Nach New York! Nach New York! - Katja Huber - E-Book

Nach New York! Nach New York! E-Book

Katja Huber

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Beschreibung

Wie ein Feuerball stürzt am 6. Mai 1937 die Hindenburg kurz vor ihrer Landung aus knapp hundert Meter Höhe in Lakehurst Borough nahe New York auf den Boden. sechsunddreißig Menschen sterben in diesem Inferno, zweiundsechzig überleben. Darunter eine junge Frau, die wenige Wochen zuvor noch in Bayern sich heimlich aus ihrer Beziehung in eine Affäre mit einem hohen Militär stiehlt und sich auf ein Abendteuer einlässt, das so ganz anders endet, als erwartet. Zwei Generationen später macht eine andere junge Frau, Enkelin der ersten, sich auf nach New York, um für ein Buch zu recherchieren über das Leben jüdischer Immigranten in dieser Stadt: So Vieles ist geschehen in diesen wenigen Jahrzehnten!

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NACH NEW YORK!

NACH NEW YORK!

KATJA HUBER

ROMAN

Erste Auflage© 2014 by Secession Verlag für Literatur, ZürichAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Christian RuzicskaKorrektorat: Patrick Schärwww.secession-verlag.com

Gestaltung, Typographie, Satz und Litho:KOCHAN & PARTNER, München

ISBN 978-3-905951-36-3

Für meine Großmutter,meine Mutter und meine Tochter

INHALT

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

ERSTER TEIL

Den Schlüssel in der Hand, stand Johanna im jetzt menschenleeren Raum der Buchhandlung, die ihr künstliches Licht verschwenderisch hinauswarf auf die im sommerhellen Abend liegende Straße – sie lauschte angestrengt den nahen und fernen Klängen des geschäftigen Münchens und in sich hinein – vergeblich: Der dunkle Schlag der nachhallenden Glocken von St. Ursula war bereits verebbt, eine von Johanna genährte und nicht ganz unbegründete Hoffnung war schleichend um mehrere Töne abgedunkelt, aber nicht ganz verstummt. »Feierabend also!«, sagte Johanna, ging dann aber doch nicht zur Tür, die den ganzen Tag über das Eintreten von Kunden fröhlich klingelnd verkündet hatte – ungeachtet der Tatsache, dass der eine, der Einzige, dessen Erscheinen Johanna auch an diesem Montag so sehnsüchtig erhofft hatte, ferngeblieben war. »Feierabend also«, wiederholte sie, leise und doch bestimmt: »Feierabend!«

Nicht Enttäuschung war es, die Johanna an diesem Abend lähmte, sondern die merkwürdige Gewissheit, er werde noch kommen, und diese Gewissheit brachte sich gegen die an der schlichten Wahrheit der Uhrzeit zerstiebende Hoffnung in Stellung. Weshalb Max Haber, als er kurz vor der Buchhandlung erst seinen steilen Schritt unterbrach, seine Weste zurechtrückte, seine Lungen aufblähte und nicht wieder zusammenfallen ließ, dann auch durch das sauber glänzende Schaufenster hindurch eine unaufgeräumt dastehende Buchhändlerin sah, die versonnen ins Leere blickte. Er griff zur Klinke.

Johanna wandte sich auf das Läuten der Ladentür hin zu dieser um und wollte auch schon ›Geschlossen!‹ rufen. Tat es aber nicht. Die lang ersehnte Schiebermütze schob sich durch die Tür, und Johanna lächelte.

»Hekate, schönste aller Schlüsselträgerin!«

›Männer, mein Kind, erröten niemals, Männer fangen an, Silben zu verschlucken, sobald sie aufgeregt sind‹, erinnerte sie sich der Worte ihrer Großmutter.

Max war errötet, er hatte eine Silbe verschluckt, ließ sich aber nicht beirren. »Hekate, wirst du mich hinausgeleiten? Und wenn es so weit ist auch hinüber?«

Johanna schlug die Augen nieder. »Ich hatte dich nicht erwartet. Wo du doch erst am Freitag die Sonette an Orpheus abgeholt hast.« »Rilke ist grandios, aber an Sommerabenden wie heute … Magst du mich in den Englischen Garten begleiten?«

Wind, wag’ deine Spiele!Die Frucht hängt schwer.Bewaffne dich und zielemit deinem Schüttelspeer!

Wind, wag’ deine Räube!Der Ruch ist groß.Begürte dich und stäubedie Spreu vom Weizen los!

Wind, wag’ deine Süße!Der Herbst ist rot.Bestürme uns und grüßeden Bruder Tod!

Es war dann doch Max, der Johanna aus der Buchhandlung hinaus auf die von der Abendsonne ins milde Licht getauchte Leopoldstraße, durch Nikolai- und Seestraße übers Brückerl hinüber hinein in den Englischen Garten begleitet hatte. Und anders als sonst hatte er sich diesmal nicht in seiner bewährten Mischung aus echtem Interesse und neckenden Spötteleien erkundigt, wie es ihr gehe, wie sie ihr Wochenende verbracht habe, ob die Eltern in Regensburg immer noch erzürnt seien ob ihrer Flucht in die große Stadt, ob sie etwas von der geliebten Oma in Halle gehört habe und ob ihr Chef es nicht schon bereut habe, einem Provinz- und Lehrmädchen die Leitung der gesamtem Lyrikabteilung anvertraut zu haben.

»Ich muss dir etwas zeigen, vielmehr sagen!«, hatte er stattdessen ausgerufen und dann gehetzt Anekdoten über seinen verehrten Professor zum Besten gegeben, die sie wohl hätten zum Schmunzeln bringen sollen. Er hatte von den frankierten und adressierten Postkarten erzählt, die Artur Kutscher vergangenen Herbst direkt nach dem Kleinen Hofkonzert noch im Foyer der Münchner Kammerspiele an seine Studenten verteilt hatte, um von ihnen eine Nachtkritik zu fordern, die spätestens am übernächsten Morgen in seinem Briefkasten zu sein hatte. Max hatte Kutscher zitiert, seine Kommilitonen und sich selbst parodiert und sich von den Namen der Straßen, durch die Johanna und er schon ein gutes Dutzend Mal gemeinsam spaziert waren, zu spontanen, bedeutungslosen Reimen hinreißen lassen.

