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Es war irgendwann um die Jahrtausendwende, ein paar Jahre vorher oder nachher, von heute aus betrachtet völlig unwichtig. Die Leute liefen auf jeden Fall noch nicht ausnahmslos mit flachen Rechtecken vorm Kopf durch die Gegend, um sich ein Bild zu machen, und es existierten noch Augenblicke und Orte, in und an denen wir uns nicht per Knopfdruck ins Gedächtnis einer beliebigen Person rufen, in deren Gefühlsleben einmischen, deren Alltag unterbrechen konnten. Ich war besessen von den Gedichten und Geschichten von Richard Brautigan, von den Kürzestgeschichten und »Fällen« von Daniil Charms, von Nabokovs Schmetterlingen und allen anderen Dingen mit Flügeln und einem Herzen. Ich war noch niemals in New York gewesen, malte mir aber täglich aus, wie es wäre, an einem unspektakulären Sommernachmittag in Manhattan Woody Allen über den Weg zu laufen, ihn mit nur einem genialen Satz oder besser noch mit einer einzigen Geste in einen Dialog zu verwickeln, einen intellektuellen natürlich, der, in Form von Gesprächen, Telefonaten und schreibmaschinen-getippten Briefen über Jahre andauern würde und erst mit dem Tod - rational betrachtet: mit seinem, weniger rational betrachtet: mit meinem, romantisch betrachtet: mit unser beider, enden würde. Ich malte mir sehr sehr viel aus, ein paar Dinge aber waren klar: Daniil Charms und Richard Brautigan waren tot. Vladimir Nabokov auch. Woody Allen war in meinem Leben omnipräsent, ich in seinem nichtexistent. All das würde sich niemals ändern. Nicht nur im tiefsten Inneren spürte ich, dass das völlig ok war. Alles, was, und alle die uns beschäftigen sind eh da, passieren, finden statt. Momentan würden sich vermutlich weder David Bowie noch bisexuelle Rabbiner in eine meiner Geschichten verirren, ohne eine Großmutter komme ich bis heute schwer aus. »Acht Erwachungen« versammelt fünf teils frühe Erzählungen von Katja Huber, die bisher noch nicht in Buchform veröffentlicht wurden.
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Seitenzahl: 39
Veröffentlichungsjahr: 2013
Copyright der eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Y-U-K-I-K-O
Autorenfoto: © Edward Beierle
ISBN: 978-3-95607-011-2
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Katja Huber über »Acht Erwachungen«:
Es war irgendwann um die Jahrtausendwende, ein paar Jahre vorher oder nachher, von heute aus betrachtet völlig unwichtig. Die Leute liefen auf jeden Fall noch nicht ausnahmslos mit flachen Rechtecken vorm Kopf durch die Gegend, um sich ein Bild zu machen, und es existierten noch Augenblicke und Orte, in und an denen wir uns nicht per Knopfdruck ins Gedächtnis einer beliebigen Person rufen, in deren Gefühlsleben einmischen, deren Alltag unterbrechen konnten.
Ich war besessen von den Gedichten und Geschichten von Richard Brautigan, von den Kürzestgeschichten und »Fällen« von Daniil Charms, von Nabokovs Schmetterlingen und allen anderen Dingen mit Flügeln und einem Herzen.
Ich war noch niemals in New York gewesen, malte mir aber täglich aus, wie es wäre, an einem unspektakulären Sommernachmittag in Manhattan Woody Allen über den Weg zu laufen, ihn mit nur einem genialen Satz oder besser noch mit einer einzigen Geste in einen Dialog zu verwickeln, einen intellektuellen natürlich, der, in Form von Gesprächen, Telefonaten und schreibmaschinen-getippten Briefen über Jahre andauern würde und erst mit dem Tod - rational betrachtet: mit seinem, weniger rational betrachtet: mit meinem, romantisch betrachtet: mit unser beider, enden würde.
Ich malte mir sehr sehr viel aus, ein paar Dinge aber waren klar:
Daniil Charms und Richard Brautigan waren tot. Vladimir Nabokov auch.
Woody Allen war in meinem Leben omnipräsent, ich in seinem nichtexistent.
All das würde sich niemals ändern.
Nicht nur im tiefsten Inneren spürte ich, dass das völlig ok war.
Alles, was, und alle die uns beschäftigen sind eh da, passieren, finden statt.
Es war 1999, es war mein erstes Bewerbungsgespräch. Ich bekam die erste Stellenzusage in meinem Leben – Zeitungsaustragen, Kellnern und so weiter ausgenommen – und trat ein paar Tage später also mein erstes Praktikum an. Ich blieb in Peter Kirchheims Verlag bis 2003, als die Magister-Prüfungen anstanden. Wir blieben in Kontakt, weil wir die Meinung des Anderen zu schätzen wusste, und so horchte ich auf, als mir Peter – aus dem Chef »Herr Kirchheim« war ein Freund geworden – von einer Autorin vorschwärmte, deren Debütroman er unbedingt publizieren wollte. Das war Katja Huber. Ihr erster Roman »Fernwärme« erschien also im Herbst 2005. Ich besprach ihn wenig später, leider viel zu kurz und mit (wie ich heute finde) zu vielen Floskeln, in der Berliner Zeitung: eine meiner ersten Kritiken für eine richtige Zeitung. So etwas verbindet, wenn auch vielleicht nur einseitig.
»Schwer innern« heißt die erste Erzählung dieses Bandes, sie stammt aus dem Jahr 1997. Als würde sich plötzlich ein Schatzkästchen öffnen, ohne dass man zuvor irgendwo getaucht wäre oder gebuddelt hätte, erhält man einen Durchblick auf die Vergangenheit, auf die literarischen Anfänge von Katja Huber. Als läse man einen Brief, der erst Jahrzehnte später ankommt und der allein wegen der Zeit, die er unerkannt durch die Lande reiste oder vielleicht bloß brachlag in einem verborgenen Spalt oder einer dunklen Ecke, eine ganz eigene Bedeutung gewinnt, weil sein Verlust womöglich nicht einmal gewusst wurde. In »Schwer innern« – schon der Titel bezeichnet die Leerstelle des Gedächtnisses sowohl formal als auch buchstäblich – stößt es der Ich-Erzählerin zu, dass sie sich erinnert, dass sie sich nicht erinnert. Während sie auf dem Weg zu einer Freundin ist, wird ihr bewusst, dass sie deren Namen vergessen hat: »Mir fiel ein: WEN eigentlich besuche ich?« Auch ein Buch mit den »2582 beliebtesten Mädchennamen« hilft nicht weiter: »Den fehlenden Namen las ich nicht. Anscheinend fehlte er nicht nur mir. Er fehlte allgemein.«