauisch. Sicher, sie gestaltete leidenschaftlich gern, kannte sich ausgezeichnet mit der Software aus und sie war, bei aller Bescheidenheit, wirklich gut in ihrem Job. Dass aber eine renommierte Agentur am anderen Ende der Republik auf ihre Arbeiten aufmerksam geworden war, überraschte sie dennoch.
Statt eines Interviews setzte man sie gleich vor einen Bildschirm und bat sie, ein Plakat für ein Cembalo-Konzert zu entwerfen. Stilsicher wählte sie einen modernen Ansatz für das angestaubte Thema und nach nicht einmal vier Stunden hatte sie ihr Werk vollendet.
„Ich bin geradezu begeistert von ihrem kühnen Entwurf. Das barocke Schloss im Fluchtpunkt des Bildes wird von den flankierenden Wohntürmen und Wolkenkratzern geradezu erdrückt. Und dennoch drängen die geschwungenen Formen, die vorgelagerten Säulen und die variantenreiche Dachkonstruktion in ihrer streng geometrischen Komposition die massive Präsenz von Stahl, Glas und Beton in den Hintergrund.“
„Die Vergangenheit reißt die Wände des Denkmals nieder und erkämpft sich seinen Platz in der Gegenwart. Das, was als Geschichte eingemottet wurde, stellt sich dem Dialog mit der Moderne“, erklärte sie selbstbewusst und griff nach dem quadratischen Teller, auf dem ihr Gastgeber das orange Hummerfleisch herüberreichte, das er zuvor mit geübten Handgriffen aus den Scheren des Tieres gelöst hatte. „Einfach großartig! Deswegen steht das Cembalo im Vordergrund wohl auch mit seiner Klaviatur auf einem Parkplatz mit Parkbuchten und Richtungspfeilen, während sein Klangkörper in einem streng durchkomponierten Barockpark endet, der das Auge zu dem überdimensionierten Schlossportal lenkt ...“
„Nun, ich will das historische Instrument weg aus dem exklusiven Pomp einer privilegierten Klasse in den urbanen Raum überführen, wo es auf einer Insel vom Zeitgeist umspült und schließlich zu einem Teil von ihm wird.“
„Genau so habe ich das auch verstanden. Und der Hip-Hopper, der es spielt, mit der Baseballmütze auf seinem perückierten Kopf und der großzügig geschnittenen Kleidung, führt den Betrachter aus seiner Welt in unsere und spielt dabei den Museumsmief aus unseren Mauern.“
Selbst wenn ihr Gegenüber gerade nicht in eine derart mitreißende Unterhaltung verwickelt gewesen wäre, hätte es die Etikette dem vornehmen Herrn vermutlich untersagt, die schwarzhaarige Dame in ihrem wadenlangen, tief geschlitzten Kleid, die von einem unverhohlen grinsenden Kellner an ihnen vorbei zum Nachbartisch geleitet wurde, auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie war in Begleitung eines alterslosen Mannes Anfang Fünfzig, der in seinem lässigen Outfit so gut zu ihr passte wie Mayonnaise auf einen Erdbeerkuchen.
„Ja, progressive Gesellschaftskritik statt reaktionäre Rückwärtsgewandtheit“, nahm Melanie das Gespräch wieder auf.
„Denken Sie, dass der mit Blättern und Ranken ziselierte Bilderrahmen, durch den das Instrument hindurchgeht, vom Betrachter als Tor zwischen den beiden Zeit- und Sinnebenen verstanden wird?“, fragte sie unsicher.
„Unbedingt! Mir ist auch aufgefallen, dass er seine Schmuckelemente verliert, wenn man den Blickwinkel verändert, und so zu einer geradlinigen, fast schon futuristisch unterkühlten Form übergeht – einfach raffiniert, diese optische Spielerei.“
Rüdiger von Herrenhagen spülte den letzten Löffel des gebratenen weißen Pfirsichs, der ihm mit Lavendelblüteneis und Pinien-Honig-Sirup in einem Pokal gereicht worden war, mit einem Schluck Champagner hinunter und tupfte sich mit der schweren Stoffserviette über den Mund. Sie kratzte den verbliebenen Rest Crème Brûlée mit Nougatkirschen aus dem irdenen Dessertschälchen und fuhr fort.
