Abstrakte Malerei -  - E-Book

Abstrakte Malerei E-Book

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Beschreibung

An etwa 100 farbigen Werkbeispielen und Kurzbiografien der vorgestellten Maler wie Kandinsky, Mondrian, Pollock oder Vaserely dokumentiert der Kunsthistoriker Prof. Pohribny diese faszinierende Kunstrichtung.

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BILDKUNST

ABSTRAKTE MALEREI

Existenz des Unbekannten

ARSÉN POHRIBNY

 

 

 

 

 

 

TABLET ART

Inhalt

Cover

Titel

Bildkunst des 20. Jahrhunderts

Kann man Unaussprechliches sagen, Unverständliches lesen?

Paradoxe

Unverständlichkeit

Sind nur die abstrakten Bilder „unverständlich”?

Einige Regeln und Deutungen

Wie betrachtet man abstrakte Bilder?

Das erste abstrakte Bild

Abstrakte, ungegenständliche, absolute, konkrete, informelle Malerei

Abstrakte Kunst war immer da

Wenn man nicht die Dinge darstellt, bleibt Raum für das Schöpferische

Gegenständlich - ungegenständlich

Was ist das „Gegenständliche”?

Argumente gegen das Gegenständliche

Abkehr von der Scheinrealität

Gründe für die Abstraktion

Abkehr vom Gegenständlichen in den vorabstrakten Richtungen

Wege zum Absoluten und Reinen

Auflockerung, Stilisierung, Geometrisierung

Reduktion

Die Gewinne der abstrahierenden Verfahren

Eine neue, nie-dagewesene Welt. Die Eroberung des rein Visuellen, 1910-1916

Pariser Pioniere der abstrakten Kunst

Impulse der Futuristen

Autonomie des Bildes

Eigenmacht der Farbe

Der Bereich des Visuellen

Das Architektonische und Musikalische

Konstruktivistische Richtungen und geometrische Poetik, 1917-1939

Geometrische Richtungen in Russland

De Stijl

Das Bauhaus

„Abstraction-Création”

Sinn des Geometrischen

Abstrakte Malerei in den USA nach 1935

Zwischen logischem Bild und lyrischen Explosionen, 1944-1960

Gruppierungen, Kämpfe, Entwicklungen

Paris verliert das Kulturmonopol

Lyrischer Malprozess und Umwandlung der Werte

Das Handlungsbild wird zum Kampf und zur Erkenntnistat

Gestik als Destruktion und Konstruktion

Richtungen der lyrischen Abstraktion

Visuelle Forscher und Systematiker, 1960-1973

Kinetismus und Richtungen der visuellen Forschung

Hard-Edge und Minimale Kunst

Was haben wir von der abstrakten Malerei?

Kurzbiografien der vorgestellten Maler

Literaturhinweise

Farbtafeln mit Kurzinterpretationen

Impressum

Bildkunst des 20. Jahrhunderts

Mit 95 Farbtafeln der Maler

Afro

Kandinsky

Noland

Albers

Kantor

Pevsner

Appel

Kassak

Poliakoff

Arp

Klein

Pollock

Baumeister

Kline

Popowa

Bill

Kooning, de

Reinhardt

Bogaert

Krushenick

Riopelle

Bonfanti

Kupka

Rodschenko

Burri

Larionow

Rothko

Calderara

Lissitzky

Schumacher

Corneille

Lohse

Sonderborg

Delaunay

Louis

Soulages

de Staël

Magnelli

Taeuber-Arp

Dewasne

Malewitsch

Tàpies

Fautrier

Manessier

Tobey

Fontana

Mathieu

van Doesburg

Francis

Medek

Vantongerloo

Gorin

Miliares

van Velde

Gorky

Moholy-Nagy

Vasarely

Hartung

Mondrian

Vedova

Herbin

Motherwell

Vieira da Silva

Hoelzel

Nay

Vordemberge-Gildewart

Itten

Newman

Wols

Jorn

Nicholson

Kann man Unaussprechliches sagen, Unverständliches lesen?

