Absurde Nikodemische Ethik - Anna Theresa Schreiber - E-Book

Absurde Nikodemische Ethik E-Book

Anna Theresa Schreiber

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Beschreibung

Das Leben als Philosophiedetektiv hat sich Nikodemos anders vorgestellt. Statt den Fall im japanischen Fugu-Restaurant zu lösen, landet der Student gemeinsam mit Elenore und dem Phantom der Uni in einer Vernunft-Therapie. Und als wäre das nicht schon Chaos genug, wird er auch noch mit einer Verschwörungstheorie über die Philosophen vom Bodensee konfrontiert!

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Seitenzahl: 233

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Der Narr hält sich für weise,

aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist.

William Shakespeare

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Kugelfisch-Komplott

Das Phantom in der Quarterlife-Crisis

Die möglichen Welten der Elenore Rosemary

Madame Bovary und Don Quixote haben ein gemeinsames Problem

Die Wesensdefinition des Wissens

Stundenplan einer Weltretterin

Bei den anonymen Philosophen

Philosophie am Bodensee

Die Geschichte vom Sekten-Guru

An Mesmers Grab

Crashkurs in Wissenschaftstheorie

Das Bewusstsein der Fledermaus

Eine Entführung?

Heidesands Welt

Der philosophische Spion

Elenores Entscheidung

Abschied von der Philosophie?

Nachwort

Psychotest: Philosophische Typologie

Ergebnis

Vorwort:

Ein Genrewechsel steht bevor. Nikodemos wollte es nicht anders. Wir hätten bei den gut verkäuflichen Krimis bleiben können. Es wäre nur ein bisschen Fantasie nötig gewesen. Sein Abenteuer aus dem ersten Semester hätte der perfekte Auftakt für eine Krimireihe über einen studierenden Detektiv sein können. Niemand hätte etwas gemerkt. Aber der Philosoph hat sich geweigert. Seit der sich mit Existenzialisten beschäftigt, labert er andauernd etwas von „Authentizität“ und will, dass sein Leben „authentisch dargestellt“ wird.

Ich versuchte es zunächst mit Widerspruch. Wir hatten gerade ein Buch mit dem Titel „Wer stirbt schon gern wie Sokrates?“ mit der Genrebezeichnung „Krimi“ unter einem langweiligen Pseudonym veröffentlicht. Es basiert tatsächlich auf seinen authentischen Erlebnissen als Ersti. Wir konnten nicht einfach eine Fortsetzung schreiben, die noch weniger ein Krimi war als der erste Band! Doch Nick blieb stur: entweder seine authentische Biografie oder kein weiteres Buch mehr. Das ging nun wirklich nicht, da wir bewusst offene Fragen gelassen hatten:

Wie bin ich (Tobi) sein Biograf geworden?

Wer ist Gregor wirklich?

Welches Geheimnis hat Elenore?

Was wird aus Nikodemos´ Detektivausbildung?

Ich hatte also keine Wahl. Und unterschrieb das Todesurteil für die geplante Buchreihe. Dann fragte ich den exzentrischen Studenten, warum er der Kriminalliteratur abschwören wollte. Er antwortete zerstreut: „Das Sprachspiel hat sich geändert.“ Es folgte eine lange und komplizierte Erklärung, die ich mir nicht gemerkt habe. Jedenfalls hat sich seine Lebenssituation dahingehend geändert, dass Nick nun doch nicht der universitäre Ermittler geworden ist und die Erzählung seiner Erlebnisse somit nicht mehr als „Campus-Krimi“ gelten darf.

„Niemand liest heute noch Krimis“, belehrte er mich. „Ich mache aus meiner Autobiografie besser philosophische Belletristik. Oder vielleicht wird es eine Satire, das werden wir dann sehen.“

„Hat vor uns schon einmal jemand eine Buchreihe mit genau zwei Bänden geschrieben, bei der zwischen dem ersten Buch und der Fortsetzung heimlich das Genre gewechselt wird?“, fragte ich argwöhnisch.

„Man nennt das Dilogie. Was den Genrewechsel angeht - das Leben ist absurd, wir sind radikal frei und die Welt befindet sich in einer Krise. So ein verlegerisches Sakrileg ist angesichts unserer existenziellen Situation durchaus angemessen“, gab er seine Gründe für die Entscheidung an.

„Das hast du alles vom Phantom“, warf ich ihm vor.

Doch der Student ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich gebe es ungern zu, aber ohne das Phantom wäre dieses Buch nicht, was es ist. Wir brauchen unser Phantom. Und widersprich mir nicht immer! Sonst streiche ich dich aus der Handlung“, drohte er ziemlich verwegen.