„Ich muss zugeben, dass mir das Cembalo und die Barockmusik nicht gerade geläufig sind. Doch wie ich es verstehe, repräsentiert es wohl eher die heiterbeschwingte, die spielerische Seite einer Epoche, die ansonsten von Krieg, Hunger, Elend und Pestilenz geprägt war. Das ganz große Drama wie auf einem Klavier oder gar auf dem Syntheziser lässt sich, soweit ich das sehe, damit nicht aufführen.“
„Und dennoch werden wir dank Ihrer Kreativität neue Zielgruppen erschließen, da bin ich mir sicher“, freute er sich, wobei die Spitzen seines schmalen Schnauzbartes vergnügt zappelten.
„Unter der Gefahr, dass man die Nostalgiker vergrätzt“, gab sie zu bedenken.
„Dieses Risiko will ich gern eingehen. Mit Ihnen kommt frischer Wind auf. Das ist auch der Grund, warum ich unbedingt Sie für unsere Projekte gewinnen wollte. Es wird allerhöchste Zeit, dass wir unsere Köpfe lüften und moderner werden, statt weinerlich in Nostalgie zu schwärmen.“
Am anderen Ende des Saals hastete ein Koch mit blutverschmierter Schürze und einem weißen Lamm, das strampelnd unter seinem Arm vor sich hin mähte, durch eine Schwingtür in die Küche. Melanie zwinkerte, um ihre trockenen Augen zu befeuchten.
„Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen, wo es doch Grafiker wie Sand am Meer gibt?“, fragte sie in Erwartung einer vertrauensbildenden Antwort.
„Algorithmus heißt das Zauberwort. Ich verfüge über ein recht leistungsstarkes Rechenzentrum. Auf der Suche nach geeigneten Kandidaten habe ich einen Bot mit allen für diesen Aufgabenbereich wichtigen Parametern programmieren lassen und ihn auf die Reise durch das Internet und die sozialen Netzwerke geschickt.“
„Und mit welchen Eckdaten haben Sie ihn gefüttert?“
„Ich habe jemanden gesucht, der mit dem Herzen verführt und nicht manipuliert, ehrlich und ohne strategische Berechnung, denn wir wollen die Menschen für unsere Sache gewinnen und sie nicht hintergehen.“
„Soll heißen?“
„Unser Kandidat sollte Emotionen einbringen und sie nicht gezielt wecken. Dafür schien mir eine Frau geeigneter als ein Mann. Sie sollte mehr aus dem Bauch heraus gestalten als ausgetretene Pfade akademisch verkopft noch tiefer auszutreten. Dafür bot sich aus meiner Sicht eine Quereinsteigerin ohne abgeschlossenes Design-Studium und ohne thematische Vorbelastungen am ehesten an. Außerdem sollte sie gesellschaftliche Spannungsfelder ausloten können, weswegen sie am besten Waise oder aber fernab eines behüteten Elternhauses aufgewachsen sein sollte. Das waren in groben Zügen die wichtigsten Kriterien.“
Das Pärchen am Nachbartisch war lebhaft miteinander beschäftigt. Die Schwarzhaarige benahm sich ihrer eleganten Aufmachung und dem noblen Rahmen des Restaurants alles andere als angemessen. Sie fand, dass die glattgeschliffenen, grünen, blauen, roten und gelben Edelsteine der Tischdekoration ebenso gut ihr üppiges Dekolletee schmückten. Er schien sie in ihrem frivolen Spiel noch zu bestärken, indem er ein paar Tropfen von dem Premium Olivenöl extra vergine auf seine Fingerkuppen träufelte und diese dann unter der lang herunterhängenden Tischdecke verschwinden ließ, was sie mit einer entzückten Maßregelung quittierte.
„Und damit sind die Bots bei mir gelandet? Beunruhigend, was man heute übers Internet alles herausfindet“, meinte Melanie abgelenkt.
„Beunruhigend, wie viele private Informationen man gedankenlos preisgibt, finden Sie nicht?“, entgegnete ihr Gegenüber.
Sie entschuldigte sich und suchte die Toiletten auf, wo sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser erfrischte und tief durchatmete. Vielleicht war dies ja eine neue Chance – weit weg von ihrer Tante und ihrem Onkel. Sie hatten sie wie ihre eigene Tochter aufgezogen, doch all die Liebe, die sie ihr geschenkt hatten, vermochte den dunklen Schatten, der sie zu ihnen geführt hatte, nicht vertreiben. Vielleicht fand sie hier ja die Heimat, die man ihr als Mädchen gestohlen hatte – und vielleicht sogar jemanden, den sie in ihr Herz lassen konnte.
