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Philosophie in Konstanz studieren? Eine gefährliche Angelegenheit. Kaum hat der Philosophiestudent Nikodemos Haselhuhn sein Studium begonnen, wird er auch schon zum Hauptverdächtigen in einem Mordfall. Doch für den Ersti ist keine Herausforderung zu groß, keine Frage zu schwierig - denn das selbsternannte Genie gibt freimütig zu: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Diese Einstellung ist durchaus angemessen - denn nichts ist, wie es scheint!
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2020
It is what you read when you don´t have to that determines what you will be when you can´t help itOscar Wilde
Prolog: Ein Geständnis?
Kapitel 1: Die Nichte meiner Vermieterin
Kapitel 2: Menschen an der Universität
Kapitel 3: Eine unheimliche Vorlesung
Kapitel 4: Elenores Traum
Kapitel 5: Warum Philosophie?
Kapitel 6: Philosophy Slam mit Schierlingsbecher
Kapitel 7: Schlechte Neuigkeiten und zweifelhafte Theorien
Kapitel 8: Wer war es - und wenn ja, wie viele?
Kapitel 9: Fall gelöst?!
Kapitel 10: Neue Berufsaussichten für Philosophen
Epilog
Fragen zum Philosophieren
Thema 1: Mord und andere Verbrechen
Thema 2: Berufsfindung und soziales Leben
Thema 3: Die Zukunft
Thema 4: Die Realität
Der Sturm peitschte über den See und wühlte die dunkle Oberfläche zu nervösen Wellen auf, die Nikodemos´ erfundenes Geständnis mit lautem Brausen durcheinander warfen. Einem irren Impuls folgend beugte er sich vor, um eines der Blätter, die er gerade ins Wasser geworfen hatte, zurückzuholen.
Es handelte sich um die Einleitung, die nun beinahe in seine Reichweite gespült wurde:
Geständnis von Nikodemos Haselhuhn:
Ich sitze in der Bibliothek und habe fast fünf Stunden Zeit, einen Mord zu gestehen, den ich nicht begaben habe. Schriftlich. Wäre ich der Meinung, dass ich tatsächlich in irgendeiner Weise an diesem Verbrechen Schuld sein könnte, hätte ich das wohl längst der Polizei gestanden – egal was Sie darüber denken.
Ich war sogar schon kurz davor zu glauben, es wäre tatsächlich meine Schuld (wenn auch nicht meine Absicht) gewesen, dass das Opfer das Zeitliche gesegnet hat. Allerdings sind wir nicht in einem Philosophieseminar. Und wenn wir alle absurden Möglichkeiten, wie ich unwissentlich einen Mord hätte begehen sollen, ausschließen, dann bin ich unschuldig.
Deshalb sehe ich nicht ein, warum ich das alles gestehen soll. Ach, da war doch was!
Also: wenn ich Ihnen jetzt eine Geschichte auftische, warum ich den Mord angeblich begangen habe, werden Sie „ein gutes Wort bei der Polizei für mich einlegen“, aus welchen (nicht besonders glaubwürdigen) Gründen auch immer. Wenn ich nicht gestehe, beschuldigen Sie mich – und ich lande womöglich unschuldig im Gefängnis.
Ich könnte jetzt meine subjektiven Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen denkbaren Weltzustände überlegen, die meine Entscheidung womöglich herbeiführen könnte.
Aber das ist Zeitverschwendung. Es kann so oder so anders kommen, als ich vermute.
Also, weil Sie darauf bestehen, hier ist meine Geschichte …
Bei dem Versuch, den Zettel aus dem See zu fischen, hatte sich Nikodemos zu weit vorgebeugt. Die Gischt spritzte ihm bereits ins Gesicht, und er hätte sicherlich im nächsten Moment das Gleichgewicht verloren, wenn ihn nicht im letzten Moment jemand am Arm gepackt und zurückgezerrt hätte.
Wie in Trance wandte er sich um. „Luise?“, fragte er kaum hörbar, mit einer Spur Unwillen in der Stimme. Er konnte ihr plötzliches Erscheinen nicht als logische Folge der Geschehnisse hinnehmen, die sich in den letzten Stunden ereignet hatten. Sie störte auf sonderbare Weise den Ablauf seines Dramas.
