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Abwägen und Anwenden E-Book

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Beschreibung

Die sogenannte Angewandte Ethik erfährt seit Jahrzehnten einen beachtlichen Aufschwung. Ihr Anspruch ist, in konkreten moralischen Problemstellungen einen Beitrag zur Orientierung zu leisten. Dass Ethik einen Bestand an Normen und Prinzipien auf reale Probleme in der Welt "anwendet", ist freilich zu einfach gedacht. Denn weder die Problemformulierung noch die einschlägigen moralischen Normen können ohne Weiteres als begründet oder stets akzeptiert vorausgesetzt werden. In diesem Band werden Grundfragen der "Anwendung" in der Ethik kritisch reflektiert. In der Rechtsprechung ist die Anwendung von Normen zwar gut etablierte Praxis, neue Entwicklungen verlangen aber eine erneuerte methodologische Auseinandersetzung. In der Medizin und dem Bereich der Bildung lassen sich Fragen der ethischen Bewertung jenseits der "Anwendung" finden. Hier kommt abwägendes Denken über Normen und Werte ins Spiel, das unterschiedliche Wege ethischer Reflexion aufzeigt. Dieser Band trägt dazu bei, ethisches Erwägen konzeptionell und praktisch weiterzudenken und Bedingungen ,guter' Abwägung zu erkunden.

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast

Abwägen und Anwenden

Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0079-9

Inhalt

Uta Müller / Philipp ...EinleitungLiteraturI. Konzepte und MethodologienAbwägen als Moment klugen HandelnsLiteraturDie Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik – eine Positionsbestimmung in klugheitsethisch-topischer Perspektive1. Reflexivität und Ergebnisoffenheit – das Problem abschließender Antworten2. Der Topos vom „ungelösten Theorienpluralismus in der normativen Ethik“ – das Problem einer Ethik vor der Ethik3. „Bereichsspezifische Moral- und Ethikgeschichten“ – Probleme der Bereichsethik-Konzeption4. „Das Allgemeine und das Besondere“ – Probleme einer Modellierung des angewandten ethischen Urteils (nach Hegel)5. Anwendung als „Urteilskraft + X“? Das Problem normativer Ansprüche6. Perspektive eines Ausweges? Nicht „Anwenden“, sondern klugheitsethisch-topisch ArgumentierenLiteraturDas Problem der epistemisch-evaluativen Abwägung bei Entscheidungen unter Unsicherheit1. Einleitung2. Teleologische und deontologische Prinzipien3. Situationen unter Unsicherheit4. Deontologische Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit5. Teleologische Prinzipien für Entscheidungen unter Unsicherheit6. Fazit und ForschungsperspektivenLiteraturZur Rolle von Vorstellungen des Guten in der Angewandten Ethik – der gesellschaftliche Diskurs um biologische Altersforschung als BeispielEinleitungFallbeispiel: Das Altern abschaffen?„Für immer jung?“ – ein Beispiel für die Thematisierung von Biogerontologie in den MedienAngewandte Ethik als Mahnerin und Bremserin?Vorstellungen des Guten in der EthikAltern als integraler Bestandteil eines ganzen menschlichen LebensIndividuelle und gesellschaftliche Vorstellungen des GutenFazitLiteraturII. Ethik, Recht, Medizin„Wenig, weniger, zu wenig“: Minimalstandards als ‚Abkürzung‘ im Abwägungsprozess1. Ansatzpunkte einer allgemeinen Typologie normativer Minimalstandards2. Schwellenwerte des Existenzminimums: „absolut“, „relativ“ – oder beides?Der Capability Approach: „functionings“, „capabilities“ und „freedom“Fähigkeiten und Schwellenwerte eines menschenwürdigen Lebens nach Martha C. Nussbaum3. AusblickLiteraturAnwendung und Abwägung bei der Bestimmung des maßgeblichen RechtsI. Besonderheiten der Abwägung und im Internationalen PrivatrechtII. Die grundsätzliche Bestimmung des maßgeblichen RechtsIII. Die Ausweichklausel als AusnahmeIV. Nichtanwendung des fremden RechtsV. ZusammenfassungLiteraturWie Explikation ethische Abwägungsprozesse beeinflusst: Moralpsychologische ForschungsfragenEthisches Abwägen in der beruflichen PraxisPrinzipienethikEthische ExplikationPsychologische BefundeForschungsfragenPragmatische ImplikationenLiteraturIII. Bildung und AusbildungZur Abwägung befähigen: Kompetenzorientierte Vermittlung ethischer Werte und Normen in der WeiterbildungEinleitungWas ist ethische Kompetenz?Was zeichnet kompetenzorientierte Weiterbildungen aus?Wie lässt sich ethische Kompetenz vermitteln?Perspektiven für die WeiterbildungFazitLiteraturDie Rolle ethischer Abwägung in der Sozialen Arbeit: Überlegungen zur beruflichen Weiterbildung in sozialen Organisationen1. Einleitung2. Vorüberlegungen zu ethischen Abwägungsprozessen3. Strukturmerkmale, Spannungsfelder und Herausforderungen in der Sozialen Arbeit4. Ausblick: Der Beitrag wissenschaftlicher WeiterbildungLiteraturMoralische Kompetenz und Medizinethikausbildung im MedizinstudiumZiele und Realität medizinethischer AusbildungBegründung und Rechtfertigung in der EthikPotenzielle Auswirkungen von unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien und Formen des Schlussfolgerns auf Ergebnisse des MedizinethikunterrichtsFazitLiteraturKurzbiographien der Autoren und Autorinnen

Einleitung

Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast

Seit den 1960er Jahren hat die sog. „Angewandte Ethik“ einen beachtlichen Aufschwung erfahren und sich in Form verschiedener Bereichsethiken wie Umwelt‑, Bio-, Medizin- und Wirtschaftsethik etc. institutionalisiert (Steigleder/Mieth 1991). Das Projekt einer „Angewandten Ethik“ oder „Ethik in den Wissenschaften“ ist dabei mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, dass sie bei konkreten und offenen Problemstellungen, z.B. bei Moralfragen in Wissenschaft und Technik, einen methodisch gesicherten Beitrag zur gesellschaftlichen Orientierung leisten kann (Düwell 2000). Dass diese methodische Basis allerdings keineswegs einfach ist und sich für die anwendungsbezogene Ethik insbesondere die Frage stellt, wie sich allgemeine Normen und Werte überhaupt auf konkrete Problemstellungen beziehen lassen, zeigt sich allein schon an der (unabgeschlossenen) Suche nach ihrer angemessenen Bezeichnung (Düwell 2011). Der auch durch Handbücher und Lexika-Einträge etablierte Begriff einer Angewandten Ethik (Nida-Rümelin 2005) scheint, so die Kritik, eine allzu einfache Konzeption von „Anwenden“ einer Theorie nahezulegen, bei der die Rationalität der Übergänge zwischen den Aussagen von verschiedenen Allgemeinheitsgraden letztlich unklar bleibt und zugleich das jeweils Besondere des konkreten Einzelfalls zu verschwinden droht. Eine zu einfache, subsumtive Konzeption von Anwendung verstellt jedoch nicht nur die konzeptionellen Probleme, mit denen das Projekt einer Konkretisierung philosophischer Ethik in spezifischen Fallfragen zu konfrontieren wäre. Vielmehr besteht auch die Gefahr, dass theoretische Überlegungen der Ethik sich „unter Anwendungsdruck“ an der sozialen Erwünschtheit ihrer Ergebnisse orientieren könnten, und so keine philosophisch-ethische Klärung leisten, sondern lediglich spezifische Vorstellungen der herrschenden Moral „rationalisieren“ und reproduzieren würden. Eine reflexive Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ scheint daher erforderlich, nicht zuletzt um auch die zweifellos sachlich ergiebigen Forschungsprojekte, die unter dem Titel „Angewandte Ethik“ durchgeführt werden und wurden, hinsichtlich ihrer methodischen Basis weiterzuentwickeln.