So, wie er eben immer reimte, wenn es um nichts ging. Oder um alles. Auf dem Brückerl dann hatte Max innegehalten und Johannas Rechte mit seinen beiden Händen umschlossen. Er hatte sie nach Sekunden wieder losgelassen, um weiterzueilen. Und jetzt saß sie hier, neben ihm, auf einer Bank im Englischen Garten, ein Specht sang oder klopfte von ewiger Wiederholung, ein ungezügeltes Pferd war ihnen beinahe über die Füße gepflügt, an keinem seiner vier Hufe aber, das war offensichtlich, hatte sich ein Glücksschimmer befunden. Sie saßen, und Johanna wusste nicht mehr, wie viele Minuten, Stunden, Tage sie hier schon saßen. In ihr hallte noch immer das Gedicht über den Tod nach. Den Herbst hatte er ihr so unbedingt und so dringlich zeigen wollen, heute, an diesem doch wunderbar lauen Juniabend. Die Botschaft, dass der Herbst nahte und mit ihm früher oder später der Tod. Max sah sie erwartungsvoll an, noch immer. Musste sie ihn wirklich darauf hinweisen, dass es andere Themen gab für ein Rendezvous? Wenn es überhaupt ein Rendezvous war, das sie hier veranstalteten, auf einer dem Tod geweihten Parkbank an einem lauen Sommerabend im mit Leben erfüllten Englischen Garten.

»Es heißt Herbst. Einfach nur Herbst. Ich habe an niemand anderen als dich gedacht, als ich es schrieb.«

»Ach ja?« Johanna räusperte sich.

»Ja. – Ich habe es ernst gemeint im Laden eben. Wenn ich mich von jemandem begleiten, hinübergeleiten lassen würde in den Tod, dann von dir. Allerdings nur, wenn du zuvor ein Leben mit mir verbringst!«

»Ein Leben?«

Ein ganzes Leben? Schlagartig hörte der Specht zu klopfen auf, das melancholische Rauschen der Bäume schwoll an zum applaudierenden Sturm, Johannas Stimme zitterte nicht, sie überschlug sich. Und brachte auch beim zweiten Anlauf nicht viel zustande:

»Ein ganzes Leben?«

Max nahm Johannas Hand, er ließ sie nicht wieder los. Er ging in die Knie, ganz wie in den vielen Büchern, die Johanna als junges Mädchen unter der Bettdecke gelesen hatte und noch heute verschlang, obwohl sie jetzt erwachsen war, einen eigenen Tisch mit Leselampe besaß und als Expertin für Lyrik sich einen Namen gemacht hat. »Werde meine Frau!«, sagte Max, bückte sich, pflückte das nächstbeste Kraut unter der Bank hervor, zerpflückte es und band daraus in Sekundenschnelle zwei Ringe, die er ihr und sich über die Finger streifte. Dann küssten sie einander auf Stirn und Wangen, und Johanna bemerkte, dass die Ringe nach Wald dufteten, nach Frühling. Nach Ewigkeit. Sie wollte Maxens Frau werden, und zwar noch heute Nacht.

»Lass uns feiern!«, sagte Max, als er sich ruckartig aus ihrer Umarmung löste. Er fingerte ein abgegriffenes Kuvert aus der Hemdtasche und überreichte es ihr.

»Ich hatte schon länger vor, dich zu fragen, aber heute war die letzte Gelegenheit. In einer Stunde beginnt die Vorstellung im Gabriel.«

»Es geschah in einer Nacht. USA 1934, Regie Frank Capra. Darsteller: Clark Gable und Claudette Colbert«, las Johanna laut und beeilte sich, ein glockenhelles Lachen hinterherzuschicken. Um das Glück einzufangen und den Schauer zu verjagen, der mit großer Zielstrebigkeit ihren Körper durchfuhr. Dass Johanna bislang noch nicht die Frau eines Mannes geworden war, davon ging Max aus. Dass sie noch kein einziges Mal ein Kino besucht hatte, ahnte er vermutlich nicht.

»Lass uns zu Fuß gehen. Der Abend ist so schön, so wunderschön!«, sagte sie, sprang auf, nahm Maxens Hand und dachte im Stillen für sich: ›Zwei erste Male! In einer einzigen Nacht!‹

Johanna saß aufrecht an dem Ess- und Schreibtisch ihres Zimmers in der Ainmillerstraße. Sie lächelte der Pritsche zu. Das Licht, das durch das Fenster direkt auf das Kopfkissen fiel, war Vollmondlicht, natürlich. Der erste Kinobesuch ihres Lebens lag Stunden zurück, die Welt, in die sie eingetaucht war, wirkte noch immer nach. Artur Kutscher mochte für seine Studenten ein Genie sein, für Johanna war er einer von vielen Professoren, die ihre ausnahmslos männlichen Studenten wie Jünger um sich scharten. Frank Capra hingegen war ein Magier. Und ein Prophet, der ihr und Max in nicht mal zwei Stunden unmissverständlich den Weg gewiesen hatte: Sie war, wenn auch aus gutem Hause, keine Millionärstochter. Die Liebe ihres Lebens war nicht Clark Gable und kein arbeitsloser Zeitungsreporter, sondern ein mittelloser Student der Theaterwissenschaften mit dem Zeug zum Kritiker, Lyriker, vielleicht sogar Romancier. In diesem Leben und auf dieser Welt würde sie niemals die Gelegenheit haben, sich mit Max per Anhalter nach New York durchzuschlagen, aber dieses Leben, dachte Johanna und erkannte im Mond zunächst das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter, dann das missbilligende ihres Vaters, würde sie beide noch vor sehr viele Prüfungen stellen. Das Wichtigste ist, dachte Johanna, und während sie sich auf ihre Pritsche bettete, spürte sie in lauer Abendluft, bei gekipptem Fenster, den Wind, der seine Spiele wagte wie seine Süße, spürte sie auf dem Kopfkissen an ihrem Ohr den warmen, zärtlichen Atem ihres zukünftigen Mannes, sah im Mond nicht Mutter, nicht Vater, nicht Kutscher und nicht Capra, sondern nur Max und Johanna, Johanna und Max, das Wichtigste ist, beschloss sie, dass ich meinem Herzen gehorche. Sie schloss die Augen, ein Pfiff erklang, dann Stille. Ein Pfeifen dann. Eine Melodie – ihre Melodie, ihr geheimes Zeichen: der Refrain von Kannst du pfeifen, Johanna? Einmal, zweimal, beim dritten Refrain hatte sie bereits das Fenster geöffnet, beim vierten stand Max in ihrem Zimmer, den fünften unterbrach sie mit einem Kuss, diesmal auf die Lippen, und dieses Mal würde er, wenn es nach ihr ginge, bis zum Morgengrauen dauern. Bis hin zum Morgengrauen, in dessen zartrosa Licht Max, was Johanna noch nicht ahnen konnte, als er ihr das Nachthemd von ihren mondbeschienenen Schultern streifte, auf die Rückseite der Kinokarte Schriftzug und Muster der Ringe skizzieren würde: ›Johanna und Max. Im Guten wie im Schlechten‹, geziert von Rosen und Dornen.