Eines Tages erlebte Wassily Kandinsky beim Betreten seines Ateliers etwas Zauberhaftes. In frühabendlicher Dämmerung sah er ein unbekanntes „unbeschreiblich schönes, von einem inneren Glühen durchtränktes Bild”. Aus diesem Bilde ertönte stille Musik. Träumte er? Man hörte die Töne der Farben und die Klänge ihrer Akkorde. Durch wunderbare Täuschung erkannte Kandinsky nicht sein eigenes Werk, sondern er sah eine abstrakte Komposition, lange bevor er eine solche wirklich gemalt hatte. Kandinsky beschäftigte sich schon damals mit Dimensionen einer „anderen”, ungegenständlichen Malerei, deren theoretische Möglichkeiten er 1910 niederschrieb. Das war die berühmte, 1912 herausgegebene Abhandlung „Über das Geistige in der Kunst”, deren Leitsätze von jungen Malern als Offenbarung gelesen und als Wegweiser in neue Gebiete der Kunst befolgt wurden.

Da gibt es merkwürdige Dinge: man fühlt Bilder, die noch nicht existieren, und man hat im Kopf Regeln von einem verborgenen Bereich, der bisher nicht malerisch realisiert wurde. Aber es wuchs schon eine „andere” Denkweise, die nicht aus Gegenständen, sondern aus geistigen Quellen entsprang. Und es entstand eine „andere” Sehweise, die die „inneren Klänge” der reinen Formen und eigenständigen Farben hervorbrachte und genoss. Was zuerst als ein zauberhafter Zufall schien, hat sich als Vorzeichen eines neuen Weges erwiesen, eines Weges, dessen Richtung der Russe Kandinsky mit leidenschaftlichem, malerischem Temperament und orientalischer Phantasie als erster beschritten hatte. Damit blieb die Äußerung seiner ersten abstrakten Periode als höchst charakteristisches Beispiel der expressiv-lyrischen oder „heißen” Tendenz.

Nicht lange danach kamen am gegenüberliegenden „kühlen” Pol andere ungegenständliche Kompositionen auf, die manchmal mit der Schönheit eines Kristalls wetteiferten. Der Tscheche Kupka, der Russe Malewitsch und der Holländer Mondrian gingen von den geometrischen Beziehungen eines Bildrechteckes aus. Diese Beziehungen wurden systematisch mit den entsprechenden Farbkontrasten ausgeführt. - Es ist ratsam, die Unterschiede beider ungleichartiger, abstrakter Tendenzen zu beachten.

In einem Sektor, der sich zwischen der lyrischen und der geometrischen Tendenz erstreckt, befindet sich eine Menge von weiteren Richtungen und persönlichen Konzeptionen, die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wie Pilze nach dem Regen auftauchten. Eine Übersicht von solchen kurzfristigen Gruppierungen kann im Rahmen dieses Buches kaum skizziert werden. Es ist wichtiger, sich auf historische Brennpunkte und auf permanente Probleme der abstrakten Malerei zu konzentrieren.

Wir werden in diesem Buch versuchen, die Schwierigkeiten des Verzichtes auf die gegenständliche Seh- und Nachahmungsweise und die damit verbundenen Reduzierungsprozesse und Phänomene der Vergeistigung zu beleuchten. Besonders werden wir uns mit der Selbständigkeit der bildnerischen - oder besser visuellen - Elemente, ihrer inhaltlichen Kraft und weiter mit dem Sinn der Konstruktion und der geometrischen Zeichen beschäftigen. Die anthropologische Problemstellung der lyrischen Malerei der Nachkriegszeit und die Existenz des Unbekannten werden uns vor neue, schwierige Fragen stellen.

Diesen Problemen können wir uns jedoch nicht widmen, bevor wir uns nicht bestimmter Zweifel entledigt haben. Ist Unverständlichkeit zum Beispiel eine verhängnisvolle Eigenschaft der abstrakten Kunst? Ist es der Mangel an gegenständlichen Hinweisen, der ihre Lesbarkeit verhindert? Welche andere Ursachen mögen noch diesen unseligen, antikommunikativen Zustand komplizieren? Und welche Chancen bleiben trotzdem einem unvorbereiteten Zuschauer?

Paradoxe

Die abstrakten Tendenzen brachten seit ihrer jahrzehntelangen Existenz Abertausende von Bildern und verwandten Objekte hervor. Abstrakte Malerei wird mit Recht als typische Kunst des 20. Jahrhunderts bezeichnet, und trotzdem kann niemand behaupten, dass sie zu den populären Kunstrichtungen gehört. Für das breite Publikum bleibt sie wie das Himalaya-Gebirge - zu weit und zu hoch, unzugänglich und missverstanden.

