Absoluter Gegenstoß - Slavoj Žižek - E-Book

Absoluter Gegenstoß E-Book

Slavoj Zizek

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Beschreibung

Der bekannte Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek schließt mit seinem neuen Buch ›Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus‹ an seine umfangreiche Hegel-Neudeutung ›Weniger als Nichts‹ aus dem Jahr 2014 an. Ausgehend von Hegel unternimmt er nichts weniger als eine Neubestimmung des philosophischen Materialismus: In drei Teilen entfaltet er sein Vorhaben, Hegels Begriff des absoluten Gegenstoßes zu einem allgemeinen ontologischen Prinzip zu erheben. Ausgehend von einer kritischen Lektüre Badious und Althussers über eine Auseinandersetzung mit dem Hegel'schen Absoluten skizziert Žižek die Grundzüge einer Ontologie des »den«, des »Weniger-als-nichts«, um eine neue Grundlegung des dialektischen Materialismus zu formulieren. Ein so aufregender wie zentraler Beitrag zur zeitgenössischen Philosophie, mit Witz und Verve vorgetragen.

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Seitenzahl: 903

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Slavoj Žižek

Absoluter Gegenstoß

Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus

Aus dem Englischen von Frank Born

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Jela, unter WiederholungszwangEinleitung: »Da ist allerdings Sand im Getriebe«Materialismus, alt und neuGegen einen deflationierten HegelDie UngleichheitDialektische HistorizitätTeil I Jenseits des TranszendentalenKapitel 1 Versuch einer materialistischen Theorie der SubjektivitätKant avec AlthusserDie erzwungene Wahl der FreiheitDas antizipatorische SubjektKapitel 2 Von Kant zu HegelDie ontische FrageDer hegelianische WegDer gerahmte RahmenKapitel 3 Die WundeDas SteckenbleibenDer SündenfallDer antikoloniale GegenstoßDie Gewalt des AnfangsDer absolute GegenstoßZwischenspiel I Die Inszenierung der weiblichen HysterieDie Kunst und das UnbewussteDie Sackgassen der AtonalitätDer »Traumgedanke« von ErwartungTeil II Das hegelianische EreignisKapitel 4 Ereignis-Wahrheit, Ereignis-SexDie drei Ereignisse der Philosophie»La vérité surgit de la méprise«Der Kreislauf des WerdensDas Unbehagen in der SexualitätKapitel 5 Sein, Nichtwissen, absolutes WissenWissen, Tod, Unwissenheit, OpferQuantenwissenIst das absolute Wissen Hegels Docta ignorantia?Kapitel 6 Gottes gespaltene IdentitätGötter des RealenDas Band des WortesDie Historisierung GottesGott im Kampf mit sich selbstDer ProthesengottZwischenspiel II Lubitsch, Poet der zynischen Weisheit?Drei Weiße und zwei SchwarzeDie Lehre aus einem Golfspiel am See GenezarethDer Fall – noch einmalWeshalb wir eine Puppe heiraten solltenWo genau steckt eigentlich der Ärger im Paradies?Zynische WeisheitTeil III Hegel jenseits von HegelKapitel 7 Spielarten der »Negation der Negation«Der Selbstmord als Akt der Annahme des Unmöglich-Realen der FreiheitDie zwei SchmetterlingeZwischen den zwei UnmöglichkeitenDie »Synthese nach unten«Gegen das »Hölderlin-Paradigma«Kapitel 8 »Es gibt eine Nicht-Beziehung«Zwei Filme über SubjektivitätDie Notwendigkeit eines SchornsteinfegersBegehren, Trieb, Deleuze, LacanDas AbsoluteKapitel 9 Von hier zum denZwischen den und ClinamenDas den und das EineVon ISR zu a, S(A),Sinthom, objet a,

Für Jela, unter Wiederholungszwang

Einleitung: »Da ist allerdings Sand im Getriebe«

Im fünften Kapitel seines Werks Materialismus und Empiriokritizismus beruft sich Lenin auf Engels’ Behauptung, der Materialismus müsse mit jeder neuen wissenschaftlichen Entdeckung seine Form verändern, und wendet das Argument auf Engels selbst an:

»Engels sagt ausdrücklich: ›Mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet‹ (geschweige denn auf dem der Geschichte der Menschheit) ›muß er‹ (der Materialismus) ›seine Form ändern.‹ […] Eine Revision der ›Form‹ des Engelsschen Materialismus, eine Revision seiner naturphilosophischen Sätze enthält folglich nicht nur nichts ›Revisionistisches‹ im landläufigen Sinne des Wortes, sondern ist im Gegenteil eine unumgängliche Forderung des Marxismus.«[1]

Heute sollten wir diesen Grundsatz entsprechend auch auf Lenin anwenden: Seine Abhandlung Materialismus und Empiriokritizismus wurde eindeutig nicht der Aufgabe gerecht, den philosophischen Materialismus auf die Stufe der Relativitätstheorie und der Quantenphysik zu heben, und sie hilft uns auch nicht, andere Durchbrüche, wie die Freud’sche Psychoanalyse, zu begreifen, ganz zu schweigen von den Fehlschlägen des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Dieser Aufgabe versucht sich das vorliegende Buch zu widmen, indem es eine Neubegründung des dialektischen Materialismus vorschlägt. Das Wort »dialektisch« ist hier im Sinne des griechischen dialektika (ähnlich wie semeiotika oder politika) zu verstehen: nicht als allgemeiner Begriff, sondern als »dialektische (semiotische, politische) Angelegenheiten«, als ein inkonsistentes (nichtganzes) Gemisch. Aus diesem Grund sind die einzelnen Kapitel dieses Buches Anwendungen – keine Erläuterungen – des dialektischen Materialismus; dieser ist nicht das Thema des Buches, er wird vielmehr darin praktiziert. Der Titel Absoluter Gegenstoß bezieht sich auf einen Ausdruck, den Hegel nur an einer einzigen, wenn auch entscheidenden Stelle über die Logik der Reflexion verwendet, um die spekulative Identität der Gegensätze in der Bewegung zu bezeichnen, durch die ein Ding aus seinem eigenen Verlust hervorgeht. Die prägnanteste poetische Formulierung des absoluten Gegenstoßes findet sich (kaum überraschend) bei Shakespeare, und zwar in seinem unheimlichen Drama Troilus und Cressida (5. Aufzug, 2. Szene):

»O Wahnsinn der Gedanken,

Der Gründe aufstellt für und gegen sich,

Durch schnöde Anmaßung! Wo sich Vernunft

Empört und nicht vernichtet, wo Verlust

Alle Vernunft mit fortreißt ohn’ Empörung«.[2]

Im Stück beziehen sich diese Zeilen auf Troilus’ selbstwidersprüchliche Argumentation, als er von Cressidas Untreue erfährt: Er bringt abwechselnd Gründe für und gegen das vor, was er zu beweisen versucht; seine Beweisführung durchkreuzt seine eigene Argumentationslinie, aber offenbar ohne sich selbst zunichtezumachen; und seine Unvernunft gewinnt den Anschein von Vernunft, ohne dass es widersprüchlich erscheint. Eine Ursache, die gegen sich selbst vorgeht, ein Grund, der mit der Empörung (über sich selbst) zusammenfällt … Die Zeilen beziehen sich zwar auf die weibliche Widersprüchlichkeit, sie können aber auch als Kommentar zur heimlichen Allianz zwischen der Würde des Gesetzes und dessen obszöner Übertretung verstanden werden. Denken wir an Shakespeares gängige Vorgehensweise, in den Königsdramen die »großen«, würdevoll inszenierten Königsszenen mit Auftritten einfacher Leute zu ergänzen und dadurch dem Ganzen eine komische Perspektive zu verleihen. In diesen Dramen machen die lustigen Zwischenspiele die edlen Szenen durch den Kontrast stärker; in Troilus und Cressida wird jedoch jeder, selbst der edelste Krieger, vom Aspekt des Lächerlichen »kontaminiert«, so dass wir jeden der Charaktere als entweder blind und jämmerlich oder skrupellos und intrigant ansehen können.

Die »operative Kraft« hinter dieser »Enttragödisierung«, der eine Akteur, dessen Eingreifen das tragische Pathos unterminiert, ist Ulysses. Das mag angesichts seiner ersten Intervention beim Kriegsrat im ersten Aufzug überraschend klingen: Die griechischen (beziehungsweise »Grecian«, wie es bei Shakespeare, den Sprachstil von George W. Bush vorwegnehmend, heißt) Heerführer versuchen dort zu erklären, warum es ihnen nach siebenjähriger Belagerung noch immer nicht gelungen ist, Troja zu besiegen und zu zerstören; Ulysses tritt dabei als klassischer Vertreter der »alten Werte« auf und sieht den Grund für das Scheitern der Griechen in deren Vernachlässigung der zentralisierten hierarchischen Ordnung, in der jeder Einzelne seinen festen Platz hat. Woher rührt also jener Zerfall, der den grauenvollen demokratischen Zustand der Beteiligung aller an der Macht herbeiführt? An einer späteren Stelle des Stücks (3. Aufzug, 3. Szene) versucht Ulysses Achilles zu überzeugen, sich wieder an der Schlacht zu beteiligen, und bedient sich der Metapher der Zeit als einer zerstörerischen Kraft, die schrittweise die natürliche Ordnung unterminiert: Im Laufe der Jahre würden seine Heldentaten schnell vergessen, der eigene Ruhm verblasse angesichts der neuen Helden – wenn er also weiter als strahlender Kriegsheld dastehen wolle, müsse er wieder in die Schlacht ziehen:

»Die Zeit trägt einen Ranzen auf dem Rücken,

Worin sie Brocken wirft für das Vergessen,

Dies große Scheusal von Undankbarkeit.