Ein Habicht jagt, fängt und frisst ein Eichhörnchen vor der City Hall in Lower Manhattan, mitten in der Stadt.

Zu Hause hätte ich den Zwischenfall als interessantes Phänomen, als Folge veränderter Lebensbedingungen von Wildtieren betrachtet.

Als Fremde in der Fremde ist man offener für symbolische Deutungen. Und interessierter an den Reaktionen der anderen.

Die Müllmänner lassen ihre Plastiksäcke fallen. Sie lachen und klatschen sich ab, einer ruft: »Lunchtime!« Eine ältere Dame mit Hütchen und Hündchen bedeckt ihr Gesicht. Mit beiden Händen, zu ihrem Unglück und zum Glück des Hündchens, das sich bereits hell bellend und mit wehender Leine Richtung Habicht und Freiheit bewegt. Der Anzugträger, der gerade die City Hall verlassen hat, denkt nicht daran, die Zigarette anzuzünden, die ihm zwischen den Lippen steckt. Fasziniert starrt er auf die ausgebreiteten Flügel, auf den Schnabel des Vogels, der gerade den kleinen Nager seziert.

»Das Eichhörnchen ist der Kaviar des Habichts!«, ruft ein wandelndes Sandwich, das gerade noch Werbeflyer für eine Fastfoodkette verteilte.

Ich schweige. Seit Minuten ist mir klar: Das war’s. Nicht nur für heute und nicht nur fürs Eichhörnchen. Auch meine Lebensbedingungen werden sich verändern.

Sein Schicksal kann man nicht bekämpfen, würde meine Vermieterin Sascha sagen, aber sie ist ja Gott sei Dank meilenweit entfernt in ihrer postsowjetischen Küche in Brighton Beach und überlegt sich, ob sie Pastellgrün, Rosa, Hellblau oder Gelb zur Farbe der Woche küren wird.

Fünfzehn Minuten vor meinem Termin reihe ich mich in die Warteschlange vor dem Jacob K. Javits Federal Building am Federal Plaza ein, zeige am Eingang meine Papiere, nehme im Erdgeschoss meine Wartenummer entgegen, nehme die Rolltreppe zum Wartebereich der U.S. Citizenship and Immigration Services.

»Cellphone?«, fragt der Wachmann am Eingang. Ich verstehe die Frage, begreife sie aber nicht. Er nimmt mir das Telefon ab. Lächelnd und mit lang gezogenem Pfiff begrüßt er die Frau hinter mir:

»Wann gehst du endlich mit mir ins Kino?«

Sie begreift die Frage, ignoriert sie jedoch. Er wendet sich den beiden Männern mit Baseballkappen zu, sie grüßen einander, klatschen sich ab. Als ich mein ausgeschaltetes Handy entgegennehme, fällt mir das didaktische Seminar ein, das ich mit fünf weiteren Studenten zur Abschlussprüfung Psychologie vorbereiten musste. Titel: Begrüßungsrituale ganz anders. Alter: ab 12. Gruppengröße: bis 20 Teilnehmer. Material: Rollenkärtchen. Ziele: Einstiegsspiel zur Diskussion über unterschiedliche Verhaltensweisen und kulturelle Differenzen. Reflexion über die Gültigkeit der eigenen Normen und Werte. Lernen, die Grenzen anderer wahrzunehmen und zu achten.

Die einzelnen Gruppen im Seminar trugen die Namen von unterschiedlichen Gemüsesorten. Auberginen haben sich mit Handschlag begrüßt. Gurken mit minutenlanger Umarmung. Selleries mit sanftem Faustschlag. Und das, obwohl alle Teilnehmer die gleiche Sprache sprachen, die gleiche Hautfarbe hatten und sich bereits zu Beginn des Seminars mit dem üblichen »Guten Morgen« gegrüßt hatten.

Die Gruppengröße im Warteraum der Einwanderungsbehörde beträgt etwa hundertdreißig Teilnehmer. Essen, Trinken, Rauchen, Telefonieren und Fotografieren ist verboten. Auch nach vier Stunden Spieldauer kommt kein Chinese, kein Afroamerikaner, Puerto-Ricaner, Russe, Mexikaner oder Koreaner auf die Idee, sich eine Identität über Gemüsesorten zu imaginieren. Ich bin die einzige Weiße. Fühle mich zumindest so, die einzige Grenze, die ich wahrnehme, verläuft zwischen mir und allen anderen. Ich bin die Einzige, die nicht zu den Stammbesuchern zählt, die nicht regelmäßig mit quengelnden Kindern im Schoß, verbotenen Sandwichs in der Tasche und einem Witz oder ein paar Flüchen auf den Lippen ihre Tage hier verbringt. Daran ändert auch die Zwangsbeschallung nichts. I Will Survive. Nein, auch nicht Let It Be und schon gar nicht All Night Long.