Dass nun die langjährigen Diskussionen um eine „Anwendung“ ethischer Theorie bislang noch nicht im Sinne einer konzeptionellen Klärung entscheidend vorangekommen sind, kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden: Erstens werden häufig ganz verschiedene Fragestellungen und interdisziplinäre Problemfelder unter dem Begriff der „Anwendung“ zusammengefasst. So kann zum Beispiel bereits die Frage „Wie kommt die Erkenntnis allgemeingültiger, theoretisch begründeter Normen im Einzelfall zur Anwendung?“ empirisch-psychologisch, pädagogisch-didaktisch, sozialwissenschaftlich oder normativ philosophisch, rechtswissenschaftlich oder theologisch untersucht und durch entsprechend disziplinäre Theoriebildung unterschiedlich beantwortet werden. Zweitens hat die starke Ausdifferenzierung der sog. Angewandten Ethik dazu geführt, dass in den verschiedenen Bereichsethiken eine Vielzahl von spezifischen Untersuchungsergebnissen und Urteilsbildungsmodellen entwickelt wurde, die den Anforderungen der jeweiligen Praxisfelder wohl genügt, aber nicht mehr übergreifend methodologisch diskutiert wird. Hier fehlt bislang eine Zusammenführung der einzelnen ethischen Diskurse unter eine gemeinsame, philosophisch reflexive Forschungsperspektive zur Klärung ihrer methodischen Leistungsfähigkeit im Allgemeinen. Drittens wird dem Anwendungsaspekt im Rahmen verschiedener ethischer Theorieansprüche eine unterschiedliche Relevanz und Verortung gegeben: Während zum Beispiel das Subsumtionsproblem hauptsächlich ein Problem für Ethiken des Kantischen Typs darstellt (vgl. Wieland 1989; Werner 2004: 81f.), tritt dieses in klugheitsethischen Konzeptionen nicht auf (vgl. Luckner 2005). Überlegungen im Modus einer Klugheitsethik sind dagegen mit dem Problem der Vagheit und Unsicherheit hinsichtlich ableitbarer Direktiven im Sinne konkreter Gebote bzw. Verbote belastet – Argumente gegen einen absoluten, epistemischen und normativen Relativismus sind daher dringend erforderlich. Bereits diese kurze Andeutung mag exemplarisch ersichtlich machen, dass das Erfordernis einer methodologischen Klärung von „Angewandter Ethik“ auch und gerade einen Rückgang zu den begrifflichen Grundlagen der philosophischen Ethik sowie deren vertiefte Reflexion erforderlich macht. Die Unterscheidung einer (nur) allgemeinen Ethik als reiner Theorielieferantin einerseits und einer problemorientierten Angewandten Ethik andererseits, wie sie von manchen Einführungswerken zum Thema nahegelegt wird (Fenner 2010; Vieth 2006), erscheint daher fraglich und wenig zielführend (vgl. auch Salloch 2016: 36f.).

In Bezug auf Anwendungsfragen allgemeiner Theorieansprüche und Normen auf das „wirkliche Leben“ stellt insbesondere auch die Kooperation der Philosophie mit anderen normativen und auch empirisch-erklärenden Disziplinen ein Desiderat dar. Beispielsweise steht die juristische Methodenlehre vor dem ähnlichen Problem einer Sicherung der „kleinteiligen“ Rationalität der Subsumtion von Einzelfällen unter allgemeine rechtliche Normen und Gesetze. Pädagogik und Psychologie arbeiten ähnlich wie die philosophische Ethik, freilich methodisch auf andere Weise, an Konzepten, wie allgemeine Erkenntnisse, Normen und Werthaltungen im Handeln (am besten) zur Geltung gebracht werden können. In diesem interdisziplinären Forschungsfeld ist jedoch klar zu unterscheiden, ob angesichts von „Anwendungsfragen“ der Fokus auf der begrifflichen Klärung von anerkannten und anerkennungswürdigen Regeln und auf den expliziten Begründungen liegt, die Überlegungen in bestimmten Praxisbereichen als gut bzw. angemessen erscheinen lassen – im Sinne eines Qualitätsurteils auf Grundlage einer rationalen Reflexion. Oder ob es in empirisch-erklärender Hinsicht darum geht, die gedanklichen Vorgänge des ethischen Überlegens empirisch-experimentell überprüfbar zu machen und das praktische Entscheidungsverhalten in seinen individual- oder sozialpsychologisch erklärbaren Aspekten weiter zu erforschen. Beide Forschungsperspektiven scheinen zur Klärung der Methode und Leistungsfähigkeit einer „Angewandten Ethik“ erforderlich, jedoch ist die begrifflich-reflexive Klärung primär und muss logisch vor einer empirischen Erforschung anwendungsbezogener Überlegungen und dem entsprechenden Entscheidungsverhalten durchgeführt werden. Die begriffliche Klärung und methodische Ausrichtung wird dabei freilich „unterwegs“ immer wieder produktiv durch empirische Erkenntnisse irritiert werden. Diese Irritationen sollte die philosophische Auseinandersetzung zulassen und konstruktiv aufnehmen.

In gewisser Hinsicht stellt dieser Sammelband neben der Darstellung neuer möglicher Forschungsperspektiven im „Anwendungsfeld der Ethik“ auch einen Zwischenbericht über die Diskussions- und Untersuchungsergebnisse eines Forschungsnetzwerkes dar, das am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (Universität Tübingen) von Julia Dietrich und Philipp Richter 2016 initiiert und von Uta Müller, Thomas Potthast und Philipp Richter über zwei Jahre hinweg organisiert und mit zahlreichen interdisziplinären Kooperationspartnerinnen und -partnern im gemeinsamen Austausch gepflegt wurde. An dieser Stelle möchten die Herausgebenden des Bandes für die rege Beteiligung durch Diskussion, Texte und Vorträge unseren Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen danken, die sich gerne bereit erklärt haben, an zwei größeren Workshops zur Sichtung und Klärung des interdisziplinären Forschungsfeldes einer „Anwendung von Ethik“ am Ethikzentrum der Universität Tübingen mitzuwirken.