An dieser Sache ändert auch wenig, dass die größten modernen Museen der Welt der abstrakten Malerei wichtige Säle widmen, und es hilft nichts, dass die klassischen abstrakten Werke Hunderttausende kosten und auf dem Kunstmarkt sogar kleine Zeichnungen schon Raritäten sind. Trotz dieser hohen Wertung sind abstrakte Bilder nicht zum allgemeinen Kulturgut geworden.

Sicher, man kann mit Recht einwenden, dass die ganze moderne Kunst in dieser Hinsicht nicht viel besser dasteht. Das ist das Resultat eines weiteren Paradoxons. Obwohl in der Kultur des industriellen Zeitalters gerade optische Systeme und Effekte von Reproduktionen und Illustrationen eine der massivsten Funktionen ausüben, überlebt die wahrhaft visuelle Kunst nur als elitäre Randerscheinung; wobei die Position der ungegenständlichen Malerei noch extremer ist. - Übrigens, ihre Pioniere haben sie nicht etwa entdeckt und entwickelt, um eine Folklore zu gründen. Erst später, in den Utopien der Konstruktivisten, tauchten derartige Ideen auf.

Zuerst sah es lange Jahre so aus, als ob die Abstraktionisten nur Ergebnisse geheimnisvoller Laborforschungen zeigen wollten. Erst nach 1948 haben sich diese Tendenzen breiter entfalten und sich sogar auch in der Öffentlichkeit - als Teil der architektonischen Ausstattung - durchsetzen können. Aber was vorausging, war ein Dornenweg voller Entbehrungen, die durch falsche Beschuldigungen von Betrug und Wahnsinn, später durch politische Verfolgung verschärft wurden.

Wenn aber die abstrakten Maler ihrer Muse, der Reinheit, solche Opfer brachten, wenn ihr Glaube an eine „weiße Welt der Vernunft und Harmonie” sie so bestärkte, dann muss es sich jetzt lohnen, ihre „befreiten Elemente”, ihre Zeichen und Systeme zu ermitteln und den „inneren Klang” abstrakter Farbakkorde zu hören. Eine imaginäre Reise in diese „andere” noch nie dagewesene Welt zu unternehmen kann zu überraschenden Erkenntnissen führen.

Unverständlichkeit

Und dann passiert es: Wir besuchen ein Museum und stehen vor einem abstrakten Gemälde mit den besten Absichten, etwas zu begreifen. Man fühlt eine bestimmte Fremdheit, man versucht eine Distanz zu dem „Unbekannten” vor sich zu überwinden. Hier hängt eine von den sehr bewegten, sehr farbigen, lyrischen Kompositionen …

Was sehen wir?

Ein Chaos - das ist der erste Eindruck - ein willkürliches Chaos, in dem keiner von den tanzenden Farbflecken uns einen Anhaltspunkt bietet. Das Bild scheint unlesbar, überflüssig, ja abscheulich. Andere Besucher meinen sogar, dass es ein barbarisches Machwerk sei, eine widernatürliche Provokation, etwas, was die Würde des Menschen verletzt.

Auf der anderen Wand reizt uns eines von den „kühlen” geometrischen Werken. Da meint aber einer, es könnte den Entwurf eines Taschentuches zeigen oder ein Zimmermaler-Muster, jedenfalls sei das keine wirkliche Kunst. Denn: „was ist denn dargestellt?”

Wenn man nach Darstellung fragt, denkt man sofort an eine Szene mit Figuren, an eine Landschaft im Hintergrund, an eine Menge von herrlichen Details, die unsere Augen erfreuen, und zu diesen möchten wir uns gerne wieder und wieder hinkehren. Aber jetzt finden wir vor uns nichts, was dieser unserer Vorstellung ähnelt. Wir bleiben enttäuscht und verwirrt. Von unseren unerfüllten Vorerwartungen fehlt zur Verdächtigung nur ein Schritt: wahrscheinlich wollte uns der Autor boshaft provozieren und ins Hässliche herabziehen … Was sollen wir damit anfangen? Sollen wir uns ärgern oder lachen? Jedenfalls, diesen Kauz kann man nicht ernst nehmen.

Trotz dieser Verurteilung bleiben wir nicht ohne Zweifel - es müsste schon etwas mehr dahinterstecken, sonst wären die Gemälde nicht in dem Kunstmuseum aufgehängt. Ist uns nicht etwas Wesentliches entgangen? Was haben wir nicht gesehen?