„Dann ist es aber nicht mehr authentisch“, sagte ich.

Er runzelte die Stirn. „Na schön. Alles bleibt drin. Alle Detektive, Phantome, Maler, Damen, Dozierenden, Philosophierenden und Fledermäuse. Und natürlich die Therapie im Existenzialisten-Keller sowie die Philosophen–Graffiti . Zufrieden?“

Ich war überhaupt nicht zufrieden mit dieser Projektplanung. Doch Nikodemos Haselhuhn schien irrsinnig froh darüber zu sein, seine außerordentlichen Irrtümer und deren Folgen nun mit der Welt teilen zu können. Nick wird schon wissen, was er tut ...

1 Das Kugelfisch-Komplott

Erstens: Jede Situation ist immer nur so seltsam wie die daran beteiligten Personen.

Zweitens: Jeder großen Erkenntnis geht ein großer Irrtum voraus.

Das waren die Zitate, die den Auftakt der Haselhuhn´schen Aphorismen-Sammlung bilden würden. Weiter war ich damit noch nicht gekommen, aber diese zwei Sprüche hatte ich meinen empirischen Erfahrungen der letzten Monate zu verdanken. Meine Zitate halfen mir in dieser Situation aber auch nicht weiter. Delphine war nicht bereit, mir meinen neuesten Fehltritt so ohne Weiteres zu verzeihen.

Die Professorin hatte sich auf ihrem Lieblingssessel im Wohnzimmer niedergelassen und sah mich forschend an. Ihr Schweigen konnte nichts Gutes bedeuten. Luise lehnte im Rahmen der Küchentür, hatte die Arme verschränkt und beobachtete interessiert das Geschehen. Mir blieb nichts Anderes übrig, als auf die weisen Worte der Professorin zu warten und ich warf einen raschen Blick auf die Tarotkarte, auf der Elenore mir Ort und Zeit für ein Treffen notiert hatte. Der Narr. Was sie mir damit wohl sagen wollte?

Es war viel passiert in letzter Zeit, ein Gespräch mit dem Phantom und dann Elenores überraschender Spontanbesuch. Ich war müde und durcheinander und mir behagte es gar nicht, dass meine Dozentin, die leider auch noch meine Vermieterin war, nun ebenfalls eine Unterredung wünschte. Und Luises schadenfroher Gesichtsausdruck machte die Sache wirklich nicht besser.

Endlich fing Delphine Manet an zu sprechen:

„Nikodemos – Sie haben den Bogen überspannt. Dass sie mir die Miete wieder einmal nicht zahlen konnten, sich Kriminalfälle einbilden, wo keine sind und sich an Menschen mit … einer speziellen Lebenseinstellung orientieren mag alles noch so hingehen. Aber dass sie deshalb Ihren Essay in Erkenntnistheorie vergessen haben - das ist zu viel!“

Es ging um den blöden Essay? Und ich dachte schon es wäre etwas Schlimmes.

„Es wird Zeit, dass Sie sich der Realität stellen“, tadelte mich die Professorin und Luise nickte im Hintergrund bedeutend dazu.

„Welche Realität?“, fragte ich gelassen und nahm einen Schluck Tee.

Doch es war ihr offensichtlich ernst mit dem Essay. „Mimen Sie hier nicht den Skeptiker, sondern schreiben Sie lieber auf akademischem Niveau darüber“, gab sie ärgerlich zu Bedenken. „Sie mögen sich für einen genialen Detektiv halten, aber …“

„Ich soll mir wieder ein Nebenfach suchen?“, beendete ich für sie den Satz.

Sie seufzte und sah mich an, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall. „Ich habe Ihnen nie erlaubt, ihr Nebenfach aufzugeben. Was hätte ich dem Fachbereich erzählen sollen? Dass ich Sie zum Detektiv ausbilde? Das war eine Spinnerei von Professor Heidesand. Wenn Sie Physik abgewählt haben, müssen Sie sich jetzt eben eine Alternative überlegen. Ich war ja gern bereit dazu, das Experiment mit der Detektivausbildung zu wagen, Credits hätten Sie dafür aber keine bekommen. Doch ich merke schon, ich hätte es besser nie vorgeschlagen. Was Sie sich da in den letzten Semesterferien geleistet haben … vielleicht haben Sie einfach einen verkehrten Eindruck von einem Universitätsstudium bekommen. Was mein Kollege Ihnen im ersten Semester angetan hat, muss Sie in irgendeiner Form traumatisiert haben. Sie sind überhaupt nicht mehr in der Lage, die Studienleistungen angemessen einzuschätzen. Sie wollen lieber Detektiv spielen. Und diese Unruhestifter ermutigen Sie auch noch dazu!“

Ich ahnte, worauf sie gerade anspielte. Nun, das war wirklich keine Glanzleistung von mir gewesen. Aber aus Fehlern lernt man doch?