Eine wichtige Ausgangsfrage der Workshops war, wie sich allgemeine Normen auf konkrete Einzelfälle beziehen lassen können und welche Relevanz ihnen dabei für die konkrete Handlungsorientierung zukommen kann. Ziel war die Ermittlung interdisziplinärer Forschungsperspektiven, um zur Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ beitragen zu können. Sowohl in philosophisch immanenter als auch methodisch interdisziplinärer Konstellation erwies sich das Forschungsfeld als äußerst divers und die verschiedenen Fragestellungen und Zielsetzung als methodisch und inhaltlich sehr heterogen. Diese Heterogenität wurde bei Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der adressierten Praxisbereiche nochmals gesteigert (man denke an Ethiklehre an Schule oder Hochschule, politisches Engagement auf Grundlage ethischer Argumente, Umsetzung von Reflexion in Organisationen oder auch an juristisches Denken auf Grundlage des gebräuchlichen Rechts in einzelnen Ländern, im deutschen Strafrecht, im Richterrecht oder in allgemeiner rechtswissenschaftlicher Perspektive). Eine kreuzklassifikatorische Matrix, die alle wichtigen Forschungsmöglichkeiten erfassen sollte, stieß bald an die Grenzen der graphischen Darstellbarkeit. Jedoch konnte nach weiterer interdisziplinärer Vertiefung das gemeinschaftliche Forschungsinteresse der Beteiligten fokussiert werden auf die Beantwortung der Frage: „Was macht moralische Urteile in Praxisbereichen gut?“ Dabei ist die Leitdifferenz zu beachten zwischen der „Güte moralischer Urteile“ (methodologisch-reflexive Perspektive) und der „moralischen Güte von Urteilen“ (lebensweltliche Fundierung und Angemessenheit eines konkreten moralgeleiteten Handelns).

Es hat sich schließlich ergeben, dass es für eine methodische Klärung des Phänomens „Ethik in Anwendung“ zielführend ist, das ethische Überlegen als Tätigkeit ins Zentrum der Auseinandersetzung zu stellen. Wie alle deutschen Substantive, die auf „-ung“ enden, lässt sich hierbei „Überlegung“ zum einen prozessual im Sinne einer Tätigkeit (das Überlegen) und zum anderen resultativ bzw. als ein Ergebnis (die Überlegung) auffassen. Während der interessante, argumentative und philosophisch reflexive Aspekt des Überlegens beim Blick auf seine bloßen Resultate, die in Form von Propositionen vorgetragen werden, nicht mehr klar ersichtlich ist, wird dieser Aspekt bei der Fokussierung auf Überlegungen, die explizit und zugleich das Überlegen selbst hinsichtlich seiner Form und Methode betreffen, deutlicher. Der zu einfache und letztlich unklare Begriff einer „Anwendung“ von ethischer Theorie wird so – um eine Formulierung Hegels zu verwenden – aufgehoben (also hinsichtlich seiner Einseitigkeiten identifiziert, diese Einsicht „aufbewahrt“ und für die weitere Differenzierung durch Reflexion verfügbar gemacht). Auf diese Weise wird nun die Tätigkeit des konstruktiven Anwendens ethischer Vorüberlegungen angesichts konkreter Probleme zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Diese Tätigkeit des Konkretisierens und Weiterführens kann, das schien den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Diskussion sinnvoll, auch als ein prozessuales Abwägen unterschiedlicher theoretischer und praktischer Anforderungen im Einzelnen verstanden werden. Mit Abwägung ist hier der gesamte Vorgang der reflexiven Urteilsbildung gemeint, der den eine Praxis leitenden Regeln und impliziten Normen folgt oder sich kritisch zu diesen positionieren kann, nicht nur der Extremfall einer „Güterabwägung“ bei einer offensichtlichen Pflichtenkollision oder bei Dilemmata. In der deutschsprachigen Diskussion hat sich zur Adressierung des Letztgenannten die Rede von „Güterabwägung“ etabliert. Darunter wird eine argumentative Entscheidungsfindung verstanden, die auf Fälle von nicht-trivialen Güterkonflikten oder Dilemmata beschränkt ist und zum Ziel hat, entweder das kleinere Übel oder einen Ausgleich zwischen Nutzen und unvermeidlichen Schaden zu ermitteln (vgl. Horn 2011: 391f.). Dieser sehr engen Bezeichnung von Abwägung soll hier, so auch das Ergebnis der Diskussion im Forschungsnetzwerk, ausdrücklich nicht gefolgt werden. „Abwägung“ und „Abwägen“ sollen vielmehr insgesamt als Konzepte – oder zunächst einmal als Titelworte – für einen argumentativ angeleiteten Reflexionsprozess verstanden werden; dabei ist sicherlich fraglich, inwieweit dieser Prozess in klare Begrifflichkeit übersetzbar ist oder ob es sich bei der gedanklichen Tätigkeit des Abwägens doch um „absolute Metaphern“ für das ethische Überlegen handelt (vgl. Luckner 2008: 157).1

Konzeptionelle Überlegungen finden sich z.B. bei Luckner (2008: 156), der „Erwägen“ in Anschluss an Aristoteles als das erste von drei Momenten einer „klugen Handlung“ bestimmt: Vor dem Urteilen (Erkennen der richtigen Handlungsoption) und dem Entschließen (Realisierung der Handlungsoption) finde das „Erwägen“ oder „Abwägen“ von Handlungsgründen statt, wobei sich diese sowohl auf die Zwecke als auch die Mittel der Handlung beziehen. Dabei wird betont, dass Erwägungsprozesse nur „im Bereich des Kontingenten“ stattfinden und die Klärung ihrer „übersituativen“ Relevanz ein theoretisches Problem darstellt (vgl. ebd.: 157). Nadia Mazouz (2012: 359) expliziert „Abwägen“ in ähnlicher Hinsicht als das „subjektive Verfahren der Relevanz- und Wichtigkeitszuweisung“ im Unterschied zum „Begründen“ als dem expliziten Schlussfolgern. Im Kontext der politischen Theorie und Philosophie ist der Begriff „Deliberation“ gebräuchlich: Juan Carlos Velasco (2010: 360) bestimmt ihn als ergebnisoffene Entscheidungsfindung durch Klärung relevanter Gegenstände und Sachverhalte sowie Prüfung möglicher Argumente und Gegenargumente für bestimmte Handlungsoptionen. Typischerweise beziehe sich „Deliberieren“ auf vergleichsweise komplexe Fragen und Probleme, die sich nicht durch einfaches Deduzieren aus allgemeinen Normen lösen lassen.

Auch in der Rechtswissenschaft und in der Rechtspraxis ist das Konzept der Abwägung von großer Bedeutung. Das positive Recht wird heute nicht mehr nur als ein „konsistentes System von Normen“ verstanden, das gleichsam „alle Antworten für den Prozess der Rechtsanwendung“ bereit hielte (Luf 2014: 1f.). Vielmehr finden sich im Rahmen des positiven Rechts ganz unterschiedliche Problemsichten, differenzierte methodische und auch ethische Perspektiven, unterschiedliche Bestimmtheitsgrade von Normen, Spannungsfelder und Konflikte zwischen verschiedenen Normen, so dass „harmonisierende“ Abwägungsprozeduren nötig sind. Diese stellen nun keine Ausnahme dar, sondern vielmehr den Normalfall der Rechtsanwendung (ebd.). Große Beachtung gefunden hat hier die Abwägungslehre von Robert Alexy (1983; 1985), der Prinzipien als „Optimierungsgebote“ charakterisiert (Alexy 1985: 75f.), die nicht wie Regeln oder Normen in einem vollständig disjunktiven Verhältnis zueinander stehen (Jestaedt 2007: 256f.; Luf 2014: 5). Ähnlich wie im Falle der Abwägungslehre des positiven Rechts und einer Idee von Gerechtigkeit bei Gustav Radbruch (1946; „Radbruchsche Formel“) können auch hier Verbindungen zur philosophischen Klugheitsethik hergestellt werden. Zwar gilt die binäre Entgegensetzung, entweder Subsumtion oder Abwägung, und auch ein zu einfaches Modell des Rechtsanwenders als „Subsumtionsautomat“ als überwunden (Jestaedt 2007: 272f.), jedoch besteht in der Rechtswissenschaft nach wie vor das Desiderat einer differenzierten Ausarbeitung und methodologischen Diskussion des Vorgangs des Abwägens (ebd.: 275).

