Abwege oder Irrungen - Oskar Szabo - E-Book

Abwege oder Irrungen E-Book

Oskar Szabo

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Beschreibung

"Dramatik liegt … in der Luft!" Drei Erzählungen, drei Charaktere: Die kokette Greth. Nero, das lasterhafte Monster. Oder Sandro, der junge Geiger von nebenan. Von einfach über schillernd bis geheimnisvoll. Alle sind sie auf Abwege geraten, laufen in die Irre. Aussichtslos ihr Unterfangen, vergeblich ihr Suchen, verschmäht ihre Art. Als Akteure auf der Bühne des Lebens treten sie auf, inszenieren absurde Episoden, schlagen ungeahnte Kapitel auf. Das ganze Spektrum, geeint durch einen genialen Erzähler und Meister seiner Kunst.

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Seitenzahl: 698

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Greth 3

1 4

2 57

3 175

Gefrorene Tränen 200

1 201

2 256

3 367

4 398

Thuner Sonate 409

1 410

2 421

3 471

Nachwort 482

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-725-7

ISBN e-book: 978-3-99064-726-4

Lektorat: Annette Debold

Umschlagfoto: Lightfieldstudiosprod | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Greth

oder

Das aussichtslose Kokettieren mit Mephisto

1

Des Öfteren mal am Freitag, dann nämlich, wenn es ihm gelang, rechtzeitig gegen Mittag seine Arbeit zu beenden, begab er sich zu Fuß auf einen kleinen Stadtrundgang, in der Hoffnung, irgendjemanden anzutreffen, einen alten Bekannten vielleicht, einen guten Freund oder sonst wen, um allenfalls in angenehmer Gesellschaft eine Kleinigkeit essen zu gehen, kurzum eine Art Kaffeeklatsch abzuhalten, der ihn aus dem Alltag befreien sollte. Es konnte dabei nicht viel passieren, denn schlimmstenfalls müsste er vielleicht feststellen, dass die Begegnung langweilig und uninteressant war, um sie sofort wieder zu beenden und allein seines Wegs zu gehen. Arthur wäre längst schon Rentner gewesen, wenn er nur gewollt hätte, doch er fand den Ausgang ins andere, angeblich leichtere Leben nicht, und um seine umstrittene Haltung zu kaschieren, suchte er sich mühsam einige Ausflüchte zusammen, die er freimütig jedem bekannt gab, der zuhören wollte. Er hatte den Sprung in den leeren Raum einfach nicht geschafft, oder er war dazu noch nicht bereit, er wusste es selber nicht.

Seine wiederholten Rundgänge in der Stadt, Abwechslung und Bewegungstherapie zugleich, welche ihm sozusagen stellvertretend das Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit vermitteln sollten, waren indessen kaum je zielführend und hatten eher den Charakter des unschlüssig Suchenden sowie beliebig nach allen Seiten Ausschau Haltenden, allerdings zumeist ohne ihm auch nur eine jener Begegnungen zu bescheren, nach welchen er planlos suchte. Die Mittagszeit war für sein Vorhaben im Grunde ungeeignet, kein Wunder also, dass der Erfolg bescheiden war, denn wer wusste schon, dass er genau zu jenem Zeitpunkt verfügbar wäre, den er sich für seinen ‚Öffentlichkeitsauftritt‘ auswählte? Selten also, wie gesagt, fand er jemanden, der zu irgendeinem Spontanprogramm zu überreden gewesen wäre, und so landete er zumeist in der Buchhandlung, deren Neuheiten er zum zehnten Mal durchkämmte, um erneut festzustellen, dass sie sein Interesse noch immer nicht in den Bann zogen, und wo sich, außer den Verkäuferinnen, auch keine Bekannten oder Freunde fanden, die wohl eher dabei waren, ihr Mittagsmahl zu konsumieren. Etwas resigniert und vielleicht auch ein wenig enttäuscht, so etwa, als wäre er beleidigt, dass keiner ihn erwartet habe, verließ er dann die Stadt und begab sich nach Hause, wo er Ruhe und Kalorien vorzufinden hoffte, die letzte Rettung sozusagen vor dem Zerfall.

Aber im Frühsommer des ersten Jahres seiner Teilpensio­nierung – ach, also doch – wurde er eines Tages fündig. Eine seiner vielen Töchter, die jüngste von allen, saß in einem kleinen Restaurant, mitten in der Stadt, und zwar zusammen mit einem jungen Herrn und einer eigenartig gekleideten, grauhaarigen Frau, deren Haare zu einem kunstvollen Knoten zusammengebunden waren, einem Knoten, den er aufgrund seiner speziellen Form wiederzuerkennen glaubte. Nur eine einzige ihm bekannte Person hatte es bislang geschafft, dieses außergewöhnliche Kunstwerk zu vollbringen, es war Greth, eine ‚unvergessliche‘ Bekannte, welcher er seit unzähligen Jahren nicht mehr begegnet war. Doch damals, als er diesen Knoten kennenlernte, waren die Haare noch dicht und braun, das dazugehörige Gesicht schmal und rechthaberisch und ihre Kleidung beinahe ebenso altertümlich wie heute, indem sie meist knöchellange, dunkelgraue Röcke trug und eine blütenweiße Bluse mit einem zahmen Krägelchen, das während der kälteren Jahreszeit züchtig um den hochgeschlossenen Pullover gestülpt wurde. Sie trug nie Schmuck, keine Armbanduhr und brauchte nur ausnahms­weise Schminke, denn sie bediente sich einer betont bescheidenen Ausdrucksform, eine unmissverständliche Botschaft an die luxuriöse Gesellschaft, in der zu leben sie nun mal gezwungen war. Sie war unablässig auf Konfrontationskurs mit ihren Zeitgenossen, ohne sich darüber zu ärgern, dass man sich über sie und ihr Gehabe lustig machte und ihre Botschaft für schrullig hielt. Sie verfolgte damit wohl eines ihrer Lebensziele, dessen Inhalte sie sich nicht selber aussuchte, nein, vielmehr wurden sie ihr von Kindsbeinen an aufgezwungen, was jedoch dem Enthusiasmus, mit welchem sie dafür einstand, keinen Abbruch tat. Nun ja, es war Greth, welche in diesem Kaffeehaus saß, daran bestanden keine Zweifel, die überraschende Verbindung jedoch mit seiner Tochter war gelinde gesagt eher auffällig, um nicht zu sagen beunruhigend, wenngleich er noch nicht wusste, welcher Art sie war, indes sogleich vermutete, was dahinterstecken könnte. Ja natürlich, sie kannte sie von Kindsbeinen an, doch gab’s ausreichend Gründe, anzunehmen, dass der Kontakt abgebrochen worden war, war doch bekannt, dass sie längst den Wohnort gewechselt hatte. Die Szene machte ihn stutzig und auch nachdenklich, ja löste geradezu ein erhebliches Missbehagen aus, denn die Erinnerung an verflossene Zeiten war mit einer skurrilen Geschichte verbunden, die neu aufzurollen ihm gar nicht zupasskam, sodass er nahezu reflexartig an Flucht dachte, sich dann aber eines Besseren besann.

Nun ja, er traute zunächst seinen Augen kaum … ein Trugbild vielleicht? Es war durchaus denkbar, dass er sich täuschte, ein letzter hoffnungsvoller Strohhalm, an den er sich zu klammern versuchte, vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Er stand noch draußen auf der Straße und erblickte diese eifrig diskutierende Dreiergruppe durch die großen Glasfenster, welche von außen her einen vorzüglichen Einblick ins Innere des Kaffeehauses gewährten und durch die man die Menschen, welche dort saßen, auch recht gut erkennen konnte, ja sogar ohne sich des Voyeurismus bezichtigen zu lassen, in völlig unauffälligem Vorbeimarschieren sah, was sie aßen und tranken. Obwohl seine Neugierde aufs Heftigste geweckt war, wollte er sich keinesfalls auffällig gebärden, denn er, noch unentdeckt, konnte nicht wissen, ob sein unerwartetes Erscheinen denn willkommen wäre, ja nicht einmal, ob es genehm wäre, wenn man drinnen plötzlich der Tatsache gewahr würde, dass er sie zusammen gesehen haben könnte. Zumindest witterte er Schwierigkeiten, welche sein Auftauchen dann herbeizuführen imstande wäre, wenn die mutmaßlichen Zusammenhänge, welche blitzartig seine Gedanken durchzuckten, tatsächlich bestünden und sogleich sein und gleichermaßen auch Greths Gewissen zu belasten begännen. Und eine schreckliche Vorstellung, eine bestimmte Furcht sogar, erfasste ihn plötzlich so sehr, dass er sich nunmehr vorzustellen begann, aller Hemmungen zum Trotz einzu­treten und sich zu zeigen, ja sie, diese drei Personen zu begrüßen und damit kundzutun, dass er sie erkannt habe, egal was er dadurch auslösen könnte. Er war mittlerweile so weit, dass er sich nicht mehr allemal versteckte und seine Anwesenheit wie auch seinen Kennt­nisstand nicht unbedingt zu unterdrücken versuchte. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen hatte er sich in letzter Zeit schon zugelegt, nicht sehr viel, aber genügend, um in solchen Fällen die Flucht nach vorne anzutreten. „Was soll’s?“, gestand er sich schließlich ein, „es gibt mich nun mal, und ich bin so, wie ich bin, meine Geschichte, einschließlich der äußerst problematischen Begegnung mit Greth, hat sich einst vollzogen, ist zudem einigen wenigen Personen bekannt, und ich stehe dazu.“ Nein, er brauchte sich wahrlich nicht zu verbergen, denn er hatte ebenso viel Gutes wie Tadelnswertes getan, sodass er mit beinahe jedem Zeitgenossen durchaus mithalten konnte. Seine Bilanz war auch nicht verwerflicher als diejenige seiner Mitmenschen und damit sein Wirken auf Erden insgesamt weder zu- noch abträglich einzustufen, gutes Mittelmaß und braver Konformismus eben, was wohl den meisten Erdenbürgern zuerkannt werden darf, denn mit dieser Haltung kommt man am ehesten hürdenfrei durchs Leben. Doch hier erkannte er einen alten Stolperstein der Vergangenheit, der sich nun als nachhaltig erweisen könnte, gravierend gar und fatal.