Luise, die Spionin an der Küchentür, konnte sich inzwischen das gehässige Grinsen nicht mehr verkneifen. „Kein Grund zur Panik …“, neckte sie mich.

Oh ja, es ging um dieses Kapitel meiner unrühmlichen Taten. Doch ich hatte nicht mit Delphines haarsträubender Auslegung dieser Geschichte gerechnet.

„Was Sie brauchen, ist eine Therapie“, kam sie direkt zur Sache.

Ich sah sie ungläubig an. „Ich? Aber ich bilde mir keine merkwürdigen Sachen ein, im Vergleich zu …“, begann ich meine Verteidigungsrede, verstummte aber sofort. Ich bewegte mich auf sehr dünnem Eis.

Delphine und ihre Nichte wechselten einen raschen Blick.

„Das sogenannte Kugelfisch-Komplott war Ihrer Meinung nach keine merkwürdige Einbildung?“, stellte Delphine meine kritische Reflexionsfähigkeit direkt in Frage.

Ich tat zerknirscht. „Das war eine Ausnahme, irren ist menschlich.“

„Und wollten Sie gerade eben noch einen Vergleich andeuten? Einen Vergleich zu wem? Elenore? Oder doch direkt zu Heidesands Assistenten? Wenn Sie diese Leute als Maßstab nehmen, dann halte ich den Weg zur unmittelbaren Besserung für ausgeschlossen.“

Unfassbar, sie hielt mich wegen diesen paar Kleinigkeiten wirklich für einen Psycho.

„Aber deshalb gleich eine Therapie?“, meinte ich langsam.

Als Delphine meine finstere Miene sah, lachte sie kurz und sah mich mitfühlend an. „Oh nein, ich wollte Sie nicht damit erschrecken. Nicht so eine Therapie. Eher eine Art … Studienrehabilitationskurs. Damit Sie die Vorstellung vom Dasein als Philosophiedetektiv endlich loslassen können und lernen, sich ganz ihrem Studium zu widmen. Ich würde dann die Therapiegruppe leiten.“

Und ich hatte gedacht, mich könnte inzwischen nichts mehr wundern. Wieder ein Irrtum.

„Gruppe?“, hakte ich benommen nach.

„Wie Sie schon sagten, es gibt gewisse Menschen an der Universität, denen würde diese Art von Hilfe ebenfalls gut tun … und als reine Weiterbildungsmaßnahme könnte das doch auch den Malern gut gefallen!“

Ich war fassungslos. Eine Therapiegruppe mit Elenore sowie dem ehemaligen Assistenten von Heidesand und den Malern unter der Leitung von Delphine Manet. Konnte es etwas Seltsameres geben?

„Luise, du wirst unseren Sitzungen auch beiwohnen“, teilte die Professorin ihrer Nichte mit. Das amüsierte Grinsen verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht. „Ich habe keine Zeit“, protestierte sie. Delphine ging nicht darauf ein und wandte sich wieder mir zu. „Sind Sie schon hinreichend von der Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugt?“, erkundigte sie sich bei mir.

„Nein“, sagte ich ehrlich. „Es ist zu früh, um die Detektivarbeit aufzugeben.“

„Dann überlegen Sie gut, was ihre sogenannte Detektivarbeit Ihnen in den letzten Monaten beschert hat. Lassen Sie alles Revue passieren und geben Sie mir dann Bescheid. Ihr Studium steht wieder einmal auf dem Spiel, vergessen Sie das nicht!“, drohte Delphine.

Mein Verhalten in besagtem Fall war in der Tat suboptimal gewesen. Um meine fehlgeschlagenen Ermittlungen der Leserschaft begreiflich zu machen, folgt nun ein Bericht über das Chaos, welches meine Zurechnungsfähigkeit in solchem Maße in Frage gestellt hat.

Das brisante Detail dabei ist: nicht ich habe diesen Bericht geschrieben. Luise hat ihn verfasst. Da ich mich gern in philosophischen Spitzfindigkeiten verliere, hat Tobi beschlossen, dass ihr Gutachten über mich sich besser eignet.