Auch wenn bisher keine einheitliche Bestimmung des Begriffs „Abwägung“ zur Verfügung steht, wird diesem auch in der praktischen Philosophie eine zentrale Stellung eingeräumt. Ein wichtiger Grund dafür könnte sein, dass häufig ein enger Zusammenhang von Abwägen und praktischer Rationalität postuliert wird. Das Forschungsthema „Abwägung“ steht dabei für das Konzept eines dynamischen Vorgangs, der als Inbegriff der Prozesse des Überlegens unter Problemdruck schließlich zu einer konkreten Bewertung oder Handlung im Einzelfall führt. Insofern könnte das „Abwägen“ auch als ein konstitutives Moment von praktischer Rationalität bezeichnet werden (vgl. Kettner 1996a: 15; Rindermann 2006: 251; Gosepath 2002: 51). Der Begriff signalisiert bereits, dass ein schablonenartiges Rezeptwissen zur Lösung von moralischen Konflikten im Einzelfall nicht zu haben ist und womöglich auch nicht zielführend wäre. Jedoch scheint das Abwägungskonzept gerade auch geeignet, ethische oder rechtlich allgemeine Anforderungen in nicht-relativistischer bzw. nicht-partikularistischer Weise mit in den Vorgang des Überlegens einzubeziehen, wie es die Rechtsmethodologien und die Diskussion über praktische Rationalität zeigen. Der Begriff „Abwägung“ ist insofern gut geeignet, um im Ausgang von „typischen“ Fällen und beispielhaften Entscheidungskonflikten in den Praxisbereichen nach einer verallgemeinerbaren Methodologie der Urteilsbildung zu fragen.

Die Beiträge des Bandes führen die skizzierte Diskussion der Workshops fort und nehmen verschiedentlich das Problem einer Anwendung von Ethik bzw. allgemeiner Normen im Einzelnen als einen Prozess des gedanklichen Abwägens verschiedener Anforderungen in den Blick.

Der erste Themenblock widmet sich konzeptionellen und methodologischen Fragestellungen zur Rolle von Abwägung und Anwendung in der Ethik. Im ersten Beitrag untersucht Andreas Luckner die über eine bloße „Anwendung“ oder Mittelkalkulation hinausgehende Konkretisierung ethischen Überlegens. Dieses Abwägen ist, was Luckner im Ausgang von Aristoteles entwickelt, rational, obwohl nicht nur deduktive Logik oder der Umgang mit übersituativ gültigen Normen als Paradigma dienen. Philipp Richter diskutiert Konzepte von Angewandter Ethik und weist diesen immanente Widersprüche nach, die vor allem daher resultieren, dass die betreffenden Modelle statisch und isoliert gedacht werden – ohne dass ein Bezug zur Reflexivität einer philosophischen Auseinandersetzung und Begründung hergestellt wird. Zur Bewältigung dieser Problematik bietet Richter die Grundzüge einer Methodologie der Konkretisierung ethischen Überlegens an, die sich am Argumentationsmodus der Klugheitsethik und Topik orientiert. Eugen Pissarskoi untersucht die Problematik einer argumentativen Entscheidungsfindung in deontologischen und konsequentialistischen Ethikansätzen, auf die diese angesichts der Unsicherheit über die empirischen Konsequenzen der verfügbaren Handlungsoptionen notwendig stoßen. Diese Dimension des Umgangs ist besonders relevant für die rationale Klärung und Begründung des Vorsorgegedankens. Der Beitrag von Uta Müller und Lieske Voget-Kleschin versucht zu zeigen, dass sich die anwendungsbezogene Ethik in vielen umstrittenen Fällen zu sehr auf die Frage konzentriert, was Menschen tun dürfen, anstatt darüber zu reflektieren, was Menschen und die Gesellschaft, in der sie leben, eigentlich wollen. Diese Diskussion wird am Beispiel des aktuellen Diskurses über den Umgang mit der biologischen Altersforschung geführt.

Im zweiten Themenblock werden Fragen von Anwendung und Abwägung in den Praxisbereichen Ethik, Recht und Medizin behandelt. Jens Peter Brune und Micha Werner diskutieren in ihrem Beitrag einige Modelle ethischer Abwägung in politischen Gerechtigkeitsfragen mit Blick auf das Problem einer Konkretisierung von Ethik. Diese – aktuell viel diskutierten – Modelle postulieren nicht nur die Existenz von generalisierenden, auf Situationstypen oder typische Anspruchsqualitäten bezogenen Werte, Normen, Rechte oder Pflichten, sondern nehmen zusätzliche Kategorisierungen und Priorisierungen vor, um ethische Entscheidungen begründen zu können. Martin Gebauer und Felix Berner erörtern typische Abwägungskonstellationen im Kollisionsrecht. Nicht selten ergeben sich nämlich bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Prinzipienkonflikte, die nur durch die Methode der Abwägung zu lösen sind. Dabei sind auch kollisionsrechtliche Ausweichklauseln und Anpassungsfragen als Grundlage für Abwägungsentscheidungen zu bedenken. Im Bereich der Medizinethik stellen Michael von Grundherr und Orsolya Friedrich aktuelle psychologische Befunde vor, die nahelegen, dass in manchen konkreten Abwägungsfällen in der Medizin bewusstes verbales Überlegen und Argumentieren nicht immer dabei helfen, ein Ergebnis zu finden, das im Einklang mit gegebenen normativen Richtlinien steht – seien es die eigenen allgemeinen moralischen Überzeugungen der ethischen Entscheiderinnen und Entscheider, weithin akzeptierte berufsethische Prinzipien oder die Vorgaben einer ethischen Theorie. In vielen Fällen scheinen Forschungen zu belegen, dass intuitive Prozesse in dieser Hinsicht zu besseren Entscheidungen führen.

Der dritte Themenblock befasst sich mit Abwägungsfragen im Bildungsbereich. Bernhard Schmidt-Hertha widmet sich der Frage, welche Rolle in den Kompetenzdiskursen zur Erwachsenenbildung ethische Werte und Normen spielen. In seinem Beitrag werden – gestützt auf Konzepte zur Entwicklung ethischer Kompetenz im Schulunterricht und den Diskursen um Kompetenzorientierung in der Weiterbildung – grundlegende Überlegungen zur Vermittlung von ethischer Kompetenz in Weiterbildungskontexten angestoßen. Der Beitrag von Christiane Burmeister und Uta Müller konzentriert sich auf Berufstätige in der Sozialen Arbeit. Die Autorinnen diskutieren die Problematik, vor welche charakteristischen Herausforderungen sich die in der Sozialen Arbeit tätigen Personen gestellt sehen, wenn sie das „gute Abwägen“ in normativen Fragen des beruflichen Alltags praktizieren wollen. Der Blick richtet sich auf die professionseigenen Strukturbedingungen Sozialer Arbeit und erweitert dann die Fragestellung dahingehend, worauf Weiterbildungen in Sozialen Organisationen besonderen Wert legen sollten. Der Ausbildung von Medizinstudierenden widmet sich der Beitrag von Orsolya Friedrich und Michael von Grundherr. Dabei gehen die AutorInnen von Studien aus, die zeigen, dass die ethische Kompetenz von Studierenden der Medizin im Verlauf ihres Studiums deutlich abnimmt. Aus einer konzeptionellen Perspektive wird diskutiert, ob und warum unterschiedliche ethische Begründungsstrategien in der Medizinethikausbildung die angestrebte moralische Kompetenz in unterschiedlicher Weise fördern könnten.