War es denn überhaupt Greth, oder eine andere Frau, etwa eine ‚Leidensgenossin‘ ihres Clans, jener wohlbekannten Menschen­gruppe mithin, welche durch betrübliche historische Ereignisse schließlich auf die Jurahöhen verbannt wurden, wo sie seither in Abgeschiedenheit und weitgehend außerhalb der übrigen Gesellschaft lebten und beteten? Noch einmal meldeten sich Zweifel, die sich jedoch ebenso rasch wieder verflüchtigten, wie sie sich einstellten, als er noch einmal genauer hinsah; doch wer mochte der junge Mann sein und … nun ja, er erkannte seine Tochter, da war er sich sicher, auch wenn er sie seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Indes, der Wahrheitsgehalt all dessen, was sein fieberhaft arbeitendes Gehirn an Erinnerungen zusammenscharrte, hing letztlich davon ab, wer dieser junge Mann war, er und nur er war zunächst einmal die Schlüsselfigur seines Sinnierens, insbesondere aber auch seiner Bedenken, welche unvermittelt aufflackerten. Es ging dabei vor allem um dessen Identität, die zu entscheiden erlaubte, ob seine Ahnungen berechtigt waren oder nicht, und diesen maßgebenden Punkt zu klären, war plötzlich zu seinem Hauptanliegen geworden. Es wäre ja unter gewissen Umständen nicht ganz an den Haaren herbeigezogen, dass er drohendes Unheil abzuwehren hätte, dessen Relevanz sich allerdings nur dann ermessen ließe, wenn er den Raum beträte und sich zu erkennen gäbe. Noch zögerte er feige: Wollte er dies wirklich tun, wollte er der Vergangenheit entreißen, was sie wohl seit Langem schon mit dem Schleier des Vergessens zu bedecken versuchte, ja wollte er sich letztlich seiner eigenen Geschichte stellen und vielleicht aufarbeiten, was sie in diesem Zusammenhang an Spuren hinterlassen hatte? Doch dann entschloss er sich mutig, die Flucht nach vorne anzutreten, und trat beherzten Schrittes ein, näherte sich dem fraglichen Tisch und stellte sich provokativ an dessen einer Seite auf: „Guten Tag ihr drei, schön euch wieder einmal anzutreffen …“

Die Tochter erkannte Arthur sofort und begrüßte ihn zwar höflich, aber mit sichtlich mäßiger Begeisterung und unverkennbarer Zurückhaltung, um nicht zu sagen Verlegenheit, der junge Mann blickte ihm mit fragendem Gesichtsausdruck entgegen, um seinem nichts ahnenden Erstaunen Ausdruck zu verleihen, aber auch die grauhaarige Frau wandte ihm ihr Gesicht zu, staunte und schwieg vorerst, erhob sich dann aber betont langsam und küsste ihn leidenschaftslos auf beide Wangen, eine ungeahnte Geste, die er in ähnlichem Stil erwiderte … „welch ein Zufall“, die ebenso spärlichen wie nichtssagenden Worte, die sie sich entlocken ließ. Die Begrüßung fiel insgesamt erwartungsgemäß aus, und die Begeisterung hielt sich selbstredend in Grenzen! Sicherlich, es war Greth, unverkennbar, aber weidlich gealtert und scheinbar krank, jedenfalls schien ihr das Aufstehen schwerzufallen. „Darf ich dir meinen Sohn Daniel vorstellen, du weißt ja“ … formeller Handschlag … „Freut mich!“ – das feierliche Höflichkeitsgemurmel gemäß offizieller Spielregeln, doch die überdeut­lichen Fragezeichen in seinem verdutzten Gesichtsausdruck verschwanden einstweilen nicht. Unhöflicherweise blieb er auch sitzen, wahrscheinlich absichtlich, um zu demonstrieren, dass er keinen weiteren Gesprächspartner wünsche, oder gar aufgrund des Schreckens, welcher die Bekanntmachung mit Arthur, dessen Name wohl mit einer negativen Konnotation behaftet war, bei ihm auslöste. Die spannungsgeladene Atmosphäre war jedenfalls deutlich fühlbar, seine Befürchtungen oder Vorahnungen also weder abwegig noch unberechtigt. Dass man seinem Erscheinen – sein Zögern vor dem Fenster wurde wohl beobachtet – bereits eine Kurzbiografie vorausschickte, welche Sohn wie Tochter einschlägig ins Bild setzten, war damit so gut wie erwiesen, wenngleich zu befürchten war, dass die ausschlaggebenden Fakten verdreht oder zumindest zweckdienlich bereinigt worden waren. Doch den genauen Wortlaut von Greths apologetischen Erklärungen kannte er natürlich nicht, er konnte nur ahnen, durch welche ‚Ammenmärchen‘ sie die Schatten der Vergangenheit, welche sie wohl kurzerhand wieder zum Leben erweckte, erneut ins Rampenlicht rückte.

Ob er sich zu ihnen setzen dürfe, fragte er gleichwohl, die überdeutlichen Zeichen der Spannung absichtlich missachtend … Aber bestimmt, wiewohl sie sehr bald wegzugehen gedächten, da sie noch ein recht umfangreiches Programm zu absolvieren hätten … „Im Übrigen kannst du kaum wissen, dass deine Tochter und Daniel sich im Pfingstlager kennenlernten, wo sie sich auch angefreundet haben, und sie möchten sich fortan öfters mal treffen; ein wunderbarer Zufall, nicht wahr? Eine göttliche Fügung wohl. Ich freue mich sehr, und eine Art Glücksgefühl hat mich erfasst, indem ich nun möglicherweise erleben darf, dass mein einstiger Traum wenigstens eine Generation später in Erfüllung gehen wird … du weißt schon, wovon ich spreche. Gottes Wege sind eben unerforschlich, aber gerecht, darauf habe ich stets gebaut, erfolgreich, wie man sieht.“

„Ja, dieser Umstand ist weidlich bekannt“, so seine etwas pikierte Erwiderung, die jedoch unerwidert im Raum stehen blieb, denn eine Debatte über alte Meinungsverschiedenheiten wäre wohl im Augenblick unerwünscht gewesen.

„In dieser Hinsicht waren wir ja nie ganz gleicher Meinung, aber diese Differenz war vermutlich nicht ausschlaggebend für die Tatsache, dass …“

Arthur erbleichte zusehends, hörte noch von Weitem, ob es ihm nicht gut ginge, und dann herrschte Dunkelheit und Stille … er fiel zu Boden, wo er angeblich regungslos liegen blieb. Dass er sich dabei den Kopf aufschlug, bemerkte er freilich nicht.

Kopfschmerzen, Dunstschwaden, orientierungslos durchquerte er den Raum … Langsam lösten sich aus der Dunkelheit einige schemenhafte Gesichter und Gestalten, Namenlose zunächst, Götzen des Unbewussten, doch mehr und mehr erkannte er ehemalige Vertraute, Freunde und Feinde, Figuren jedenfalls, welche ihn auf seinem Lebensweg einst für kürzere oder längere Zeit begleitet hatten. Sie tauchten auf, durchquerten schwebend sein Blickfeld, grüßten bisweilen flüchtig und verschwanden wieder, indem sie sich in nichts auflösten. Die flüchtigen Erscheinungen verstärkten sich zusehends, beschleunigten ihr Tempo und begannen bald wirr durcheinanderzuwirbeln, als vollführten sie einen ganz besonderen Hexentanz. Wie auf einem Karussell drehten sie sich im Kreise und spiegelten ihm in rascher Abfolge einen Großteil seiner Vergangenheit wieder, bis sich endlich eine konkrete Geschichte herausschälte und Bilder produzierte, welche wohl dem persönlichen ‚Archiv‘, mithin dem sogenannten ‚Erinnerungspool‘ entnommen wurden:

Arthur stand auf der untersten Stufe einer Treppe, welche zu einer seiner ehemaligen Wohnungen führte, die sich in einem Mehrfamilienhaus mitten in der Stadt befand. Auf der obersten Stufe derselben saß Greth, die er nun genau erkannte. Als er zu ihr hochgestiegen war, erhob sie sich, nahm ihn sanft in ihre Arme und schmiegte sich an seinen Körper, wo sie sein steifes Glied deutlich wahrnahm und schließlich auch mit der einen Hand berührte: „Deswegen warte ich nun schon eine geschlagene Stunde, aber ich sehe, dass es sich gelohnt hat“, sagte sie laut und deutlich, doch es war ihm peinlich, denn sie standen noch im Hausflur vor der Eingangstür zu seiner Wohnung, und andere Bewohner, die ihm, dem Fremdling und Ehebrecher, ohnehin nicht gewogen waren, konnten über den Türspion ungehindert die reichlich kompromittierende Szene beobachten. Es war dennoch ein recht angenehmes Gefühl, das Gefühl, willkommen zu sein, und wohlig warm durchströmten ihn Erinnerungen aus früheren Zeiten, jene Erinnerungen nämlich, welche zu Greths Geschichte gehörten.