Die Krumen sind vergangne Großtat, aufgezehrt

So schleunig als vollbracht, so bald vergessen

Als ausgeführt. Beharrlichkeit, mein Fürst,

Hält Ehr’ im Glanz; was man getan hat, hängt

Ganz aus der Mode, wie ein rost’ger Harnisch,

Als armes Monument, dem Spott verfallen. […]

Nie hoffe Wert für das, was war, den Lohn;

Denn Schönheit, Witz,

Geburt, Verdienst im Kriege, Kraft der Sehnen,

Geist, Freundschaft, Wohltat, alle sind sie Knechte

Der neidischen, verleumdungssücht’gen Zeit.«[3]

Ulysses’ Strategie ist zutiefst ambivalent. Auf den ersten Blick wiederholt er nur sein Argument über die Notwendigkeit der »Abstufung« (der geordneten gesellschaftlichen Hierarchie) und stellt die Zeit als eine zersetzende Kraft dar, die die alten Werte untergräbt – ein erzkonservatives Motiv. Bei genauerer Lektüre wird jedoch deutlich, dass er seinem Argument eine einzigartige zynische Wendung verleiht; denn wie soll man die Zeit bekämpfen und die alten Werte am Leben erhalten? Nicht dadurch, dass man einfach an ihnen festhält, sondern indem man sie durch die obszöne Realpolitik[1] grausamer Manipulation, durch Betrug, durch das Ausspielen eines Helden gegen einen anderen ergänzt. Nur diese schmutzige Unterseite, diese versteckte Disharmonie kann die Harmonie aufrechterhalten. Ulysses spielt mit Achilles’ Neid – also genau mit dem Gefühl, das für die Destabilisierung der hierarchischen Ordnung verantwortlich ist, da es anzeigt, dass jemand mit seiner untergeordneten Stellung innerhalb des Sozialkörpers unzufrieden ist. Dieses heimliche Spiel mit dem Neid – unter Verletzung genau der Regeln und Werte, die Ulysses in seiner ersten Rede feiert – ist notwendig, um den Wirkungen der Zeit entgegenzusteuern und die hierarchische Ordnung der »Abstufung« aufrechtzuerhalten. Dies wäre somit Ulysses’ Version der berühmten Worte Hamlets: »Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram / Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!«[4] – die einzige Möglichkeit, »sie einzurichten«, liegt darin, der Übertretung der alten Ordnung mit deren inhärenter Transgression entgegenzuwirken, mit einem heimlich zum Schutz der Ordnung begangenen Verbrechen. Der Preis dafür ist, dass die Ordnung, die bestehen bleibt, nur noch ein Hohn ihrer selbst, eine blasphemische Imitation von Ordnung ist.

Hegel verwendet den Begriff »absoluter Gegenstoß« in seiner Erläuterung der Kategorie des Grundes, wo er eines seiner berühmten Wortspiele anbringt, indem er das Substantiv »Grund« mit dem Verb »zugrunde gehen« verknüpft:

»Die Reflexionsbestimmung, indem sie zugrunde geht, erhält ihre wahrhafte Bedeutung, der absolute Gegenstoß ihrer in sich selbst zu sein, nämlich daß das Gesetztsein, das dem Wesen zukommt, nur als aufgehobenes Gesetztsein ist, und umgekehrt, daß nur das sich aufhebende Gesetztsein das Gesetztsein des Wesens ist. Das Wesen, indem es sich als Grund bestimmt, bestimmt sich als das Nichtbestimmte, und nur das Aufheben seines Bestimmtseins ist sein Bestimmen. – In diesem Bestimmtsein als dem sich selbst aufhebenden ist es nicht aus anderem herkommendes, sondern in seiner Negativität mit sich identisches Wesen.«[5]

Auch wenn diese Zeilen unverständlich klingen, ist die ihnen zugrundeliegende Logik klar: In einer Reflexionsbeziehung wird jeder Begriff (jede Bestimmung) durch einen anderen (sein Gegenteil) gesetzt (vermittelt), die Identität durch die Differenz, die Erscheinung durch das Wesen und so weiter – in diesem Sinne ist es »aus anderem herkommend«. Wenn das Gesetztsein sich selbst aufhebt, wird das Wesen nicht mehr durch einen äußeren Anderen, durch sein komplexes Beziehungsgeflecht zu seiner Andersheit und zu der Umwelt, in der es entstanden ist, bestimmt. Es bestimmt sich vielmehr selbst, es ist »der absolute Gegenstoß seiner in sich selbst« – die Lücke oder Unstimmigkeit, durch die es seine Dynamik erhält, ist absolut immanent.

Das Ziel dieses Buches ist es, um es traditionell zu formulieren, den spekulativen Begriff des absoluten Gegenstoßes zu einem allgemeinen ontologischen Prinzip zu erheben. Es fußt auf dem Axiom, dass der dialektische Materialismus der einzig wahre philosophische Erbe dessen ist, was Hegel als die spekulative Stellung des Gedankens zur Objektivität bezeichnet. Alle anderen Formen des Materialismus, einschließlich des »Materialismus der Begegnung« des späten Althusser, des wissenschaftlichen Naturalismus und des neodeleuzianischen »neuen Materialismus«, scheitern an diesem Ziel. Die Konsequenzen aus dem Axiom werden in drei Schritten systematisch entwickelt: 1) der Schritt von Kants Transzendentalismus zu Hegels Dialektik, das heißt vom transzendentalen »Korrelationismus« (Quentin Meillassoux) zum Denken des Absoluten; 2) die eigentliche Dialektik: absolute Reflexion, Zusammenfallen der Gegensätze; 3) der hegelianische Schritt über Hegel hinaus zum Materialismus von »weniger als nichts«.

Teil I beginnt mit einer kritischen Analyse zweier repräsentativer nichttranszendentaler materialistischer Subjektivitätstheorien (Althusser, Badiou). Das zweite Kapitel behandelt dann die transzendentale Dimension und beschreibt den Schritt vom kantianischen transzendentalen Subjekt zum hegelianischen Subjekt als »Disparität« im Herzen der Substanz. Das dritte Kapitel beinhaltet einen ausführlichen Kommentar zu Hegels Grundaxiom, dass der Geist die Wunden, die er der Natur zufügt, selbst heile.

Teil II behandelt das Hegel’sche Absolute. Zunächst beschreibt es die zutiefst ereignishafte Natur des Absoluten, das nichts anderes ist als sein eigenes Gewordensein, um sich dann dem Rätsel des Hegel’schen absoluten Wissens zu widmen: Wie sollen wir diesen Begriff hinsichtlich des dialektischen Grundparadoxes der negativen Beziehung zwischen Sein und Wissen interpretieren, also hinsichtlich eines Seins, das auf dem Nichtwissen basiert? Abschließend werden die Schwierigkeiten des Hegel’schen Gottesbegriffs in den Blick genommen.

Teil III wagt einen hegelianischen Ausflug in das unbekannte Terrain jenseits von Hegel. Am Anfang werden die unterschiedlichen, ja sogar widersprüchlichen Versionen der Hegel’schen Negation der Negation vorgestellt; anschließend geht es um die entscheidende dialektische Umkehrung von »Es gibt keine Beziehung« zu »Es gibt eine Nichtbeziehung« – den Übergang, welcher der Hegel’schen Bewegung von der dialektischen zur spekulativen Vernunft entspricht. Das Buch endet mit einigen Hypothesen über die verschiedenen Ebenen des Gegensatzes, die für jede Seinsordnung konstitutiv sind, und skizziert die Grundzüge einer neuen hegelianischen »Dentologie« (einer Ontologie des den, des »Weniger-als-nichts«). Zwischen diesen drei Schritten liefern zwei Zwischenspiele – eines über Schönbergs Erwartung und eines über die Meisterwerke Ernst Lubitschs – künstlerische Beispiele für den konzeptuellen Inhalt des Buches.

Materialismus, alt und neu

Der Materialismus tritt heute in vier Hauptversionen auf: 1) als reduktionistischer »Vulgärmaterialismus« (Kognitivismus, Neodarwinismus); 2) als neue Welle des Atheismus, welche die Religion vehement verurteilt (Hitchens, Dawkins und andere); 3) als die Überreste des »diskursiven Materialismus« (Foucault’sche Analysen diskursiver materieller Praktiken) und 4) als deleuzianischer »neuer Materialismus«. Wir sollten uns folglich nicht scheuen, nach dem wahren Materialismus in dem zu suchen, was zwangsläufig als (eine Rückkehr zum Deutschen) Idealismus erscheinen muss – oder, wie Frank Ruda sich in Bezug auf Alain Badiou ausdrückt: Wahrer Materialismus ist ein »Materialismus ohne Materialismus«, in dem die substantielle »Materie« in einem Geflecht rein formaler/ideeller Beziehungen verschwindet. Dieses Paradox gründet sich auf die Tatsache, dass es heute der Idealismus ist, der unsere körperliche Endlichkeit betont und zu zeigen versucht, dass ebendiese Endlichkeit den Abgrund einer transzendenten göttlichen Andersheit außerhalb unseres Zugriffs öffnet (kein Wunder, dass der spirituellste Filmemacher des 20. Jahrhunderts, Andrei Tarkowski, gleichzeitig derjenige ist, der am meisten von der undurchdringlichen feuchten Trägheit der Erde besessen war), während die Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus den techno-utopischen Traum der Unsterblichkeit, der Befreiung von körperlichen Zwängen am Leben erhalten.[6] Jean-Michel Besnier hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass der gegenwärtige wissenschaftliche Naturalismus das radikalste idealistische Programm Fichtes und Hegels wiederzubeleben scheint: die Idee, dass die Vernunft die Natur vollkommen transparent machen kann.[7] Verwandelt das biogenetische Ziel, Menschen mittels naturwissenschaftlicher Verfahren zu reproduzieren, die Menschheit nicht in eine selbstgeschaffene Entität und realisiert somit Fichtes spekulative Idee des sich selbst setzenden Ich? Das »unendliche Urteil« (Zusammenfallen der Gegensätze) scheint demnach heute zu lauten: Absoluter Idealismus ist radikaler naturalistischer Reduktionismus.[8]