5.57 pm. Drei Minuten vor Dienstschluss leuchtet meine Nummer doch noch auf. Zwei Minuten vor Dienstschluss fragt die Dame mit einem dunkelroten Punkt auf ihrer Stirn am Schalter mit der Nummer 13, wie sie mir behilflich sein könne. Ich berichte ihr von meinem Blitz-Visum, mit dem ich zwar problemlos einreisen durfte, das mir aber nicht erlaubt, hier zu arbeiten. Und arbeiten muss ich. Sie unterbricht mich wortlos mit einem Blick. Ich würde mich besser fühlen, wenn er ungeduldig wäre. Er ist mitleidig. Sie mustert den Stempel in meinem Pass. Sie schüttelt den Kopf, ihre goldenen Ohrringe klingen heller als Engelsglöckchen.

»Das ist eine Einwanderungsbehörde, keine Botschaft!«

Ihre Stimme ist fast so tief wie der Abgrund, in den sie Menschen mit wenigen Worten stoßen kann. Ich nicke, sage aber nichts, ich bin ein Eichhörnchen. Nein, kein Eichhörnchen. Eine Rote Bete. Rote Beten begrüßen und verabschieden sich schweigend voneinander.

Jahrelang habe ich mit dem Gedanken gespielt, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Bis heute weiß ich nicht, warum ich irgendwann dann doch meine Widerstände überwunden habe.

Erste Lektion: Das Unbewusste bevorzugt es klassisch, auf dem Rücken liegend und offen für alles. Zumindest mein Unbewusstes hätte ich für progressiver gehalten. Wenn ich mich schon einer wildfremden Person gegenüber entblöße, so soll sie mich bitte gleich von vorn nehmen.

Zweite Lektion: Meine Psychotherapeutin nimmt mich nicht, nicht von meiner schlechtesten und nicht von meiner besten Seite. Das muss ich selbst besorgen. Gibt es etwas Traurigeres und Egozentrischeres, als in Anwesenheit eines Menschen alleine auf einer Couch zu liegen, die Decke anzustarren und sich fünfzig Minuten lang nur mit der ersten Person Singular zu beschäftigen?

Dritte Lektion: Es ist nicht automatisch gut, sich in die Lage anderer zu versetzen. Weder für einen selbst noch für den anderen.

»Dass Sie den Schmerz anderer fühlen, heißt nicht, dass Sie ihnen helfen können. Dass Sie zu glauben wissen, was andere von Ihrem Verhalten halten, heißt nicht, dass Sie sich deshalb besser verhalten. Dass Sie wissen, was andere von Ihnen erwarten, heißt nicht, dass Sie deren Erwartungen erfüllen müssen. Manchmal ist es schwieriger und wichtiger, bei sich zu bleiben, als Empathie zu üben.«

»Stimmt!«, habe ich geantwortet, weil ich dachte, dass dies genau die erwartete Antwort war, die meine Psychotherapeutin hätte glücklich werden lassen können, und mich zugleich gefragt, was eine Psychotherapeutin wohl fühlen mag, wenn sie ihren Patienten Empathie untersagt.

Dreißig Sekunden vor Dienstschluss breche ich mein Schweigen und frage die Dame nach zwei Dingen: »Wofür steht der rote Punkt auf Ihrer Stirn?« Und: »Ich muss einfach länger als drei Monate hierbleiben, ich arbeite an einem Buch, für das ich nur in New York recherchieren kann. Was würden Sie an meiner Stelle tun?«

»Das ist ein Muttermal.« Und: »Ich an Ihrer Stelle würde in drei Monaten ausreisen, so wie es der Stempel in Ihrem Reisepass erfordert. Ansonsten werden Sie Schwierigkeiten bekommen!«

Es ist Abend. Ginta, Jana, Sascha, unsere Vermieterin, und ich, wir stehen in der Küche, jede kocht für sich, alle essen alles, und eben erst habe ich vom brutalen Tod des Eichhörnchens erzählt. Ich probiere Saschas Hühnerbouillon sowie Gintas Hühnersuppe mit Tomatensauce und merke, dass ich nicht hungrig bin.

»Das sind keine Eichhörnchen, sie schauen nur so aus. Es sind tatsächlich Ratten, Baumratten.« – Ginta ist die beste Hühnersuppenköchin, für besonders helle halte ich sie nicht. Jetzt, wo sie von Baumratten spricht, meine ich mich zu entsinnen, dass schon Max Frisch vor mehreren Jahrzehnten in einer Erzählung dieses New Yorker Missverständnis aufgeklärt hat. Max Frisch allerdings hatte eine Sehschwäche, eine Augenlidlähmung, und wenn er noch lebte, er würde über seine Pflegerin Sätze sagen wie: ›Sie ist die beste Hühnersuppenköchin, aber für besonders helle halte ich sie nicht.‹ Ich mochte Max Frischs Literatur noch nie besonders, und trauen würde ich ihm schon gar nicht.

»So ein Blödsinn, Ginta! Das sind klassische amerikanische Eichhörnchen!«

Jana schüttelt den Kopf: »Als ich ungefähr vier war, haben meine Schwester und ich ein Eichhörnchen gerettet. Es war vom Dach gefallen und hatte sich die Vorderbeine gebrochen. Wir haben ihm Proviant für mindestens ein Jahr in die Kiste gelegt, aber nicht daran gedacht, dass es mit seinen gebrochenen Vorderbeinen rein gar nichts zu seinem Mäulchen führen konnte. Nach drei Tagen war es tot.«

»Tolle Rettung!«

»Und eure Eltern?«

»Haben sich nicht eingemischt. Ich glaube, sie wollten uns Verantwortung beibringen.«

»Tolle Eltern!«

»Eltern müssen manchmal grausam sein«, Sascha schwingt den Kochlöffel, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, »oder zumindest grausam wirken. Später werden es ihnen ihre Kinder danken.« »Dein Eichhörnchen hatte auf jeden Fall mehr Glück. Vielleicht hätten wir unseres auch dem Habicht überlassen sollen. Das wäre menschlicher gewesen. Tierischer und zugleich menschlicher.«

Ich koste von dem Löffel Hühnersuppe, den mir Jana unter die Nase hält. »Warum kochen wir eigentlich jede für sich, wenn alle doch das Gleiche zubereiten …« – ich verschlucke mich an einem ›Apropos menschlich‹ – »… die Einwanderungsbehörde hilft mir nicht. Die deutsche Botschaft in New York hilft mir nicht, die amerikanische Botschaft in Deutschland hat mir noch nie geholfen. Wenn ich länger als drei Monate bleibe, können die mich sofort ausweisen.«

Jana schlägt sich die Hand vor den Mund, macht ein erschrockenes Gesicht: Deine Probleme möchte ich haben!