Die interessante Frage, warum die vielbeschäftigte Studentin der Klimawissenschaften Aufzeichnungen über mein Leben anfertigt, wurde mir leider bisher nicht beantwortet.1

Psychologisches Gutachten über Nikodemos Haselhuhn im Fall „Kugelfisch- Komplott“

von Luise Manet

Es ist mir bewusst, dass ich Haselhuhn nicht an den üblichen Kriterien der Normalität beurteilen kann. Seit er bei meiner Tante eingezogen ist, vergeht selten ein Tag ohne dass er Anlass zur Sorge gibt.

Er trägt meistens seltsame Vintage-Klamotten, die er wahllos mit modernen Sachen kombiniert, liest nur alte Bücher und hat eine komische Kaffee-oder-Tee-Logik nach der er entweder den ganzen Tag nur Kaffee oder nur Tee trinkt. Außerdem ist er launisch und unberechenbar: wenn eine Hausarbeit nicht gut läuft, wirft er schon mal mit Stühlen. Manchmal schweigt er tagelang und hält anschließend nicht enden wollende philosophische Reden. Spaziergänge mitten in der Nacht sind für diesen Zeitgenossen nichts Ungewöhnliches (einmal habe ich ihn schon für einen Einbrecher gehalten, weil er im Dunkeln so verdächtig durch den Garten schlich).

Gesetzt der Fall, Haselhuhn wird einmal das, was die Welt gemeinhin unter dem Begriff „Philosoph“ bewundert und ob seiner Weisheit anstaunt, ist sein Gehabe wohl ein „angemessenes Verhalten“.

Doch der imaginäre Fugu war zu exzentrisch, sogar für seine Verhältnisse.

2. März:

Haselhuhn ignoriert seine Mietschulden, indem er „Die Bohème“ von Henri Murger liest (das Buch ist so alt, dass es fast auseinanderfällt).

Er nimmt sich wohl die Protagonisten zum Vorbild. Es geht um eine Clique junger Möchtegern-Künstler im Paris des 19.Jahrhunderts. Ihnen fallen viele Tricks ein, um die Miete nicht zahlen zu müssen (und bei unerwartetem Geldsegen in dekadenten Schnickschnack zu investieren). Ich frage mich, wie lange Haselhuhn noch hier bleibt … oder hat er etwa ein Geheimnis mit meiner Tante?!

5. März:

Haselhuhn hat einen Kommilitonen (Sven) in Konstanz besucht. Dessen Mitbewohner, ein Informatikstudent aus Japan (Kazuhiko) hat ihm wohl einen Job in einem japanischen Edelrestaurant an der Schweizer Grenze empfohlen. Haselhuhn ist zuversichtlich, bald wieder die Miete zahlen zu können. Er weigert sich, bei den Vorbereitungen für eine Demonstration gegen Krieg und Umweltzerstörung teilzunehmen, die ich organisiere. Er bildet sich ein, als Philosoph einen ebenso entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Welt leisten zu können. Realitätsverlust?

7. März:

Mitten in der Nacht klopft Haselhuhn an meine Tür. Mit einer Tasse von Tantchens altem Tulsi-Tee in der Hand (er kann sich gerade weder Tee noch Kaffee leisten, deshalb trinkt er jetzt den Tee, der hier seit drei Jahren herumsteht, hält er einen Vortrag über den Fugu. Er klingt wie ein wandelnder Wikipedia-Eintrag.

Der Fugu ist ein giftiger Kugelfisch, der in Japan als Delikatesse betrachtet wird. Köch*innen brauchen eine mehrjährige Spezialausbildung um ihn zubereiten zu dürfen. Eine nachlässige Zubereitung führt nicht selten zu Todesopfern unter den Gourmets. In Deutschland ist dieses Fischgericht wohl illegal. Ich frage mich, ob diese Informationen etwas mit seinem neuen Nebenjob zu tun haben könnten.

Jedenfalls hoffe ich, dass er nicht nach Japan fliegen will, um ein Dinner für Spinner zu sich zu nehmen. Die armen Fugus wollen auch leben, außerdem ist das klimaschädlich, trägt sicherlich zur Ausrottung seltener Meerestiere bei und kann tödlich enden. Aber wer weiß ob es nicht irgendeine abgedrehte philosophische Theorie gibt, die das rechtfertigt. Die können doch mit ihren Argumenten alles so verdrehen wie es ihnen gerade passt.

Das Thema „Fugu“ war dann erst mal beendet. Stattdessen fordert Haselhuhn mich zu einem Spaziergang auf. Ich bin eigentlich nur noch wach, weil ich eine Präsentation über die Veränderungen des Weltklimas vorbereite. Aber er überzeugt mich dann doch noch, im Dunkeln durch die Gegend zu tappen.