Als sie wieder herauskam, stieß sie gegen den Mann vom anderen Tisch und zuckte wie von einem Stromschlag getroffen zusammen.
Sie tauchte in seinen Blick ein und sah sich auf ihrem Roller durch die engen Gassen ihres Dorfes düsen. Später dann ihr erstes Fahrrad, der starke Arm, der sie aufgefangen und geführt hatte, bis sie schließlich ganz allein fahren konnte. Die sanfte Stimme, die ihr Gute-Nacht-Geschichten erzählt und die Welt erklärt hatte. Das gütige Lächeln, das sie getröstet hatte, wann immer sich das Leben gegen sie gewandt hatte.
Sie legte den Kopf auf die Seite, ihre Wange suchte die Schulter, in die sie ihre Tränen gedrückt hatte, wenn sie sich unverstanden fühlte. Doch was war das? Ein widerwärtiges, verschlagenes Grinsen wischte jede Herzenswärme hinfort. Die Augen stier und lüstern, die Lefzen triefend, die Krallen nach ihr ausgestreckt, bereit, sich zu nehmen, was ihm nie gehören durfte. Sie musste dieses Ungeheuer endlich erlegen. Nie wieder sollte es ein Leben zerstören. Der Fremde bat sie formvollendet um Verzeihung für seine Ungeschicklichkeit, die eigentlich sie verschuldet hatte, und lächelte sie selbstbewusst an. Seine tiefe Stimme fuhr ihr geradewegs in den Bauch und bügelte ihre aufgewühlten Erinnerungen samtig glatt. Er schloss die Tür, öffnete aber eine andere, die sie sich für immer verriegelt gewünscht hatte.
„Sind Sie wohlauf?“
Rüdiger von Herrenhagen war aufgestanden und hatte ihr den Stuhl zurechtgerückt, als sie wieder an den Tisch kam.
„Wie bitte? Ich? Oh, ja. Sicher. Es ist wohl nur die Erschöpfung eines langen, aufregenden Tages.“
„Ich bin untröstlich. Entschuldigen Sie den Egoismus eines alten Mannes, der das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft partout nicht aufschieben wollte.“
Am Ende des Abends verbeugte sich der elegante Herr tief, küsste ihre Hand und verabschiedete sich herzlich. So sehr Melanie gutes Benehmen bisweilen auch vermisste, hatten sie der gestelzte Tonfall und die ausufernden Höflichkeitsfloskeln ihres Gastgebers doch angestrengt.
* * *
Gerade mal eine Woche später trat sie ihre neue Stelle an. Bereits an ihrem ersten Arbeitstag wartete ein Auftrag auf sie. Sie sollte ein Werbekonzept für eine Caravaggio-Ausstellung entwerfen. Sie stürzte sich auf die Arbeit und schon bald hatte sie ein Feuerwerk an Einfällen für Flyer, Plakate, Zeitungsanzeigen und Banner für die Online-Promotion präsentiert. Die Retrospektive der Kunsthalle konnte nur ein Erfolg werden, zumal die Kunstgeschichte den Barockmaler über die Jahrhunderte hinweg als Enfant Terrible, Unzucht treibenden Totschläger und Raufbold mystifiziert hatte, was sich in allen Epochen ganz ausgezeichnet vermarkten ließ.
Jede neue Aufgabe, die man ihr übertrug, meisterte sie mit originellen Ideen, die sie handwerklich geschickt umzusetzen wusste. Allerdings wurde ihr der rege Kontakt zu ihrem Mäzen bald unangenehm, zumal dieser verheiratet war. Einmal hatte er sie durch sein Anwesen geführt, ein anderes Mal waren sie im Theater gewesen, später dann im Kunstmuseum. Sie hatte ihm diskret zu verstehen gegeben, dass eine väterliche Freundschaft, wie er es nannte, sehr leicht missgedeutet werden könnte. Er konnte ihre Bedenken nachvollziehen und nahm sich fortan zurück.
Dann starb seine Ehefrau bei einem schrecklichen Autounfall. Nach dieser Tragödie mied ihr Mentor fast gänzlich die Öffentlichkeit und Melanie hatte Gelegenheit, ihr eigenes Leben aufzubauen. Sie ging mit Kollegen aus, lernte Männer übers Internet kennen, schickte sie aber allesamt wieder fort. Sie engagierte sich ehrenamtlich im Verein Selbstbestimmt Leben, wo sie kostenlose Taxifahrten mit dem vereinseigenen Van anbot. Beim Yoga hatte sie Verena kennengelernt, die sie zum Grillfest eingeladen hatte. Als sie vorfuhr, führte der faszinierende Mann aus dem Restaurant gerade eine Blondine durchs Gartentürchen. Die Schwarzhaarige hatte offensichtlich ausgespielt.