»Mich können die, seit ich eingereist bin, ausweisen!«

»Das bedeutet gar nichts!«, antwortet Sascha ihr. »Außer, dass euer Status jetzt gleich ist.«

»Der Status, ja, stimmt …«, sagt Jana, »nur, sie will wieder zurück, wir, wir wollen bleiben.«

»Aber nicht schon nach drei Monaten«, sage ich, »für meine Recherchen schon brauche ich mindestens ein halbes Jahr.«

»Es gibt juristische Firmen, die machen dir alles«, schaltet Sascha sich erneut ein und blickt mich lange und prüfend an.

»Sie schreibt?«, fragt Jana Ginta und deutet in meine Richtung.

»Sie recherchiert für ein Buch.«

Jana blickt mich an: »Echt, kommen wir da auch drin vor?«

»Nein!«, sage ich und will schon von meinem Vorhaben erzählen, werde aber noch einmal von Sascha unterbrochen:

»Es gibt juristische Firmen, die machen dir alles«, wiederholt sie eine Nuance schärfer als zuvor und fährt fort: »Greencard, Heirat, Aufenthaltsgenehmigung, Visum!«, zieht noch im selben Atemzug Papier und Stift aus einer Schublade hervor, kritzelt etwas und überreicht mir den Zettel. »Man sagt, er ist der Beste und …«

»… und wahrscheinlich genauso teuer wie alle anderen«, ergänzt Ginta.

Auf dem Zettel steht ein Name: Joe, sowie eine Nummer: 7186451661. »Falls du dort anrufst, kannst du uns ja sagen, wie viel Geld er nimmt.«

›Ginta ist vielleicht nicht besonders helle, aber lebenspraktisch ist sie‹, würde Max Frisch in sein Tagebuch notieren und irgendwann versuchen, sie zu verführen.

»Danke für den Tipp«, sage ich an Sascha gewandt.

Nein, nicht alle sieben, alle drei Jahre muss der Mensch etwas Neues beginnen. Das war zumindest so lange meine Devise, solange ich auch alle drei Jahre etwas Neues begann. Mindestens alle sieben Jahre muss der Mensch etwas Neues beginnen, lautet meine Devise nun seit einigen Wochen, genauer seit dem letzten Weihnachtsfest, dem Heiligen Abend, an dem ich im Kreise der Familie bei meiner Großmutter am Esstisch saß.

Bis heute ist Großmutter die einzige mir bekannte Person, die einen fiktiven Reiseführer für eine geniale Idee hielt. Als ich sie vor einigen Jahren von Russland aus anrief, um ihr zu sagen, dass ich es für interessanter hielte, fiktive Geschichten zu real existierenden Orten und Personen zu erfinden, als das ewig gleiche Wissen über Alexander Newski, Fjodor Dostojewski und die Eremitage zu sammeln und in einem weiteren Reiseführer zu veröffentlichen, hat sie mir nicht nur zugestimmt, sondern zugleich auch Anregungen mit auf den Weg ins Innere Russlands gegeben: Die Geschichte von Dostojewskis Frau und ihrem seltsamen Verhältnis zu einem Fleischer, dem ein Denkmal zu setzen in den Brüdern Karamasow Dostojewski nicht gelang, und weiter von einem Schaukelpferd sowie von geheimer Zensur, die seine Frau betrieb, als ihr Dostojewski sein letztes Werk diktierte, gehört bis heute zu meinen Favoriten. Wenn Großmutter ihre selbst ersonnene Dostojewski-Episode für einen Geniestreich hält, so ist sie da die Einzige: Seit das Buch in einer Auflage von immerhin eintausendfünfhundert Exemplaren erschienen ist, hat es sich genau zweihundertacht Mal verkauft, zweihundert Exemplare davon lagern bei meiner Großmutter. Seit jenem verhängnisvollen Jahr war ich konsequent damit beschäftigt, sechs Romanentwürfe nicht zu realisieren. Vielleicht sollte ich es doch noch einmal mit einem Buch versuchen, mit einem, das meine Großmutter nicht für genial hält, habe ich mir an jenem letzten Weihnachtsabend gedacht, kurz nachdem sie mir ihre Wohnungstür geöffnet hatte und ich schon im Flur auf mein erstarrtes Werk blicken durfte: zwei Reihen inzwischen auf einhundertsiebenundachtzig Exemplare geschrumpfter, sorgsam gestapelter, noch verpackter Russlandreiseführer.

Einen Monat später liege ich nach absolviertem Besuch bei Gomberg Seltzer Works in meinem schmalen Bett in Brighton Beach, es ist Freitagnacht, die erleuchteten Fenster der Synagoge werfen bunte Muster an meine Zimmerdecke, es ist tiefster Winter, auch in meinem schmalen Bett in Brighton Beach, die Heizung ist ausgefallen, vor dem Fenster tanzen die Schneeflocken, ich nippe eiskaltes New Yorker Leitungswasser und mir wird wärmer und wärmer. Ich denke an mein letztes Weihnachtsfest, als Großmutter uns Fisch servierte und die Geschichte vom amerikanischen Seltzer erzählte. Die bunten Lichtschatten an der Wand nehmen allmählich Form an: Saphir-, moos- und jadegrün, türkis, himmel- und meeresblau reiht sich eine schwere Glasflasche an die nächste, schwebt, schwimmt, tänzelt. Ich setze mich auf, greife nach der meeresblauen, die so wunderbar hell schimmert, hinter dem Holztresen jedoch taucht der noch wunderbarere Oberkörper des Barkeepers auf, und gleichwohl ich ihn nie zuvor gesehen habe, frage ich mich, ob er der Mann meiner Träume ist, mein Mann schlechthin.

»Vorsicht!«, warnt er mich. »Ein falscher Handgriff und wir haben hier einen Springbrunnen!« Er greift nach der meeresblauen Siphonflasche, ich halte ihm mein leeres Glas hin und nehme dankbar lächelnd wahr, wie er es mit kurzem, aber ungewöhnlich präzis ausgeführtem Druck auf das Ventil füllt.