Sie trug noch ihre braunen Haare, was bewies, dass die Szene in der Vergangenheit spielte, braune Haare also, welche am Hinterkopf zu einem kunstvollen Knoten zusammengebunden waren. Der Knoten war ihr Wahrzeichen, wiewohl auch Symbol für Zusammengehörigkeit und Demut, welcher sich alle Frauen befleißigten, die sich in ihrer religiös geprägten Vereinigung zusammentaten. Ihr Gesicht war noch jung und verführerisch, doch ihr Gewand nach üblicher Regel, langweilig und fad, verbarg jedenfalls sämtliche weiblichen Formen und hatte offensichtlich dafür zu sorgen, dass es die Lust des Mannes nicht anheizte. Es war beiden klar, dass sie allein waren, nachdem sie Arthurs Wohnung betreten hatten, denn er hat die Türe hinter sich fest verschlossen. Nein, es handelte sich nicht um ein gewöhnliches Stelldichein, die Episode ereignete sich allein dank Greths eigenwilligem Entschluss, diese eher ungewöhnliche Zusammenkunft herbeizuführen, koste es, was es wolle. Sie wusste ja nicht, ob und wann Arthur kommen würde und setzte sich aufs Geratewohl auf die oberste Stufe der einzigen Treppe, die zu dessen Wohnung führte. Sie wartete geduldig, angeblich darauf bauend, dass ihre Intuition sie nicht täuschen würde, und sie wurde scheinbar vollumfänglich belohnt, dachte sie zunächst im ersten Glückgefühl, das sie empfand. Es war ihr Entscheid, entsprach ihrem Willen, nur, Arthurs Reaktion stand noch aus, denn er kannte ihre Hintergedanken, die sie zu keinem Zeitpunkt verheimlichte.

„Die Gelegenheit ist günstig, um endlich unser Kind zu zeugen, das du mir seit Langem schon versprochen hast. Genug des Hinhaltens, und bitte auch keine platten Ausflüchte mehr, zumal du wohl kaum vergessen hast, was widrigenfalls auf dem Spiel steht. Aber lass es uns in Liebe tun, nicht unter Druck und erpresserischer Drohung, denn es ist mein innigster Wunsch, deine Erbeigenschaften mit den meinigen zu vereinen, eben ein Kind zu zeugen, das sie in sich trägt, die verborgenen Schätze unserer beider Gene. Ich habe alles geregelt, meine Welt ist in Ordnung, und die deine wird dadurch nicht verändert werden. Die Vaterschaft dieses Kindes wird immer unser Geheimnis bleiben, und nichts und niemand auf dieser Welt wird je in der Lage sein, es zu lüften.“

Sie löste den Haarknoten und warf ihre langen Haare mit laszivem Schwung über die Schultern, öffnete ihre weiße Bluse, wodurch die kleinen Brüste sichtbar wurden, und zog den knöchellangen Rock bis zu den Hüftknochen hinauf, um ihm ihr stark behaartes Geschlechtsorgan anzubieten. Eine rötliche Schleimhaut schimmerte durch die buschigen Haare hindurch und markierte Bereitschaft zum Beischlaf. Sie war unwiderstehlich, aber er zögerte noch, trotz wachsender Begierde, doch plötzlich von der Macht weiblicher List und Zielstrebigkeit übermannt, schwand sein Widerstand dahin, und so schickte er sich an, den nunmehr unabwendbaren Beischlaf zu vollziehen. Beinahe gleichzeitig bemerkte er aber, dass sich wider Erwarten sonst noch jemand in der Wohnung aufzuhalten schien, sodass er innehielt und den bereits begonnen Zeugungsakt unterbrach, was beinahe einem Martyrium gleichkam, aber unausweichlich schien, um den Störenfried auszumachen und zu vertreiben, denn keiner sollte diesen Akt je bezeugen können. Greth blieb liegen, etwas ungehalten zwar, aber scheinbar geduldig auf die Fortsetzung wartend, ohne dazu einen Kommentar abzugeben. Arthur fand im Zimmer nebenan einen glatzköpfigen, etwas rundlichen Herrn, den er nicht kannte. Befragt nach seinem Begehr, packte er irgendein Dokument hastig in seine Aktentasche und verschwand, ohne eine Antwort zu erteilen. Er enteilte nicht durch die Wohnungstür, vielmehr löste er sich in Luft auf. Als Arthur, etwas verdutzt zwar, aber dennoch zufrieden, wieder zum Liebesnest zurückkehrte, um zu vollenden, was er begonnen hatte, war Greth verschwunden …

Dann wurde es langsam wieder hell … die sterile, weiß gekachelte Atmosphäre der Notfallstation stand in krassem Gegensatz zu seiner einst wohlig warm eingerichteten Wohnung, die sein Traum – es stand nun fest, dass es einer war, den er indes nicht zum ersten Mal träumte – eben noch in Erinnerung rief.

„Guten Tag, wie geht es Ihnen? Lange geschlafen, was?“

„Ich weiß von nichts … Wo ist meine Tochter, wo ihre Bekannten, mit denen ich mich eben in der Stadt getroffen habe?“

„Keine Ahnung, aber Sie, mein Herr, sind im Kaffeehaus zusammengebrochen und waren bis jetzt nicht ansprechbar, wir werden uns darum kümmern. Übrigens, es war keine Begleitung dabei, als Sie eingeliefert wurden, und wir hatten etwelche Mühe, ihre Identität zu ermitteln. Wir wussten nicht, ob wir jemanden benachrichtigen sollten, der vielleicht in Kenntnis gesetzt werden müsste, dass Sie bei uns gelandet sind.“

„Ach, schon gut, lassen Sie das meine Sorge sein, vielen Dank! Habe ich Verletzungen?“

„Nichts Schlimmes, es war wohl ein Kreislaufkollaps, der dafür verantwortlich war, dass Sie den Kopf am Boden aufschlugen und deshalb eine kleine Gehirnerschütterung davontrugen. Sie werden sich bald erholen.“

„Gut, werde mich damit abzufinden wissen. Danke.“

Arthur verschob die an sich brennende Frage nach der eigentlichen Ursache seines Zusammenbruchs auf später, denn er fühlte sich recht gut, abgesehen von den Kopfschmerzen beinahe so, als ob nichts geschehen wäre. Vielmehr beschäftigte ihn die brennende Frage, weshalb denn niemand mitgekommen war, nicht einmal seine Tochter, die sich offensichtlich kaum um sein Schicksal kümmerte, vielleicht sogar froh war ihn loszuwerden. Sein Auftritt im Kaffeehaus war augenscheinlich unerwünscht, und die Bange um den wohlpräparierten Stundenplan, dessen Stellenwert sich seiner Kenntnis entzog, überwog allem Anschein nach bei Weitem. So musste er davon ausgehen, dass sie erleichtert waren, als sie ihn, bewusstlos wie er war, der emsig herbeigerufenen Ambulanz und deren hilfreichen Sanitätern überantworten konnten. Auch später kam kein Anruf, weder Greth noch sonst wer erkundigte sich nach seinem Befinden, was ihn zwar etwas verwirrte, aber letztlich wenig beeindruckte, da er einstweilen keinen Grund sah, den Kontakt zu diesen mittlerweile entfremdeten Menschen, die er rein zufällig traf, aufrechtzuerhalten, waren doch etwelche Peinlichkeiten absehbar. Dennoch stellte er mit bangen Vorahnungen fest, dass dieser eine Freitagsspaziergang noch ein Nachspiel haben könnte, zumindest aber für eine umfangreiche Retrospektive Anlass geben dürfte … Die Ahnung sollte sich bald als durchaus berechtigt bestätigen.

Arthur begann Füße und Hände zu bewegen, alles schien zu funktionieren, und Schmerzen hatte er sonst keine, nur ein dumpfes Sehren machte sich an seinem Hinterkopf bemerkbar. Auf dem Kissen war Blut. Gleichwohl oder gerade deshalb beschäftigten ihn die wildesten Gedanken, welche sich auf die eben beschriebene Begegnung bezogen. Das unerwartete Wiedersehen mit Greth, die Freundschaft seiner Tochter mit dem unbekannten Mann, der ihr Sohn sein soll, und der eigenartige Traum, den er kurz vor seinem Auftauchen aus seiner Bewusstlosigkeit erlebte, welche Bewandtnis sollte ihnen denn zukommen? Seine ohnehin leicht entflammbare Fantasie erzeugte Schreckensbilder und fürchterliche Chimären, derer er sich nicht erwehren konnte, ein ihm bestens bekanntes Phänomen, das sich immer dann einstellte, wenn er Unheil witterte. Die reichlich schräge Geschichte, die er vor langer Zeit mit Greth erlebte, löste sich langsam aus dem längst abgelagerten Seelenmüll und kroch wie eine Giftschlange gemächlich an Arthurs Leib empor, um ihn aufs Neue zu bedrohen, weil er befürchtete, dass die alte, vergessen geglaubte Geschichte nun eine unrühmliche und vielleicht sogar frevelhafte Fortsetzung erfahren könnte, die er, so sein Verdacht sich bestätigen sollte, unbedingt verhindern müsste. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirne, und ein eigenartiger Angstzustand bemächtigte sich seiner, bis er sich plötzlich aufbäumte und aus voller Kehle schrie: „Haltet sie fest, lasst sie nicht gewähren, es ist Gefahr im Verzug!“

Chemische Zwangsjacke … und die geziemende Ruhe war wiederhergestellt. Einige Stunden später war Arthur zu Hause, ruhig und gesund, allerdings etwas abgespannt, kummervoll, besorgt. Er wusste nicht, ob und wenn ja, was er tun sollte, Verunsicherung griff Platz:

Was mochte sie den beiden Jungen erzählt haben, wie hat sie Arthur beschrieben, welche Rolle ihm zugeteilt, und wie verhielt es sich mit der einst gelobten Verschwiegenheit? Wurde sie denn überhaupt je eingefordert, oder hat sie sich längst als obsolet erwiesen? Die Fragen wirbelten immer wieder durch seinen Kopf, glaubwürdige Antworten konnte er indes keine finden, es sei denn, er wäre imstande, die ganze Geschichte noch einmal aus der Versenkung hervorzuholen, um sich all jener Zusammenhänge zu entsinnen, die damals eine Rolle gespielt haben dürften, als sie sich zutrugen. Sofort begann sein Gehirn zu arbeiten und seine Gedanken ein Netz zu weben, in welchem sich die blassen Erinnerungsbrocken verfangen sollten, um einem Puzzle gleich wieder zu einem ganzen Bild zusammengesetzt zu werden.