Dieser Kurs markiert eine vierte Stufe in der Entwicklung des Antihumanismus: Er ist weder ein theozentrischer Antihumanismus (aufgrund dessen religiöse Fundamentalisten in den USA den Begriff »Humanismus« als gleichbedeutend mit säkularer Kultur behandeln) noch der französische »theoretische Antihumanismus«, der die strukturalistische Revolution der 1960er Jahre begleitete (Althusser, Foucault, Lacan), noch die »tiefenökologische« Reduzierung des Menschen auf lediglich eine unter vielen Tierarten auf der Erde; der Mensch ist vielmehr die Art, die durch ihre Hybris das Gleichgewicht des Lebens auf der Erde durcheinandergebracht hat und nun berechtigterweise die Rache von Mutter Erde zu spüren bekommt. Allerdings hat selbst diese vierte Stufe ihre Geschichte. Im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Sowjetunion genoss der sogenannte Biokosmismus eine außerordentliche Popularität – als eine seltsame Kombination aus Vulgärmaterialismus und gnostischer Spiritualität, die eine okkulte Schattenideologie, die obszöne Geheimlehre des sowjetischen Marxismus bildete. Es hat den Anschein, als erlebe der Biokosmismus gerade eine Renaissance in einer neuen Welle des »posthumanen« Denkens. Die spektakuläre Entwicklung der Biogenetik (Klonen, direkte Eingriffe in die DNA etc.) bringt die Grenzen zwischen Mensch und Tier einerseits und Mensch und Maschine andererseits allmählich zum Verschwimmen und lässt den Gedanken entstehen, dass wir uns an der Schwelle zu einer neuen Intelligenzform befinden, einer »mehr-als-menschlichen« Singularität, für die es keinerlei körperliche Beschränkungen mehr geben wird, auch nicht die der geschlechtlichen Fortpflanzung. Diese Aussicht hat zu einer merkwürdigen Scham geführt: einer Scham über unsere biologische Begrenztheit, unsere Sterblichkeit, die lächerliche Art und Weise, in der wir uns fortpflanzen – das, was Günther Anders die »prometheische Scham« genannt hat, bei der es sich letztlich um die Scham darüber handelt, dass wir »geboren und nicht hergestellt werden«.[9] Nietzsches Idee, dass wir der »letzte Mensch« seien, der die Grundlage für seine eigene Auslöschung und die Ankunft des neuen Übermenschen schaffe, erhält somit einen wissenschaftlich-technologischen Dreh. Wir sollten diese »posthumane« Haltung jedoch nicht auf den paradigmatisch modernen Glauben an die vollständige technische Beherrschbarkeit der Natur reduzieren – was wir gegenwärtig erleben, ist vielmehr eine beispielhafte dialektische Umkehrung: Der Slogan der heutigen »posthumanen« Wissenschaften lautet nicht mehr Beherrschung, sondern Überraschung (kontingente, nicht geplante Emergenz). Jean-Pierre Dupuy stellt eine merkwürdige Umkehrung der traditionellen cartesianischen anthropozentrischen Arroganz fest, welche die menschliche Technik begründete, eine Umkehrung, die in der aktuellen Robotik, der Genetik, der Nanotechnologie und der Forschung in den Bereichen Künstliches Leben und Künstliche Intelligenz deutlich erkennbar ist:

»Wie können wir die Tatsache erklären, dass die Naturwissenschaft zu einem derartig ›riskanten‹ Unterfangen geworden ist, dass sie nach Ansicht führender Wissenschaftler derzeitig die größte Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt? Einige Philosophen antworten auf diese Frage, dass Descartes’ Traum – ›Beherrscher und Besitzer der Natur zu werden‹ – sich zum Schlechten gewendet habe und wir dringend zur ›Beherrschung der Beherrschung‹ zurückkehren sollten. Sie haben nichts verstanden. Sie erkennen nicht, dass die Technik, die sich durch die ›Konvergenz‹ aller Disziplinen an unserem Horizont abzeichnet, gerade auf Nichtbeherrschung abzielt. Der Ingenieur von morgen wird kein Zauberlehrling aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit sein, sondern weil er es will. Er wird sich komplexe Strukturen oder Organisationen ›geben‹ und versuchen herauszufinden, was sie vermögen, indem er ihre funktionellen Eigenschaften erforscht – ein von unten nach oben verlaufender (Bottom-up) Ansatz. Er wird mindestens ebenso sehr ein Forscher und Experimentator wie ein Realisator sein. Sein Erfolg wird sich eher daran bemessen, inwieweit er von seinen eigenen Schöpfungen überrascht wird, als an der Übereinstimmung seines Werks mit einer Liste vorgefertigter Aufgaben.«[10]

»Ich glaube an die eine Materie-Energie, die Schöpferin alles Sichtbaren und Unsichtbaren. Ich glaube, dass dieses Pluriversum von Heterogenitäten durchzogen wird, die ständig etwas tun. Ich glaube, dass es falsch ist, nichtmenschlichen Körpern, Kräften und Formen die Vitalität abzusprechen, und dass ein vorsichtiger Kurs der Anthropomorphisierung helfen kann, diese Vitalität zu offenbaren, auch wenn sie sich einer vollständigen Übersetzung widersetzt und mein Begriffsvermögen übersteigt. Ich glaube, dass Begegnungen mit lebendiger Materie meine Phantasien menschlicher Herrschaft zügeln, die gemeinsame Materialität von allem, was ist, hervorheben, eine breitere Verteilung von Agency aufdecken und das Ich und seine Interessen umformen können.«[12]

Was in der vibrierenden Materie vibriert, ist die immanente Lebenskraft beziehungsweise ihre Seele (im präzisen aristotelischen Sinne des der Materie innewohnenden aktiven Prinzips), nicht die Subjektivität. Der neue Materialismus lehnt mithin die radikale Trennung Materie/Leben und Leben/Denken ab – »Selbste« beziehungsweise multiple Akteure sind überall in verschiedenen Gestalten. Dennoch bleibt eine grundlegende Ambiguität bestehen: Sind diese vitalen Eigenschaften materieller Körper das Resultat unseres (des menschlichen Beobachters) »gutartigen Anthropomorphismus«, so dass die Vitalität der Materie bedeutet, dass »alles in gewissem Sinne lebendig ist«,[13] oder haben wir es effektiv mit einer starken ontologischen Behauptung zu tun, die eine Art Spiritualismus ohne Götter postuliert, mit einer Möglichkeit, dem Weltlichen das Heilige zurückzugeben? Wenn »ein vorsichtiger Kurs der Anthropomorphisierung« helfen kann, die Vitalität materieller Körper zu offenbaren, so ist nicht klar, ob diese Vitalität daher rührt, dass unsere Wahrnehmung animistisch ist, oder ob sie das Resultat einer tatsächlichen asubjektiven vitalen Kraft ist – diese Ambiguität ist zutiefst kantianisch.

Wenn wir einmal vom aleatorischen Materialismus Demokrits und Lukrez’ absehen, gab es vor Kant im Wesentlichen den mit den Namen Platon und Aristoteles verbundenen Gegensatz zwischen äußerer und innerer Teleologie. Für Platon ist die natürliche Welt das Produkt eines göttlichen Baumeisters, der sein Vorbild des Guten in der Welt des ewigen Seins fand und dann eine natürliche Ordnung schuf. Die »Äußerlichkeit« ist in diesem Fall eine zweifache: Der Akteur, dessen Ziel erreicht wird, ist dem Gegenstand äußerlich, und der Wert ist der des Akteurs, nicht der des Gegenstands. Aristoteles’ Auffassung unterscheidet sich in beiden Punkten von der Platons: Das Ziel gehört zum Organismus, nicht zu einem »äußeren« Baumeister, und der Zweck, auf den ein natürlicher Prozess ausgerichtet ist, ist einfach das Sein, das Leben des betreffenden Naturgegenstands; dahinter steckt keine »Absicht« – weder die des Menschen noch die Gottes –, es handelt sich vielmehr um die Verwirklichung der immanenten Möglichkeiten der jeweiligen Entität.