Er nutzt dann diese kleine Nachtwanderung, um mir einen Brief von Elenore auseinanderzusetzen, den er heute erhalten hat. Sie schrieb ihm, um ihm mitzuteilen, dass sie über die Semesterferien verreist sei, ihr Handy aber absichtlich nicht mitgenommen habe. Über ihren Aufenthaltsort hatte sie keinerlei Angaben gemacht, warnte ihn aber aufgrund eines Traumes vor Fischen (Piranhas) und Touristen (in dem Traum hatte er wohl einen Job als Fremdenführer). Das war so der wesentliche Inhalt.

Haselhuhn spekuliert jetzt, ob diese Warnung etwas zu bedeuten hat. Er überlegt nämlich, ob Elenore durch ihre Träume Zugriff auf andere mögliche Welten haben könnte, die in irgendeiner Weise Rückschlüsse auf Ereignisse in unserer Welt zulassen. So weit hat sie ihn schon gebracht. Persönlich haben sie sich aber wohl schon seit Anfang der Semesterferien nicht mehr gesehen.

Was allerdings auffällig ist: sein Gerede über den Fugu und dann diese Warnung vor Fischen …

10. März:

Haselhuhn hat in den letzten Tagen tatsächlich gearbeitet. Heute hat er allerdings diese beiden Maler angeschleppt. Im Voraus hatte er mich um Geld angepumpt, um für sie Bier zu kaufen. Es ist selten für einen Philosophiestudenten, aber Haselhuhn trinkt im Alltag so gut wie nie Alkohol. Und jetzt hat er ja nur noch den abgelaufenen Tulsi-Tee, was sogar seinen üblichen tageweisen Kaffee-Tee Wechsel verhindert.

Ich lieh ihm das Geld, weil ich seine Verlässlichkeit testen wollte. Die Maler waren noch jung, etwa in seinem Alter. Als ich in einer Lernpause aus dem Fenster schaute, sah ich wie Nikodemos mit ihnen auf der Gartenbank in der Sonne saß und sie das von mir finanzierte Dosenbier tranken. Das machte mich misstrauisch.

Wieso lud er Maler zu sich ein, nur um mit ihnen Bier zu trinken? Hatte er keine anderen Freunde? Warum besuchte er nicht einfach Sven und Kazuhiko? Die Maler waren übrigens mit dem Lieferwagen von ihrem Betrieb da, sie trugen auch ihre Arbeitskleidung. Im Haus meiner Tante musste jedoch nichts gestrichen werden und Haselhuhn war hier sowieso nur ein Untermieter, der darüber hinaus kein Geld gehabt hätte, um sie zu bezahlen.

Irgendwann kamen sie ins Haus und als sie auf der Treppe standen, hörte ich den Satz „Esat ist nicht nur Berufsmaler, er ist Künstler. Überlässt du ihm deine Wand, sagen wir dir, was wir über das Restaurant wissen.“ Dann folgte nur noch Gemurmel, das von einigen Schritten auf der Treppe begleitet wurde. Daraufhin betraten sie des Haselhuhns Dachkammer.

Sie wollten also doch die Wand streichen. Und das Haselhuhn musste ihnen irgendein schwachsinniges Angebot gemacht haben, um an irgendwelche Informationen zu kommen. Hielt er die Maler etwa für Zeugen? Sie liefen noch ein paarmal auf der Treppe hin und her und holten irgendwelche Sachen aus dem Transporter. Später sah ich, wie Haselhuhn und der eine Maler sich wieder in den Garten gesetzt hatten und sich unterhielten. Der andere war verschwunden, aber ich hörte Schritte im Dachgeschoss, also war er jetzt wohl in der Dachkammer beschäftigt. Ich war kurz davor, einzuschreiten. Erst konnte dieser Untermieter die Miete nicht zahlen und jetzt überließ er irgendwelchen Malern die Wand. Andererseits – das war nicht mein Problem. Also widmete ich mich wieder meinen Studien. Irgendwann kam Delphine vom Einkaufen zurück. Haselhuhn und der Maler aus dem Garten waren inzwischen wieder ins Haus zurückgekehrt.

Delphine begegnete Haselhuhn und seinen Malern im Wohnzimmer und verwickelte sie in ein Gespräch. Ich öffnete meine Zimmertür einen Spalt breit und bekam folgende Szene mit:

„Was machen denn die Maler hier? Wir haben renoviert, kurz bevor Sie hier eingezogen sind, Nikodemos“, wurde das Haselhuhn gerade von meiner Tante befragt.