Luise erschrak über sein blasses Gesicht, den gequälten Ausdruck, die dunklen Ringe unter seinen Augen. Sie erkannte den exzentrischen Untermieter ihrer Tante kaum wieder. Sein sonst so vorwitziger Gesichtsausdruck war verschwunden, er schien sich mit letzter Kraft durchs Leben zu schleppen. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Eine unbestimmte Ahnung riet ihr davon ab, ihn jetzt zu provozieren. Sie schob ihre Neigung für ruppige Sprüche beiseite und fragte schlicht und einfach: „Alles in Ordnung?“, ohne ein „Haselhuhn“ hinter die Frage zu setzen. Wäre der Himmel nicht so grau, die Wellen nicht so wild, der Sturm nicht so unerbittlich und Nikodemos´ Gesichtsausdruck nicht so elend gewesen – sie hätte sicher gefragt: „Alles in Ordnung, Haselhuhn?“
Und wäre ein ganz normaler Tag gewesen, hätte sie sich gar nicht nach seinem Befinden erkundigt, sondern einfach gefragt, ob er gerade die Absicht verfolgt hätte, die Fische mit seiner Seminararbeit zu füttern und anschließend vor lauter Verzweiflung hinterher zu springen. Sie wusste nicht, was das für Blätter waren, die jetzt im See schwammen. Aber da Nikodemos bei dem Versuch, sie wieder zu bekommen, fast ins Wasser gefallen wäre, ging sie davon aus, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste – eine Seminararbeit zum Beispiel.
Er sah sie geistesabwesend an und kalkulierte rasch, ob es klug wäre, ihr von der ganzen Sache zu erzählen. Dabei wurde er sich schmerzlich bewusst, dass er keine Vertrauensperson hatte. Außer Elenore … und die war nicht objektiv. Schwebte in anderen Sphären. Würde ihn nicht mit gesundem Menschenverstand beraten können. Luise dagegen war vernünftig, pragmatisch, und behandelte ihn gerne mit Herablassung. Und das Beste war: Sie war eine ausgesprochene Feindin der Philosophie im Allgemeinen und einiger Philosophen im Speziellen. Sie würde sich bestimmt nicht auf die Verrücktheiten einlassen, die ihm der Professor und Elenore einreden wollten. Und sie war auch nicht wie ihre Tante.
Deshalb sammelte er all sein schauspielerisches Talent und antwortete mit einem ergreifenden und mitleiderregenden: „Nee.“
„Also, ich möchte nicht den ganzen Nachmittag hier rumstehen, es fängt jetzt auch noch an zu regnen. Ich gehe jetzt in ein Café und sehe dir an, dass es besser für dich wäre, mir zu folgen. Hast du heute Kaffee- oder Teetag?“
„Tee. Heute ist wieder Mate dran“, sagte Nikodemos dankbar für diesen einfachen und alltäglichen Vorschlag. Um sein Geständnis im See machte er sich keine großen Sorgen mehr. Das Papier wäre bald so durchnässt, dass man dann sowieso nichts mehr lesen konnte - und wer sollte es schon herausfischen? Selbst wenn, das Geständnis war frei erfunden, das kündigte er in der Einleitung bereits an.
Und auch wenn jemand für einen Moment auf die Idee kommen sollte, es doch für ein echtes Geständnis zu halten – sein Name würde ihn letztlich vom Gegenteil überzeugen. Kaum jemand hatte einen so unglaubwürdigen Namen wie Nikodemos Haselhuhn. Wer würde denken, dass es sich hierbei um eine lebendige Person handelte - und nicht um den Protagonisten einer Kurzgeschichte von irgendeinem Hobbyautor, der versucht hatte, einen Krimi zu schreiben?
Nikodemos schaute konzentriert auf den Dampf, der aus seiner Teetasse aufstieg. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Er hatte überlegt, Luise zu fragen, ob sie ihn für einen guten Menschen hielt. Diese Idee verwarf er schnell wieder. Auch gute Menschen konnten böse Dinge tun. Dann war er versucht gewesen, sie vor der unglaublichen Geschichte zu warnen, die sie gleich zu hören bekommen würde, nach dem Motto „unglaublich, aber wahr!“. Doch er war nicht auf Sensationen aus, denn schließlich war er selbst in unangenehme Weise in die Sache verwickelt.
