Achtsam morden im Hier und Jetzt - Karsten Dusse - E-Book

Achtsam morden im Hier und Jetzt E-Book

Karsten Dusse

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Beschreibung

Wenn die Vergangenheit deines Therapeuten deiner Zukunft im Weg steht, ist es Zeit, im Hier und Jetzt zu leben

Björn Diemel will reden: sowohl über die Einschulung seiner Tochter als auch über das Tantra-Seminar, das er aus Versehen mit seiner Ex-Frau besucht hat. Leider hat ein Unbekannter Björns Achtsamkeitstrainer, Joschka Breitner, krankenhausreif geprügelt – bei dem Versuch, dessen Tagebuch an sich zu bringen. Björn entwendet kurzerhand selbst die Aufzeichnungen seines Therapeuten und macht sich auf die Suche nach dem Täter. Als er entdeckt, dass Joschka Breitner in den frühen 1980er Jahren ein Anhänger Bhagwans war, wird das Tagebuch das Ticket zu einer Reise in die Kinderstube der Achtsamkeit. Der Weg führt nach Indien und in die USA, zu Lebensfreude und Todesgefahr, zu zeitlos erhellenden Weisheiten und den ganz normalen Abgründen der menschlichen Seele.

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Seitenzahl: 400

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Das Buch

»Als Sannyasin habe ich gelernt, Lösungen in mir zu suchen, statt Probleme um mich herum zu erfinden. Manche Lösungen waren gut, manche nicht. Aber als Sannyasins wussten wir, es waren immer unsere Lösungen. Wir haben nie andere Menschen dazu gezwungen, an unseren Problemen zu leiden. Und schon gar nicht, ihr Leben an unseren Lösungen auszurichten. Und genau das habe ich mir aus meiner Zeit mit Bhagwan mitgenommen: Ich biete Wege an – gehen müssen sie meine Klienten selbst. Und am Ende des Tages können wir uns in die Augen schauen und für den gemeinsamen Weg danken. Oder wir können liebevoll sagen:

›Ich respektiere und achte deinen Weg. Mein Weg ist ein anderer.‹

Den Weg gibt es nicht.«

Joschka Breitner, »Godwork Orange – Meine Zeit mit Bhagwan«

Der Autor

Karsten Dusse, Jahrgang 1973, Rechtsanwalt, Studium in Bonn, Lausanne und Los Angeles.

Nach erfolgreicher Tätigkeit als Drehbuch- und Sachbuchautor wurde sein Debütroman ACHTSAMMORDEN zum meistverkauften Taschenbuch des Jahres 2020. Seine Romane wurden bislang in 19 Sprachen übersetzt und stehen regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten. Ausgezeichnet wurde seine Arbeit mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Deutschen Comedypreis und dem Deutschen Hörbuchpreis. Seine Hörbücher haben Gold- und Platin-Status erreicht.

ACHTSAMMORDENIMHIERUNDJETZT ist sein vierter Roman.

KARSTEN DUSSE

ACHTSAM

MORDEN

IM HIER

UND JETZT

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Karsten Dusse

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Covergestaltung: Cornelia Niere, München,

unter Verwendung von Motiven von © Gettyimages

(Fairfax Media Archives/Kontributor)

und © Shutterstock.com (Evgeny Haritonov, Arctic ice,

Yuliia Konakhovska, MILKXT2, Roman Baiadin, Reid Dalland)

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28665-1V003

www.heyne.de

Für Lina

»Sei dir selbst ein Witz, der dich erheitert.«

BHAGWAN SHREE RAJNEESH,

INTELLIGENZ DES HERZENS

INHALT

PROLOG

ERSTER TEIL   TANTRA

1   SEX

2   ACHTSAMER SEX

3   GRÜBELN

4   ENERGIE

5   HÖHERES BEWUSSTSEIN

6   WAHRHEIT

7   DEMÜTIGUNG

8   VORURTEILE

9   BESCHREIBUNGEN

10   LEBENSFLUSS

11   INTIMITÄTEN

12   ALTERN

13   VERGANGENHEIT

14   FRAGEN

15   ZWISCHENLÖSUNGEN

16   EINSCHULUNG

17   VERTRAUEN

18    ANDERE MENSCHEN

19   VERSUCHUNG

ZWEITER TEIL   POONA

20   LEBEN

21   MORAL

22   LEBENSFREUDE

23   LÜGEN

24   KRÖNUNG DER SCHÖPFUNG

25   MISSTRAUEN

26   VERHANDELN

27   DYNAMISCHE MEDITATION

28   ORDNUNG

29   FLIEGEN

30   KREATIVITÄT

31   ENERGIEFELD

32   ATTRAKTIVITÄT

33   LEBENSDURST

34   FREIE LIEBE

35   ANTWORTEN

36   BEDEUTUNGSLOSIGKEIT

37   BEDÜRFNISSE UND BEDENKEN

38   SANNYAS

39   SWAMI ANAND ABHEERU

40   MACHT

41   ENCOUNTER

DRITTER TEIL   RAJNEESHPURAM

42   PARANOIA

43   VERÄNDERUNGEN

44   NACHBARN

45   REIFE

46   GEWALT

47   FOKUSSIERUNG

48   PLANUNG

49   VERGEBUNG

EPILOG

NACHWORT

PROLOG

»Bhagwan ist der Finger, der auf den Mond gezeigt hat. Ich verehre nicht den Finger. Ich bewundere den Mond. Aber ich bin dem Mann mit dem Finger dankbar für seine Geste.«

JOSCHKA BREITNER,

»GODWORK ORANGE –

MEINE ZEIT MIT BHAGWAN«

SELBSTVERSTÄNDLICHLESEICH keine fremden Tagebücher.