Früher oder später kommen wir dazu, dass unsere Vorerwartungen nicht angemessen und unsere Maßstäbe falsch gestellt waren. Ein Kenner würde sagen, wir hätten uns eigentlich „unsportlich” verhalten. Wieso? Es wäre unfair, einem Maler von Stillleben vorzuwerfen, er hätte uns betrogen, weil er keine Figuren gemalt habe. Und gerade einen solchen Vorwurf haben wir bei den abstrakten Gemälden gemacht. Dürfen wir jemanden einer Unverständlichkeit, Böswilligkeit usw. beschuldigen, weil er nicht die allgemein beliebten Motive oder mindestens bekannte Symbole der Natur abgebildet hat. Sollten wir uns nicht wenigstens interessieren, welche Absichten der Autor verfolgt hat? Die abstrakten Maler verzichten programmatisch auf sachliche Inhalte und Naturnachahmung, weil sie uns ganz andere, ungegenständliche Zonen offenbaren wollten - von reinen Empfindungen oder von „musikalischen” Farbharmonien zum Beispiel. Übrigens: kann man verlangen, dass bei einer Pantomime die Akteure sprechen?

Sind nur die abstrakten Bilder „unverständlich”?

Wie sieht es zum Beispiel mit der Verständlichkeit einer „Mona Lisa” oder einer „Nachtwache” aus? Inwiefern bleiben sie geheimnisvoll? - Man sagt: verständlich ist alles, was wir unserer Erfahrung nach wiedererkennen und benennen können. Also - unserer Erfahrung nach! Hier stehen wir, und da hängt ein „Abendmahl” von Tintoretto. Wir betrachten langsam die epische Abbildung, unsere Augen bewegen sich von einer Apostelfigur zur anderen, bleiben bei Details stehen, folgen dann den Umrissen der Bäume und Arkaden im Hintergrund. Gleichzeitig flüstert uns „jemand” zu: „Das entspricht dem Garten, das ist dieses und jenes. Der Kelch ist richtig gezeichnet, die Hände aber zu lang” usw. Dieser „jemand”, ein psychologischer Automatismus, vergleicht Handlungen und Gebärden der Figuren, die Größen- und Farbenverhältnisse der Sachen mit etwas, das aber außerhalb der Grenzen des Kunstwerkes liegt. Zwischen uns und Tintorettos Gemälde kommt es nicht zu einem intimen Dialog, hier greift ständig dieser „Jemand” - ein Dritter - ein. Einmal funktioniert er als Dolmetscher, ein anderes Mal als Aufseher, immer bereit. unsere Wahrnehmungen zu lenken oder zu kontrollieren, ob auch im Bilde alles den Regeln unseres rationalen Weltbegreifens entspricht, ob alles genügend „verständlich” ist. Diese „Dreieck”-Wahrnehmung kommt nur bei der naturalistischen, figurativen Kunst zustande.

Verstand und Erfahrung können sich eine Beweismöglichkeit - und zwar mittels sprachlicher Beschreibung - verschaffen. Gerade dabei zeigt sich aber eine überraschende Beschränkung. Was wir mit solcher Verbalisierung erreichen, ist so weit von einem vollkommenen Begreifen entfernt wie eine Landkarte von dem Reiseerlebnis durch eine pittoreske Landschaft. Unsere Wörter, unsere Sätze und Sprachformeln zerfleischen den schönen Körper des Bildes, vernichten seinen einmaligen Zauber und erfassen kaum die wahre, bildnerische Anmut. Die Beschreibung bleibt an der Oberfläche des Bildes und der ästhetischen Empfindungen.

Bildende Kunst entzieht sich größtenteils den Möglichkeiten der Umgangssprache und der rationalen Erkenntnis. Der Zauber des Bildes, der das ursprünglich Magische und Sakrale bewahrt, bleibt unaussprechlich, unbeschreiblich. Das Geheimnis von Leonardos „Mona Lisa” oder der „Nachtwache” Rembrandts, das Schöpferische lässt sich nicht durch die Wortformel domestizieren. Die Verbalisierung und das logische Denken kann uns nur als Orientierung helfen; in die tieferen, irrationalen Zonen eines Kunstwerkes können wir mit dem Verstand kaum eindringen. Sie bleiben dem intuitiven Erblicken und gefühlsmäßigen Erleben vorbehalten.

„Die Kunst tritt für das ein, was der Mensch nicht, oder nicht mehr, ‚von Angesicht zu Angesicht’ schauen kann. Der Künstler benennt in einem Akt ungeheurer, herausfordernder Anstrengung das schier Unnennbare” (W. Hoffmann).