Deshalb nahm er den Teelöffel, rührte ein paarmal bedächtig um, und sagte: „Es ist kompliziert.“
Luise warf den guten Vorsatz, behutsam mit ihm umzugehen, über Bord. Sie verdrehte die Augen und schnaubte vorwurfsvoll: „Was anderes hätte ich auch nicht erwartet. Bei euch ist alles kompliziert. Erzähle mir einmal, wie einfach das Leben ist - und ich werde ein neues Menschenbild von Leuten wie dir entwickeln. Aber so ist das nichts Neues. Was ist denn kompliziert? Hoffentlich nicht deine Beziehungsprobleme oder irgendwelche Familienangelegenheiten. Ich bin schließlich nicht deine Psychotherapeutin.“
„Nein, nein … es hat mit Philosophie zu tun. Mehr oder weniger.“
„Dann lass´ dir gesagt sein: wenn dir dein Studienfach zu kompliziert ist, dann hast du wohl das Falsche gewählt. Du musst jeden Tag über weltfremde und komplizierte Dinge nachdenken!“
„Hm … das Problem liegt jedoch eher in der Praxis als in der Theorie.“
„Ein kompliziertes philosophisches Problem aus der Praxis … du hast deine Seminararbeit in den See geworfen. Das ist es, oder?“
„Nein, mein Geständnis.“
„Ach. Und wen hast du auf dem Gewissen?“
„Das ist ja das Problem. Meiner Meinung nach niemanden. Aber meine Meinung scheint hier nicht relevant zu sein. Also stehe ich unter Mordverdacht.“
„Was? Du? Wer wurde denn umgebracht?“
„Das ist geheim.“
„Also weißt du doch was ...“
„Zufällig ja. Es sei denn, es gibt keinen Zufall, weil der Determinismus über den Verlauf des Weltgeschehens entscheidet, dann eben deterministisch ja. Oder wir werden doch vom Schicksal geleitet, dann – jedenfalls war ich zu einer Zeit an einem Ort, wo ich besser nicht gewesen wäre ...“
„Im Klartext?“
„Mir wurde abgenötigt darüber zu schweigen. Du weißt, dass du nichts weißt, okay?!“
„Ich weiß, dass ich keine Mitwisserin von einem geheimen Mord werden will, und deshalb im Namen der Gerechtigkeit Aussagen darüber machen müsste.“
„Wie definierst du Gerechtigkeit?“
„So, dass ich mich nicht davon beirren lassen werde, dass du oberflächlich betrachtet ein netter Kerl bist, der gern kluge Sprüche macht. Du könntest dennoch ein Verbrecher sein. Egal welche Motive du gehabt haben solltest, Strafe muss sein.“
„Also mal angenommen … dass ich nun wirklich jemanden ermordet habe. Vielleicht geschah es ja sogar mit einem edlen Motiv, da das nämlich Opfer ein fürchterlicher Tyrann war. Es ist offenkundig, dass ich in meinem Leben kein weiteres Verbrechen mehr begehen würde, da ich die Tat schon längst bereue. Dennoch werde ich zu einer unverhältnismäßig langen Gefängnisstrafe unter schrecklichen Haftbedingungen verurteilt, während der mich meine Mitgefangenen endgültig zu einem Verbrecher machen wollen. Und das geschieht, sagen wir, während zur gleichen Zeit ein Mafia-Boss, so ein ganz brutaler Kerl, straflos davon kommt, nur weil er die richtigen Kontakte hat und alle von ihm eingeschüchtert werden - würdest du es dann gerecht finden, mich so einem ungerechten Strafvollzugssystem auszuliefern und das, obwohl wir Freunde sind?“