Ob er sie wiedererkennen würde? Hatte sie sich verraten? Bestimmt hatte er ihre Begegnung schlichtweg vergessen. Melanie nahm die Hand vom Türgriff und tippte mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. Was in aller Welt machte sie nur hier? Was ging es sie an, wenn der Kerl die Gefühle wildfremder Herzen niedermetzelte?
Vielleicht war da aber auch gar nichts, das er zertrampeln konnte. Bei ihrem Nebenjob hatte sie genug Frauen beobachtet, die sich nur zu willig jeder erdenklichen Schamlosigkeit hingaben. Sollte dieser alte Jäger, der fast schon ihr Vater sein könnte, doch in fremden Revieren wildern. Sie würde seinen Opfern nicht zu Hilfe eilen – nicht schon wieder. Es hätte sie schon einmal beinahe zerrissen. Sie musste sich schützen. Sie griff zum Zündschlüssel.
Was aber, wenn er nun doch kein wildes Tier war, sondern nur ein in die Jahre gekommener Junge, der sich nicht entscheiden kann, weil er noch nie ernsthaft vor eine Wahl gestellt wurde? Was, wenn sie ihm Unrecht tat? Was, wenn er selber mehr litt als die, die er verführte? Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen.
Es war nach Mitternacht, als er mit seiner Begleitung aus dem Garten auf die Straße trat. Seine Hand umschloss ihre Pobacke, sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Sie stiegen in einen Peugeot. Melanie folgte ihnen bis zu einem Mietshaus. War dort ihre Wohnung oder seine? Sie würde es herausfinden, alles würde sie über diesen Mann herausbekommen.
In den folgenden Monaten notierte sie jeden seiner Schritte, führte Protokoll über die vielen Nächte, die sie in ihrem Wagen vor seiner Tür ausgeharrt hatte. Einmal, es regnete in Strömen, klingelte Verena an seiner Haustür. Durchs Fenster beobachtete sie, wie sie sich umarmten. Dann ließ er die Jalousien im Wohnzimmer runter. Er hatte sie vorher noch nie runtergelassen.
Sie durfte nicht eingreifen. Noch musste sie sich gedulden. Bald war der Tag gekommen. Sie strich beschwörend mit den Fingern über das Amulett, das an einem Lederband um ihren Hals hing.
„Zur Frühlingsgleiche, dann, wenn das Licht die Dunkelheit vertreibt und die Knospen sprießen, wäre der perfekte Zeitpunkt für einen Neuanfang“, hatte in ihrem Horoskop gestanden.
„An diesem Tag würde sich entscheiden, in welche Richtung das Pendel ausschlägt.“
In einem dunklen Hauseingang gegenüber flammte ein Feuerzeug auf und eine dünne Rauchsäule kräuselte sich zwischen Regentropfen den Nachthimmel hinauf. Heute durchbohrten wohl nicht nur Melanies wachsamen Augen den Schleier der Nacht.
* * *
Bis ins eiskalte Frühjahr hinein hatte sich ihr Mäzen nicht mehr bei ihr gemeldet. Dann läutete es an der Haustür und ein Bote brachte eine große Schachtel. Darin lag, sorgsam zusammengelegt, ein strahlend grünes Cocktailkleid, passend zur Farbe ihrer Augen, sowie ein Paar Pumps und eine Einladung zu einer Soiree auf seinem Anwesen.
Er begrüßte sie überschwänglich und suchte trotz seiner repräsentativen Verpflichtungen als Gastgeber immer wieder ihre Gesellschaft. So schaffte es Melanie auch mit großem Geschick, den unpässlichen Herrn abzuwimmeln, der ihr mehrmals zum Tanzen nachstellte. Dieser polterte nicht nur unangemessen zwischen den Gästen herum, überdies war er, da sie höhere Absätze trug, noch fast einen Kopf kleiner als sie. Enttäuscht über ihre Zurückhaltung tat er sich schließlich großzügig an dem ihm geflissentlich gereichten Champagner gütlich, wodurch er seine Gesellschaftsfähigkeit weiter untergrub.