Die HerausgeberInnen danken der Universität Tübingen, die das Forschungsprojekt „Ethische Abwägung in Recht, Medizinethik und normativen Fragen der Bildung – konzeptionelle und empirische Perspektiven“ im Rahmen ihres Zukunftskonzepts „Research – Relevance – Responsibility“ (Exzellenzinitiative) gefördert hat.

Literatur

Alexy, Robert (1983). Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Alexy, Robert (1985). Theorie der Grundrechte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Ammicht Quinn, Regina/Potthast, Thomas (Hrsg.) (2015). Ethik in den Wissenschaften. 1 Konzept, 25 Jahre, 50 Perspektiven. Tübingen: IZEW.

Badura, Jens (2001). Kohärentismus. In: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.). Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar: Metzler, 30-33.

Düwell, Marcus (2000). Die Bedeutung ethischer Diskurse in einer wertepluralen Welt. In: Kettner, Matthias (Hrsg.). Angewandte Ethik als Politikum. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 76-114.

Düwell, Marcus (2011). Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik. Einleitung. In: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.). Handbuch Ethik. 3. Aufl. Stuttgart u.a.: Metzler, 243-247.

Fenner, Dagmar (2010). Einführung in die Angewandte Ethik. Tübingen/Basel: UTB.

Gosepath, Stefan (2002). Eine einheitliche Konzeption von Rationalität. Ein Zugang aus Sicht der Analytischen Philosophie. In: Karafyllis, Nicole Christine (Hrsg.). Zugänge zur Rationalität der Zukunft. Stuttgart: Metzler, 29-52.

Horn, Christoph (2006). Güterabwägung. In: Düwell, Marcus/Hübenthal, C./Werner, Micha H. (Hrsg.). Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar: Metzler, 243-247.

Jestaedt, Matthias (2007). Die Abwägungslehre: ihre Stärken und ihre Schwächen. In: Deppenheuer, Otto/Isensee, Josef (Hrsg.). Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee. Heidelberg: Müller, 253-275.

Kettner, Matthias (1996a). Einleitung. In: Ders./Apel, Karl-Otto (Hrsg.). Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Luckner, Andreas (2005). Klugheit. Berlin/New York: DeGruyter.

Luckner, Andreas (2008). Erwägen als Moment klugen Handelns. In: Jüttemann, Gerd (Hrsg.). Suchprozesse der Seele. Die Psychologie des Erwägens. Göttingen, 154-163.

Luf, Gerhard (2014). Abwägungsentscheidungen aus rechtsphilosophischer Sicht. In: Khakza-deh, Lamiss Magdalena (Hrsg.). Interessenabwägung und Abwägungsentscheidungen. Wien: Verl. Österreich.

Mazouz, Nadia (2012). Was ist gerecht? Was ist gut? Eine deliberative Theorie des Gerechten und Guten. Weilerswist: Velbrück, 356-359.

Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.) (2005). Angewandte Ethik: Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung: ein Handbuch. 2., aktual. Aufl. Stuttgart: Kröner.

Radbruch, Gustav (1946). Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Süddeutsche Juristenzeitung (1946), 105-108.

Salloch, Sabine (2016). Prinzip, Erfahrung, Reflexion. Urteilskraft in der Angewandten Ethik, Paderborn: Mentis.

Steigleder, Klaus/Mieth, Dietmar (Hrsg.) (1991). Ethik in den Wissenschaften. 2. Aufl. Tübingen: Attempto.

Velasco, Juan Carlos (2010). Deliberation/deliberative Demokratie. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.). Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. Hamburg: Meiner, 360-363.

Vieth, Andreas (2006). Einführung in die Angewandte Ethik, Darmstadt: WBG.

Werner, Micha H. (2004). Kants pflichtenethischer Rigorismus und die Diskursethik. Eine maximenethische Deutung des Anwendungsproblems. In: Gottschalk-Mazouz, Niels (Hrsg.). Perspektiven der Diskursethik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 81-110.

Wieland, Wolfgang (1989). Aporien der praktischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Klostermann.

I.Konzepte und Methodologien

Abwägen als Moment klugen Handelns

Andreas Luckner

Es gilt als ein Kennzeichen einer reifen (erwachsenen) Persönlichkeit, Handlungsgründe abwägen zu können. Aber auch schon die Entwicklung der Persönlichkeit selbst steht in engem Zusammenhang mit Abwägungs- und Entscheidungsprozessen, wie man im Rahmen von Tugend- und Erziehungstheorien von alters her gesehen hat. Die Abwägung (griechisch: boulêsis, lateinisch: deliberatio) galt und gilt dabei als konstitutives Moment der Tugend Klugheit (griechisch: phronêsis, lateinisch prudentia), mit der man bekanntlich nicht schon auf die Welt kommt. Vielmehr wurde und wird sie als die erfahrungsbasierte Ausformung praktischer Vernunft verstanden, durch die geeignete und situationsangemessene Mittel und Wege zur Realisierung genereller Handlungsziele habituell erkannt und angewandt werden können.1 Dies soll in systematischer Absicht im Folgenden anhand historischer tugendethischer Positionen gezeigt werden.

Zunächst eine terminologische Klärung: Im Deutschen besteht ein leichter Unterschied zwischen den Verben „abwägen“ einerseits, „erwägen“ andererseits; Gründe und Handlungsmöglichkeiten können zwar sowohl erwogen als auch abgewogen werden, aber mit dem Wort „erwägen“ bezieht man sich zumeist auf den Umstand, dass man überhaupt eine Handlungsoption in Betracht zieht (z.B. „Ich erwäge nächstes Jahr meinen Urlaub auf Korsika zu verbringen.“). Von Abwägung im Sinne einer Gewichtung der Option bzw. der Gründe, die für diese Option sprechen, muss hierbei noch gar die Rede sein. Man könnte vielleicht vorläufig sagen, dass jeder Abwägungsprozess voraussetzt, dass mehrere Optionen bzw. Gründe in Erwägung gezogen wurden, Abwägen also Erwägen voraussetzt, aber nicht umgekehrt. Erwägen ist ein Moment des Abwägens – und damit immer mit gemeint – und Abwägen wiederum, so die titelgebende These dieses Beitrags, ein Moment klugen Handelns. Niemand kann klug im Sinne der Lebensdienlichkeit handeln, der nicht Gründe gegeneinander abzuwägen (und diese vorher zu erwägen) vermag. Natürlich kann jemand zufälligerweise das Richtige im Sinne der Klugheit tun, aber dann würde man noch nicht deswegen schon unterstellen können, dass die betroffene Person wirklich klug ist bzw., als Ausdruck dessen, klug handelt. Hierfür gehört vielmehr notwendigerweise eine praktische Vernunft, die notwendig (wenn auch nicht schon hinreichend) Abwägungsprozesse vollzieht.