Im Grunde war es ein Leichtes eins und eins zusammenzuzählen, denn zweifellos hatte er nunmehr davon auszugehen, dass Greths Sohn und seine Tochter sich ineinander verliebt hatten und dabei waren, eine scheinbar ernsthafte Partnerschaft einzugehen, möglicherweise sogar zu heiraten, denn nur so ließe sich Greths Bemerkung erklären, dass ihr sehnlichster Wunsch, dessen Inhalte sich im Traum widerspiegelten, wenigstens eine Generation später in Erfüllung ginge … „Eine Gnade Gottes“, wie sie nebenbei bemerkte. Dass sie dabei einige krasse Fehlüberlegungen beging und sich über bestimmte Aberrationen und Ungewissheiten der Ereignisse hinwegsetzte, welche sich inzwischen erhellt hatten, schien sie dabei nicht sonderlich zu stören. Aber sie hatte stets eine etwas opportunistische Einstellung zu den Vorgängen des Lebens, und auch ihre Wahrheitsliebe ließ gelegentlich zu wünschen übrig, weshalb er sich, wie bereits angedeutet, auch darüber Sorgen machte, auf welche Art und Weise sie die einstige Geschichte verarbeitet haben könnte und nun wohl wiedergeben würde, eine Geschichte nämlich, in der sie nicht immer obenauf schwang, die sie aber höchstwahrscheinlich trotzdem in einer für sie selber eher günstigen Version gespeichert haben würde. Dass sie dabei nur ihre eigene, zurecht­gebogene Version zum Besten geben dürfte, und dies, ohne zu zögern, war so gut wie sicher, war sie doch eine recht gesprächige Person, um eine milde Formulierung anzuwenden … ja, man hätte sie auch als schwatzhaft bezeichnen können. Außerdem stand zu befürchten, dass Arthurs Tochter gewisse Fragen stellen könnte, deren Beantwortung sie vermutlich im angestammten Bewusstsein, stets das Richtige zu tun, gleich selber an die Hand nehmen dürfte, nicht zuletzt, um gewisse Unstimmigkeiten nach eigenem Gutdünken zu beschönigen. Die Aufforderung jedenfalls, „… frag doch deinen Vater, wenn du’s so genau wissen willst …“, würde sie sich mit Sicherheit verkneifen, und dies mit gutem Grund.

In einer ersten Anwandlung von Gefühlen und Ideen, auch Zweifeln und Skrupeln dachte er daran, gleichwohl mit ihnen Kontakt aufzunehmen und klarzustellen, was höchstwahrscheinlich geboten war, ging es doch unter anderem auch um seine Ehre, deren Abnutzungserscheinungen über die Zeiten hinweg sichtbar geworden waren. Dass er den Plan jedoch sogleich wieder verwarf und sich eine andere Strategie ausdachte, hatte seine Gründe, denen er mehr Gewicht zuordnete, als das Ehrgefühl einforderte.

Nichtsdestotrotz quälte ihn seine Unkenntnis über die Bewandtnis des Aufwachtraumes, den er soeben seinem Tagebuch anvertraut hatte. Die Bedeutung und den Wahrheitsgehalt der einzelnen Begebenheiten, die er wiedergab, hätte er gerne durchschaut, ob und wie es ihm gelingen würde, dies zu vollbringen, musste einst­weilen offen bleiben, doch den angekündigten Versuch zu wagen, die ganze Geschichte vor dem geistigen Auge erneut aufzurollen und festzuhalten, war zumindest verlockend und ließ ihm keine Ruhe mehr.

Noch stand nicht fest, woran er den Beginn der Handlung festmachen könnte, denn dieser stand wohl einzig und allein in den Sternen, jenen Sternen, die seinerzeit eine eigenartige Konstellation bildeten, die er weder kannte noch deuten konnte. Im Nachhinein wurde ihm derweil bewusst, welchen Weg sie ihr, Greth, wohl wiesen, dass er sich jedoch mit seinem Weg nicht vereinen sollte, war ihr Ul , den sie augenscheinlich nie aus ihrem Sinnen und Trachten zu verbannen vermochte. Welchen Ausweg aus ihrem angeblichen Missgeschick sie schließlich wählte, war ihm nicht bekannt, denn letztendlich hatte er sich auch nicht um ihre Angelegenheiten zu kümmern, ja wäre außerstande gewesen, dies zu tun, da er sie nach ‚geschlagener Schlacht‘ bald einmal aus den Augen verlor. Nach nur wenigen kurzen Begegnungen nach dem ‚Finale‘ hatte sie endgültig die Flucht ergriffen, ja, es war eine Flucht, die ihr zum Verlassen des mehr und mehr feindlich gesinnten Umfelds hatte verhelfen sollen.

So bleibt ein Stück Geschichte übrig, das es nun zu erzählen gilt, egal, wo der Anfang angesetzt wird, denn das Stück hat auch kein erkennbares Ende, es zeigt lediglich eine an sich belanglose Episode an und wird nur deshalb bedeutungsvoll, weil das gütige Schicksal zusammenführte, was angeblich zusammengehörte, eine eigenwillige Interpretation allerdings von strittigen Zusammenhängen und womöglich auch ungeschickten Äußerungen seitens Arthur.

Nun, Greth stand eines Tages vor ihm, groß, schlank, fröhlich, insgesamt jedoch unauffällig. Ihre Höflichkeiten fielen sehr wohl auf, dass sie überschwänglich gewesen wären, ist nicht erinnerlich, zweckdienlich sollten sie derweil sein, wie sich später herausstellen sollte. Mehr ist dazu beim besten Willen nicht zu sagen, denn die alltäg­lichen Verrichtungen waren so oder so zu vollbringen, warum nicht mit sichtlicher Freude und ostentativem Eifer. Damit wäre im Grunde alles gesagt, wenn nicht …

***

Erich hieß der Milchmann, der aber geradeso gut Briefträger oder Hausierer hätte sein können, denn nicht was er in die Wohnungen brachte, war von Belang, sondern vielmehr wie er es tat. Einen Liter Milch zu verkaufen dauerte zuweilen eine gute Stunde, was den Verdacht erweckte, dass sich seine Verkaufspraxis nicht nur auf die Milch bezog, stattdessen aber noch andere ‚Güter‘ angepriesen wurden, deren Natur natürlich nur jenen Personen bekannt war, die sie auch bezogen. Es war derweil nicht sonderlich schwer zu erraten, womit er nebst Milch und Butter auch noch handelte, wenngleich die Mutmaßungen aus der Nachbarschaft nicht unbedingt die ganze Wahrheit wiedergaben, nicht zuletzt, weil Mutmaßungen niemals Gewissheit sein können. Ein kurzes Gespräch mit Greth, das Arthur während einer Kaffeepause aus reiner Neugier vom Zaun brach und dessen auffälliges, um nicht zu sagen anstößiges Verhalten zum Thema hatte, ließ nämlich eine andere, völlig unerwartete Stoßrichtung erahnen:

„Ach, hin und wieder ein kleiner ‚Schwatz‘ kann doch nicht schaden, oder?“, versetzte sie unschuldig und machte eine Miene, wie sie unbedarfter nicht sein konnte.

„Nein, natürlich nicht, aber deine Nachbarn sind da anderer Meinung.“

„Sollen sie doch, geht sie ohnehin nichts an, und im Übrigen liegen sie völlig falsch … und nebenbei bemerkt, die Frau von gegenüber sollte besser den Mund halten, denn auch ihr Verhalten heizt die Gerüchteküche gewaltig an.“ Etwas pikiert, dieser Nachsatz, gab sie doch unfreiwillig zu, dass ihr das Gemunkel bekannt war, die Ondits der Nachbarin aber gleichwohl kolportiert; Angriff statt Verteidigung also, ein altes Rezept.

„Ich verstehe, aber sie mischen sich trotzdem ein, und du kennst die Verbindungen, die sie nutzen, um dich an einschlägiger Stelle anzuschwärzen. Lass sie in Ruhe, denn sie werden nicht klein beigeben, ehe …“

„… lass gut sein, es ficht mich nicht an. Weißt du, es ist mir mittlerweile egal, bin ich doch gerade dabei, selbst in dieser Hinsicht einige kritische Gedanken zu entwickeln, und weiß Gott, wohin sie mich führen werden. Erich ist dabei nur mein Berater, dessen Empfehlungen ich immer wieder gerne entgegennehme. Aber vergällen lasse ich mir meine Überzeugung nicht, so viel steht fest.“ … eine Art Apologie, die völlig fehl am Platz war, jedenfalls unpassend und keinesfalls schlüssig in Bezug auf das angeschnittene Thema, ein Ausweichmanöver vermutlich, dessen wahre Bedeutung nicht durchschaubar war.