Kann uns die Feststellung, dass die Substanz der Kunstwerke überhaupt „unverständlich” sei, bei unserem Umgang mit „unverständlichen” abstrakten Bildern trösten? Vielleicht. Jedenfalls hilft es uns einerseits, mit einzelnen Vorurteilen aufzuräumen, die uns auf Abwege verleitet haben, andererseits mag es uns den Zugang zu „fremden” Zonen der abstrakten Malerei erleichtern.

Stellen wir uns jetzt ein paar Beispiele der zwei unterschiedlichen Ansichten gegenüber und beleuchten dabei kurz einige Grundsätze der ungegenständlichen Konzeption.

„Kunst soll die Schönheit der Natur treu widerspiegeln”, glauben die Naturalisten, „sie ist eine verlängerte Natur.” - Demgegenüber steht die Meinung der „Ungegenständlichen”: „Natur ist eine Sache, und Kunst, als ein Werk des Menschen, eine andere künstliche Sache; besonders dann, wenn es sich um eine rein geistige Leistung handelt wie in der abstrakten Malerei. Abstraktes Malen ist Sichtbarmachen der reinen Formvorstellungen. Es können sich die gleichen Gesetze wie die der Natur verkörpern.

„Kunst ist für jeden. Die Bilder müssen also gemeinverständlich sein”, behaupten die ersten. Und die „Ungegenständlichen” interpretieren ihrerseits so: „Abstrakte Kunst ist, wie die Musik, für jeden, der Sinn für Rhythmus, Proportionen und Gleichgewicht hat und diese auch zu sehen und zu genießen vermag.”

Der zweite Satz ist ein frommer Wunsch der „Ungegenständlichen”. Denn sie wissen, dass die Gemeinverständlichkeit ungewöhnlicher Redewendungen oder neuerer Symbole nicht über Nacht kommt. Sie entsteht durch langsames Lernen der eigentlichen Deutungen, sie ist ein Werk von historischen Vereinbarungen, von gesellschaftlichen Konventionen. Auch die naturalistische, komplexe Abbildungsweise war einmal neu und unverständlich. Daran erinnert die Geschichte über den chinesischen Herrscher des 17. Jahrhunderts. Bei der Betrachtung eines Portraits von Ludwig XIV. wunderte er sich sehr: „Gehört es zu den Privilegien der französischen Könige, ihre Gesichter teilweise dunkel zu färben?” Er hat eine der wichtigsten naturalistischen Malkonventionen - die Schattierung - missverstanden. Betrachten wir nicht auch manchmal die abstrakten Gemälde „chinesisch”?

Einige Regeln und Deutungen

Jedenfalls ist die Gemeinverständlichkeit der abstrakten Bilder von einem Lernprozess abhängig. Die auf naturalistische und illusionistische Abbildungsformeln eingestellten Augen müssen die entsprechenden Gewohnheiten, die erwähnte „Dreiecksreaktion” inbegriffen, in dem Moment der Betrachtung eines abstrakten Werkes ablegen. Ihre neue Einstellung wird durch das Aneignen der neuen, ungegenständlichen Spiel- und Leseregeln gesteuert. Dieser Prozess hat etwas vom Lernen einer neuen Sprache, ihrer grammatikalischen Regeln, ihrer nie gehörten Wörter und Deutungen, die aber in einer abgeschlossenen, schön verketteten Welt zusammenspielen. Denn eine der Grundregeln dieser neuen Sprache sagt: „Abstrakte Kunst will nicht die Gestalt eines existierenden Gegenstandes wiedergeben, sie schafft sich ihre Formen selbst.”

Hier stehen wir vor dem großen Hindernis. Denn es handelt sich darum, solche Regeln einer „anderen” bildnerischen Sprache zu lernen und die der „alten” Sprache möglichst zu vergessen, wobei diese natürlich ihre Gültigkeit in den eigenen Bereichen behalten soll. Nach den Regeln der naturalistischen oder praktischen Sehweise - mit dem bekannten Dreiecksautomatismus - werden wir weiter jeden Farbfleck, jedes Gesicht als Hinweis der sichtbaren Wirklichkeit dechiffrieren, und nach derselben Regel werden wir uns beim Blättern in Zeitschriften, im Einkaufszentrum oder vor dem Fernsehapparat weiter so benehmen. Dieser sachlich gerichtete Wahrnehmungsautomatismus, das Suchen nach Gesichtern und Personen, das Bestimmen der Pflanzen, Gegenstände und Phänomene wird jedoch zur Unart in dem Moment, in dem wir Bereiche des rein visuellen betreten. Dort werden wir uns bei jeder Art gegenständlicher Inventarisierung in Missverständnisse verwickeln. - Nicht zur Erde, sondern zu den Gestirnen muss man schauen.