„Haselhuhn! Du redest wie im Wahn. Und deine Argumente waren auch schon besser. Das waren nicht einmal richtige Argumente! Ich muss heute noch meiner Tante helfen, also mach´s gut ...“
„Hey, Luise, warte! Und wobei musst du ihr helfen?“
„Hm, bei irgendetwas braucht sie bestimmt Hilfe. Vielleicht ist der Computer wieder abgestürzt. Okay, Nikodemos Haselhuhn – ich warte. Aber nur, wenn du mir jetzt Fakten mitteilst. Was ist passiert? Du bist kein Mörder, so viel weiß ich. Aber du willst Philosoph werden - und genau das ist dein Problem! Du könntest mich jetzt zwei Stunden mit der hypothetischen Annahme zutexten, was passiert wäre, wenn du diesen Mord wirklich begangen hättest, und mit viel Glück eine neue Definition von Gerechtigkeit finden. Aber weißt du was – es interessiert mich nicht! Ich bin gerne bereit, mich mit dem in eine Notlage geratenen Studenten Haselhuhn zu unterhalten. Aber nicht mit dem schwadronierenden Philosophiestudenten Haselhuhn, der diese Situation bis auf den Grund auskosten will.“
„Du meinst, es macht mir Spaß?“
„Ja, du kokettierst damit: `Wenn ich ein Mörder wäre` … du solltest dich mal hören. Aber deine Miene spricht eine andere Sprache. Du siehst echt übel aus. Deshalb sitzen wir jetzt hier und trinken Tee. Meinst du etwa, ich hätte das unter normalen Umständen auch vorgeschlagen?“
Nikodemos sackte in sich zusammen. Er hatte versucht, sich mit absurden Vorstellungen abzulenken … ein nettes Gedankenexperiment zur Aufmunterung. Aber Luise brachte ihn schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurück. Darin war sie meisterhaft. Und hatte er nicht genau das gewollt? Mit einer vernünftigen Person reden, die Wahrheit finden? Aber es war schwierig. Wo anfangen?
„Luise, ich glaube das wird hier nichts. Ich brauche Bedenkzeit. Können wir nach Hause? Ich fühle mich beobachtet. Auf der anderen Seeseite habe ich mehr Abstand zu … allem.“
Luise nickte. Sie tranken schweigend ihren Tee, warteten, bis die nächste Fähre nach Meersburg kam, und rannten dann durch das Unwetter hindurch an Bord. Als sie sich setzen wollten, hielt Nikodemos mit verklärtem Blick in seiner Bewegung inne und wandte Luise ruckartig den Kopf zu. „Bezahlt haben wir den Tee?“, fragte er alarmiert.
„Haselhuhn! Auf Ideen kommst du! Ja. Schon als wir bestellt haben.“
„Oh. Gut.“
Sein Blick und seine Gedanken schweiften im nächsten Moment wieder ab. Nikodemos schaute auf den stürmischen Bodensee und erinnerte sich an den Anfang dieses Semesters. Das schien schon eine Ewigkeit zurück zu liegen. Viele Szenen zogen vor seinem inneren Auge vorbei, doch er fühlte sich wie ein unbeteiligter Zuschauer. Sein erster Tag in Konstanz, der Umzug zu Delphine und Luise, einige Vorlesungen, vor allem die von Professor Heidesand, die ungewöhnlichen Begegnungen mit Elenore, der Philosophy Slam …
„Du meinst also, dass Delphine dich besser beraten wird?“, fragte Luise und erhob sich.
Waren sie etwa schon da?