Kant bricht mit dieser Tradition und führt eine irreduzible Lücke in unsere Wahrnehmung der Realität ein. Für ihn ist die Idee eines Zwecks unserer Wahrnehmung lebender Organismen immanent: Wir betrachten diese unausweichlich, »als ob ihre Erzeugung von einer Idee geleitet worden wäre« (ein Tier hat Augen, Ohren und eine Nase, damit es sich in seiner Umwelt orientieren kann, es hat Beine, um sich zu bewegen, Zähne, um besser fressen zu können, und so weiter). Ein solches teleologisches Denken bezieht sich jedoch nicht auf die objektive Realität der beobachteten Phänomene: Teleologische Kategorien sind nicht konstitutiv für die Realität (wie etwa die der linearen materiellen Kausalität), sondern lediglich eine regulative Idee – ein reines Als-ob, das heißt, wir nehmen lebende Organismen so wahr, »als ob« sie teleologisch strukturiert wären. Auch wenn kausale Erklärungen effektiv die besten sind (x verursacht y, y ist die Wirkung von x), ist es für Kant ausgeschlossen, »daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde«,[14] und folglich muss das Organische so erklärt werden, »als ob« es teleologisch konstituiert wäre. Die Welt der Natur erweckt zwar einen fast unwiderstehlichen Anschein von Teleologie beziehungsweise der Zweckhaftigkeit, doch dies ist eine anthropomorphe Denkweise, ein subjektiver Standpunkt, unter dem wir bestimmte Phänomene betrachten (müssen).[15]

Die Lücke, die die moderne Wissenschaft von aristotelischen Naturbeschreibungen (der erfahrenen »natürlichen« Wirklichkeit) trennt, betrifft den Status des Realen als Unmöglichkeit. Die realistische Ontologie des gesunden Menschenverstands unterscheidet zwischen Erscheinung und Realität: der Art, wie uns die Dinge nur erscheinen, und wie sie an sich sind, unabhängig und außerhalb unserer Beziehung zu ihnen. Aber sind die Dinge nicht schon »an sich« in eine Umwelt eingebettet, die sie mit uns in Beziehung bringt? Ist ihr »Ansich« nicht die ultimative Abstraktion unseres Geistes, das Resultat eines Prozesses, der die Dinge aus ihrem Beziehungsgeflecht herausreißt? Was die Wissenschaft als »objektive Realität« destilliert, ist in zunehmendem Maße eine abstrakte formale Struktur, die auf komplexer Forschung und experimenteller Arbeit beruht. Heißt das nun, dass die wissenschaftliche »objektive Realität« nur eine subjektive Abstraktion ist? Keineswegs, denn an dieser Stelle sollten wir die Unterscheidung zwischen der (erfahrenen) Realität und dem Realen in Anschlag bringen. Alexandre Koyré hat darauf hingewiesen, dass die moderne Physik die Wette eingeht, sich der Realität mittels des Unmöglichen zu nähern: Das wissenschaftliche Reale, das sich in Buchstaben und mathematischen Formeln äußert, ist (auch) in dem Sinne »unmöglich«, dass es sich auf etwas bezieht, dem wir in der Realität, in der wir leben, niemals begegnen können. Ein einfaches Beispiel soll dies erläutern: Newton berechnete aufgrund von Experimenten, wie schnell, also mit welcher Beschleunigung, sich ein Gegenstand im freien Fall in einem absoluten Vakuum bewegt, wo er von keinerlei Hindernissen gebremst werden kann; eine derart reine Situation werden wir in unserer Realität natürlich niemals vorfinden, weil winzige Teilchen in der Luft den freien Fall verlangsamen; ein Nagel fällt daher viel schneller als eine Feder, während ihre Fallgeschwindigkeit im Vakuum identisch wäre. Die moderne Wissenschaft muss also von einem Unmöglich-Realen ausgehen, um das Mögliche zu erklären; wir müssen uns zuerst eine reine Situation vorstellen, in der Steine und Federn mit derselben Geschwindigkeit fallen, und erst danach können wir dann die Geschwindigkeit wirklicher Objekte als Divergenz oder Abweichung aufgrund von empirischen Bedingungen erklären. Ein weiteres Beispiel: Um die Verminderung der Bewegung von Gegenständen in unserer gewöhnlichen materiellen Realität zu erklären, nimmt die Physik das (ebenfalls zuerst von Newton formulierte) »Trägheitsprinzip« zum Ausgangspunkt, welches besagt, dass ein Objekt, auf das keine äußere Kraft ausgeübt wird, sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegt – ein Gegenstand wird seine aktuelle Bewegung so lange beibehalten, bis irgendeine Kraft eine Veränderung seiner Geschwindigkeit oder Richtung herbeiführt. Auf der Erdoberfläche wird die Trägheit in der Regel durch die Wirkungen der Reibung und des Luftwiderstands überdeckt, durch die bewegte Objekte (üblicherweise bis zum Ruhepunkt) verlangsamt werden, und diese beobachtbare Tatsache verleitete klassische Denker wie Aristoteles zu der Annahme, dass sich Objekte nur so lange bewegen, wie Kraft auf sie ausgeübt wird.[16] Wir sollten uns hier Lacans Begriff des Realen als Unmöglichkeit bedienen, einschließlich des von ihm behaupteten Gegensatzes zwischen der Realität und dem Realen: Das »Trägheitsprinzip« bezieht sich auf ein unmögliches Reales, auf etwas, das in der Realität nie vorkommt, aber dennoch postuliert werden muss, um erklären zu können, was in der Realität vor sich geht. In diesem Sinne ist die moderne Wissenschaft eher platonisch als aristotelisch. Aristotelische Ansätze beginnen mit der empirischen Realität, mit dem, was möglich ist, während die moderne Wissenschaft diese Realität in Bezug auf ein Ideal erklärt, das in der Realität nicht zu finden ist.

Kant greift also als Vertreter der wissenschaftlichen Moderne in das Feld der Teleologie ein: Wir, die beobachtenden Subjekte, sind es, die den Naturdingen Zwecke als Organisationsprinzipien überstülpen; die Rolle der teleologischen Begriffe ist nicht konstitutiv, sondern lediglich regulativ, wir verwenden sie, um unserer Erfahrung einen Sinn zu verleihen. Damit führt Kant eine irreduzible Lücke zwischen der chaotischen Natur »an sich« und ihrer sinnlosen Realität einerseits und dem Sinn, der sinnvollen Ordnung, der Zweckhaftigkeit, die wir ihr verleihen, andererseits ein. Er

»versucht nicht, die Natur in die Zweckhaftigkeit zu zwingen, er versucht nicht, ihren Anteil der Heterogenität oder Kontingenz zu verwischen. Im Gegenteil, er führt die Zweckhaftigkeit als einen Begriff ein, der die Natur rückwirkend zweckhaft macht. Es geht ihm also nicht darum, die chaotische Natur in eine wohlgeordnete zu verwandeln: So, wie er den Begriff der Zweckhaftigkeit versteht, spiegelt er die Idee wider, dass die Natur chaotisch ist. Vielleicht sollten wir darin eine Entdeckung erkennen, die der des Begriffs des Phantasmas bei Freud und mehr noch bei Lacan gleicht. Wir haben es mit der Erfindung eines Begriffs zu tun, die dem rückwirkenden Zustandebringen eines Erfolgs oder einer Heilung in einem Feld, in dem ein Riss klafft, einen Namen gibt.«[17]

Der neue Materialismus geht (so muss es uns Modernen jedenfalls erscheinen) einen Schritt zurück zur vormodernen Naivität, indem er die Lücke verschleiert, die die Moderne definiert, und wieder auf die zweckhafte Vitalität der Natur abhebt: »[E]in vorsichtiger Kurs der Anthropomorphisierung [kann] helfen […], diese Vitalität zu offenbaren, auch wenn sie sich einer vollständigen Übersetzung widersetzt und mein Begriffsvermögen übersteigt.« Man beachte die Unsicherheit in dieser Äußerung: Bennett füllt die Lücke nicht einfach, sie ist immerhin modern genug, um die Naivität ihrer Geste zu erkennen, und räumt ein, dass die Idee der Vitalität der Natur unser Begriffsvermögen übersteigt, dass wir uns auf dunkles Terrain begeben.

Wir sollten die Bewegung, die den neuen Materialismus kennzeichnet, der genuin hegelianischen dialektisch-materialistischen Überwindung der transzendentalen Dimension oder der Lücke, die das Subjekt vom Objekt trennt, entgegenstellen. Der neue Materialismus verhüllt diese Lücke, er nimmt eine Wiedereinschreibung subjektiver Handlungsfähigkeit in die natürliche Realität als deren immanentes Handlungsprinzip vor; der dialektische Materialismus dagegen verlegt nicht die Subjektivität als solche, sondern genau die Lücke, welche die Subjektivität von der objektiven Realität trennt, zurück in die Natur.

Wenn der neue Materialismus also noch als eine Form des Materialismus betrachtet werden kann, dann in dem Sinn, in dem die fiktive Region Mittelerde in der Welt J.R. R. Tolkiens materialistisch ist: als eine verzauberte Welt voller magischer Kräfte, guter und böser Geister und so weiter – aber seltsamerweise ohne Götter; es gibt im Tolkien’schen Universum keine transzendenten göttlichen Wesen, alles Magische ist der Materie immanent, wie eine spirituelle Kraft, die unserer irdischen Welt innewohnt. Wir müssen freilich den New-Age-Topos einer tieferen spirituellen Verbindung oder Einheit des Universums streng von dem materialistischen Topos einer denkbaren Begegnung mit einem nichtmenschlichen Anderen unterscheiden, mit dem irgendeine Art von Kommunikation möglich wäre. Eine solche Begegnung wäre äußerst traumatisch, weil wir uns mit einem subjektivierten Anderen auseinandersetzen müssten, mit dem keine subjektive Identifizierung möglich ist, da es keinen gemeinsamen Nenner mit dem »Menschsein« gibt. Es wäre keine Begegnung mit der defizitären Form eines anderen Subjekts, sondern die Begegnung mit einem Anderen in Reinform, bei der der Abgrund der Andersheit nicht durch imaginäre Identifikationen verdeckt oder erleichtert wird, die aus dem Anderen jemanden »wie uns« machen, jemanden, den wir empathisch »verstehen« können. Zahlreiche literarische und filmische Werke beschäftigen sich mit diesem Thema, und es genügt wohl, wenn ich drei herausgreife.