Der Schlossherr hingegen hatte weniger Glück beim Versuch, dem unangenehmen Gast aus dem Weg zu gehen. Nur mit Mühe konnte er den erregten Mann am Ärmel seines Jacketts ins benachbarte Musikzimmer zerren, wo dieser dann, wild wie ein Rumpelstilzchen gestikulierend, auf ihn einredete. Einige Wortfetzen des Gesprächs drangen bis in den Ballsaal und es fiel der Name, den Melanie schon tausendmal kalligraphiert hatte. Schließlich gelang es einem Angestellten, den aufgebrachten Besucher hinauszukomplementieren.
Aus der Zeitung erfuhr sie am nächsten Tag, dass er ein holländischer Wissenschaftler war. Man hatte ihn tot in einem Wartehäuschen aufgefunden. In seiner Hosentasche steckte ein aufgeschnittener Golfball, in den ein Fetzen Haut eingeschweißt war.
Thorsten wäre gern noch liegengeblieben, doch ein Albtraum hatte seinen Schlaf perforiert und trieb ihn aus den Federn. Ganz gleich, wohin er sich auch wendete, blickte er in die gesichtslosen Gesichter von Frauen und Männern, standardisiert, makellos glattgepixelt und weichgezeichnet, ohne Falten, Ecken, Kanten und Charakter: in der Bahn, beim Metzger, auf dem Amt, in der Stadt, einfach überall. Als ihn dieselbe Fratze dann auch noch im Spiegel auslachte, wachte er entsetzt auf.
Noch schlaftrunken lupfte er den Rollladengurt, durch dessen Lamellen sich die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages zwängten. Er löste seinen Griff und fuhr erneut mit der Hand nach oben. Ein beherzter Zug und das Morgenlicht brach sich in der von den Regenfällen der vergangenen Wochen noch fleckigen Fensterscheibe, bevor es sich über die zerwühlten Laken seines leeren Bettes streute.
Es war nicht immer leer gewesen. Doch seit nunmehr drei Jahren war er faktisch allein. Die große Liebe war es wohl nie gewesen – für beide nicht. Er hatte sie beim Urinieren kennengelernt. Es war nach der Maiwanderung gewesen, am Rand der großen Festwiese im Wald über den Weinbergen. Sie hockte hinter einem Holzstapel. Er hatte sich höflich entschuldigt und wollte sich zurückziehen, doch sie meinte, es stünden genügend Bäume für sie beide herum. Auf dem Kiesweg hatte sie auf ihn gewartet. Sie hörten sich noch die letzten beiden Bands an, tranken Weißwein und flirteten. Sie fanden, dass sie gut zueinander passten, und probierten es. Eine Beziehung ohne Risiko, aber auch ohne Zukunft. Sie hatten viel Spaß miteinander, lebten in Wahrheit aber zwei verschiedene Leben. Im Bett gelang es ihnen manchmal, zueinander zu finden. Meist folgte jedoch auch hier jeder seinem eigenen Weg zum selben Ziel. Wie zwei Golfer, die sich denselben Platz teilen und am Ende eher zufällig gemeinsam ins letzte Loch putten.
Seitdem war sein Bett leer. Nicht durchgängig, denn quantitativ hatte sein Sexleben nicht gelitten. Nicht selten fiel das Morgenlicht auf ein nacktes Bein, eine schmale Schulter oder eine wallende Mähne, die unter den zerknitterten Decken hervorlugten. Bevor er sich an solchen Tagen zu ein paar zärtlich dahingehauchten Worten nötigte, sammelte er die schlaffen Präservativschläuche vom Boden auf und entsorgte sie sachgerecht mit dem Restmüll.
Er suchte in den Wasserflecken nach vertrauten Mustern, fand auf der putzmittelbedürftigen Fensterscheibe aber nur eine chaotische Anordnung von Tropfen, Schlieren und Streifen. Ein letzter kühner Zug an dem rauen Gewebe des mittlerweile vom Handschweiß feucht gewordenen Rollladengurts und die Welt lag ihm zu Füßen. Es versprach, endlich dieser erste nennenswerte Frühlingstag zu werden. Er riss die Fensterflügel weit auf und der Duft von nassem Gras und feuchter Erde mischte sich unter die Ausdünstungen der Nacht.
Im Wohnzimmer klingelte das Handy.
„Legen Sie nicht gleich wieder auf!“, hechelte der Anrufer.