Seine Antwort war irgendein Gestammel, das sich so anhörte, wie: „Das sind Freunde von mir … wir kennen uns aus der Uni. Sie haben dort den Gang gestrichen, aber wir … zocken zusammen! Also, wir spielen Computerspiele, wissen Sie … das verbindet die unterschiedlichsten Menschen.“

Delphine kicherte. „Computerspiele, sicher doch.“

Ihre Stimmen und Schritte kamen näher, also schloss ich die Tür schnell wieder. Irgendwann hörte ich meine Tante enthusiastisch aufschreien: „Aber das ist ja ein Meisterwerk!“ Später erfuhr ich, dass das sogenannte Meisterwerk ein überdimensionaler Sokrates im Bansky-Stil ist, der jetzt die Wand in Haselhuhns Zimmer ziert. Er selbst scheint weniger zufrieden mit Esats künstlerischem Schaffen zu sein, aber meine Tante war ganz entzückt. Auf ihre Bitte hin fertigte der Maler im Wohnzimmer noch ein Orakel-von-Delphi-Graffiti an.

15. März:

Unglaublich. Haselhuhn ist gestern Abend völlig durchgedreht. Ich ordnete gerade den Inhalt meines Kleiderschranks nach Farben, als er plötzlich ohne zu klopfen in mein Zimmer kam.

Ich machte ihn darauf aufmerksam. „Anklopfen kannst du nicht mehr? Das sollte nicht zur Gewohnheit werden!“

Er antwortete mit einem melodramatischen: „Ich werde nie mehr Gewohnheiten haben!“

Übertreibung war nichts Ungewöhnliches für ihn, also fragte ich nur gelangweilt: „Von welchem Philosophen hast du das nun wieder?“

Mit seinen nächsten Worten schockte er mich dann aber doch noch: „Luise, ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe Fugu gegessen.“

Ich ließ den einzuordnenden Pulli fallen und war mit einem Satz bei ihm an der Tür. „Was? Diesen giftigen Fisch? Was machst du denn für Sachen?“, rief ich entsetzt. „Und wann hast du das gegessen?“, wollte ich wissen, als er mich nur verwirrt ansah.

„Vor einer Stunde? Zwei?“, er schien wirklich geistig neben sich zu stehen.

Also führte ich ihn die Treppe hinunter und verfrachtete ihn auf das Sofa im Wohnzimmer, bevor ich in Delphines Arbeitszimmer stürmte und ihr die Katastrophe hastig schilderte. Sie folgte mir umgehend zu unserem eingebildeten Vergifteten.

Wir fragten ihn, ob ihm schlecht sei. „Nein, ich bin nur vom Jammer des Daseins ergriffen. Egal, bald ist es vorbei“, war seine klagende Antwort.

„Muss er ins Krankenhaus?“, fragte ich Delphine. Doch davon wollte Haselhuhn nichts wissen. „Nein, die können nichts mehr für mich tun!“, jaulte er. „Wenn die Köchin wusste, was sie tat, sterbe ich gar nicht. Und wenn nicht – dann ist eh alles zu spät!“

„Warum haben Sie das nur gegessen?“, fragte meine Tante ratlos.

„Ein Detektiv darf bei der Suche nach der Wahrheit vor nichts zurückschrecken!“, erklärte er und starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke. „Aber ich darf nicht sterben, das ist viel zu früh … ich habe noch kein philosophisches System entworfen, ja noch nicht einmal ein echtes Werk verfasst. Womit habe ich in meiner müßigen Jugend nur die viele Zeit vertrödelt? Wie – wie viel Zeit habe ich noch? Einen Tag? Ich bleibe doch bei Bewusstsein, oder? Wie schnell kann man einen Essay verfassen, der die Welt verändert? Delphine, trauen Sie mir das zu? Der kürzeste und zugleich bedeutendste Essay der Philosophiegeschichte … vielleicht eröffnet mir das Gift Sphären des Wissens, die uns sonst verborgen sind? Ich merke schon, wie sich mein Bewusstsein erweitert … schnell, schnell! Man bringe mir Stift und Papier, ich muss mein philosophisches Vermächtnis machen, bevor ich nicht mehr sprechen kann. Was gibt es für Möglichkeiten? Metaphysik? Oder sollte ich besser über das Wesen des Todes philosophieren? Moment – hat nicht Montaigne einen Essay über den Tod geschrieben? Den brauche ich als Quelle, sonst ist es nicht wissenschaftlich. Los, Luise! Hol Schreibzeug!“

Haselhuhn verfiel in dieser Situation noch auf allerhand andere absurde Ideen, auf die ich hier nicht näher eingehen werde. Natürlich machten wir uns Sorgen um ihn. Aber solange er noch so viel plapperte, konnte es ihm gar nicht so schlecht gehen.