In Frank Schätzings Science-Fiction-Roman Der Schwarm (2004) untersuchen Wissenschaftler und Journalisten aus aller Welt anormale Phänomene, die im und am Meer auftauchen und auf den ersten Blick zusammenhanglos erscheinen: Schwimmer werden von Haien und giftigen Quallen von der Küste weggetrieben, Handelsschiffe werden auf vielfache Weise angegriffen und teilweise zerstört, in Frankreich bricht eine Epidemie durch kontaminierte Hummer aus und dergleichen mehr. Als klar wird, dass alle diese Ereignisse miteinander zusammenhängen, wird eine internationale Arbeitsgruppe gebildet, um dem Problem zu begegnen. Doch die Angriffe gehen weiter: Die Ostküste der Vereinigten Staaten wird von Krabben überrannt, die von Pfiesteria-Algen befallen sind und eine Epidemie auslösen, die Millionen Menschen das Leben kostet und die betroffenen Städte unbewohnbar macht; der Golfstrom kommt zum Erliegen, wodurch ein globaler Klimawandel droht, der das Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten würde, und so weiter. Während eines Treffens der Arbeitsgruppe stellt ein Wissenschaftler seine Hypothese vor: Es handle sich bei den Phänomenen um gezielte Angriffe einer noch unbekannten intelligenten Spezies aus den Tiefen des Meeres, deren Ziel es sei, die Menschheit auszulöschen, weil sie die Ozeane auf der Erde zerstöre. Die Angreifer – denen er den Namen »Yrr« gibt – seien einzellige Organismen, die in Schwärmen operierten und von einem einzelnen kollektiven Geist gesteuert würden, der möglicherweise schon seit Hunderten Millionen Jahren existiere. Es gelingt den Wissenschaftlern zwar in begrenztem Maße, mit den Wesen in Kontakt zu treten, doch die Angriffe hören nicht auf, bis eine Wissenschaftsjournalistin mit einem U-Boot auf den Grund des Meeres taucht und dort die Leiche eines mit dem natürlichen Botenstoff der Yrr vollgepumpten Mannes ins Wasser lässt, um dadurch eine »emotionale« Reaktion auszulösen. Der Plan gelingt, und die Yrr stellen ihre Angriffe auf die Menschen ein. Im Epilog des Romans wird deutlich, dass die Menschheit auch ein Jahr später noch immer damit beschäftigt ist, sich von der Auseinandersetzung mit dem Schwarm zu erholen. Die Erkenntnis, dass der Mensch nicht die einzige intelligente Lebensform auf der Erde ist, hat die meisten religiösen Gruppen ins Chaos gestürzt; außerdem leiden weite Teile der Welt immer noch unter der Epidemie, die die Yrr ausgelöst haben, um sich gegen die Bedrohung ihrer maritimen Heimat zu wehren. Die Menschheit steht nun vor der schwierigen Aufgabe, die Gesellschaft und die Industrie wiederaufzubauen, ohne mit der stets wachsamen Supermacht unter dem Meer in Konflikt zu geraten. Der Roman behandelt zwar ein Umweltthema (die Zerstörung und Vergiftung maritimer Ökosysteme), sein eigentlicher Fokus liegt jedoch auf der Unfähigkeit des Menschen, fremde Wesen zu verstehen, und auf den möglichen Folgen der Entdeckung einer anderen intelligenten Lebensform auf der Erde für uns.

In dem Film Ender’s Game – Das große Spiel (Ender’s Game, 2013) greifen Außerirdische, die »Formics«, im Jahr 2086 die Erde an. Die Invasion wird abgewehrt, doch die Formics rüsten auf ihrem Heimatplaneten weiter auf. Der Film erzählt die Geschichte des hochbegabten Jungen Andrew »Ender« Wiggin, der auf der Militärschule auf den bevorstehenden Krieg mit den Formics vorbereitet werden soll. Im Rahmen seiner Ausbildung trainiert er unter anderem mit dem Computerspiel »Mind Game«, in dem Figuren, die wie Formics aussehen, auftauchen und wieder verschwinden. Als bester Schüler der Akademie wird Ender zum Befehlshaber der Flotte ernannt und führt diese am Tag der Abschlussprüfung in einer Kampfsimulation in die Nähe des Heimatplaneten der Formics. Nachdem er die gegnerische Streitmacht vernichtet hat, erfährt er, dass die Simulation in Wirklichkeit eine echte Schlacht war und dass er die Formics tatsächlich vernichtet hat. Nun wird Ender bewusst, dass die Formics schon in dem Computerspiel »Mind Game« versucht hatten, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er eilt zu einem Berg, der aussieht wie in dem Spiel, und findet dort einen im Sterben liegenden Formic mit dem letzten verbliebenen Ei einer Königin. Er verspricht, einen neuen Planeten für die Königin zu finden, und fliegt mit einem Raumschiff los, um eine neue Formic-Kolonie zu gründen – es wird also ein minimaler ethischer Pakt oder Bund zwischen Ender und der Formic-Königin geschlossen.

Ein Schlüsselmerkmal, das beiden Werken gemeinsam ist, ist die Vorstellung des Anderen als eines mütterlichen Anderen, als eines Schwarms vorindividueller Einheiten, die einem einzelnen mütterlichen kollektiven Geist unterstehen. Kurzum: Die Begegnung wird in beiden Fällen sexualisiert; es ist die Begegnung eines männlichen Subjekts, das auf einen weiblichen Anderen trifft, der in der Regel der vorsymbolische mütterliche Andere der psychotischen Abgeschlossenheit ist, der absolute Andere, der keinerlei Distanz toleriert und keinen Raum für das Begehren des Subjekts lässt – ein Anderer, der uns nur als Werkzeug seines Genießens (jouissance) benutzt. Ein materialistischer Ansatz sollte nicht nur dieser »maternalen« Versuchung widerstehen, den Anderen als präödipales Absolutes ohne Mangel zu imaginieren, sondern auch der gegenteiligen Versuchung, den Anderen auf ein Spiegelbild unseres eigenen verleugneten Inneren zu reduzieren (nach dem Motto: »Alles, was wir in dem Anderen finden, ist unser eigener verdrängter Inhalt, den wir auf ihn projiziert haben«) – der Versuchung, der Tarkowski in seiner Verfilmung von Solaris erlag. Der Unterschied zwischen Stanisław Lems klassischem Science-Fiction-Roman und Tarkowskis Filmversion ist hier entscheidend. Der Film erzählt die Geschichte des Raumfahrtpsychologen Kelvin, der zu einem halbverlassenen Schiff geschickt wird, das sich in der Umlaufbahn des neuentdeckten Planeten Solaris befindet, auf dem sich seltsame Dinge zugetragen haben (Wissenschaftler wurden verrückt, entwickelten Wahnvorstellungen und begingen Selbstmord). Solaris ist ein Planet, der von einem »Ozean« bedeckt ist, welcher ständig in Bewegung ist und von Zeit zu Zeit erkennbare Formen imitiert, nicht nur komplexe geometrische Strukturen, sondern auch riesige Kinderkörper oder menschliche Bauten. Obwohl alle Kommunikationsversuche mit dem Planeten scheitern, herrscht unter Wissenschaftlern die Hypothese, dass er ein gewaltiges Gehirn ist, das menschliche Gedanken lesen kann. Kurz nach Kelvins Ankunft liegt plötzlich seine verstorbene Frau Hari neben ihm im Bett, die sich Jahre zuvor auf der Erde umgebracht hatte, nachdem er sie verlassen hatte. Nun schafft er es nicht, sie loszuwerden; alle Versuche, sich von ihr zu befreien, scheitern kläglich, denn am nächsten Tag ist sie einfach wieder da. Gewebeuntersuchungen ergeben, dass die Atome, aus denen sie besteht, sich von denen normaler Menschen unterscheiden – unterhalb einer bestimmten Mikroebene ist dort nichts mehr, nur noch eine Leere. Kelvin begreift schließlich, dass Hari eine Materialisation seiner innersten traumatischen Phantasien ist.

Solaris ist also ein gigantisches Gehirn, das die geheimsten Phantasien, auf die sich unser Begehren stützt, Wirklichkeit werden lässt, eine Maschine, welche die ultimative phantasmatische objektale Ergänzung beziehungsweise den Partner erzeugt, den wir in der Realität niemals akzeptieren würden, auch wenn unsere gesamte Psyche darum kreist. Nach dieser Lesart geht es in der Geschichte eigentlich um die innere Reise des Helden, um seinen Versuch, seine eigene verdrängte Wahrheit zu verarbeiten, oder, wie es Tarkowski selbst in einem Interview ausdrückte: »Im Grunde dient Kelvins ganze Mission auf Solaris vielleicht nur einem Ziel: zu zeigen, dass die Liebe eines anderen unverzichtbar für alles Leben ist. Ein Mensch ohne Liebe ist kein Mensch mehr. Das Ziel der ganzen ›Solaristik‹ ist zu zeigen, dass Menschlichkeit Liebe sein muss.«[18] In deutlichem Kontrast dazu steht in Lems Roman die träge äußere Präsenz des Planeten Solaris im Mittelpunkt, jenes »Es (das Ding), welches denket«, um Kants Formulierung zu verwenden, die hier vollkommen passend ist. Im Roman geht es gerade darum, dass Solaris ein undurchdringlicher Anderer bleibt, mit dem keine Kommunikation möglich ist – er wirft uns zwar auf unsere innersten geleugneten Phantasien zurück, aber das »Che vuoi?« dahinter bleibt vollkommen undurchschaubar (Warum tut er das? Ist es eine rein mechanische Reaktion? Spielt er ein dämonisches Spiel? Will er uns helfen – oder uns zwingen –, uns mit unseren verleugneten Wahrheiten auseinanderzusetzen?).[19]

Gegen einen deflationierten Hegel

Zu Beginn der enzyklopädischen (»kleinen«) Logik entfaltet Hegel die drei grundlegenden »dem Denken zur Objektivität gegebenen Stellungen«.[20] Die erste dieser »Stellungen« ist die der Metaphysik, das heißt des naiven Realismus, der eine unmittelbare Überschneidung der Denkbestimmungen und der Bestimmungen des Seins annimmt. Die Metaphysik »[enthält], noch ohne das Bewußtsein des Gegensatzes des Denkens in und gegen sich, den Glauben […], daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewußtsein gebracht werde«.[21] Diese erste Stellung der einfachen Beschreibung der Welt in ihrer rationalen Struktur wird dann von der zweiten unterminiert, die zuerst in Form des empiristischen Skeptizismus auftritt. Dieser bezweifelt, dass wir aus dem einzigen, was uns zugänglich ist – unserer verstreuten und widersprüchlichen Erfahrung mit ihrer Fülle an Daten –, je eine konsistente Struktur dessen, was die Realität ist, formen können. Auf den empiristischen Skeptizismus wiederum antwortet die zweite Form dieser Stellung: Kants transzendentale Position. Transzendentalismus und Skeptizismus haben gemeinsam, dass sie die Unerreichbarkeit/Unerkennbarkeit des Dings an sich akzeptieren. Anders als der Empirismus macht der Transzendentalismus jedoch aus dem Hindernis sozusagen seine eigene Lösung: Er erhebt gerade die Formen unseres Geistes, die Formen der Subjektivität, die unseren Zugang zum Ansich (de)formieren und so den Zugang zu ihm verhindern, zu einem Apriori, einer positiven Tatsache, die für unsere phänomenale Wirklichkeit konstitutiv ist.