Dies ist eine wichtige Voraussetzung der Betrachtungsweise, ohne die wir die Grenzen der gegenständlichen Anziehungskraft kaum zu überwinden vermögen. Und der Mensch sollte dauernd seine Grenzen überschreiten, sich auch von traditionellen Fesseln durch Taten befreien. Auch das Beschreiten des Weges in das Gegenstandslose gehört zu solchen Taten, ja die Entdeckungen des rein Visuellen, des Raumhaften und der universalen Zusammenhänge sind eines der größten Abenteuer dieses Jahrhunderts.

Die abstrakten Maler sind Astronauten, die den Flug in die Dunkelheiten des Weltalls wagen. Sie bringen Zeugnis von den abgekehrten Seiten der Planeten und zeichnen die Existenz unsichtbarer Gestirne auf. Es gibt Gemälde, die strahlen ein starkes, kosmisches Erlebnis aus. Es gibt wieder andere Bildgruppen, die sich mikrobiologischen Aufnahmen nähern, die unendlich kleine, unserem Auge unzugängliche Welten sichtbar machen; und noch zu vielen anderen „technologischen” Errungenschaften bietet die ungegenständliche Malerei einen Widerpart. Dies sind aber äußere Parallelen.

Die Planeten, die unsichtbaren Welten, die uns die abstrakte Malerei entdeckt, sind geistiger Herkunft. Dort herrschen die Regeln der Reinheit und die der universalen Gegensätze, dort dominiert eine Pracht des Losgelösten. Hören wir die erweiterte Fassung des Grundsatzes: „Die von Künstlern geschaffene Form will nichts darstellen, sie repräsentiert nichts als sich selbst und das, was sie ist, sie hat kein Vorbild…”

Durch diese Autonomie, durch ihre visuelle Eigenständigkeit, stellt sich die abstrakte Malerei den höchsten herstellenden Künsten - der Architektur und der Musik - zur Seite. Auch ein Musiker ist ein „abstrakter Künstler”: Keine Stimmen der Natur ahmt er nach, sondern er zaubert mit Klängen, Akkorden und Motiven der Musik selbst.

„Ungegenständlich malen bedeutet Ideen visualisieren”, besagt ein weiterer Lehrsatz. Schon in den Werken des Altertums sind Ideen einstmals durch symbolische Zeichen, später durch sogenannte Allegorien verwirklicht worden. So wird etwa die Idee der Gerechtigkeit als eine ernsthafte Frau, die mit verbundenen Augen eine Waage hält, dargestellt.

Die abstrakten Maler konstruieren eine andere Art von Ideen der universalen Harmonie, der unendlichen Schwingungen, des ewigen Kontrastes usw. von „befreiten Mitteln” oder Elementen. Punkte, Linien, Flächen und Farben, von der Sklaverei der Nachahmung entfesselt, strahlen einen neuen Inhalt aus: Ein jedes Element, oder Element-Gruppen erzeugen und vervielfachen neue, anreizende Energie. So schrieb 1910 W. Kandinsky; „Spitze Farben klingen in ihren Eigenschaften stärker in spitzer Form (z. B. Gelb im Dreieck). Die zur Vertiefung geeigneten Farben werden in dieser Wirkung durch runde Formen erhöht (z. B. Blau im Kreis).” Später hat er die visuellen Deutungen und die psychologischen Inhalte der Elemente erweitert und pädagogisch systematisiert.

Kandinsky glaubte auch, dass die reinen Elemente, besonders die Farben, auf unsere inneren Erlebnisse unmittelbar, intersubjektiv - ohne die Dreiecksreaktion - einzuwirken vermögen: „Die Farbe ist ein Mittel, das direkten Einfluss auf die Seele auszuüben vermag. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste die Seele in Vibration bringt.” Wenn dieses Gleichnis regelmäßig zustande käme und dementsprechend die Wahrnehmung eines abstrakten Bildes zum fließenden Prozess würde, brauchten wir diese weiteren Anweisungen und Regeln nicht anzuführen. Leider gibt es eine Menge von Voreingenommenheiten, die diesen Vorgang bremsen. Schließlich ist es nicht so, dass wir die abstrakte Malerei uns zugänglich machen, sondern dass wir uns selbst der Malerei zugänglich machen müssen.