Irgendwann meinte Delphine: „Hoffen wir, dass Sie es überstehen. Es wäre bitter, wenn Sie sterben, bevor sie Grundkenntnisse in Logik erworben und die Miete gezahlt haben. Außerdem – Sie sind ein überaus netter Mensch, es wäre wirklich traurig …“

Heute lebt Nikodemos Haselhuhn jedenfalls noch und ist bester Stimmung. Ich glaube, er ist außer Gefahr.

18. März

Es ist kein Wunder, dass Haselhuhn überlebt hat. Nach langem Zögern hat er mich endlich eingeweiht. Lustig, er hatte wirklich den Anspruch „ein echter Detektiv“ zu sein. Ich meine, er ist einundzwanzig Jahre alt und dann solche Ideen!

Aber die Profs sind auch nicht besser. Erst dieser übergeschnappte Heidesand, der damit angefangen hat und dann bestärkt meine Tante ihn auch noch in dieser Idee. Die sollten lieber Mitglieder der Ethikkommission werden, dann hätten sie Arbeit! Aber so schrecken sie ja vor den größten Hirngespinsten nicht zurück. Es war zu drollig, wie er sich geziert hat, mir das mit der „Detektivausbildung“ zu verraten. Delphine hat ernsthaft von ihm verlangt, dass er es verheimlicht. Das ist also das große Geheimnis zwischen meiner Tante und ihrem studentischen Untermieter. Der „streng geheime Fall“ lief so ab:

Durch seinen Kumpel Kazuhiko, einen japanischen Gaststudenten, hatte Nikodemos Haselhuhn, der Meisterdetektiv, von dem Restaurant „Fugunt“ erfahren. Es bietet japanische Spezialitäten an. Er übernahm da irgendeinen Job als Spülhilfe. Sein sechzehnjähriger Vorgänger, der in den Schulferien und an den Wochenenden manchmal dort arbeitete, erzählte ihm eine haarsträubende Geschichte über die Köchin und den Beikoch.

Mineko Funamoto sei eine Sterneköchin aus Japan, die eine spezielle Ausbildung in der Zubereitung von Fugu habe. Ihr Kollege war dagegen bei der anspruchsvollen Zulassungsprüfung in Tokio mehrmals durchgefallen. Der Küchenjunge war ein bisschen paranoid und setzte das Gerücht in die Welt, in diesem Restaurant werde inoffiziell Fugu für besondere Gäste zubereitet.

Haselhuhn freute sich natürlich über den „Fall“ und wollte das überprüfen. Da in der Tat Mitglieder der High Society dort zu speisen pflegten, wirkte die Theorie plausibel genug, um ihr nachzugehen.

Weil Haselhuhn keine besseren Zeugen zur Hand hatte, befragte er die Maler, die gegenüber vom Restaurant eine Hauswand strichen. Sie erzählten ihm wirres Zeug, von verdächtigen Leuten, die verdächtige Autos fuhren und die sie schon außerhalb der Öffnungszeiten im Restaurant hatten ein- und ausgehen sehen. Nikodemos´ Interpretation endete damit, dass es sich um Mitglieder der japanischen Mafia Yakuza handeln musste.

Um sich Gewissheit zu verschaffen, ließ Haselhuhn heimlich ein Sashimi-Gericht mitgehen, von dem er glaubte, es handele sich um den berüchtigten Fugu. Todesmutig verspeiste er es und geriet anschließend in Panik. Das erklärt seinen Anfall vor einigen Tagen.

Wahrscheinlich eine Art Placebo-Effekt bei dem er sich die angeblichen Vergiftungserscheinungen einbildete, die Fugu auslösen kann.

Einen gewissen Effekt hat nämlich auch der korrekt zubereitete Fugu, ohne dass man deshalb gleich vergiftet ist. Aber bestimmt war es irgendein ganz gewöhnlicher Fisch und die Köchin und der Beikoch haben hier in Deutschland noch nie Fugu zubereitet.

24. März:

Eigentlich wollte der Meisterdetektiv Nikodemos Haselhuhn die Ermittlungen noch nicht kampflos aufgeben, aber ein neuer Fall hat seine Aufmerksamkeit davon abgelenkt.

Sein Kommilitone Sven war nämlich an der LSP-Klausur krank und rechnete schon mit dem Nachschreibe-Termin. Doch in der Notenliste für den ersten Termin stand seine Matrikelnummer und die Note 1,0. Das löste für ihn ein moralisches Dilemma aus, in das er Haselhuhn einweihte.