„Du sprichst in Rätseln, aber lassen wir es bleiben, es geht mich tatsächlich nichts an, sodass ich mich diesbezüglich lieber zurückhalte, und sei es bloß, um nicht weiteres Porzellan zu zerschlagen. Es sei dir namentlich unbenommen, so oft und so lange mit ihm zu sprechen, wie es dir beliebt, das soll mich einen feuchten Kehricht scheren. Lebe doch dein Leben, wie es dir behagt.“ Das Gespräch, an welches sich Arthur noch recht genau erinnerte, war ziemlich kurz und wohl auch provokativ, ja vielleicht sogar so angelegt, dass in ihm etwas Eifersucht hätte erregt werden sollen, doch wusste er damals nicht, was sie damit anzuleiern gedachte. Über die schnoddrige Antwort war sie dann auch wenig erfreut und zog sich mit beleidigter Miene zurück, nicht ohne deutlich zu machen, dass sie darauf zurückkommen werde, denn die rein zufällige Freundschaft mit Arthur war ihr wichtig, um nicht zu sagen unerlässlich, ihre wahren Absichten indes noch schleierhaft.

Was den Milchmann betraf, war Greth eher reserviert und ließ nur Informationen durchsickern, die ihr zweckdienlich schienen, und insbesondere im apodiktischen Regelwerk des Milchmanns – dass ein solches existierte, ließ sie wiederholt durchblicken – nicht ausdrücklich unstatthaft waren. Welche Aktivitäten er nämlich anlässlich seiner Besuche bei ihr entwickelte, blieb vorerst ihr Geheimnis, wenngleich die Gerüchte kräftig ins Kraut schossen und die fürchterlichsten, meist rufschädigenden ‚Legenden‘ verbreitet wurden, die dem aufdringlichen Milchhändler wie auch seinen zahlreichen Kundinnen einen lasterhaften Ruf einbrachten. Aber er schaffte es offensichtlich, seine ‚Opfer‘ zum Schweigen zu verpflichten, um seine Praktiken nicht zu verraten, seine Methoden, derer er sich dabei bediente, hielt er indes unter Verschluss. Dass diese Randbemerkung – sie fiel wohl unbewusst – vermuten ließ, dass Greth nicht die Einzige war, welche in den Genuss seiner eher ungewöhnlichen ‚Verkaufspraktiken‘ gelangte, ist nicht erstaunlich, wer jedoch außer ihr noch seinem ‚Klub‘ angehörte, war im Einzelnen nicht bekannt. Dass sie indessen mit dabei war, verblüffte schon etwas mehr, denn solches Gebaren entsprach nicht unbedingt ihrem Stil, dachte er zumindest. Dass sie damit einen ganz bestimmten Zweck verfolgte, war anzunehmen, ob sie dessen Natur eines Tages verraten würde, war zu jenem Zeitpunkt nicht ersichtlich, aber auch irrelevant. Ihre Persönlichkeitsstruktur und Lebensart waren wenig transparent, ja muteten gar enigmatisch an, wiewohl sie sich recht kommunikativ gab, und kaum einer, einschließlich Arthur, wusste genau, was sie wirklich tat und welchen Überzeugungen sie huldigte. Dass er sie überhaupt kannte, war dann auch einem eigenartigen Zufall zu verdanken, der sich aus dem natürlichen Hergang des Alltags ergab. Weitere Gedanken dazu anzustellen, hat er sich indes versagt, da sie keinesfalls in sein Beuteschema passte und zu jenem Zeitpunkt auch sein Jagdinstinkt brachlag, weil die Zeit für Neuakquisitionen auf diesem Gebiet noch nicht reif war.

Nun, der Milchmann namens Erich war beileibe kein unbeschriebenes Blatt, wenngleich seine Herkunft im Dunkeln lag, dessen Erhellung derweil bis zu einem gewissen Grad, dank zahlreicher – berufener und unberufener – Berichterstatter, dennoch gelang. Es schien, als ob er buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht wäre, alsdann präsent war und sich sogleich mehr als deutlich in Szene setzte, was seinen Bekanntheitsgrad erheblich förderte. Schon in früher Jugend soll er sich, so die Fama, seiner missionarischen Fähigkeiten bewusst gewesen sein und diese auch weidlich kultiviert haben. Zahlreiche Versuche auf diesem steinigen Terrain, die er schon während der Schulzeit angestellt haben soll, bewiesen ihm jedoch, dass er, wofür auch immer, ein großes Publikum zu begeistern vermochte, um sich dessen nach Gutdünken zu bedienen, eine zweifelhafte Begabung indes, welche die Menschheit immer mal wieder ins Verderben ritt.

Er entdeckte anscheinend die Mittel, welche es ihm erlaubten, die Menge zu manipulieren und nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Männiglich hing wohl an seinen Lippen, wenn er entsprechend loslegte, und nahezu kritiklos befolgten seine Jünger seine Anweisungen, angeblich punktgenau und ergeben. Auf den Pausenplätzen der Schulen seiner Umgebung sei er ebenso willkommen wie gefürchtet gewesen, doch gegen seine Aktivitäten und im Grunde demagogischen Machenschaften schien kein Kraut gewachsen zu sein. Dass er dann und wann eine Tracht Prügel abbekam, war ihm anscheinend egal, seine Anliegen durchzubringen, schien stets Vorrang zu genießen, und seine zahlreichen Erfolge, die er trotz fragwürdiger Methoden errang, entschädigten ihn für erlittene Unbilden. Ja, er hatte durchaus dämonische Züge an sich, aber sie überwogen meist nicht, dafür strömte er eine bestimmte Form von Güte aus, welche sich jedoch unvermittelt in Zorn oder Groll verwandelte, wenn es jemand wagte, ihm zu widersprechen oder seine Theorien anzuzweifeln, nein, das konnte er auf den Tod nicht ab. In solchen Fällen geizte er jeweils nicht mit Drohungen und Verwünschungen der übelsten Art, wodurch er sich wohl eine unwiderstehliche, ja beinahe absolute Autorität zuzulegen versuchte, was weithin gelang. Dort, wo er jeweils auftrat, galten ausschließlich seine eigenen, eher abstrusen Ansichten, und jegliche noch so geringe Abweichung davon wollte er sich stets verbeten haben. Mit diesem Anspruch betrat er dann auch die Weltenbühne, als er offenbar mit nur knapp genügenden Zeugnissen aus der Schule entlassen wurde. Was er zwischenzeitlich anstellte, wo er möglicherweise sein Lehrgeld bezahlte und wie er es schaffte, seine unleugbare rhetorische Virtuosität, die wohl einzige, aber umso ausgeprägtere Begabung, zu seinem Beruf zu machen, ist nicht bekannt und blieb stets eines seiner bestgehüteten Geheimnisse, die wohl auch Greth nie zu lüften wusste.

Mit dieser letztlich eigensinnigen und zuweilen törichten Einstellung zog er also von Ort zu Ort und verbreitete so lange seine Irrlehren, bis er durch irgendwelche Umstände gezwungen wurde, sich unauffällig und ohne weitere Spuren zu hinterlassen, zurückzuziehen und die Stätte seines Wirkens mit unbekanntem Ziel zu verlassen, um andernorts wieder aufzutauchen und erneut zu predigen, das Einzige, was ihm wirklich lag. Seine Zuhörerschaft entwickelte sich unter seinen Fittichen stets zu Fanatikern und blieb es so lange, bis meist durch Zufall die Schwindeleien enttarnt und seine üblen Machenschaften durchschaut wurden, denn sein überhebliches Gehabe war gleichzeitig auch sein Geschäftsmodell, dem er stets treu blieb. Der Scherbenhaufen, den er jeweils hinterließ, kümmerte ihn kaum, denn er wechselte zuzeiten seine Wirkstätten fast ebenso oft wie sein Hemd, das längst nicht mehr rein war. Und zum fraglichen Zeitpunkt war er in jener Gegend, in welcher auch Arthur und Greth lebten, eine Gegend, von der man wusste, dass Aktivitäten, wie er sie anzubieten hatte, gute Chancen hatten, auf fruchtbaren Boden zu fallen, denn zahlreiche ‚Berufskollegen‘ waren da schon tätig und vermochten sogar namhafte Erfolge zu verbuchen. Das Erfolgsrezept sprach sich offenbar herum, und es muss mit einiger Bewunderung festgehalten werden, dass es ihm gelang, mit seiner Masche recht viele Anhänger zu akquirieren, die er für geeignet hielt, seinem Zirkel beizutreten, was darauf hinwies, dass er wohl die Ängste einerseits, wie auch die niedrigen Instinkte all jener Leute geschickt für seine Zwecke zu missbrauchen verstand. Solange seine Position unangefochten war, wurde er als Sprachrohr Gottes ernst genommen und verehrt.