»Wenn es nicht richtig wehtut in der Speiseröhre, ist es kein gutes Seltzer«, sagt er noch, hebt die linke Hand zum Gruß und löst sich in Farben auf, ein Flaschengeist, der nicht einmal im Traum zum Mann aller Träume wird.

Im frühen 20. Jahrhundert schleppten Tausende Seltzerlieferanten für Millionen durstige Kunden schwere Glasflaschen durchs Land. Heute gibt es in den USA eine Handvoll Lieferanten, und der einzig verbliebene Seltzerhersteller in New York schmeißt seine Abfüllmaschinen nur noch drei Mal die Woche an.

Die Kunden verschwinden entweder direkt ins Jenseits oder nehmen als Rentner noch den Umweg über Florida.

Der letzte Seltzermann, heute Mitte vierzig, hat mehr Zeit als sein Vater in seinem Alter damals, deshalb betreibt er neben dem Seltzergeschäft auch noch einen Getränkehandel mit gewöhnlichen Erfrischungsgetränken. Seine Kunden sind älter als die Kunden seines Vaters damals. Auch sie haben Zeit, zu viel Zeit. Oft rufen sie an, und obwohl sie seine Antwort kennen, fragen sie, ob er der Seltzermann sei.

Er sagt dann: »Ja.«

Sie sagen: »Ja, ja«, und seufzen.

Er sagt dann: »Es ist immer noch ein guter Job.«

Sie sagen: »Es ist immer noch das beste Getränk.« Dann sagen sie: »Früher war … Früher hatte … Früher sind …«

Alles, was sie wollen, ist, über die Zeiten zu reden, da Seltzermänner noch keine Rarität waren und sie selbst noch jung.

Das Verhältnis von Johannas Eltern zu ihrer einzigen Tochter war nach deren Entschluss, in München ihre Lehre absolvieren zu wollen, merklich abgekühlt. Die Nachricht, sie habe sich auf einen zwar gescheiten, aber mittellosen Studenten eingelassen, hatte ein Übriges bewirkt. Dennoch hatte Max darauf bestanden, offiziell um Johannas Hand anzuhalten, und obwohl Johanna die Zugreise von München nach Regensburg nutzte, um Max auf die Reaktionen ihrer Eltern vorzubereiten, war es ebendiesen Eltern gelungen, Johanna doch noch zu überraschen: Die Mutter war für einen Tag zu ihrer Schwester nach Pentling hinausgefahren, sie wünschte Max und Johanna auch nach ihrer Rückkehr nicht anzutreffen. Der Vater hatte alle erwartbaren Fragen gestellt. Der Vater hatte sich Maxens Antworten geduldig angehört. Der Vater hatte dann, nachdem sich sein Mund schon im Laufe des Gesprächs deutlicher und deutlicher in ein langes, dünnes Minuszeichen verwandelte, gesagt: »Kommt beim besten Willen nicht infrage!«, nur um sich dann an Johanna zu wenden und ihr mitzuteilen: »Ein gescheiter Mensch mag er sein, ein aufrichtiger und fleißiger vermutlich auch, ein Kandidat für meine einzige Tochter ist er nicht!« Johanna akzeptierte den Punkt, der auf das Minuszeichen folgte, nur dem Scheine nach: ›So muss sich die einzige Tochter gegen die Eltern entscheiden‹, hatte sie gedacht, und als sie dann Anfang März 1937 ihre Lehre mit Auszeichnung abschloss, existierten ihre Eltern für sie schon nicht mehr. Dafür hatte sie den besten Mann der Welt geschenkt bekommen. Und eine Ausbildung mit hervorragendem Abschluss. Irgendwann würden die beiden ihr plötzlich so fernen Menschen im fernen Regensburg schon begreifen und ihrer Tochter wieder näherkommen wollen. Johanna beschloss, diejenige Frau endlich wieder zu besuchen, die sie liebte und deren Verständnis für ihre Welt und ihre Wünsche von so großer tragender Kraft war, dass dies den Mangel an Liebe seitens ihrer Eltern mehr als nur wettmachte.

»Vieles gibt es sowieso nicht zu planen, und besprochen ist alles. Die Trauzeugen haben wir auch schon.«

»Und einen Pfarrer, der euch ohne Einstimmung der Eltern trauen wird?«

»Brauchen wir nicht. Max glaubt nicht an Gott, aber das ist mir einerlei: Spätestens seitdem wir uns kennengelernt haben, weiß ich, dass er existiert.«

Johanna saß mit ihrer Großmutter im Grandhotel Hohenzollernhof an einem festlich gedeckten Tisch und erhob das Glas guten Weines, für den Großmutter sie beim Bestellen ohne Umschweife gegenüber dem Kellner als »alt genug« befunden hatte.

»Eigentlich können wir jetzt schon auf die Hochzeit anstoßen.«

»Eins nach dem anderen, Johanna. Jetzt trinken wir darauf, dass heute Ostersonntag ist, und darauf, dass du hier bist! Das reicht fürs Erste.«

Johanna kicherte. Sie war glücklich, die Atmosphäre im Grandhotel festlich, die Gläser klirrten so sinnlos schön, und sie hatte mehr als einen Schluck vom Wein getrunken, ohne das Glas abzustellen. Es war Mittagszeit, sie hatte kaum etwas gegessen.

»Auf dein Wohl!«, hörte sie.

»Auf deines!«, antwortete sie und ließ ihren Blick schweifen.

»Maiglöckchen! Hast du bemerkt, dass die Tische mit Maiglöckchen geschmückt sind? Und das schon Ende März. Das bringt Glück, Johanna!«

»Und was ist mit den Uniformen? So viele Uniformen. Bringen die auch Glück, Großmama?«

»Nein, Uniformen bringen kein Glück. Für diese Erkenntnis müssen wir nicht erst die leeren Gräber deiner Onkel besuchen. Uniformen bringen Unglück und Tod und …«

Johanna hatte sich in Gedanken von ihrem Tisch entfernt, an dem sie noch immer mit ihrer Großmutter saß, während ein Mann in Uniform vom Nachbartisch erst höflich zu ihnen herübergenickt hatte und sich dann, nachdem Großmutter nicht reagiert und Johanna ihm ein knappes, aber strahlendes Lächeln geschenkt hatte, mit wachsendem Interesse ihrem Gesicht widmete. Nicht aufdringlich, aber sehr aufmerksam. So, als ob er ganz genau wisse, wen er mit Johanna vor sich hatte, und deshalb jeden Moment etwas höchst Erstaunliches von ihr erwarten würde. Er hatte schmale Lippen, zu schmale Lippen, aber er konnte mit den Augen lächeln, die groß waren und wach.