Als er die Klausur einsehen konnte, bemerkte Sven, dass sie auch noch weitgehend in seiner Handschrift verfasst war. Haselhuhn empfahl ihm, dieses „Geschenk eines anonymen Gönners“ auf jeden Fall anzunehmen und es nicht dem Fachbereich als Fehler zu melden. Er rechtfertigte es mit irgendeinem Absatz über zuerteilende Gerechtigkeit in der „Nikomachischen Ethik“ von Aristoteles.

Sven hatte noch eine seltsame prädikatenlogische Randnotiz auf der Klausur entdeckt, die nichts mit den Aufgabestellungen zu tun hatte. Er schickte Haselhuhn ein Foto.

Weil der Detektiv die Logikvorlesung bei meiner Tante immer noch nicht besucht hat, fragte er mich um Rat. Delphine hatte mir nämlich bereits in meiner frühesten Jugend einen Crashkurs in Logik gegeben, weil sie das Erklären üben wollte. Nach einigem Grübeln kamen wir darauf, dass es eine formalisierte Botschaft an Haselhuhn war, die in Prosa wohl lautete:

Wenn Nikodemos und Gregor sich im R-Gebäude treffen, dann trinken Nikodemos und Gregor Kaffee und Nikodemos und Gregor philosophieren

Diese Notiz war mit Datum und Uhrzeit versehen, die natürlich nicht zur Formel gehörten.

Dieser Gregor war also wieder unter den Lebenden und hatte für Haselhuhns Kumpel ungefragt eine Klausur geschrieben, die er mit einer verschlüsselten Botschaft für unseren Detektiv versehen hatte. Diese Leute machen es Haselhuhn aber auch wirklich nicht leicht, zur Vernunft zu kommen!

2. April:

Haselhuhn war gestern Nacht in der Uni und hat sich da mit diesem Gregor getroffen. Der hat sich inzwischen wohl umbenannt und bezeichnet sich selbst als „Phantom der Uni“. Mehr wollte Haselhuhn nicht erzählen, er wirkte ziemlich übermüdet.

29. Juli:

Elenore ist plötzlich hier aufgetaucht und hat eine Tasse Tee verlangt. Haselhuhn hat sie seit Februar nicht mehr gesehen (und sie bestimmt schrecklich vermisst). Er war völlig fassungslos über diesen Spontanbesuch. Doch sie hat fast nichts gesagt und ist ziemlich schnell wieder (durch das Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss) abgehauen, als er gerade den Tee zubereitet hat. Vielleicht störte sie meine Anwesenheit. Jedenfalls hat sie ihm eine Tarotkarte dagelassen, auf der sie einen Termin für ein Treffen notiert hat.

31. Juli:

Meine Tante hat mich gefragt, wie ich Haselhuhns psychische Verfassung einschätze. Sie hat die Story über den vermeintlichen Fugu inzwischen auch erfahren. Außerdem hat er irgendeinen wichtigen Essay vergessen, weil er zu sehr mit anderen Angelegenheiten beschäftigt war. Ich habe ihr diese Aufzeichnungen vorgelegt. Nun hat sie den Entschluss gefasst, ihm sowie den beiden anderen Irren (der Schlafwandlerin mit den prophetischen Träumen und dem selbsternannten Phantom) eine philosophische Therapie zu verpassen. Ich weiß nicht, was verrückter ist. Ihre Idee oder ihre Versuchskaninchen. Und ich soll auch teilnehmen. So eine Frechheit! Was habe ich damit zu tun? Falls ich als gutes Vorbild dienen soll, kann ich gut und gerne auf diese fragwürdige Ehre verzichten!

1 Luises Antwort: Warum ich über meinen Mitbewohner schreibe? Seine Andeutungen über Fugus waren besorgniserregend. Dementsprechend rechnete ich damit, bald eine Zeugenaussage machen zu müssen.

2 Das Phantom in der Quarterlife-Crisis

Nachdem Luise nun endlich die Schilderung meiner ermittlungstechnischen Blamage beendet hat, wird es Zeit, meine Begegnung mit dem Phantom der Universität zu beschreiben. Ich hätte diese Stelle beinahe wieder aus dem Manuskript gestrichen, weil er sich so viel auf seine Nicht-Identität einbildet. Es ist kaum auszuhalten! Schon als ich ihm noch vor der Veröffentlichung unseres ersten Buches von den Plänen meines Biografen erzählt hatte, reagierte das Phantom nämlich unbeschreiblich herablassend.

„Wirst du es lesen?“, hatte ich damals beiläufig gefragt.

„Bestimmt nicht“, hatte das Phantom lässig entgegnet. „Aber du kommst darin vor“, war meine Erwiderung gewesen.

Was die dreiste Antwort zur Folge hatte: „Ja siehst du, da haben wir das Problem. Ohne das Phantom würde es die