Klugheit (als Tugend) ist eine an der Lebensdienlichkeit orientierte Grundhaltung gegenüber den praktischen Dingen des Lebens. Die Abwägung der situationsadäquaten Mittel und Wege spielt hierfür eine zentrale Rolle, wenn auch gutes Abwägen alleine nicht ausreicht, um klug zu sein – es müssen zudem durch Erfahrung Urteils- und Entschlusskraft ausgebildet werden, um von der komplexen Tugend der Klugheit sprechen zu können. Wer klug ist, kann gut abwägen, bildet sich auf Grundlage von Abwägungen angemessene Urteile über das zu Tuende und setzt diese situationsadäquat und entschlussfreudig in die Tat um. Die Klugheit, die sich demgemäß also immer auch in den Prozessen des Abwägens (und damit einer praktischen Form von Rationalität) manifestiert, galt im Abendland über Jahrtausende hinweg als eine der Kardinaltugenden, weil nur durch ihren Besitz ein Mensch es vermochte, das Gute (was immer man darunter auch jeweils zu verstehen hatte) in der Welt zu realisieren. Heutzutage allerdings spricht man von Klugheit, auch und gerade in der akademisch-philosophischen Ethik, zumeist nur im Sinne des Prinzips des rationalen Egoismus im Unterschied (und oftmals auch: im Gegensatz) zur moralischen Einstellung, durch welche die Präferenzen auch der anderen Menschen in die Handlungsentscheidungen eine andere Gewichtung erfahren. Das Verhältnis von Klugheit und Moral erscheint im Rahmen modern-autonomistischer Ethik daher recht spannungsreich, während es für die antike und mittelalterliche Ethikansätze selbstverständlich ist, dass ein kluger Mensch die Mehrung des Wohls der Anderen auch in die eigene Handlungsbeurteilung und -abwägung mit einbezieht.2 So kann man auch heute noch zwanglos z.B. von der (unegoistischen) Klugheit der Eltern in Bezug auf das Fortkommen ihrer Kinder sprechen.

Auch in der Moderne ist es unbestritten, dass das Abwägenkönnen von Handlungsoptionen ein konstitutives Teilmoment praktischer Rationalität (Klugheit) ist. Allerdings läuft der Prozess der Abwägung hier durchaus auf etwas anderes hinaus: Während im Rahmen teleologischer Ethiken – also des Typs, unter den die meisten der antiken und mittelalterlichen Ansätze fallen – allgemeine Handlungsziele als dem Akteur (natural und gesellschaftlich) gegebene konzipiert werden und Abwägungsprozesse daher primär Mittel und Wege zum glücklichen Leben ermitteln, sind im Rahmen der autonomistischen Ethiken der Neuzeit die Abwägungen auch auf die jeweils individuellen Orientierungsinstanzen ausgedehnt. Denn ein kluger Mensch hat, wenn ihm die Verbindlichkeit göttlich oder natural gegebener normativer Rahmenordnungen nicht weiter einsichtig ist, nun nicht nur abzuwägen, was dem guten Leben dienlich ist, sondern zusätzlich, woran er sich dabei eigentlich orientieren soll, worin also das gute Leben – oder dessen „Richtungssinn“ – eigentlich besteht.3 Da in den autonomistisch fundierten neuzeitlichen Ethiken Handlungsziele primär als vom Handlungssubjekt gesetzte Zwecke konzipiert werden, beziehen sich die ethischen Abwägungen mehr und mehr auf die Ermittlung von Antworten auf die Frage, welche Zwecke im Leben verfolgt, ja, welchen Sinn und Zweck das jeweils individuelle Leben überhaupt haben soll. Kurz: Begreift sich ein Individuum als autonom, dann müssen die Orientierungsinstanzen selbst zu einer Sache der Abwägung werden; wenn diese erst einmal ermittelt sind, bekommen die Klugheitsabwägungen wiederum tendenziell den Charakter von quasi-technischen Ermittlungen der besten Mittel, um (schon anderweitig von einem selbst oder anderen) gesetzte Zwecke zu realisieren.

Was aber ist überhaupt eine Abwägung, eine deliberatio, eine boulêsis?Zunächst: Oft werden deliberatio und boulêsis mit „Beratung“ übersetzt; dies ist genau dann treffend und richtig, wenn man unter Beratung nicht, wie heute verbreitet, den Vorgang versteht, in dem ein Experte in einer bestimmten Wissens- oder Könnensdomäne einen Unkundigen „berät“, sondern vielmehr den ergebnisoffenen Vorgang eben des Abwägens von Gründen, die für die eine oder andere Vorgehensweise sprechen. Es wäre hier also eher an eine Beratung von Geschworenen bei Gericht als an eine Beratung beim Kauf eines Artikels zu denken. Der Ausdruck „abwägen“ drückt diese für das Abwägen konstitutive Ergebnisoffenheit sehr viel besser aus als „beraten“. Das Wortfeld der Waage und des Gewichts, dem ja die Wörter „erwägen“, „abwägen“, „ausgewogen“, „wichtig“ usw. entstammen – auch deliberatio stammt ja von lateinisch libera, Waage, ab – verweist auf diese charakteristische Eigenschaft von Abwägungen, denn für Wägeprozesse und Balanceakte ist es charakteristisch, dass ihre Ergebnisse, die hergestellten Gleichgewichte und Ausgewogenheiten also, nicht stabil sind. Im übertragenen Sinne führen Abwägungen demgemäß nicht zu festen Wissensbeständen, auf die nach Belieben zurückgegriffen werden könnte. Die Ermittlung des Gewichts bzw. der Wichtigkeit und Relevanz zum Beispiel eines Handlungsgrundes ist daher einerseits unvordenklich und auch immer nur von provisorischem Charakter – eine kleine Veränderung der Situation und es können andere Handlungsgründe, die bislang gar keine Rolle gespielt haben, sehr viel schwereres Gewicht haben4 (besonders dann, wenn bislang bestehende Grenzen überschritten werden).

Die philosophische Tradition hat seit ihren Anfängen immer wieder gesehen, dass das Er- und Abwägen von Gründen der elementare Denkvorgang in Bezug auf die Handlungsorientierung ist. So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, dass jeder klugen, das heißt guten, Entscheidung (prohairesis) eine Beratschlagung im Sinne der Abwägung von Handlungsgründen (boulêsis) vorausgehen muss, letztlich in Hinblick und umwillen eines gelingenden Gesamtlebensvollzuges (eudaimonia).5 Abwägungen finden dabei logischerweise nur im Bereich des Kontingenten statt, dessen also, was nicht notwendig so ist, wie es ist. Weil Handlungen genau deswegen auf Entscheidungen beruhen – seien diese aktuell zu treffen oder schon früher getroffen worden und nur mehr zu aktualisieren –, sind Erwägungen daher konstitutiv für Handeln überhaupt. Mit anderen Worten: Wer nicht abwägen kann, kann im strengen Sinne auch nicht handeln. Es handelt sich beim Abwägen also um einen im wahrsten Sinne des Wortes grundlegenden kognitiven Akt in praktischer Hinsicht. Aristoteles diskutiert ein wichtiges Teilmoment der guten, das heißt klugen, praktischen Urteils- und Entscheidungsfindung auch unter den Namen euboulia6. Unter dieser „Wohlberatenheit“ – oder, etwas freier übersetzt, „Abwägungskompetenz“ – versteht Aristoteles die Haltung einer Person, vor dem eigentlichen In-Aktion-Treten, die Gründe, Mittel und Ziele in lebensdienlicher Hinsicht – d. h. in Hinblick auf die eudaimonia – zu bewerten. Hierbei werden allerdings, anders als etwa in technischen Zusammenhängen, die Handlungsweisen nicht im Sinne der Effektivität von Mitteln für die Realisierung von der Aktion äußerlichen Zwecken angesprochen, sondern als „selbstzweckhafte“ Vollzüge, das heißt als solche Akte, die um ihrer selbst willen vollzogen werden. Die Form der Tätigkeit, die ihren Zweck nicht außerhalb der Tätigkeit selbst hat, nennt Aristoteles bekanntlich praxis, im Fall ihres Gelingens auch eupraxia. Die der gut gelingenden Praxis zugeordnete Tugend ist die Klugheit (phronêsis), so dass die Abwägung (boulêsis) bzw. genauer: die entsprechende Tugend der Wohlberatenheit (euboulia) als das Hauptmerkmal einer klugen Person und daher als Moment der Klugheit gelten muss. Damit ist die ausgebildete Fähigkeit gemeint, sowohl mit sich selbst als auch mit anderen zu Rate gehen und in diesem Sinne situationsadäquat abwägen zu können.7