»Immer mehr wirst du in den nächsten Jahren von ihnen sehen, und dann, ganz plötzlich, gar keine mehr.«

»Keine was?«

»Das ist nur eine der schrecklichen Besonderheiten des Krieges: Irgendwann sind die Männer weg, und man kann nicht einmal damit rechnen, dass sie wieder zurückkommen.«

»Großmama, ich verstehe …«

»Verstehen wirst du wahrscheinlich erst, wenn alles vorbei ist, wenn es zu spät ist. Du willst einfache Erklärungen? Als du das letzte Mal hier warst, gab es die Heeres- und Luftnachrichtenschule noch nicht. Du kennst doch das Gelände der Landesheilanstalt. Dort versammeln sich jetzt nicht die Schwachsinnigen, sondern die dem Tod Geweihten. Aber ebenso wenig, wie die meisten Schwachsinnigen auch nur ahnen, dass sie schwachsinnig sind, wissen die Offiziere und Soldaten, dass sie dem Tod geweiht sind. Im Gegenteil. Sie fühlen sich so lebendig wie nie zuvor, weil sie, was für ein Irrsinn, ach, ja, für das Vaterland kämpfen dürfen, das uns die Väter schon einmal genommen hat.« »Großmama, ich verstehe dich noch immer nicht.«

»Dürfte ich Sie korrigieren, gnädige Frau? Die meisten jungen Männer an unserer Schule lernen nicht zu kämpfen, sondern Nachrichten- beziehungsweise Elektrotechnik, viel über Wettervorhersagen, Funken und andere nützliche Dinge.«

Johanna schluckte, sie hob den Blick, schaute nur kurz in die lächelnden Augen des Fremden, zwang sich, ihre Großmutter anzusehen, die den Kopf schüttelte, mit der Zunge schnalzte und ein abfälliges »Wettervorhersagen!« murmelte. Johanna merkte, wie sie errötete: Die letzten Minuten hatte sie nahezu regungslos dagesessen, hatte gestarrt, dabei versucht, ihrer Großmutter zu folgen, und gehofft, der Herr am Nebentisch möge nicht einfach aufstehen und nach Hause gehen. Dann aber war er aufgestanden, der Herr, und jetzt stand er bei ihnen, direkt am Tisch.

»Aber entschuldigen Sie meine unhöfliche Unterbrechung und erlauben Sie mir, mich vorzustellen: Fritz Wertmann, Kommandeur der Heeres- und Luftnachrichtenschule.«

Nachdem er die Grenzen des Anstands überschritten hatte, hatte er offensichtlich auch nicht vor zurückzukehren auf das sich ziemende Terrain der Etikette.

»Würden Sie mir erlauben, Ihre Tochter nur für einen kurzen Augenblick zu entführen? Ich würde ihr gerne etwas zeigen.«

Die Großmutter erlaubte nichts. Nicht etwa, da sie geblendet oder überrascht gewesen wäre von der Höflichkeit oder Dreistigkeit, sondern schlichtweg nur, weil sie sprachlos war ob der Tatsache, dass einer der Männer, die sie ihrer Enkelin gerade als todgeweiht beschrieben hatte, sich so lebendig ins Hier und Jetzt des österlichen Wiedersehens einmischte. Sie öffnete ihren Mund, schloss ihn, räusperte sich, zuckte mit den Schultern. Erst als der Kommandeur Johanna mit einem Nicken aufforderte, ihr zu folgen, fand die Großmutter ihre Stimme wieder:

»Hiergeblieben! Offensichtlich fühlen Sie sich jung genug, um meiner Enkelin Avancen zu machen. Das halte ich für befremdlich. Sicherlich sind Sie alt genug, um aus den Erfahrungen des letzten Kriegs gelernt zu haben. Dennoch entscheiden Sie sich dafür, junge Menschen auf einen neuen Krieg vorzubereiten. Das halte ich für gemeingefährlich. Ich hoffe, es versteht sich von selbst, dass ich Ihnen meine Enkelin aber auch nicht eine Sekunde lang anvertrauen werde!«

Nur für den Bruchteil einer Sekunde waren Herrn Wertmann die Gesichtszüge entglitten, bevor sie wieder zu einem Lächeln fanden. Er hatte bedauernd mit den Schultern gezuckt, sich verbeugt und war an seinen Tisch zurückgekehrt, wo er sitzen blieb, auch als er seine Rechnung beglichen hatte.

Unter neugieriger Beobachtung dieses beeindruckenden Mannes, mechanisch kauend und innerlich erschaudernd, aß Johanna Speisen, an die sie sich später nur mithilfe der Menükarte erinnerte, die ihre Großmutter als Souvenir hatte mitgehen lassen. Unter strenger Bobachtung der Luftwaffe aß die Großmutter Kerbelsuppe und Frühlingssalat, dessen vorzügliche Zubereitung sie schmeckte, aber nicht genießen konnte. Beim Spargel dann geschah es: Sie verschüttete Sauce, ein ganzer Schwung köstlichster Hollandaise lief auf den Tisch, tropfte hinunter, tropfte auf ihren Rock und führte dazu, dass sie, die eigenwillige Großmutter, eigenhändig auf der Damentoilette bereinigte, was sie durch Mangel an Vorsicht beschmutzt hatte. Sie ließ ihre Enkelin für einen Moment allein am Tisch zurück, warf einen entsprechend drohenden Blick auf den Herrn in Uniform, der die Etikette zuvor schon einmal so peinlich überschritten hatte:

»Ich warne Sie!«

Sobald ihre Großmutter aus dem Blickfeld verschwunden war, stand Herr Wertmann, als hätte er den Blick als Aufforderung verstanden, zum zweiten Mal vor Johanna. »Offensichtlich muss ich mit Ihnen direkt verhandeln. Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit, aber es ist dringend. Dürfte ich Ihnen wohl ein Geschenk überreichen?«

Johanna musste an Max denken und an Anna Karenina, die sie im Zug von München nach Halle gelesen hatte. Sie sah ihn vor Augen, Wronski, den Verführer, ein Junge, und Karenin, den Alten, auch ihn sah sie. Sie konnte ein nervöses Kichern nicht unterdrücken. Ein Kichern, das Wertmann als Zustimmung verstehen wollte.