Eigentlich war er ein elender Schwätzer, mehr nicht, aber er verstand es, seinen Ausführungen die nötige Dynamik zu verleihen, sodass ihm die Leute zunächst begeistert zuhörten und nach einiger Zeit der steten Wiederholungen dem Unfug auch noch Glauben schenkten und sich zudem verhielten, als wären sie einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Dies jedenfalls insoweit, als er zahllose Versprechen abgab, die keiner zu hinterfragen wagte, denn ihre Wertigkeit war über jeden Zweifel erhaben. Gleichzeitig fürchtete sich männiglich auch vor seinen Drohungen, die er im Falle eines Ausscherens aus der Gemeinschaft in Aussicht stellte, im Grunde eine Art Widersinn, den jedoch niemand bemerkte, bemerken wollte womöglich. Freilich, seine Mahnungen verbreiteten Angst und Schrecken, denn die Leute erlagen den Befürchtungen, dass sie der viel beschworene Bannstrahl, wessen auch immer, treffen werde, sofern sie seine Lehren nicht befolgen sollten. Gerede und viel warme Luft, mehr nicht, aber während einer gewissen Zeit ein wirksames Gebräu gegen Ausscherung und Protest, ja, eine nahezu geniale Mischung aus Verheißung und Verdammnis, welche allemal ihre Wirkung tat. Dass er sich aber gerade den Tarnberuf des Milchmanns zulegte, zeugte eher von beschränkten mentalen Fähigkeiten, war er doch zusammen mit dem Briefträger der Prototyp des landesüblichen Nebenbuhlers und gefürchteten Verführers des braven Hausmütterchens, wie er in nahezu jedem Witzblatt seit Jahrzehnten immer wieder persifliert wird. Doch dieses Faktum schien ihn nicht zu stören, geschweige denn von seinem unsinnigen Tun abzuhalten, wenngleich ihm männiglich versicherte, dass Milchmänner seit Langem schon ausgestorben seien. Nein, im Gegenteil, er wähnte sich im Aufwind, da er gerade diesen Ruch als Vorwand nutzte, um jene Menschen zu erreichen, die durch ihre besonders isolierte Stellung in der Gesellschaft am ehesten bereit sein würden, seinem ‚Weckruf‘ zu folgen, da er aus Erfahrung wusste, dass sein Geschäft nur dann rentabel sein konnte, wenn die Anhängerschaft groß genug war, um die Unkosten, die auch seinen erklecklichen Lohn enthielten, hinlänglich zu decken, und auch geeignet war, den nichtmateriellen Anteil dessen zu entrichten, was er ihnen bot: nicht mehr und nicht weniger als die Garantie, dermaleinst ins Paradies eintreten zu dürfen, sofern … Ins­gesamt also ein reiflich überlegter Schachzug, dessen illegalen Aspekte nicht ohne Weiteres erkennbar waren.

Kurzum, eines Tages tauchte also der wohl ‚letzte‘ Milchmann aller Zeiten – keiner wusste woher er kam – in einem abgelegenen Tal einer dünn besiedelten Bergregion auf und begann die Familien – auch Greths Familie – zwecks Verkaufs von Milch und Milchprodukten in ihren Wohnungen aufzusuchen, während er bei den Bauern, die im selben Tal lebten, seine Ware einkaufte, sodass keiner etwas gegen seine Aktivitäten einzuwenden hatte. Im Gegenteil, er erleichterte den Menschen ihre Arbeit, indem er für sie besorgte, was sie bis dahin selber tun mussten, eine Geste, die man allenthalben willkommen hieß. Das Tal war derweil auch ein idealer Ort, um seine wirren Anliegen zu verwirklichen, es war klein, überschaubar, geografisch nach außen hin sozusagen abgeriegelt und damit eine Wirkstätte, die schöner und einheit­licher nicht hätte sein können. Was er dort sonst noch unternahm, um sich beliebt zu machen, sei dahingestellt, jedenfalls waren seine Maßnahmen erfolgreich, und es dauerte nicht allzu lange, bis er als Prediger ebendort verpflichtet wurde, da ein solcher seit einiger Zeit schon fehlte, was ihm erlaubte, einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel zu tun, dessen Natur indes nicht vollumfänglich bekannt war. Einige Müsterchen seines diesbezüglichen Könnens hat er natürlich zuvor schon abgegeben, sodass sich seiner Wahl keiner mehr widersetzte, ja, nach gewogenem ‚Wahlkampf‘ keiner mehr wagte, ihm seine Stimme zu verweigern. Ein wohltätiger Bauer entledigte sich seiner Sünden, indem er seine alte, kaum mehr brauchbare Scheune zur Verfügung stellte, die man behelfsmäßig zum Gebetshaus umfunktionierte, und die Bewohner lobpriesen ihn und freuten sich darüber, da sie nun nicht mehr gezwungen waren, ins nächstgrößere Dorf zu pilgern, um in die Kirche zu gehen, weil sich ein annehmbarer Ersatz in unmittelbarer Nähe befand. So besuchten sie nun regelmäßig diese etwas baufällige, aber einschlägig gekennzeichnete ‚Stätte des Glaubens‘, welche viele zu Fuß aufsuchten, einige wohl gar mit Erbsen in den Schuhen, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen, denn, so Erich, keiner sei stubenrein und die Erbsünde – Bauernfängerei der ersten Stunde – sei ohnehin unabdingbar. Kaum einer schien sich derweil darüber Gedanken zu machen, ob der neue Prediger denn tatsächlich als solcher qualifiziert sei und ob er vielleicht einer bestimmten, möglicherweise sogar abweichlerischen religiösen Gruppierung angehörte, kurz, ob er überhaupt ein Mann Gottes sei oder bloß ein Schlaumeier und Angeber, vielleicht sogar ein Schwindler, wie sie nicht selten gerade auf solchen Tummelplätzen auftauchen, um ihre Verführungskünste nach Belieben und selbstredend in mancherlei Hinsicht gewinnbringend einzusetzen. Einige wollten zwar wissen, dass er andernorts als Schwindler entlarvt und mit Schimpf und Schande davongejagt worden war, doch die Mehrheit dieser Talschaft wollte von solch diffamierenden Gerüchten nichts wissen, war man doch allgemein der Ansicht, mit Erich eine vorzügliche Wahl getroffen zu haben. Er verkündete das Wort Gottes, er wusste um die schänd­lichen Tücken des Lebens und insbesondere um den unerlässlichen Ablass, den man allenthalben dringend benötigte, auf dass Groll und Hader, welche sich seit Langem schon ins Tal hineinfraßen, endlich befriedet würden.

Nun ja, solche Menschen haben ein gewisses Gespür dafür, wo sich geeigneter Boden findet, auf welchem ihre Saat am besten aufgeht und sich binnen nützlicher Frist ungestört ein Imperium nach ihrem Geschmack errichten lässt. Seine Gefolgschaft, die meisten Bewohner jener Gegend also, war jedenfalls froh und zufrieden, jemanden auf der improvisierten Kanzel zu wissen, der sie mitzureißen verstand und die ansonsten langweiligen Sonntage zu interessanten Erlebnissen machte, wenngleich bald einmal auch klar wurde, dass er ihre althergebrachten Glaubensgrundsätze nur teilweise respektierte. Darauf angesprochen hatte er dann auch keine Mühe vorzugeben, dass sich die Lehre eben gewandelt habe, neue Erkenntnisse dazugekommen seien und es an der Zeit sei, dass man auch in diesem Tal davon Kenntnis nähme. Zurechtweisen lassen wollte er sich indessen nicht, denn er war allwissend und sozusagen unfehlbar, wie der Papst, auf dessen Autorität er aber selbstredend pfiff, wodurch er sich gewissermaßen selber zur höchsten religiösen Instanz auf Erden kürte, eine Würde, die bereits am Talausgang erlosch. So ließ man ihn gewähren, obwohl einige Dinge nicht gerade nach jedermanns Geschmack abgehandelt wurden. Er war die Autorität schlechthin, ihn anzuzweifeln war Blasphemie, dies gab er recht bald all seinen ‚Anhängern‘ zu verstehen, und man gelobte Gehorsam und handelte entsprechend, denn keiner hatte den Mut, sich mit ihm anzulegen. Zu reichhaltig war nämlich die Palette all jener Sanktionen, die dem Ungehorsamen zuteilwerden könnten, und er machte keinen Hehl daraus, dass er selbst Luzifer zu Diensten hätte, sollte sich ein besonders krasser Fall ereignen, der dessen Evokation unverzichtbar machen würde. Unheil statt Heil, Angst statt Zuversicht, Bedrohung statt Geborgenheit, das waren die Zutaten seines Cocktails, mit welchem er sich die Bevölkerung gefügig machte. Dass er dennoch schmeckte, war zwar mehr als erstaunlich, aber anscheinend Tatsache, denn er genoss ein zweifelsfreies Ansehen, und so jagten sie ihn nicht davon und verschafften ihm jene Apotheose, die er sich stets wünschte.

Nun ja, er hatte durchaus auch seine guten Seiten und war stets zur Stelle, wenn ein Kindlein geboren wurde, um es unverzüglich zu taufen, und spendete auch Trost und Segen, wenn ein Todesfall zu beklagen war. Dass und weshalb er sich diese Dienste jeweils gebührend honorieren ließ, wurde nicht weiter hinterfragt, selbst wenn sein Erscheinen nicht geordert wurde. Die Ehre, den Segen dessen zu erhalten, welcher vorgab, einen Draht nach ganz oben zu haben, überwog bei Weitem … und so wandelte er fortan im finsteren Tal und stützte sich auf seinen Stab, mit welchem er auch zuschlug, wenn er es für erforderlich hielt.

Doch der Apfel, den Greth in des Milchmanns ‚Paradies‘ vom Baum der Erkenntnis pflückte, war wurmstichig. Trotzdem biss sie hinein und versuchte auch Komplizen zu überzeugen, sich ebenfalls gütlich zu tun.

***

Erinnerungsinseln aus dem bunten Teich einstiger Begebnisse, die man längst entsorgt zu haben glaubte, stiegen nun wie Gasblasen in einer Wasserflasche in beliebiger Reihenfolge aus der Tiefe auf, um wieder an der Oberfläche zu erscheinen, die größten und damit eindrücklichsten zuerst, auf dass sich das ‚Darum-Herum‘ besser herausschälen lasse. Es war eine an sich akzidentelle, indes kaum wegzudenkende Episode, welche ein kurzes Wegstück bei der Biografie markierte und sich nun Stück für Stück zurückmeldete, Puzzlestücke mithin, welche sich zusehends zu einem Bild zusammenfügten.