„Wieso sollte ich? Ich hab doch gerade erst abgehoben.“
„Wissen Sie eigentlich, wie schwer es war, Ihre Nummer herauszufinden?“
„Ich hoffe, Sie hatten einen guten Grund, diese Mühsal auf sich zu nehmen.“
„Es geht um meine Tochter. Der Norweger stellt ihr nach und bedrängt sie, dass sie mit ihm kommt.“
„Welcher Norweger?“
„Ich weiß nicht, ob er wirklich Norweger ist. Ein riesiger Kerl, er heißt Hallgrim oder so.“
„Bedroht er sie? Zwingt er sie, irgendwas zu tun, was sie nicht will?“
„Nicht so direkt. Er kurvt dauernd in seinem großen, schwarzen Auto durch unsere Straße. Geht sie raus, verfolgt er sie und spricht sie an.“
„Finden Sie nicht, Sie sollten besser zur Polizei gehen?“
„Da war ich schon. Die haben nur gemeint, so lang nichts passiert … Sie ist doch mein einziges Kind und ich bin krank. Soll ich denn warten, bis ihr etwas zustößt?“
„Und wie kann ich Ihnen da helfen?“
„Sie könnten recherchieren, einen Artikel schreiben. Vielleicht vertreibt ihn das. Sie ist Krankenschwester und im Krankenhaus verschwinden doch seit einiger Zeit Leichen und tote Embryos. Bestimmt hängt der Kerl da mit drin ...“
Thorsten wurde hellhörig.
„Wissen Sie mehr darüber?“
„Nein, wenn ich sie darauf anspreche, weicht sie mir aus. Ich fürchte, sie ist da in irgendwas Übles hineingeraten. Sie ist so ein gutes Kind.“
„Verhält sie sich in letzter Zeit merkwürdig?“
„Nein, eigentlich ist alles so wie sonst. … Außer, dass sie jetzt Golf spielt.“
„Hoffentlich hat sie beim Spiel nicht versehentlich einen falschen Golfball aufgehoben“, grübelte Thorsten und legte auf.
Auf dem Beistelltisch lagen noch der bunte Kunststoffpfeil und der braune Umschlag. Nachdenklich sah er sich die Fotos an, die man ihm gestern auf so mysteriöse Weise zugestellt hatte. Eines zeigte einen großen Saal, in dem Bottiche aus Edelstahl mit Bullaugen aufgereiht waren. Sie sahen aus wie Taucherglocken. Das zweite zeigte ein Gemälde mit nackten, runzeligen Paaren, die händchenhaltend in einen Tümpel abtauchen. Auf der anderen Seite steigen junge Pärchen ans Ufer. Thorsten datierte es in die Renaissance. Was aber hatte das alles mit Golf zu tun? Und warum behelligte man gerade ihn damit?
Ratlos trottete er ins Bad und machte sich gesellschaftsfähig. Zurück in seiner Kemenate wählte er eine sportlich schicke Garderobe. Ein ehrliches, schnörkelloses Basic-T-Shirt, einfarbig, gerade geschnitten und gänzlich ohne Botschaft, fand er im Kleiderschrank. Eine Cargohose und einen Pulli zog er aus dem Stapel der praktisch ungetragenen Wäsche der vergangenen Woche auf dem Stuhl neben der Nachtkonsole. Zum Abschluss noch ein hauchfeiner Spritzer leichtes, frisches Eau de Toilette und er war bereit für die Abenteuer, die da draußen auf ihn warteten.
* * *
Er war zum Frühstück verabredet, auf dem pittoresken Marktplatz im Zentrum. Umrahmt von teils windschiefen, teils stattlichen, altehrwürdigen Bürgerhäusern war er der soziale Brennpunkt des Städtchens. Fast jedes beherbergte im Erdgeschoss ein Café, ein Bistro oder ein Restaurant. Sobald sich der erste Sonnenstrahl zeigte, wurden Tische und Stühle aufs abschüssige Kopfsteinpflaster gestellt. Doch noch war es zu früh. Um acht begannen gerade mal die Vorbereitungen hinter den Kulissen. Daher wollte er den Weg am Waldrand oberhalb der Weinberge nehmen. Dort konnte man die Natur genießen, ohne sich zu weit von der Zivilisation zu entfernen.