„Nein … ich weiß noch gar nicht, ob ich sie überhaupt frage. Ich will nicht, dass sich die Angelegenheit unter den Profs herumspricht. Und von einer Professorin kann ich wohl kaum verlangen, dass sie für mich schweigt, oder?“
„Meine Tante ist aber nicht irgendeine Professorin ...“
„Ich weiß. Mal sehen. Vielleicht erzähle ich auch euch beiden gleichzeitig, was passiert ist. Aber du bist vorhin so plötzlich aufgetaucht. Unmittelbar davor saß ich vier Stunden in der Bib und habe mir ein Geständnis ausgedacht. Ich war geistig noch auf der Hinterbühne, und da kommst du angelaufen, und zerrst mich auf die Vorderbühne, wie die Soziologen sagen würden. Ich hätte in dem Zustand nichts Sinnvolles von mir geben können.“
„Tust du das jemals?“
„Wenn du so fragst – kennt denn irgendwer den Sinn des Lebens? Und wenn nicht, wer kann sich dann anmaßen, anderen jemals etwas Sinnvolles mitteilen zu wollen?“
„Wir sind jetzt da. Aber falls das keinen Sinn für dich macht, kannst du gern noch länger an Bord bleiben und über meine Worte nachdenken, bis die Fähre wieder losfährt. Den ganzen Tag hin und her fahren, um über den Sinn des Lebens nachzudenken, wäre das nicht was für dich? Und das Sintflut-Feeling ist inklusive bei dem Wetter.“
Nikodemos schüttelte lachend den Kopf und bedeutete Luise, die Fähre zu verlassen. Eine Spur der für ihn typischen Heiterkeit war auf sein Gesicht zurück gekehrt.
Als sie durch den Regen zum Bus liefen, lachte er immer noch. Und als sie merkten, dass sie den Bus verpasst hatten, sah er Luise treuherzig an und meinte: „Ich liebe deine sarkastischen Sprüche! Sah ich vorher wirklich so übel aus? Du hast versucht, mich zu verschonen, stimmt´s? Du hast gefragt, wie es mir geht. Und vorgeschlagen, dass wir einen Tee trinken! Es muss schlimm um mich stehen. Aber jetzt verschonst du mich zum Glück nicht mehr. Das ist gut.“
„Was dir alles auffällt … aber dass es wie aus Kübeln schüttet, scheinst du nicht zu merken, was?“ Luise sah ihn verdrießlich an. Ihre kurzen Haare waren inzwischen völlig durchnässt, mit Nikodemos chaotischer Anti-Frisur sah es nicht besser aus. Auch von seinem altmodischen Mantel tropfte das Wasser.
„Wir laufen“, entschied er. Luise schüttelte entgeistert den Kopf. „Ein kleines Stück“, ergänzte er und schlenderte gemächlich los.
Luise folgte ihm nicht, sondern stellte sich unter das Dach des Bushaltestellenhäuschens.
Nach zweihundert Metern blieb Nikodemos plötzlich am Rand des Gehwegs stehen und streckte seinen Daumen in die Höhe. Nach zwei Minuten hielt tatsächlich ein Fahrzeug. Es war ein Kleintransporter. Nikodemos diskutierte irgendetwas mit dem Fahrer und machte dann tatsächlich Anstalten einzusteigen.
Luise sprang auf. Falls er gerade entführt wurde, wollte sie nichts verpassen. Sie trabte zu der offenen Tür, wo sie entschied, dass es sich wohl doch nicht um eine Entführung handelte. Der Fahrer jedenfalls wirkte eher wie ein freundlicher Opa als wie ein skrupelloser Verbrecher. Also quetschte sie sich neben Nikodemos auf den Sitz und schlug geräuschvoll die Wagentür zu.
„Soll das ein Witz sein?“, fragte der Fahrer gerade.
Nikodemos musste ihn mit irgendetwas verstört haben.
„Nein, er hat keinen Humor“, bemerkte Luise trocken. „Was auch immer er Ihnen gerade gesagt hat, es ist wirklich so seltsam, wie es sich anhört.“
Der Fahrer setzte den Transporter in Bewegung und verzog ungläubig das Gesicht. „In fünf Minuten soll ich Sie schon absetzen?“
„Wir sind schon sehr lange unterwegs!“, versicherte ihm Nikodemos. „Das letzte Stück zu unserer … äh … Herberge wollten wir laufen, aber plötzlich fing es an zu regnen. Und wir hatten kein Geld für den Bus.“
„Und woher kommen Sie?“, fragte er Fahrer bereits verständnisvoller als zuvor.
„Ähh … schwer zu sagen, von überall!“, winkte Nikodemos ab. „Und da sind wir ja auch schon! Vielen Dank fürs Mitnehmen!“
Als Delphine Manet die Tür öffnete, sah sie nicht zwei junge, dynamische Studierende vor sich, sondern jämmerliche und völlig durchnässte Gestalten.