Ja, Arthur erinnerte sich noch recht gut an den Besuch in jener alten Scheune, welche abseits in einem engen Seitental stand und, wie angedeutet, unter Anwendung einfachster Mittel in eine Art Betschuppen umgewandelt wurde. Das windschiefe Gebilde erweckte den Eindruck, als stünde es mitten in Afrika, wären da nicht die grünen Wiesen mit den glockenbehängten Kühen gewesen, die so viel Milch produzierten, dass der Milchpreis stetig sank, und der Bevölkerung Sparsamkeit bis hin zur Askese bescherten, gleichwohl aber das Markenzeichen dieses Tals abgaben. Auch die Produktion von Käse und anderen Milchprodukten warf nicht sonderlich viel ab, die Einkünfte der Bewohner blieben gering, was den teils baufälligen Häusern weitherum auch anzusehen war. Es war eine ärmliche Gegend, landschaftlich indes sehr schön.

Die Scheune bot genügend Raum für recht viele Personen, welche sich auf verschiedenen Sitzgelegenheiten niederließen, Bänken, Stühlen, Harassen und Strohballen: Rechts die Frauen, welche alle nach gleichem Muster gekleidet waren, etwa so wie Greth selber, und links die Herren, welche schwarze Anzüge trugen und einen Hut in ihrer Hand hielten, den sie geschickt auf ihren Knien balancierten. Der Schmuck des Raumes war spärlich und geschmacklos, die Bühne mit dem Rednerpult, das kanzelartig mit Fassdauben eingefasst war, wie etwa bei der Mainzer ‚Fasnacht‘, war recht groß und reichte bis zur Scheunenwand, an welcher ein riesiges Holzkreuz aus unbearbeiteten Ästen prangte. Auf der Bühne stand ein Harmonium, an welchem brav und geduldig, mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen, eine ältere Frau saß, die wohl auf ihren Einsatz wartete. Sie begleitete die frommen Gesänge, welche einem uralten Gesangsbuch entnommen waren, durfte doch nichts so sein, wie in der ‚gewöhnlichen‘ Kirche, damit die Unterschiede in jedem Bereich deutlich zutage traten; man war besser, frommer als jene und ins­besondere näher beim ‚Chef‘, dessen besonders zuträglicher Gunst man teilhaftig werden wollte, denn er war es, durch dessen Gehörgang sich die flehentlichen Gebete vorarbeiten sollten. So wähnte man sich auf der sicheren Seite, denn es war bekannt, dass der Landeskirche die Leute davonliefen, das musste ja seine Gründe haben. Hier war die Welt noch heil, der Glaube tief verwurzelt, der Aberglaube nicht fern.

Auf der rechten Seite hing ein schwarzer Vorhang, der vermutlich einen Nebenraum abgrenzte, dessen Zweck nicht auf Anhieb ersichtlich war; Betreten verboten! Ein leichtes Schaudern befiel Arthur, als er diesen eigenartigen Raum betrat, den Grund für diese Empfindung vermochte er aber zunächst nicht auszumachen. Kirchen zu betreten war für ihn keineswegs außergewöhnlich, tat er es doch recht oft, zumeist allerdings aus kunsthistorischem oder architektonischem Interesse, doch dieser Raum hier war keine Kirche, keine Scheune, nein, es war bestenfalls ein Unikat, von übelstem Geschmack, für welches es schlichtweg keine allgemein anerkannte Bezeichnung gab … ein ‚Betschuppen‘ eben, eine Beleidigung für jedes Auge, Ausdruck einer ‚Self­made-Konfession‘ der übelsten Art. Allein die windschiefe Hütte machte deutlich, was von der hier verbreiteten Lehre zu halten war.

Greth, welche ‚rein zufällig‘ den Abend zuvor – mit intriganter Akribie hat sie ihn organisiert – mit Arthur verbrachte, hat darauf bestanden, dass er sie bei diesem Besuch begleite, denn er würde anschließend besser verstehen, durch welche Motive ihr spezielles Verhalten, dessen Natur sie nur andeutungsweise skizzierte, im Wesentlichen geprägt war. Der Abend, vorgreifenderweise sei er hier erwähnt, verlief zwar friedlich, aber eine lange und heftige Diskussion brachte recht unterschiedliche Standpunkte hervor, sodass reichlich Klärungsbedarf bestand. Sie bekundete ein offensichtlich großes Interesse dafür, dass er, Arthur, einen Blick hinter die Kulissen ihrer Welt werfen konnte, doch weshalb dem so war, konnte er einstweilen nicht verstehen, und er verzichtete auch darauf nachzuhaken, da sie ihm erklärte, darüber später Aufschluss erteilen zu wollen. Als sie beide, er und Greth, mit Verspätung versteht sich, sozusagen auf den Zehenspitzen eintraten, war der ‚Prediger von Gottes Gnaden‘, ein selbst verfertigter Titel, mit dem er auch angesprochen werden wollte, bereits in voller Fahrt:

Mit drohend erhobenem Zeigefinger verkündete er das Ende der Welt, welches nicht mehr allzu fern sei, denn mehr als verwerflich seien die Sitten und Gebräuche, welche heutzutage das gesellschaftliche Leben allüberall beherrschten. In Sodom und Gomorra habe Gott den Menschen deutlich gemacht, was sie angesichts des totalen Sittenzerfalls zu erwarten hätten. Die Moralvorstellungen der meisten Menschen, so man diesen Begriff überhaupt noch in den Mund nehmen dürfe, seien mehr als erbärmlich, ja, ihr Sinnen und Trachten sei nur noch vom Fressen, Saufen und Huren geprägt und deshalb zähle einzig der schnöde Mammon, der sich „äufnet und äufnet, ohne dass einer auch nur einen einzigen Finger krümmt“. Verblendet sei daher die ganze Menschheit, weshalb zum Untergang verurteilt, sofern es nicht rechtzeitig gelinge, einige wenige tugendvolle Gläubige zu finden, welche dann aufgerufen wären Letztere zu retten. „Mindestens deren zehn müssten es sein, wie einst Abraham mit Gott aushandelte … und sagt an, ob sie unter euch zu finden sind? Strengt euch also an, denn eure Anwesenheit auf Erden ist gefragt, und solltet ihr die verruchte Menschheit retten, so erwartet euch dermaleinst ein bevorzugter Platz im Paradies … das sollte euer aller Ziel sein, Belohnung auch für ein untadeliges Leben.

Glaubt mir, aller Reichtum wird vergehen, schneller vielleicht als ihr denkt, und dann werden wir, die letzten unserer Art, uns wieder unserer einstigen Bestimmung entsinnen müssen. Nackt und ohne Scham, aber züchtig werden wir unser Dasein fristen, dankbar die Früchte des Paradieses ernten und uns so benehmen, wie der Schöpfer es einst beabsichtigte: sittsam, brav und gläubig. Die meisten werden diesen Schritt nicht vollziehen können, weil sie ungläubig sind, aber wir, unsere Gemeinschaft eben, wollen vorbereitet sein, indem wir diesem schändlichen Treiben nicht tatenlos zusehen, nein, wir verurteilen und verdammen es aufs Schärfste und züchtigen uns auf der Stelle, so wir uns dabei ertappen sollten, auch nur an­deutungsweise den sträflichen Gedanken zu hegen, ihnen gleichzutun. Wir können zwar die Schandtaten unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen nicht ausrotten, so sehr wir uns dies auch wünschten, aber wir haben als Einzige dieser Welt die Möglichkeit, uns selber zu schützen vor den absehbaren Folgen derselben, welche sich am Jüngsten Tag erbarmungslos einstellen werden. Wir werden als Einzige zusehen, wie sie alle brennen, die Sünder unserer Tage, die nicht einsehen wollen, welchen verwerflichen Tuns sie sich erdreisten. Lasst sie tun, was ihnen beliebt, aber ahmt sie nicht nach, denn es gibt dort unten in den Städten nichts, was so begehrenswert wäre, dass ihr nicht darauf verzichten könntet, glaubt mir, Gott, der Herr und Rächer hat es mir offenbart.

Wir allein wissen, wie wir uns vorzubereiten haben auf jenen fürchterlichen Tag, den Tag des Zorns, wie er auch genannt wird, auf dass uns kein Haar gekrümmt werde. Ich allein, ihr wisst es, erhielt von höchster Stelle den Auftrag, alle zu beschützen, die sich mir anvertrauen und den erforderlichen Gehorsam leisten. Deshalb bemühen wir uns auch, all jene Szenarien durchzuspielen, welche wir am Jüngsten Tag zu gewärtigen haben, um alsdann unsere Reaktionen reflexartig in Anwendung zu bringen, damit wir vor dem Schrecken des ewigen Abgrunds geschützt sein werden, um unbehelligt die Pforte zum Paradies zu durchschreiten. Und ihr wisst es nur zu gut, ich allein bin im Besitze jenes Geheimwissens, das uns den rechten Weg weisen wird, jenen verheißungsvollen Weg, der uns dermaleinst direkt ins allseits begehrte Gefilde der Erlösung führen wird. Wir reinigen uns noch während unseres diesseitigen Lebens von allem Schmutz, indem wir uns selbst kasteien, um auch dem Fegefeuer zu entrinnen, dessen fürchterliche Qualen ein Vielfaches dessen ausmachen werden, was wir hier auf Erden zu erleiden haben. Und ich stehe für euch ein, dessen seid versichert! Ich allein bin in der Lage, euch den einzig verheißungsvollen Weg zu weisen, um am Tag des Gerichts ohne Furcht vor das Antlitz des Herrn zu treten und reinen Gewissens zu sagen, ich bin bereit, durch die Himmelspforte zu schreiten, denn meine Sünden sind gesühnt. Aber, meine lieben Brüder und Schwestern, das Martyrium, das wir noch zu erleiden haben, ist schrecklich, und kaum einer in diesem Raum wird sich rühmen können, schon alles vorgekehrt zu haben, um sich bereits im Besitz einer rundum reinen Seele zu wissen. Ja, bewusst wollen wir diese schwere Bürde auf unsere Schultern laden, um als Vorreiter der Tugend, dem Tag der Abrechnung mit Gleichmut entgegenzusehen. So und nur so tun wir es unserm Herrn gleich, der uns ein Vorbild ist.“