Klugheit muss nach Aristoteles allerdings als eine allererst zu entwickelnde Kompetenz, eben als Tugend der Selbstorientierung im Denken und Handeln gefasst werden. Sie ist also weder ein theoretisches, das heißt durch bloße Informationsvermittlung übertragbares Verfügungswissen, das zudem einen externen Maßstab tugendhaften Handelns bilden würde, noch ein bloßer Charakterzug, der mit bestimmten Handlungsweisen verbunden wäre, ohne dass die betreffende Person hierfür noch Gründe angeben könnte oder müsste, weil sie gewissermaßen intuitiv das Richtige tut.8 Deswegen unterscheidet Aristoteles die Klugheit als eine der dianoetischen Verstandestugenden von einer ethischen Tugend wie Besonnenheit, Tapferkeit oder auch Gerechtigkeit. Es ist wesentliches Charakteristikum einer klugen Person, dass sie Gründe für bestimmte Handlungen und Handlungsweisen abwägt, d. h. sich mit sich selbst und anderen berät.

Thomas von Aquin, der Aristoteles in handlungstheoretischer Hinsicht zwar weitgehend folgt und präzisiert, allerdings in entscheidender und uns hier interessierender Hinsicht auch abändert, unterscheidet beim Klugheitsakt drei Phasen: deliberare beziehungsweise consiliare (das Abwägen der Handlungsgründe), iudicare (das Urteilen, das heißt das Fassen eines Beschlusses) und praecipere (das Fassen eines Entschlusses zur Tat).9 Der erste Teilakt, durch den sich Klugheit in einer Handlung manifestiert, ist der hier thematisierte grundlegende Akt des Abwägens von Handlungsgründen (incl. des Erwägens von Handlungsmöglichkeiten). Aufgrund des Abwägens kann dann das Urteil gefällt werden über das, was zu tun am besten ist (im Sinne einer Optionswahl). Das Urteil wird sodann in einen konkreten Handlungsentschluss und damit in ein Tun umgesetzt – das praeceptum beziehungsweise die applicatio ad operandum.10 Alle drei Teilakte sind notwendig, damit man von einer Abwägung tatsächlich auch zu einem Handeln kommt; Erwägung und Abwägung, Momente des ersten Teilaktes der deliberatio, reichen alleine dazu nicht hin, denn wer nur weiß, was zum Beispiel in einer bestimmten Situation gerecht wäre zu tun, ist dadurch freilich noch nicht gerecht: Durch Er- und Abwägung mag er zwar die recta ratio, aber deswegen noch nicht die applicatio rectae rationis ad opus, die ins Werk gesetzte rechte Vernunft, haben. Umgekehrt ist die recta ratio, die durch Abwägung entstandene richtige Einschätzung (i. S. der Situationsangemessenheit) einer bestimmten Handlungsweise auch bei Thomas von Aquin eine notwendige Bedingung für das kluge, lebensdienliche Handeln.

Bei Aristoteles wie bei Thomas von Aquin haben wir es mit dem Akt des Abwägens also mit einem wichtigen Teilmoment der Selbstorientierungskompetenz bzw. Klugheit der Individuen zu tun. Es besteht allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen beiden, der Einfluss auf den Status der Abwägung im Prozess der Handlungsorientierung hat. Thomas’ von Aquin Klugheits- und Abwägungskonzeption steht nicht nur historisch, sondern auch systematisch auf halbem Wege zwischen den oben angesprochenen Ethiktypen, dem antik-teleologischen und dem neuzeitlich-autonomistischen. Obwohl er an die aristotelische Konzeption von Klugheit und Abwägung anknüpft, kann man bei Thomas von Aquin bemerken, dass die Abwägung eine eher technische Funktion in Bezug auf die jeweiligen Orientierungsinstanzen bekommt. War es bei Aristoteles der Wertehorizont der sittlichen Gemeinschaft, der in zwar kontingenter, gleichwohl selbstverständlicherweise den Rahmen bildete, innerhalb dessen die Abwägung von Handlungsmöglichkeiten um des gelingenden Lebens willen stattfinden konnte, sind hierfür bei Thomas von Aquin andere normative Quellen markiert, die notwendig-unbedingten (kategorischen) Charakter haben. Während bei Aristoteles die wechselseitige Bedingtheit von Klugheit und ethischen Tugenden (Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit usw.) unhintergehbar war – ohne Klugheit wären die ethischen Tugenden leer, ohne ethische Tugenden die Klugheit blind –, ist die letzte Instanz der praktischen Selbstorientierung bei Thomas von Aquin (und freilich auch noch viel stärker betont bei christlichen Denkern wie Abaelard oder Bonaventura): das Gewissen (synderesis), durch das Gott zu uns spricht. Auch wenn Thomas von Aquin die Selbständigkeit der Klugheit und deren Teilakt, die Abwägung beziehungsweise deliberatio, nicht etwa leugnet, operiert sie doch nicht mehr länger in demselben Sinne autotelisch (selbstausrichtend) wie bei Aristoteles, bei dem die Gewissensfunktion integraler Bestandteil der Lebensklugheit ist und von daher auch nicht eigens begrifflich thematisiert wurde, wie in erstmalig in der stoischen und dann in der christlichen Praxeologie. Hier, bei Thomas von Aquin wie tendenziell überhaupt in der ganzen christlichen Lehre des Gewissens und ihr nachfolgend in der neuzeitlichen Ethik bis heute, wird das mit dem Handlungsentschluss einhergehende Wissen um die Angemessenheit des Handelns bestimmter Grundsätze des Handelns nicht aus der je individuellen Selbstorientierungskompetenz, sondern aus überpositiven, und das heißt: übermenschlichen, Vorgaben abgeleitet. Damit wird aber zugleich die Abwägung und Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten auf den Rahmen des von den Grundnormen Erlaubten eingeengt und damit gewissermaßen mit der Funktion betraut, das Handeln so einzurichten, dass es den überpositiven („göttlichen“) Gesetzen entspricht. Die Abwägung gerät damit in Abhängigkeit der (anderweitig gegebenen) Zwecke eines menschlichen Lebens.

Wenn es im Rahmen der neuzeitlichen Ethik nun die praktisch-vernünftigen Wesen sind, von denen gedacht wird, dass sie sich die Gesetze ihres Handelns selbst geben – nichts anderes bedeutet ja Autonomie im Unterschied zur Heteronomie beziehungsweise Theonomie der theologischen Ethikentwürfe –, ändert dies aber bezeichnenderweise nichts an dieser im Unterschied zur aristotelischen Ethik veränderten Funktion der Abwägung: Bis in die Rationale Entscheidungs- und Spieltheorie hinein, dem herrschenden praxeologischen Modell unserer Tage, werden Abwägungsprozesse letztlich nur mehr als technische Prozeduren des Aufsuchens geeigneter Mittel zu (anderweitig gegebenen und konstituierten) Zwecke gefasst.