Wie betrachtet man abstrakte Bilder?

Die Möglichkeiten des Verstandes erweisen sich beim Umgang mit der Kunst als unsicher, das haben wir vor kurzem erfahren. Was bleibt uns jetzt? Vor allem müssen wir praktische Zielstrebigkeit irgendwo in der Garderobe ablegen und uns entspannt spontanen Reaktionen anvertrauen. Das Bild weckt unsere Empfindungen, und diese entstehen wellenweise wie beim Hören von Musik. Es wäre vorteilhaft, nachzuempfinden, in welchen Wellenlängen sich das Bild befindet; sein Bildtitel mag uns etwas andeuten.

Am schönsten wäre es, wenn wir in ein solches Gemälde einsteigen und mit in die Bildharmonie eintauchen könnten, damit wir die ausstrahlende Energie der Elemente nicht nur sehen - oder hören - sondern mit dem ganzen Körper miterleben, Rhythmus, Zusammenhänge und das Gefühl der Vollkommenheit genießen könnten. Ein abstraktes Bild verlangt von uns viel mehr Aktivität als ein gegenständliches, aber der Zuschauer gewinnt damit die Chance, wenigstens für eine Weile zum Mitautor zu werden.

Deshalb sollte man soweit wie möglich in die Formen und Farben eindringen, um schließlich - freilich gelingt das nicht bei jedem Bild, - zu der Empfindung zu kommen, die Farben seien aus einem selbst entstandenen, als hätte man sie selbst gemacht. Unser Verstand verlässt uns dabei nicht, er intellektualisiert ständig die Erlebnisse. Assoziative Verbindungen treten hinzu und „illustrieren” diesen Identifikationsprozess.

Ein Versuch um Identifikation, um Miterleben kann sich zur maximalen Erkenntnis steigern, besonders dann, wenn diese zusätzlich durch Kontemplation ausgewogen wird.

Wer den Gnadenzustand eines solchen „Wacherlebens” erreicht, dem bleibt der Sinn der abstrakten Bilder - der Schlüssel zur geistigen Substanz des Universums oder das Modell der Grundstrukturen - nicht länger verborgen.

Das erste abstrakte Bild

Wer hat zum ersten Mal die Grenze des gegensätzlichen Bereiches völlig verlassen? Wer hat das erste abstrakte Bild gemalt? Diese Fragen können wir heute mit Sicherheit nicht beantworten. Noch vor kurzem war es anders: Das berühmte Aquarell von Kadinsky - 1910 datiert - galt als frühestes Beispiel der modernen ungegenständlichen Malerei. Seit jüngster Zeit hat man eine Reihe von gleichzeitig und noch früher entstandenen abstrakten Bildern gefunden. Wem gebührt das Weltprimat in der abstrakten Malerei? Und wie kann man diese Gleichzeitigkeit von Entdeckungen erklären?

Um die Jahrhundertwende gingen mehrere Kunstströmungen mit diesem Problem schwanger. Die Symbolisten und Spätromantiker schwärmten von einem mystischen Berg der Superkunst, der in Musik gipfelte. Die Reinheit und Erhabenheit dieser Kunstform, die die Sterne berührte, zu erreichen, ersehnten Dichter und Maler.

Eine ornamentale Eigengesetzlichkeit hat die Jugendstilkünstler zur Kreation vieler abstrakter Motive geführt, die mit einem Naturvorbild nichts gemeinsam hatten. - Ferner war da das Suchen nach der verborgenen Substanz unter der Oberfläche der sichtbaren Wirklichkeit und gleichzeitig die Klärung der malerischen Gesetze, durch das die Postimpressionisten, Fauvisten, Kubisten, Futuristen und andere bis an die Grenze des Ungegenständlichen geführt wurden. Hier taucht etwas Ähnliches auf, was die ältesten griechischen Philosophen, die Eleaten, entdeckten: Die Substanz des Weltalls beruht auf einigen Urelementen. - Auch die empfindlichsten Künstler spürten ein Bedürfnis nach Rückkehr zur archaischen Kunst, zu einer Ursprache, zu Archetypen, zur Kindheit, zur Basis der Urelemente. Diese „Rückkehr” war möglich, weil damals die Seele der Kunst noch nicht mit dem Ballast der Virtuosität und mit der Ladung literarischer Inhalte verschüttet wurde.