Hegel weist darauf hin, dass diese letzte Stellung selbst wiederum zwei Formen aufweist, die dialektische und die spekulative, und von dem Gegensatz zwischen dialektischem und spekulativem Denken hängt alles ab – man könnte sagen, dass die Dialektik negativ bleibt und nur die Spekulation zur höchsten positiven Dimension gelangt. Eine Dialektik, die noch nicht spekulativ ist, ist das vibrierende Reich des Bebens der Reflexion und der reflexiven Umkehrungen, der irre Tanz der Negativität, in dem »alles Ständische und Stehende verdampft« – es ist eine Dialektik als immerwährender Krieg, als eine Bewegung, die letztlich alles, was sie hervorbringt, wieder zerstört. Marxistisch ausgedrückt haben wir es hier mit materialistischer Dialektik zu tun und nicht mit dialektischem Materialismus; hegelianisch ausgedrückt mit der bestimmten Reflexion und nicht mit der Reflexionsbestimmung und lacanianisch ausgedrückt mit »Es gibt keine Beziehung« und nicht mit »Es gibt eine Nicht-Beziehung«.

Was die »dem Denken zur Objektivität gegebenen Stellungen« angeht, haben wir es also insgesamt nicht mit drei, sondern mit sechs solcher Stellungen zu tun: 1) naiv realistische Metaphysik, 2) empiristischer Skeptizismus, 3) transzendentale Kritik, 4) direktes anschauliches Erkennen des Absoluten, 5) dialektisches Denken und 6) das eigentliche spekulative Denken. Diese sechs Stellungen, von denen drei positiv (1, 4 und 6) und drei negativ sind (2, 3 und 5), lassen sich wiederum auf drei Grundpositionen reduzieren: objektiv-metaphysisch, subjektiv-transzendental sowie dialektisch-spekulativ. Determiniert diese Matrix nicht bis heute unsere Wahlmöglichkeiten? Wissenschaftlicher Naturalismus (von der Quantenkosmologie bis zur Evolutionstheorie und den Neurowissenschaften), relativistischer Historismus, verschiedene Versionen des Transzendentalismus von Heidegger bis Foucault, esoterisches anschauliches (»intuitives«) Wissen, »negative Dialektik« von der trotzkistischen permanenten Revolution über den westlichen Marxismus (Adorno) bis zu heutigen Formen des »Widerstands« … Was wäre nun entsprechend die spekulative Position? Nicht die des Stalinismus, denn dieser steht eindeutig für die Rückkehr zu einer naiv-realistischen Metaphysik.

Ist das in den letzten Jahren in den Vordergrund getretene Hegel-Bild – der »deflationierte«, liberale Hegel der wechselseitigen Anerkennung – geeignet, hier eine Lösung herbeizuführen? Es ist ganz entscheidend, sich die politischen und ontologischen Grenzen dieses deflationierten liberalen Hegel vor Augen zu führen – einer Figur, die letztlich merkwürdig darwinistische Züge trägt. Die (zwar selten explizit geäußerte, aber an vielen Stellen deutlich durchscheinende) ontologische Prämisse, die Robert Pippins Hegel-Lektüre zugrunde liegt, ist, dass die menschliche Spezies in der Evolution des tierischen Lebens und der menschlichen Tiere auf der Erde irgendwie (und diese Unbestimmtheit ist entscheidend!) begann, sich normativ und unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Anerkennung zu verhalten. Nach Pippins Interpretation bezieht sich der »Geist« also weder auf eine außernatürliche immaterielle Substanz (im Sinne des cartesianischen Gegensatzes zwischen res cogitans und res extensa) noch auf einen göttlichen Verstand oder kosmischen Geist, der menschliche Akteure als Vehikel zur Erfüllung seiner eigenen Zwecke requiriert. Sehen wir uns einige Schlüsselstellen aus Pippins Buch Hegel’s Practical Philosophy an, in denen es um »die Fähigkeit einiger natürlicher Wesen, sich ihrer selbst in einer nicht-beobachtenden, sondern eher selbst-bestimmenden Weise bewusst zu sein«[22] geht:

»Was Hegel anzudeuten scheint, ist einfach, dass natürliche Organismen ab einer bestimmten Komplexitäts- und Organisationsstufe anfangen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich letztlich auf eine Art zu verstehen, die innerhalb der Grenzen der Natur oder auf dem Weg der empirischen Beobachtung nicht mehr hinreichend erklärbar ist.«[23]

 

»Auch wenn diese endlich erreichte Unabhängigkeit von der Natur nur im objektiven Geist erlangt wird, […] darf sie nie als etwas Nichtnatürliches verstanden werden, und es ist immer noch so, dass eine Verbindung mit der Natur und eine teilweise Festlegung durch die Natur von Hegel stets betont wird.«[24]

 

»Es ist das Erreichen der aufhebenden Beziehung zur Natur, das den Geist konstituiert; natürliche Wesen, die diese Beziehung kraft ihrer natürlichen Fähigkeiten erreichen können, sind geistig; sie erreicht und erhalten zu haben, ist geistig zu sein; wer es nicht kann, ist es nicht.«[25]

Das letzte Zitat lässt erkennen, auf welch schmalem Grat sich Pippin hier bewegt: Er schreibt zwar, dass Menschen »natürliche Wesen [sind], die [die geistige Selbstbeziehung] kraft ihrer natürlichen Fähigkeiten erreichen können«, doch schließt er sich damit keinesfalls der aristotelischen Auffassung an, der Mensch sei eine substantielle Entität, zu deren positiven Merkmalen Möglichkeiten oder Fähigkeiten zur geistigen Selbstbeziehung gehörten. Für Pippin (der darin Hegel folgt) ist der Geist keine substantielle, sondern eine rein prozesshafte Entität, er ist das Resultat seines eigenen Werdens, er macht sich selbst zu dem, was er ist – die einzige substantielle Realität, die es gibt, ist die Natur. Die Unterscheidung zwischen Natur und Geist rührt somit nicht daher, dass dieser etwas von den Naturdingen Verschiedenartiges ist; sie hat mehr mit den unterschiedlichen Kriterien zu tun, die zu ihrer Erklärung notwendig sind: Der Geist ist »eine Art Norm«, »eine erreichte Form individueller oder kollektiver Gesinntheit und institutionell verkörperter rekognitiver Beziehungen«.[26] Das heißt, freie Handlungen unterscheiden sich nach dem jeweiligen Grund, auf den sich ein Subjekt beruft, um sie zu rechtfertigen, und die Rechtfertigung ist eine grundlegend soziale Praxis: die von den Teilnehmern an einer Reihe gemeinsamer Institutionen geübte Praxis des »Angebens und Verlangens von Gründen«. Selbst auf der individuellen Ebene bedeutet das Äußern einer Absicht im Grunde »das Bekenntnis zu einem Handlungsversprechen, dessen Inhalt und Glaubwürdigkeit (sogar für mich) in gewisser Weise so lange aufgehoben bleibt, bis ich beginne, das Versprechen zu erfüllen«.[27] Erst wenn meine Absicht von anderen und mir selbst als in meiner Tat erfüllt oder verwirklicht anerkannt wird, kann ich meine Handlung als meine eigene erkennen.[28] Es stellt sich also heraus, dass die Rechtfertigung eher retrospektiv als prospektiv ist, ein Prozess, bei dem die Haltung des Handelnden gegenüber der eigenen Tat keinesfalls maßgeblich ist. Ein Handelnder zu sein, das heißt, imstande zu sein, Gründe zur Rechtfertigung des eigenen Tuns zu liefern, ist folglich selbst ein »erlangter sozialer Status, wie etwa ein Bürger oder ein Professor zu sein, ein Produkt oder Resultat wechselseitig rekognitiver Einstellungen«.[29]

Ist eine solche Interpretation Hegels unserem historischen Augenblick angemessen? In seinem Text »Back to Hegel?«,[30] einer kritischen Rezension meines Buchs Less Than Nothing, unternimmt Pippin vier systematisch aufeinanderfolgende Schritte, wobei seine Kritikpunkte über die verschiedenen Ebenen hinweg miteinander verknüpft sind, von grundlegenden ontologischen Fragen über das Gefüge des Seins bis hin zur Realisierbarkeit des Wohlfahrtsstaates in der heutigen Zeit. Seine Argumentation lässt sich zu einer Paraphrase von Thomas De Quinceys berühmtem Ausspruch über den »Mord als eine schöne Kunst betrachtet« verdichten:[31] »Wenn einer sich erst darauf einlässt, nach Lücken im Seinsgefüge zu suchen, dann verfällt er auch bald darauf, die Idee eines abyssalen Aktes geringzuschätzen; als Nächstes gibt er dann das Vertrauen in die Vernunft unserer Überlegungen auf, und von da ist es nicht mehr weit zur Ablehnung jenes großen Traums aller Sozialdemokraten: ›Schweden in den Sechzigern‹.« Pippin beginnt auf der elementarsten Ebene der Ontologie und problematisiert meine These über die ontologische Unvollständigkeit der Realität:

»Die Behauptungen über Löcher im Seinsgefüge verstehe ich nicht ganz, aber wenn wir der von mir vorgeschlagenen Richtung folgen, brauchen wir sie eigentlich auch gar nicht. Wenn meine Formulierung der Apperzeption korrekt ist, bedeutet das nämlich, dass wir imstande sind, die Unangemessenheit psychologischer oder naturalistischer Beschreibungen solcher Zustände ganz ohne eine lückenhafte Ontologie erklären zu können (in ähnlicher, wenn nicht der gleichen Weise wie Frege und der frühe Husserl ohne eine ›alternative‹ Ontologie den Psychologismus kritisierten).«[32]

Pippin interpretiert meine Unvollständigkeitsthese richtigerweise vor dem Hintergrund des Status der Subjektivität; er ist sich durchaus bewusst, dass ich den Topos der ontologischen Unvollständigkeit entwickle, um die Frage zu beantworten: »Wie muss die Realität strukturiert sein, damit (so etwas wie) die Subjektivität in ihr entstehen kann?« Seine Lösung ist eine andere: Für ihn ist die kantische transzendentale Apperzeption – die Einheit von Bewusstheit und Selbstbewusstheit – ausreichend. Selbstbewusstheit bedeutet eine minimale Selbstbeziehung, aufgrund deren wir, als Menschen, unsere Handlungen mit Gründen rechtfertigen müssen. Natürlich ergänzt Pippin Kant mit der hegelianischen Erklärung der (transzendentalen, nicht empirischen) Entstehung der Selbstbewusstheit aus komplexen sozialen Beziehungen, deren Fokus auf der gegenseitigen Anerkennung liegt, oder, um seine scharfe Kritik zu zitieren: »Der ›Geist‹ entsteht in dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in dem, was wir voneinander fordern, nicht in den Zwischenräumen des Seins.«[33] Löcher im Gefüge des Universums sind dafür nicht nötig. Aus meiner Sicht zeigt sich die problematische Natur dieser Erklärung darin, dass Pippin mit einem gewöhnlichen transzendentalen Dualismus endet:

»Natürlich ist es möglich und wichtig, dass Forscher eines Tages herausfinden, warum Tiere mit menschlichen Gehirnen diese Dinge tun können und Tiere ohne menschliche Gehirne nicht, und dass irgendeine Kombination aus Astrophysik und Evolutionstheorie imstande sein wird zu erklären, wie der Mensch zu seinem Gehirn gekommen ist. Aber das sind keine philosophischen Probleme, und sie werfen keine philosophischen Fragen auf.«[34]

Das ist richtig, aber eine solch vollständige naturwissenschaftliche (Selbst-)Erklärung hätte durchaus Folgen für die Philosophie: In welchem Sinne würden wir uns noch als frei erleben, wenn wir unsere moralischen Handlungen vollständig auf natürliche Ursachen zurückführen könnten? Kants Freiheitsbegriff impliziert eine Diskontinuität in der Textur der natürlichen Ursachen, das heißt, eine freie Handlung ist eine, die letztlich in sich selbst begründet liegt und als solche nicht als Wirkung des vorhergehenden Kausalnetzwerks erklärt werden kann – in diesem Sinn impliziert eine freie Handlung sehr wohl eine Art Loch in der Textur der phänomenalen Wirklichkeit, den Eingriff einer anderen Dimension in die Ordnung der Erscheinungswelt. Kant behauptet natürlich nicht, dass freie Handlungen Wunder sind, die die natürliche Kausalität vorübergehend aufheben – sie geschehen einfach, ohne gegen irgendwelche Naturgesetze zu verstoßen. Die Tatsache der Freiheit deutet jedoch darauf hin, dass die natürliche Kausalität nicht alles abdeckt, was es gibt, sondern nur die phänomenale Wirklichkeit, und dass sich das transzendentale Subjekt, das Agens der Freiheit, nicht auf eine phänomenale Entität reduzieren lässt. Die phänomenale Wirklichkeit ist somit unvollständig, nicht alles, eine Tatsache, die durch die Antinomien der reinen Vernunft bestätigt wird, welche in dem Moment auftauchen, in dem die Vernunft versucht, die Welt der Erscheinungen in ihrer Ganzheit zu begreifen. Wir sollten nicht vergessen, dass dieser »ontologische Skandal« für Kant das notwendige Resultat seiner transzendentalen Wende ist.

Dies führt uns zu Pippins zweitem Vorwurf. Seiner Ansicht nach eröffnet die These der ontologischen Unvollständigkeit der Realität den Raum für abyssale Akte der Freiheit, Handlungen, die sich auf keinerlei rationale Überlegung gründen, weil sie in den Zwischenräumen des Seins angesiedelt sind. Will sagen: Insofern der Geist als historische Form der kollektiven Vernunft, als Raum, in dem rationale Überlegungen stattfinden, als weitgehend synonym mit dem betrachtet werden kann, was Lacan den »großen Anderen« nennt, und insofern ich in Anlehnung an (den späten) Lacan darauf bestehe, dass es keinen großen Anderen gibt, verlieren unsere Handlungen ihre rationale und normative Grundlage:

»Die Bedingung des modernen Atheismus bedeutet für Žižek, aus lacanianischer Sicht, dass es einen ›großen Anderen‹, einen Garanten wenigstens der Möglichkeit einer Lösung des normativen Skeptizismus und der Konflikte nicht mehr gibt und nicht mehr geben kann. Das Fehlen eines transzendenten Garanten bedeutet aber nicht die Unmöglichkeit, bei unseren eigenen Überlegungen und Forderungen an andere auf die Vernunft zu vertrauen.«[35]

Außerhalb des großen Anderen als gemeinsamer symbolischer Substanz können Handlungen nur irrationale Interventionen ohne eine kollektiv bindende normative Grundlage sein; das heißt, sie können sich nur auf direkte brutale Macht gründen, auf die Entschlossenheit und den Willen des Handelnden: »Und wenn der Akt ›abyssal‹ ist, dann bedeutet ›Politik‹ einfach nur ›Macht‹, Macht, die durch nichts anderes gestützt wird als durch Entschlossenheit und Willen und die wahrscheinlich auch auf nichts anderes als Entschlossenheit und Willen stoßen wird.«[36] Ich halte das für eine komplette Fehlinterpretation meiner Position: Die Tatsache, dass es keinen großen Anderen gibt, bedeutet keinesfalls, dass Menschen außerhalb des dichten Gewebes symbolischer Koordinaten operieren können. Lacan ist sich der Wichtigkeit dieses Gewebes überaus bewusst – denken wir nur an seine endlosen Variationen über die dezentrierte Subjektivität, über den rückwirkenden Effekt der Bedeutung, darüber, dass der Mensch nicht spricht, sondern gesprochen wird, und so weiter. Ihm geht es schlicht darum, dass der große Andere inkonsistent, selbstwidersprüchlich ist, dass er von Antagonismen durchkreuzt und durchquert wird, ohne jede Garantie (»Es gibt keinen Anderen des Anderen«), ohne eine endgültige Norm oder Regel, die ihn totalisiert – kurz: Der große Andere ist nicht irgendein substantieller Herr, der insgeheim die Fäden zieht, sondern eine stockende, schlecht funktionierende Maschinerie. Pippin insistiert in seiner Interpretation von Hegels ethischem Denken selbst auf der Retroaktivität der Bedeutung: Die Bedeutung unserer Handlungen ist kein Ausdruck unserer inneren Absicht, sie ergibt sich vielmehr später aus deren gesellschaftlicher Wirkung, was bedeutet, dass jede Entstehung von Bedeutung ein Moment der Kontingenz beinhaltet. Es liegt jedoch noch eine weitere, subtilere Art von Retroaktivität vor: Eine Handlung ist nicht insofern abyssal, als sie nicht auf Gründen beruht, sondern in dem zirkulären Sinn, dass sie ihre Gründe rückwirkend setzt. Eine wahrhaft autonome symbolische Handlung oder Intervention ist nie das Ergebnis eines strategischen Kalküls, bei dem ich etwa alle möglichen Gründe durchgehe und dann die geeignetste Vorgehensweise auswähle. Eine Handlung ist nicht dann autonom, wenn sie eine bereits bestehende Norm anwendet, sondern wenn sie eine Norm im Akt ihrer Anwendung selbst erzeugt. Betrachten wir den Akt des Sich-Verliebens: Ich verliebe mich nicht, wenn ich eine Frau treffe, die meinen vorher aufgestellten Kriterien entspricht; wenn es wahre Liebe ist, dann liebe ich die Frau nicht wegen ihres Lächelns, ihrer Augen, ihrer Beine etc. – ich liebe ihr Lächeln, ihre Augen etc., weil sie zu ihr gehören. Es ist also nicht so, dass ich handle und Entscheidungen ohne Gründe treffe, sondern vielmehr so, dass ich frei wähle, durch welche Menge von Gründen ich mich bestimmen lasse.