Gut gelaunt und mit federndem Schritt tänzelte er die beiden Stockwerke bis zur Haustür hinab. Ein kurzer Blick zum Briefkasten versicherte ihn, dass ihn die Discounter, Möbel- und Elektromärkte nicht vergessen hatten. Einfach unfassbar, wie viel man beim Geld ausgeben sparen konnte. Zwanzig Prozent beim Sofa, zwölf Prozent beim Fleisch, acht Prozent beim Fernseher – reich durch Konsum. Solch eine Rendite warf nicht einmal sein Aktienfonds ab.
Dynamisch riss er die Haustür auf und rannte in seinen Nachbarn Hendrik. Der hatte den Arm voller Papiertüten, die rücksichtslos den Duft von frischem Backwerk verströmten.
„Morgen, Thorsten!“
„Morgen, Hendrik!“
„Hast Du gehört? In der Stadt haben sie vier Rollstühle geklaut. Direkt von der Ladestation beim Rathaus.“
Die Papiertüten raschelten, als Hendrik sie mit seinen behaarten Armen noch enger an das karierte Flanellhemd drückte.
„Weiß man, wer's gewesen ist?“
„Nein, aber die Bereifung war wohl ganz neu.“
„Dann sollten die Diebe ja bald gefasst sein. Viele Grüße an Katja und die Kinder!“
Er wandte sich zu den Weinbergen und stieg einen schmalen Pfad zwischen den noch blattlosen Rebstöcken hinauf. Der Split unter seinen Sohlen knirschte verhalten, als er mit lässigem Schritt den ebenen Weg in Richtung Stadt marschierte. Er war nicht der Einzige hier oben. Ein junger joggender Vater lenkte seinen ausladenden, dreirädrigen, geländegängig bereiften Kinderwagen, in dem sein Sprössling selig vor sich hin döste, hart über die Rabatte, als sie sich begegneten.
Hinter sich hörte er bereits seit geraumer Zeit das Schleifen von Walking-Stöcken, die durch den Schotter gezogen wurden, was nur gelegentlich von einem klackenden Stöckeln unterbrochen wurde. Der Träger des Sportgeräts benötigte die Länge eines Tennissatzes, um ihn zu überholen. Danach entfernte er sich mit der Geschwindigkeit der Plattentektonik, so dass Thorsten ausreichend Zeit hatte, den Athleten zu betrachten. Der Beinbund der engen, kurzen Laufhose schnitt sich tief in die weichen Oberschenkel. Die Sohlen der High-Tech Laufschuhe, in denen in Kompressionsstrümpfe gepresste Füße steckten, verloren nur selten die Bodenhaftung, so dass neben den Stockenden auch die Absätze flache Furchen in den Kies schnitten.
Ein kratzendes Rascheln rechts am Waldboden weckte seine Neugier. Er ging in die Hocke und entdeckte einen Igel, dessen spitze Schnauze und kurzen Vorderfüßchen in einem karamellbraunen Kaffeebecher aus Pappe steckten, den er durchs trockene Vorjahreslaub vor sich herschob. Er legte seine Handfläche mit dem Strich auf die Borsten, drückte den kleinen Kerl behutsam zu Boden und bremste so seinen Lauf. Die andere Hand zog den Becher sacht mit einer Drehbewegung vom Kopf. Ein paar Stacheln hatten sich hinter einer Trinklippe am oberen Rand festgeklemmt, so dass sich das possierliche Tierchen nicht aus eigener Kraft hatte befreien können. Jetzt wippte es selig mit gekrümmten Rücken in seiner Hand und schaute ihn aus schwarzen Knopfaugen dankbar an.
Er entließ den Igel in die Geborgenheit des schattigen Waldes, wo er, seines Helmes aus Zellulose befreit, wieder nach Würmern scharren konnte. Dann spazierte er weiter, entsorgte den Pappbecher aus Togo im nächsten Papierkorb und setzte sich auf eine Holzbank, die, laut Messingplakette, erst zwei Jahre zuvor vom Skatklub im Goldenen Löwen gespendet worden war.
„Golf ist doch wirklich dekadent. Ein paar Reiche spazieren durch eine gestutzte Landschaft, die eigens für sie auf links gedreht, getrimmt und manikürt wurde. Ganze Wälder werden gerodet, Felsen gesprengt, Hügel abgetragen, Teiche angelegt. Was dem Fürsten früher sein Park war, ist dem Geldadel heute der Golfplatz. Man ist unter sich, auf Kosten der Ressourcen aller“, trug ihm der laue Südwind ins Ohr.