Es folgten mühevolle, manchmal abenteuerliche Versuche, so langjährig wie das Suchen nach dem „Machen” von Gold. Dieses Durchdringen zu den Urelementen, diese Vorgänge einer Reinigung der Kunstformen bezeichnen wir summarisch als „Abstrahieren”. „Abstrahieren” heißt eine Schönheit, eine Geistigkeit, die in der Realität erhalten ist, zu extrahieren; anders gesagt: „Abstrahieren” ist ein Hinschreiten an die Grenze der geistigen Formenwelt. Diese „andere” Welt ist dann die Welt des Abstrakten, Ungegenständlichen. Die Begriffe „Abstrahieren” und „Abstraktes” bedeuten allerdings in der Malerei zwei qualitativ unterschiedliche Sachen.

Eine Zahl von Malern hat die Grenze des Abstrakten schon im 19. Jahrhundert kurzfristig überschritten; Nach dem Engländer Turner und dem Dichter Victor Hugo mit seinen gespenstischen Tuschezeichnungen waren es die Jugendstilkünstler - 1893 Henry van der Velde und 1900 Hermann Obrist und sein Schüler Hans Schmithals. In den nächsten Jahren malte auch Adolf Hoelzel (→ Bild 2), der durch seine scharfsinnigen Theorien einen beträchtlichen Einfluss auf die späteren „Abstrakten” ausübte, „reine” Kompositionen. Zwischen den Jahren 1908 und 1910 hing das Problem des Ungegenständlichen in der Luft. 1908 machte der unruhige Francis Picabia erste Zeichnungen, ein Jahr später malte er sogar eine Reihe von Bildern mit kreisförmigen Motiven, aber danach verließ er solche Forschungen. Mit einer merkwürdigen schöpferischen Tat trug auch der litauische Komponist und Maler M. K. Ciurlionis in den Jahren 1905-1911 zur „Entdeckung” der abstrakten Malerei bei. Seine Bilder überraschen uns noch heute wie eine Fata Morgana. Die Spuren von unbekannten Pflanzen und Landschaften fließen ineinander wie Motive und Sätze einer Klaviersonate. Diese kompositorischen Strukturen könnte Kandinsky wahrscheinlich in Petersburg gesehen haben, wodurch seine eigene musikalische Auffassung bestärkt wurde.

Es gibt um 1910 noch weitere gelegentliche „Besucher” des „neuen” Bereiches des Ungegenständlichen, wie die Amerikaner Weber, Walkowitz und Dove, der Belgier Lacasse und andere. Dann aber kamen František Kupka und Wassily Kandinsky. Erst diese beiden waren sich der Tragweite ihrer Entdeckung bewusst. Sie malten vielleicht nicht die ersten abstrakten Bilder und sind nicht die ersten Erfinder der abstrakten Malerei, aber - und das wiegt mehr - sie sind ihre Begründer und Erbauer.

Der in Paris lebende Tscheche František Kupka, Freund der Orphisten, beschäftigte sich seit 1903 besonders mit zwei Urelementen: mit der Bewegung, und mit der Farbe. Dabei fand er ein sachliches Motiv unnötig und störend wie ein Hindernis. Dennoch verband er die „Klaviatur-Motive” manchmal mit der Wasserspiegelung oder mit einer weiblichen Silhouette, jedenfalls drang er 1909/10 in den Bereich der reinen Formen vor. Mehrere Gemälde beweisen es. Er entdeckte, dass jeder Bildorganismus ein Konzert aus folgenden Elementen ist: Die Architektonik des Gemäldes dirigiert morphologische Urbilder. Die Gelegenheit, solche Entdeckungen auszustellen, bot sich erst um 1912 an. Kupkas Gemälde gehörten zur Sensation des Pariser Herbstsalons. Ein Bild hieß „Amorpha. Zweifarbige Fuga” (→ Bild 12). Auch er arbeitete also mit musikalischen Vorstellungen.

Parallele Versuche unternahm gleichzeitig Wassily Kandinsky in München, ohne von Kupkas Experimenten zu ahnen. Als erstes ganz abstraktes Werk wird ein lyrisches Aquarell des damals 44jährigen Kandinsky angesehen (→ Bild 3