Mit brüsker Geste zeigte er unvermittelt auf einen Mann, der in der vordersten Reihe saß: „Du, hier vorne, erzähle uns, was du während der vergangenen Woche getan hast!“ – Schweigen – „Du bist ein Müßiggänger, hast keine guten Werke vollbracht, gehurt und gesoffen und kommst nun scheinheilig in die Kirche, um dich nicht zu verraten, aber mein inneres Auge sieht deine düsteren Gedanken, und ich muss dich bestrafen: Begib dich in diese Ecke“ – er zeigte mit ausgestrecktem Arm und Finger nach hinten – „wende dein Gesicht zur Wand, und stehe so lange still, bis ich dich erlöse, und erkenne, dass es sich hier um eine milde Strafe handelt, selbstredend die letzte dieser Art, sollte sie denn nicht erfolgreich sein.“ Wortlos und gesenkten Hauptes tat er, wie ihm befohlen wurde. „Auch du“ – er zeigte auf einen älteren Mann, der sich kaum erheben konnte – „auch du hast gesündigt, gehe mit deinem Bruder, und tue also und verstehe, dass dein Tun verdammenswert ist … Und du erst recht, ich ermahne dich schon zum zweiten Mal, wie soll ich dich denn noch bestrafen, es fehlen mir die Worte … nur der Zorn dieses Knüppels“ – er schwang ihn wie ein Indianer auf dem Kriegspfad durch die Luft – „vermag dich noch zur Vernunft zu bringen, du elender Wicht!“

Es dauerte eine ganze Weile, bis er alle Übeltäter aus der Menge entfernt und ihrer angeblich gerechten Strafe zugeführt hatte, welche eben auch Stockhiebe und der­gleichen mehr beinhaltete, je nach Schweregrad ihres Vergehens, dessen Natur meist nicht konkret genannt wurde. Klaglos nahmen es die Männer hin, keiner schien sich gegen das Verdikt aufzulehnen, welches insgesamt sehr nach Willkür roch. Widerlich doch die Auswüchse menschlicher Willkür, so sie ungehindert auf das entblößte Haupt eingeschüchterter und ergebener Menschen niederprasseln. Schrecklich auch die Anmaßung dieses selbst ernannten Moralapostels, dessen eigenes Sündenregister vermutlich so lange ist wie die ‚Chinesische Mauer‘.

Arthur, der all dies niemals glauben würde, hätte er es nicht soeben mit eigenen Augen gesehen, warf einen verunsicherten Blick auf Greth, welche regungslos neben ihm stand und die Prozedur, die ihr offensichtlich nicht fremd war, zu billigen schien. Er wusste nicht, wie ihm ward, ob er allenfalls in einem falschen Jahrhundert gelandet sei oder einfach einen schlechten Film betrachte, ja im Grunde genommen hätte er die größte Lust gehabt, diesen Ort des Grauens augenblicklich zu verlassen, raunte diese, seine Absicht, Greth ins Ohr, die ihn mit strafendem Blick zurechtwies und auch unmissverständlich klarmachte, dass er bleiben solle. Was mochte in ihr vorgehen, ja wessen Untat wollte sie allenfalls einer gerechten Strafe zugeführt wissen, und woran machte sie ihre Motivation fest, dieses völlig absurde und menschenverachtende Spektakel gutzuheißen? Arthur stand vor einem Rätsel, denn so verbohrt und untertänig, wie sie hier stand und das schreckliche Schauspiel scheinbar emotionslos verfolgte, hätte er sie, aller Meinungsverschiedenheiten zum Trotz, denn doch nicht eingeschätzt. Am Abend davor war sie noch kämpferisch eingestellt und machte deutlich, dass sie alles kritisch hinterfrage, doch in diesem unbehaglichen Umfeld war sie nur mehr ein Schatten ihrer selbst und schien willenlos alles hinzunehmen, was dieser ruchlose Heilsbringer verkündete und insbesondere den Menschen antat, die er irgendwelcher Schandtaten bezichtigte, derer sie sich wohl zumeist gar nicht schuldig gemacht hatten. Greth war wie ein umgekehrter Handschuh, dessen Fütterung von den Motten zerfressen war. Arthur, der an sich nichts zu verlieren hatte, befolgte ihre Anweisung und blieb gehorsam sitzen, obwohl er sich lieber übergeben hätte, weil er ihr nun mal diesen Wunsch erfüllen wollte, und verfolgte auch noch die Fortsetzung dieses schrecklichen Rituals, wenngleich er sich längst schon fragte, weshalb er es tat, denn er stand beileibe nicht in ihrer Schuld. Aber irgendwie wurde er den Eindruck nicht los, dass er sich noch mehr von diesem aberwitzigen Zeug einverleiben müsse, und fasste insgeheim den Entschluss, anschließend auch gegen diesen grotesken Unfug, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, vorzugehen. Was genau und wie er es, was auch immer, anstellen sollte, darüber machte er sich einstweilen keine Gedanken und tröstete sich damit, dass er zu gegebener Zeit dann schon das richtige Rezept zur Hand haben würde. So entschloss er sich, noch ruhig und brav den Fortgang des Gottesdienstes über sich ergehen zu lassen, und zwar unter Einbezug der Mentalreservation, sich unverzüglich zu entfernen, wenn es ihm zu bunt würde. Dass hier ein Betrüger der Sonderklasse am Werk war, stand bereits fest, dass ihm das Handwerk gelegt werden sollte, drängte sich auf, doch die gebeutelten Bewohner dieses Tals mit ins Boot zu nehmen, dürfte sich als schwieriges Unterfangen herausstellen, denn keiner hatte ihn je gebeten, sie aus selbst erschaffener Not zu erretten, so viel war ihm natürlich klar.

Jämmerliche Harmonium Klänge und der stets schleppende und reichlich kakophonische Gesang der Glaubensgemeinde, der trotz musikalischer Scheußlichkeit beinahe erholsam wirkte, unterbrach die zügellose Schimpftirade, welche jedoch gleich nach dessen Beendigung wieder aufs Neue einsetzte …

„Besser also, wenn wir uns gleich selber bestrafen“, fuhr er eifrig fort, „denn so werden wir unsere Schulden bereits abbezahlt haben, wenn die letzte Abrechnung erfolgt. Wir werden uns damit eine Sonderstellung erwerben, welche uns weit größere Qualen ersparen wird, nein, schreckt nicht davor zurück, euch in Askese zu üben, denn der Lohn wird euch gewiss sein. Und denkt daran, nur wir werden, dank meines göttlichen Auftrags, der mir einst von höchster Stelle erteilt wurde, und vermöge meines besiegelten Sendungsbewusstseins, letztendlich in der Lage sein, unser Schicksal für alle Ewigkeit wirksam zu gestalten, während die Pfaffen in den Städten gerade an dieser Stelle die Hände verwerfen und beteuern, dass sie vertrauensvoll der Gnade des Herrn zu überlassen gedenken, was mit jedem Einzelnen geschehen soll, so er mit Getöse anbricht, jener Jüngste Tag, Tag der Vergeltung und Gerechtigkeit. Wir aber nehmen die Sühne vorweg und fürchten nicht die Gerichtsbarkeit, welche dann obwalten wird, denn unsere Schuld wird bereits getilgt, unsere Seele rein sein. Das ist einmalig auf dieser Welt, und ihr werdet so einer Gnade teilhaftig, welche nur durch mich und mein unablässiges Beten für euer Wohl auf euch übertragen werden kann. Euer unbedingter Gehorsam, den ich fordere, ist wahrlich der geringste Preis, den ihr dafür zu entrichten habt, denn mir und nur mir habt ihr es zu verdanken, dass wir uns einst in der Nähe des Herrn aufhalten werden und dessen Huld und Gnade genießen dürfen. Jeder, der sich von uns abkehrt, wird dieses Privilegs verlustig gehen, ja noch schlimmer, besonderer Verdammnis anheimfallen. Merkt euch, liebe Brüder und Schwestern, dank mir sollt ihr im Jenseits eine bevorzugte Stellung einnehmen, und wir üben uns schon heute in Demut und Ergebenheit, um unseren Vorteil nicht zu verspielen. Jeder, der sich meinen Anweisungen klaglos unterzieht, erwirbt sich einen Bonus, der im ewigen Buch der Gerechtigkeit festgeschrieben wird, jeder der sich mir widersetzt, wird daselbst getilgt und erleidet dasselbe Schicksal, wie jeder gewöhnliche Sünder dieser Erde, der sich mir und unserer Gemeinschaft nicht anzuschließen gewillt ist. Ja, sie mögen über uns lachen, uns verhöhnen und Lügen über unser Tun verbreiten, aber es ficht uns nicht an, wissen wir doch, was wir zu tun haben, und bedauern das beklagenswerte Schicksal, welches unsere Spötter einst ereilen wird. Sollen sie doch brennen, all diese Nestbeschmutzer, von denen unsere Welt geschändet wird, während wir uns über sie erheben werden, ohne jene Qualen zu erleiden, welche ihnen auferlegt werden, um Buße zu tun. Wir tun es hier und jetzt, mit Leidenschaft und Hingabe, wir bezahlen im Voraus und freuen uns heute schon auf die Zinsen, welche uns gutgeschrieben werden.“