Abgewogen werden müssen aber, wie nicht zuletzt die aristotelische Fassung des Klugheitsprozesses zeigt, nicht allein die Mittel, sondern auch die Zwecke selbst und in dieser Hinsicht sind Abwägungen typische Manifestationen der Weberschen Wertrationalität. Zwecke sind ja, formal gefasst, gewünschte und (durch bestimmte Mittel) für herbeiführbar erachtete Sachverhalte; Zweck-Mittel-Zusammenhängen eignet typischerweise eine Um-Zu-Struktur11, die aber, in der individualethischen Sphäre, ihrerseits revidierbar erscheint unter höherstufigen Kriterien des Lebenssinns bzw. -glücks, um dessentwillen bestimmte zu verfolgende Zwecke im Leben allererst gesetzt werden. Letztlich, so würde man aus der Perspektive einer aristotelischen Klugheitsethik argumentieren, werden die Abwägungsprozesse selbst um willen des höchsten Zieles, der eudaimonia als dem Lebenssinn, vollzogen. Der Lebenssinn ist aber kein möglicher Sachverhalt im Leben und damit eben auch kein Zweck, dem effektive Mittel im Sinne einer Glückstechnik zugeordnet werden können. Vielmehr ist er die wie auch immer entstehende Form des Lebens selbst, die sich je und je im Handeln, das um seiner selbst willen geschieht, manifestiert und herausbildet.

Literatur

Aristoteles (1985). Nikomachische Ethik. Hrsg. v. G. Bien. Hamburg: Meiner.

Blumenberg, Hans (1979). Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp

Heidegger, Martin (1927/1979). Sein und Zeit. Frankfurt a. M.: Klostermann.

Loh, Werner (1989). Erwägende Vernunft. Voraussetzungen und Hindernisse eines Philosophierens mit Alternativen. Prima philosophia 2, 301 – 323.

Luckner, Andreas (2005). Klugheit. Berlin u. New York: de Gruyter.

Luckner, Andreas (2008). Heidegger und das Denken der Technik. Bielefeld: Transcript

Rhonheimer, Martin (1994). Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik. Berlin: Akademie.

Thomas von Aquin (1933 ff.). Summa theologica. Deutsch-Latein. Salzburg: Pustet.

Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik – eine Positionsbestimmung in klugheitsethisch-topischer Perspektive

Philipp Richter

Die sog. „Angewandte Ethik“ ist heute gesellschaftlich und akademisch etabliert. Sie tritt vor allem in den Diskursen der Bereichsethiken und in verschiedenen Varianten von Beratungsgremien an Krankenhäusern, Forschungseinrichtungen oder politischen Organisationen in Erscheinung. Wer sich mit dem Phänomen „Angewandte Ethik“ jedoch in theoretischer Absicht beschäftigt, betritt ein undurchsichtiges Feld: Unter dem Titel bieten zahllose Positionspapiere, Denkschriften und Ratgeber ganz unterschiedlicher Provenienz, aber auch wissenschaftliche und philosophische Abhandlungen sehr heterogene Einlassungen zu aktuellen Positionen und Methodenfragen der Moralphilosophie in ihrem Praxisbezug. Dabei zeigen sich – explizit oder implizit – deutlich konträre Konzeptionen von Angewandter Ethik, die zudem mit sehr unterschiedlichem Anspruch auftreten. Wie lässt sich mit dieser Vielheit unterschiedlicher und sich zum Teil widersprechender Ansätze umgehen? Zweifellos kann nicht jede der ethischen Äußerungen gleichermaßen wohlbegründet, überzeugend und richtig sein. Auch verbürgt die Verwendung des Titelwortes „Angewandte Ethik“ noch nicht, dass der Anspruch, eine philosophische1 Reflexion von spezifischen Moralfragen zu leisten, auch tatsächlich eingelöst wird. Die Vielheit der konkurrierenden Ansätze wirft also die Frage auf, was das philosophisch-ethische Nachdenken über moralische Urteile und Moral im Konkreten – gewissermaßen „Ethik in Anwendung“ – von anderen Weisen der kognitiven Auseinandersetzung mit Praxis unterscheidet.

Nicht jedes Bezweifeln, Kritisieren und Diskutieren von gelebten Werten und Normen kann bereits als philosophisch-ethische Reflexion moralischer Urteile gelten. Problematisch erscheint vor allem, dass auch bei „bester Absicht“ die Ergebnisse des Nachdenkens letztlich doch durch unreflektierte Moralvorstellungen beeinflusst sein könnten – seien diese nun „noch nicht“ bedacht oder manipulativ eingesetzt – und somit letztlich nicht die vorgetragenen Argumente, sondern moralische Vormeinungen und Machtstrukturen zur Einstellungsänderung führen würden.2 Daher stellen manche Philosophinnen und Philosophen aus theoretischen Gründen die Möglichkeit einer „Angewandten Ethik“ überhaupt in Frage (Gehring 2015, Wolf 1994), wohingegen andere kein echtes Problem sehen, da Ethik wohlverstanden immer „praktisch“ sei (Fenner 2010, Vieth 2006). Es wäre natürlich denkbar, dass die Vielheit der oben erwähnten Positionen und Konzeptionen von „Angewandter Ethik“ unvermittelt nebeneinander stehen bleiben darf. Wenn wir jedoch annehmen, dass „Angewandte Ethik“ im Kern ein philosophisches Projekt ist, dann besteht notwendig ein Klärungsinteresse an der methodologischen Güte von ethischer Reflexion in konkreten Fragen. Nicht jede moralische Einlassung und nicht jede Methodenkonzeption von Angewandter Ethik kann in ein und derselben Hinsicht richtig sein – gerade die „Umsetzung“ allgemeinmoralischer Gesichtspunkte ist in der Argumentationssituation zumeist strittig und muss sich daher im Einzelnen als richtig oder falsch, besser oder schlechter begründet sowie als allgemein zustimmungsfähig, problematisch oder unverständlich etc. differenzieren lassen.

Dieses Erfordernis der epistemischen und methodologischen Differenzierbarkeit resultiert bereits aus dem Sokratischen Leitmotiv der Ethik, nur ein geprüftes Leben sei wert, gelebt zu werden, und nicht notwendig, wie manche meinen, allererst aus einer Auffassung von Ethik, die sich am Paradigma einer einseitig positivistischen Wissenschaftstheorie orientiert (vgl. Nida-Rümelin 2001: 156ff.; Nida-Rümelin 2005). Diesem Paradigma entsprechend würde Ethik und ihre Konkretisierung konzipiert nach dem Vorbild eines exakten, allgemeinen Regelwissens, das nach dem Verfahren der unpersönlich reproduzierbaren Induktion o. ä. und isolierbaren Deduktionstests nach dem Hempel-Oppenheim-Schema bestätigt würde bzw. zur „Anwendung“ käme (vgl. Fischer 2017: 4ff.). Aber nicht nur die durch den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt inspirierten neuzeitlichen Ethikansätze, sondern auch Ansätze, die eine Aristotelische Konzeption von praktischer Philosophie als einem rationalen Umgang mit dem veränderlichen Bereich des Seins aufgreifen, müssen sich um eine klare, an methodischen Standards und Kriterien bemessene Differenzierung von bloß moralischen Aussagen und ethischen Theorien und Begründungen dieser Aussagen bemühen.3