„Man könnte das Golfspiel ja auch in den Alltag holen und die baulichen oder landschaftlichen Gegebenheiten nutzen, so wie man sie vorfindet. Dann müsste man nicht bewässern und würde die Natur schonen. Fußball wird ja auch in Hinterhöfen gespielt und Kletterer krabbeln an Fassaden hoch.“
Gemessen gestikulierend und ins Gespräch vertieft schlenderten zwei Spaziergänger heran.
„Schlage den Ball so, dass du ihn nicht suchen musst!“, warnte ihn einer der beiden unheilvoll. Dann entfernten sie sich angeregt diskutierend und ließen ihn grübelnd zurück.
Vielleicht war heute ja der Versenke-Golfweisheiten-in-18-Löchern-Tag? Gar nicht so abwegig, wenn bereits der Tag der Rohrleitungen, der Welt-Nackt-Gärtnern-Tag und der Tag des mit Schokolade überzogenen Insekts gefeiert wurde.
In den Schulferien, viele Jahre war es her, war Thorsten dem Greenkeeper eines Golfclubs zur Hand gegangen. Selbst hatte er nie gespielt. Angesichts der skurrilen Leute, die da in ihren altmodischen Gewändern durch die Landschaft stiefelten, hatte er sich vorgenommen, mit dem Golf zu beginnen, wenn er mit dem Sex aufgehört hätte. Dabei hatte er gerade erst seine Unschuld verloren. Es war eine einmalige Geschichte gewesen. Erinnern konnte er sich nur, dass sie fast zehn Jahre älter war als er, ihn geradezu überrumpelt hatte und dass es vorbei war, bevor bei ihr so etwas wie Freude aufkommen konnte. Daher verwunderte es ihn nicht weiter, dass sie sich trotz seiner dezent signalisierten Bereitschaft mit ihren spontanen Bedürfnissen fürderhin nicht mehr an ihn gewandt hatte.
Die Zeit, in der die Hormone den Jungen übermannt und sich seinen freien Willen einverleibt hatten, war längst vergangen. Heute schwebte er weit über den fleischlichen Verlockungen und keine noch so verheißende Versuchung konnte seinen erhabenen Gleichmut ins Wanken bringen.
Außer vielleicht die beiden Joggerinnen, die sich aus der Ferne näherten – die eine eher knabenhaft mit elfengleichem Schritt, die andere kurviger, ebenfalls sportlich, jedoch mit einer, nicht nur dem ästhetisch geschulten Auge auffallenden, Unwucht im Laufstil, die Bestzeiten wohl nie hergeben würde.
Er spazierte den beiden Läuferinnen gedankenverloren hinterher. Ihre aufreizenden Hinterteile füllten die engen Laufhosen formschön. Die Pobacken der einen strebten als Nektarinen von den Oberschenkeln weg, während die birnenförmigen der anderen, nicht weniger ansprechend, nach unten etwas fülliger ausliefen.
Derart hingebungsvoll in die Proportionslehre versunken, erreichte er bald darauf die Stadtmauern aus rotbraunem Sandstein. Nur noch spärliche Reste waren von der mittelalterlichen Wehranlage geblieben. Was nicht im Zuge des Dreißigjährigen- und der Napoleonischen Kriege geschleift worden war, fiel industriellen Ansiedlungen und den Bausünden moderner Stadtentwicklung zum Opfer. Mittlerweile hatten sich die Fabriken jedoch unten in der Ebene ausgebreitet und auch vom Beton-Brutalismus der siebziger Jahre störte kaum mehr etwas die beschauliche Kulisse spätmittelalterlicher Romantik, die sich innerhalb der Mauern erhalten hatte und werbewirksam gepflegt wurde.
Das protzige Blubbern eines großzügig mit Hubraum ausgestatteten Motors weckte seine Aufmerksamkeit. Die vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit bedrohlich genau respektierend, hielt ein schwarzer Kastenwagen auf dem Seitenstreifen. Auf der Fahrerseite stieg ein finster dreinschauender, einschüchternd hochgeschossener Muskelberg aus und stapfte auf einen kompakten Kleinwagen zu. Eine anmutige Frau in weißem Kittel mit lockigem Rothaarschopf wartete an der geöffneten Heckklappe auf ihn. Wortlos übergab sie ihm zwei Kühlboxen. Die Türen wurden wieder geschlossen und die Autos fuhren davon.
„Rot ist die Farbe des Feuers, weswegen der Teufel eine Vorliebe für rothaarige Frauen hat“, sinnierte Thorsten.