Luise war nur solange froh, zu Hause zu sein, bis ihr auffiel, dass Delphines Haus mindestens so verraucht war wie ein Amsterdamer Coffeeshop, und leider auch entsprechend roch. Drinnen waren Stimmengewirr und Gelächter zu hören. Jemand spielte am Klavier und sang falsch. Mit den Worten: „Ach Mist, das Jährliche! Ausgerechnet heute“, schlug Luise eilig die Tür wieder zu. Sie und Nikodemos standen immer noch draußen auf der Schwelle. Er sah sie verdutzt an.
„Was war das jetzt?“, fragte er.
Doch bevor Luise antworten konnte, öffnete sich die Tür wieder. Delphine war ganz in Schwarz gekleidet und trug ihre langen, silbergrauen Haare ausnahmsweise nicht zu dem typischen unordentlichen Dutt hochgesteckt, sondern offen. Sie linste verwirrt über den Rand ihrer filigranen Brille und grinste seltsam.
„Nikodemos! Was für eine Überraschung! Kommen Sie herein. Hier sind ein paar Leute, die Sie kennenlernen sollten, wenn Sie sich ernsthaft für Philosophie interessieren. Heute ist nämlich mein Existenzialisten- und Anarchisten-Treffen. Das heißt, meine Gäste sind oder waren nicht unbedingt beides gleichzeitig, aber im Studium in Paris habe ich damals völlig verschiedene Intellektuelle getroffen! Philosophen, Künstler … wir haben gerade darüber diskutiert, welche Rolle die ´Dialektik der Aufklärung´ in der heutigen Zeit noch spielt, aber dann sind wir vom Thema abgekommen und haben über Mondereignisse gesprochen. Ist der Mond heute eigentlich schon aufgegangen? Wie spät ist es denn?“
„Tantchen!“, unterbrach Luise den Redeschwall ihrer Tante. „Ihr qualmt ja die ganze Nachbarschaft voll. Ich will keine Razzia im Haus haben.“
Delphine schüttelte energisch den Kopf. „Was hat denn bitte die Polizei hier zu suchen? Die Nachbarn sind okay. Da wäre es schon ein großer Zufall, wenn heute die Beamten Streife fahren.“
„Vielleicht wollen sie ja Nikodemos verhaften“, entgegnete Luise bissig.
Delphine sah ihn ungläubig an. „Was haben Sie denn verbrochen? Ein Buch nicht wieder in der Bibliothek abgegeben? Aber ja … Sie sehen fürchterlich aus. Trinken Sie doch ein Gläschen mit uns, vielleicht können Sie etwas interessantes zum Gespräch beisteuern und wir muntern Sie auf.“
„Später vielleicht. Wenn die unmöglichen Individuen weg sind“, maulte Luise, packte Nikodemos am Arm und rannte plötzlich los. Er stolperte perplex hinter ihr her, sie zerrte ihn durch den Garten zur Kellertür. Dann betraten sie den Keller.
„Was soll das?“, keuchte er verständnislos.