»Nur eine Sekunde«, rief er und verschwand auch schon durch die Terrassentür ins Freie. Voller Verwunderung über diesen Menschen, das Geräusch ihres Herzschlags im Ohr, musterte Johanna abwechselnd Saal- und Terrassentür, fast spielte sie ein Spiel: Wer würde zuerst zurückkehren?

›Ich kann den Lauf der Dinge nicht steuern, nicht mal beeinflussen. Ob ich das Geschenk erhalte oder nicht, hängt einzig von Großmutters Geschwindigkeit ab und derjenigen dieses seltsamen Mannes‹, sagte sie sich, und bevor sie sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen konnte, ob sie überhaupt ein Geschenk von einem fremden Mann annehmen wollte, stand dieser auch schon wieder vor ihr. Er öffnete eine Satteltasche, die sie eher einem Motorrad als einem Pferd zuordnete, ›aber sicher kann ich mir nicht sein‹, dachte Johanna, und wieder kam ihr Wronski in den Sinn, wieder musste sie kichern, und aus der Satteltasche zog der fremde Herr mit den schlechten Manieren namens Wertmann eine Papprolle, der er ein Plakat entnahm und es vor ihren Augen entrollte: Zu sehen war die kolorierte Zeichnung eines wunderschönen kleinen, dunkelroten Vogels mit weit ausgebreiteten Flügeln.

»Ein Rubinkolibri. Ich habe ihn gerade erst auf einer Reise nach New York erstanden. Natürlich ist Ihnen klar, dass dieses Geschenk bis noch vor einer Stunde für jemand anderen bestimmt war. Aber Bestimmungen ändern sich. Sobald Sie den Saal betreten hatten, wusste ich: Dieser Vogel sind Sie. Fragen Sie nicht warum!«

Wertmann wusste, was er tat, und natürlich war ihm klar, dass Johanna das Bild nicht annehmen würde. Zumindest nicht sofort. Sie trug ein leichtes Sommerkleid und eine winzige Handtasche. Eine Papprolle mit der Flügelspannweite eines Albatros ließ sich weder unter dem Ersteren noch in der Letzteren heimlich transportieren. Johanna ließ sich auf die Regeln eines Spiels ein, dessen Ziel sie weder kannte noch kennen wollte. Dass es sich allerdings nicht nur nicht gehörte, sondern auch niemals gut gehen konnte, und zwar laut eigener Erfahrung weder in realistischen Romanen noch in expressionistischen Gedichten, wenn ein wildfremder, verheirateter Mann, noch dazu ein Kommandeur der Luftwaffe, einer verlobten, sehr jungen Buchhändlerin den Hof machte, dies katapultierte sie, die schon weit oberhalb des Hohenzollernhofes schwebte, weit über Halle sogar, über Regensburg längst, über München sogar, den Alpen, und doch ganz und gar gleichzeitig genau jetzt hier unten stand, in einem nach Maiglöckchen duftenden Ballsaal und in leidenschaftlicher Umarmung mit einem Mann, dessen bloße Anwesenheit an einem Nachbartisch in ihr die freudige Gewissheit weckte, das Leben könne voller Überraschungen sein und müsse dies sogar, all dies katapultierte sie zurück auf den Boden der Tatsachen, und ob der harten Landung entschied sie sich für ein gehöriges Lob des Vogels:

»Das ist der schönste Kolibri, den ich je gesehen habe, Herr Wertmann. Und obwohl es sich nicht gehört, nehme ich das Geschenk an. Aber nicht jetzt. Großmutter wird jeden Augenblick zurück sein. Wenn sie das Bild sieht, schickt sie Sie zum Teufel. Und mich zurück nach Bayern!«

»Beim Teufel und in Bayern haben wir nichts zu suchen. Sie bekommen das Bild später.«

»Wirklich?«, fragte Johanna, bevor sie sich, im Schutz einer von Wertmann entfalteten Serviette – ein windiger Jahrmarktillusionist hätte die Szene nicht spektakulärer arrangiert – auf die Wange küssen ließ. Dann fragte Fritz Wertmann nach ihrer Adresse.

»Hollystraße 7«, sagte sie.

Er sah sie an und nickte.

»Ich bin verlobt!«, sagte sie.

»Ich bin verheiratet!«, er.

»In einem Monat werde ich nach München zurückkehren.«

»Beim Wasserturm, heute Abend um zehn?«, fragte er und wartete die Antwort nicht ab.

»Wir werden nichts zerstören. Wir werden nichts erobern, sicher aber werden wir etwas dazugewinnen«, sagte er noch und küsste sie und küsste sie.

›Militärlyrik‹, dachte Johanna.

›Gefällt mir nicht‹, spürte sie.

»Um zehn Uhr. Ich werde da sein!«, wusste sie, bevor sie sich dem Schutz der Serviette und Wertmanns Abschiedskuss entzog.

Die Großmutter kam in bester Laune von der Damentoilette zurück.

Sie nahm Johannas rechte Hand, drückte sie lange und fest.

»Ich bin so froh!«

Mehr sagte sie nicht. Die roten Flecken im Gesicht ihrer Enkelin bemerkte sie, äußern aber wollte sie sich dazu nicht. Johanna glühte. Und das, obwohl sie noch nicht einmal ahnte, dass sie noch an diesem Abend nicht nur das zum zweiten Male entrollte Kolibriplakat, sondern auch einen sehr verwirrenden Kuss eben nicht in die Tasche stecken sollte. Ein Kuss von einem Mann, der noch nicht mal ihren Namen kannte.