Dies führt uns zum eigentlichen Kernpunkt der Debatte. Pippin argumentiert, da die bürgerliche Gesellschaft für mich unreformierbar sei, bedürfe es eines radikalen Wandels; weil es jedoch keinen großen Anderen gebe, könne dieser Wandel keine direkte Umsetzung einer historischen Notwendigkeit oder Teleologie im klassischen marxistischen Sinne sein, sondern müsse in einem abyssalen voluntaristischen Akt bestehen. Pippin geht hier auf das ein, was er als »die größte Frage von allen« ansieht, die er in meinem Buch »am unbefriedigendsten beantwortet fand«:[37]

»[Žižek] will sagen, dass die bürgerliche Gesellschaft von Grund auf selbstwidersprüchlich ist, und für mich bedeutet das, dass sie ›unreformierbar‹ ist. Wir brauchen eine vollkommen neue ethische Ordnung, und das heißt ›den Akt‹. Der Anspruch dieser Gesellschaft, über eine rationale Form zu verfügen, wird durch die Existenz einer bloß kontingenten Partikularität unterminiert, durch eine Gallionsfigur an der Spitze, den Monarchen. (Eine bessere Frage, so scheint mir, ist, warum Hegel sich überhaupt damit abgibt, wenn man bedenkt, dass ein solcher I-Pünktchen-Setzer und T-Strich-Macher letztlich rein symbolisch und sogar zwecklos ist.)«[38]

Pippin macht sogleich deutlich, in welchem Sinne die bürgerliche Gesellschaft reformierbar ist – sein Bezugspunkt ist erwartungsgemäß »jener große Traum aller Sozialdemokraten – ›Schweden in den Sechzigern!‹«[39] Dies, so fährt er fort,

»scheint mir nicht zwangsläufig etwas zu sein, das seine eigene irrationale und unversöhnliche Unvernunft oder sein Anderes hervorbringt. Mehr Anwälte für die Armen in Texas, bezahlbare Kitas, eine allgemeine Gesundheitsversorgung, ein paar weniger Flugzeugträger, mehr Kontrolle der Arbeiter über ihre eigenen Arbeitsbedingungen, regulierte, eventuell verstaatlichte Banken – das alles sind vernünftige Erweiterungen jenes bürgerlichen Ideals selbst, wie krank und häufig sogar gestört die moderne bürgerliche Gesellschaft auch geworden sein mag.«[40]

Was die »Unreformierbarkeit« angeht, so lautet meine These einfach, dass die Forderungen in Pippins Liste zwar wie eine Reihe »vernünftiger Erweiterungen« des bürgerlichen Ideals erscheinen mögen, diese Erscheinung aber im strengen hegelianischen Sinne abstrakt ist und die allgemeine Tendenz des heutigen globalen Kapitalismus außer Acht lässt.[41] Meine Behauptung, dass die bürgerliche Gesellschaft »von Grund auf selbstwidersprüchlich« sei, ist, auf einer grundlegenderen Ebene, eine Konsequenz aus Hegels allgemeiner These – und sie gilt für jede Gesellschaft:

»Die spezielle Geschichte eines welthistorischen Volks enthält teils die Entwicklung seines Prinzips von seinem kindlichen eingehüllten Zustande aus bis zu seiner Blüte, wo es, zum freien sittlichen Selbstbewußtsein gekommen, nun in die allgemeine Geschichte eingreift, teils auch die Periode des Verfalls und Verderbens; – denn so bezeichnet sich an ihm das Hervorgehen eines höheren Prinzips als nur des Negativen seines eigenen.«[42]

In diesem schlichten und grundlegenden Sinn ist jede partikuläre Staats- und Gesellschaftsform per definitionem »selbstwidersprüchlich« und als solche zum Verschwinden verurteilt – Pippin weist selbst darauf hin, dass der in Hegels Philosophie des Rechts beschriebene Vernunftstaat bereits in ein Stadium des Verfalls eingetreten ist, was sich dadurch zeigt, dass Hegel imstande ist, seine begriffliche Struktur darzustellen.[43] Man könnte daher Hegel kaum mehr unrecht tun, als wenn man seine Idee des Vernunftstaats als eine Vision präsentierte, die nicht mehr selbstwidersprüchlich, sondern – wie bei Fukuyama – ihrem Wesen nach die endlich gefundene optimale Formel ist, die wir, Hegels Nachfolger, nur schrittweise verbessern und reformieren müssen, anstatt zu versuchen, sie von Grund auf zu verändern. Wofür Hegel politisch auch immer stehen mag – die schrittweise Verbesserung der bürgerlichen Gesellschaft ist es jedenfalls nicht. Seine Vision der gesellschaftlichen Entwicklung steckt, im Gegenteil, voller unerwarteter Umkehrungen – das Versprechen der Freiheit wird zum schlimmsten Albtraum und so weiter. Aus diesem Grund hätte Hegel die Logik der Umkehrung des emanzipatorischen Versprechens der Oktoberrevolution in den stalinistischen Albtraum oder, um ein heutiges Beispiel zu nehmen, des Aufkommens des religiösen Fundamentalismus inmitten der konsumistischen Permissivität sofort begriffen. Den Reformismus hätte er bejaht, aber mit einem entscheidenden Dreh: Man beginnt mit einer bescheidenen Reform, die nur darauf abzielt, das bestehende System gerechter und effizienter zu machen, und löst eine Lawine aus, die ebenjene Ordnung der Bedächtigkeit, die uns erst dazu gebracht hat, die bescheidene Reform vorzuschlagen, mit sich fortreißt.

Wir sollten im Hinblick auf Pippins Vision des schrittweisen Fortschritts der bürgerlichen Gesellschaft auch nicht vergessen, dass am Ende von Hegels Philosophie des Rechts nicht das idealisierte Bild eines modernen, friedlichen Ständestaats steht, sondern die Notwendigkeit des Krieges als »sein [des Staates] höchstes eigenes Moment«[44] – der Krieg ist ein dialektisches Paradebeispiel dafür, wie eine negative Beziehung auf sich selbst als zufälliges Hindernis oder als kontingente Bedrohung von außen erscheint. Die »Wahrheit« des äußeren Feindes, der aus akzidentellen Gründen eine Gefahr für den Staat darstellt, ist die sich auf sich beziehende Negativität des Staates selbst, die Behauptung des Staates in seinem reinen Wesen, im Gegensatz zu all seinen besonderen Momenten (Einzelschicksale, Besitzverhältnisse etc.):

»Im Dasein erscheint so diese negative Beziehung des Staates auf sich als Beziehung eines Anderen auf ein Anderes und als ob das Negative ein Äußerliches wäre. Die Existenz dieser negativen Beziehung hat darum die Gestalt eines Geschehens und der Verwicklung mit zufälligen Begebenheiten, die von außen kommen. Aber sie ist sein höchstes eigenes Moment, – seine wirkliche Unendlichkeit als die Idealität alles Endlichen in ihm, – die Seite, worin die Substanz als die absolute Macht gegen alles Einzelne und Besondere, gegen das Leben, Eigentum und dessen Rechte, wie gegen die weiteren Kreise, die Nichtigkeit derselben zum Dasein und Bewußtsein bringt.«[45]

Pippin lehnt meine »Idee ›reiner‹ Triebe (oder überhaupt von etwas ›Reinem‹)« als etwas ab, das »in den hegelianischen Zoo [gehört]«,[46] das heißt als etwas eindeutig Überkommenes, etwas, das durch Hegels philosophische Leistung obsolet geworden ist – aber ist der Krieg, so wie Hegel ihn konzeptualisiert, nicht die (Neu-)Bestätigung des »reinen« Wesens des Staates gegenüber seinem besonderen Inhalt? Steht der Vorstoß zum Krieg in diesem Sinne nicht beispielhaft für den »reinen« Todestrieb (die reine Negativität)? Man kann natürlich argumentieren, dass der Krieg heute aufgrund des Katastrophenpotentials neuer Technologien viel bedrohlicher geworden ist, doch das macht Hegels Standpunkt noch lange nicht obsolet; es zwingt uns lediglich dazu, ihn für unsere gegenwärtigen Bedingungen neu zu erfinden. So erscheint beispielsweise die Spaltung zwischen Erster und Dritter Welt heute im Grunde mehr und mehr wie der Gegensatz zwischen einem langen, erfüllten Leben in materiellem und kulturellem Reichtum und der Hingabe an eine transzendentale Sache. Im Zusammenhang mit dem ideologischen Antagonismus zwischen der westlichen, vom Konsum beherrschten Lebensweise und dem islamistischen Radikalismus drängen sich sofort zwei philosophische Bezugspunkte auf: Hegel und Nietzsche. Entspricht der Antagonismus nicht dem, was Nietzsche »passiven« und »aktiven« Nihilismus nannte? Wir im Westen sind Nietzsches »letzte Menschen«, eingetaucht in unsere stupiden Alltagsfreuden, während die muslimischen Radikalen bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen, und sich bis zur Selbstzerstörung auf den Kampf einlassen. Betrachtet man den Gegensatz darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt des Hegel’schen Kampfes zwischen Herr und Knecht, bemerkt man unweigerlich die Paradoxie: Obwohl wir im Westen als die ausbeuterischen Herren wahrgenommen werden, sind wir es, die den Platz des Knechts einnehmen, der so sehr am Leben und seinen Freuden hängt, dass er unfähig ist, sein Leben zu riskieren (erinnern wir uns an Colin Powells Idee eines Hightechkrieges ohne menschliche Opfer), während die armen islamistischen Radikalen die Herren sind, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Aber sind sie das wirklich? Tief im Innern fehlt es den terroristischen Fundamentalisten an echter Überzeugung – und ihre Gewaltausbrüche sind dafür der Beweis. Wie schwach muss der Glaube eines Dschihadisten sein, wenn er sich von einer albernen Karikatur in einer auflagenschwachen dänischen Tageszeitung bedroht fühlt? Der fundamental-islamistische Terror beruht nicht