Luise sah ihn aus ihren klaren Augen ernst an. „Sie hat heute ihr Jahrestreffen mit ihren alten Kommilitonen und anderen seltsamen Leuten. Das eskaliert jedes Jahr, ein ziemliches Desaster. Hatte ich völlig vergessen, dass es heute ist. Alle völlig gestört, kann ich dir sagen. Geh´ schnell hoch in dein Zimmer, ich ziehe mich noch um und komme dann nach.“
„Wieso willst du mich von den interessanten Leuten fernhalten?“, fragte Nikodemos eingeschnappt. „Weil du Erholung brauchst und denen auf keinen Fall von dem Verbrechen erzählen darfst. Die werden sich auf deine Geschichte stürzen wie Aasgeier.“
„Ach was, du übertreibst bestimmt maßlos. Mit Delphine komme ich auch besser klar, als du es für möglich halten würdest.“
„Ja, aber du hast sie noch nie high erlebt. Das spart sie sich immer fürs Jährliche auf. Und falls es dir immer noch nicht klar ist – es kriegen mich keine hundert Haselhühner zu denen an den Tisch. Sie oder ich! Entscheide!“
Nikodemos versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und lächelte sanftmütig. „Gut, dann treffen wir uns in ein paar Minuten in meinem Zimmer. Aber wenn du mir nicht weiterhelfen kannst, frage ich die Philosophen!“
Als Luise Nikodemos´ Dachkammer betrat, lag er auf dem Bett und schien eingeschlafen zu sein. Er trug jetzt ein T-Shirt und Jogginghosen, sah also beinahe wie ein normaler Mensch des 21. Jahrhunderts aus. Jedenfalls hätte man bei diesem Anblick nicht vermutet, dass er in der Uni meistens in einem kuriosen, aber schicken alten Detektivmantel herumlief und Mafiaschuhe dazu trug. Sie überlegte, ob sie ihn überhaupt wecken sollte. Er hatte schließlich einiges durchgemacht. Jedenfalls, wenn er sich nicht in den undurchschaubaren Urwald der maßlosen Übertreibungen begeben hatte. Luise wusste sehr wohl, dass Nikodemos nie beabsichtigt hatte, sich ihr anzuvertrauen. Es wäre ihm beinahe nichts anderes übrig geblieben – aber hatte er nicht alles getan, um dieses Gespräch zu verhindern? Sie hätten auf den Bus warten müssen, aber er hatte ihnen eine Gelegenheit besorgt, zu trampen! Das tat doch nur jemand, der nicht reden wollte. Weil er etwas zu verbergen hatte. Ihre stark ausgeprägte Neugier besiegte den Bruchteil an Taktgefühl, den sie besaß, und Luise brüllte: „Aufwachen, Haselhuhn!“
Nikodemos schreckte hoch und wäre beinahe aus dem Bett gefallen. „Das nennt man wohl Sekundenschlaf“, brummte er vor sich ihn, während er sich widerwillig aufrappelte. „Ich war auf einmal so wahnsinnig müde ...“Er sah Luise zerstreut an und machte eine vage Geste mit der Hand. „Setz´ dich irgendwo hin.“
Auf seinem Schreibtischstuhl stapelten sich die Bücher, über der Lehne hingen verschiedene Kleidungsstücke. Luise nahm den Bücherstapel und stellte ihn auf den ohnehin schon überladenen Schreibtisch. Das oberste Buch erregte ihre Aufmerksamkeit. „Schuld und Sühne? Dein Ernst? In deiner Situation?“, fragte sie, und bedachte Nikodemos mit einem prüfenden Blick.
Er antwortete mit einem zynischen Lächeln. „Vermutlich hat damit alles angefangen.“
Ein Schauer lief Luise über den Rücken. Bis jetzt war sie hin- und hergerissen gewesen, ob sie diesem durchgedrehten Philosophiestudenten seine Geschichte sowieso nicht glauben sollte oder ob sie doch bereit sein sollte, keine Zweifel an seinen Behauptungen zu hegen. Was, wenn er tatsächlich verdächtigt wurde – aber nicht zu Unrecht? Der Gedanke, dass Nikodemos ein Verbrechen begangen haben könnte, war ihr bis zu diesem Moment seltsam fremd gewesen. Die Vorstellung störte sie. Er war nicht der Typ dafür. Er sah eher jünger aus als einundzwanzig, wirkte freundlich und harmlos. Normalerweise. Wie er sie nun so düster ansah, mit diesem undefinierbarer Gesichtsausdruck und den wirren Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht hingen … Auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher, was ihm zuzutrauen war. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass auch Menschen zum Täter werden konnten, denen man dies niemals zugetraut hätte. Warum nicht Nikodemos? Sie kannte ihn nicht einmal besonders gut. Und in dem Buch von Dostojewski, das auf seinem Schreibtisch lag, ging es schließlich um einen Mörder. Der berühmteste Mörder der Literaturgeschichte war ein junger, ehemaliger Student …
Wichtige Information: Der Biograf kündigt!
Wahrscheinlich hat sie dieses Buch nie gelesen, sondern Delphine hat ihr davon erzählt, um sie zur Lektüre zu überreden.
Deshalb wusste Luise vielleicht so ungefähr, was darin vorkommt.