Ich respektiere das Recht anderer Menschen auf Privatsphäre.

Es sei denn, irgendjemand – meinetwegen ich – behauptet, durch das Lesen fremder Tagebücher könnten Menschenleben gerettet werden.

Die Chance, durch das Lesen eines fremden Tagebuches ein einziges, unendlich wertvolles Menschenleben zu retten, mag sehr, sehr klein sein.

Und die dadurch begangene Verletzung der Privatsphäre eines Einzelnen mag sehr, sehr groß sein.

Aber die Anzahl der tagebuchschreibenden Menschen ist nun einmal endlich.

Und deswegen ist die Rechnung eindeutig:

Unendlich mal sehr, sehr klein ist immer größer als endlich mal sehr, sehr groß.

Aus mathematischer Sicht ist es also geradezu alternativlos, fremde Tagebücher zu lesen.

Ich mochte das als Jurist mal ganz anders gelernt haben – aber der Wissenschaft zu folgen, macht die Sache mit der Moral wesentlich einfacher.

Das getrocknete Blut auf dem Versteck des von mir ohne die Zustimmung des Verfassers an mich genommenen Tagebuches verströmte den Geruch nach frischem Eisen.

Ich hatte es geschafft, es binnen weniger Tage fast komplett zu lesen.

Vor mir lagen noch die Seiten der letzten Eintragung:

20. Dezember 1984, Big Muddy Ranch, Oregon, USA

Ich mochte den Schreibstil. Der Verfasser beschrieb seine Emotionen ehrlich, seine Umgebung bildlich und die Ereignisse detailreich. Ich sah es förmlich vor mir, wie sich der emotional völlig irritierte Anhänger Bhagwans mit dem roten Ärmel seiner Winterjacke den Schweiß von der Stirn wischte, während sich die eisige Dezembersonne am minus sechs Grad kalten Himmel über der Wildnis Oregons dem Horizont näherte.

Bhagwan persönlich hatte ihm den Namen Swami Anand Abheeru verliehen: der Furchtlose.

Wenn es das Privileg des Furchtlosen sein sollte, Fürchterliches zu tun, so hatte er gerade seinem Namen alle Ehre gemacht.

Nur Abheerus Seele sah das offenbar anders. Er schwitzte. Angst und Schrecken standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte gerade achtsam einen Menschen erschossen: Swami Prem Parvaz, den »Vogel der Liebe«.

Abheerus Atem, sein Geist, seine ganze Wahrnehmung waren im Hier und Jetzt konzentriert gewesen auf diesen einen, einzigen, erfolgreichen Kopfschuss.

Er hatte getroffen, aber das löste seinen Stress nicht auf, sondern weiteren aus.

Es wird immer behauptet, im Moment des eigenen Todes laufe vor dem inneren Auge der persönliche Lebensfilm ab. Bei Abheeru war das offensichtlich anders. Nicht der Moment des Todes, sondern der Moment des ersten Mordes löste bei ihm Kopfkino aus.

Mit der noch rauchenden Maschinenpistole in der Hand, feierte sein eigener Lebensfilm in seinem Kopf Premiere.

Mit Abheeru in allen bisherigen Rollen.

Als deutsches Wirtschaftswunderkind.

Als Einser-Student mit fast vollendeter Dissertation und besten Karrierechancen.

Als Sinnsuchender in Bhagwans Ashram in Poona.

Und, in der letzten Einstellung, dann als Mörder, auf einem zweitausend Fuß hohen Berg gegenüber dem Walt Whitman Grove in Rajneeshpuram, Oregon.

Als Mensch, der keine Ahnung hatte, wie es nun weitergehen sollte.

Die Stimmung des Tagebuchs hatte sich zwischen den ersten und den letzten Seiten elementar verändert. Am Anfang des Tagebuchs ging es um positive Energie und Lebensfreude. Dieses letzte Kapitel handelte nun davon, wie voller negativer Energie zwei Leben beendet worden waren. Absichtlich das des Erschossenen und – eher aus Versehen – das von Abheerus ehemaliger Geliebten, die er eigentlich durch den Schuss hatte retten wollen. Wie hatte er nur übersehen können, dass sie mit Handschellen an seinen Gegner gefesselt war? Ganz offensichtlich war sie nun mit dem Erschossenen zusammen ins über fünfzig Meter tiefe Tal gestürzt.

Der Verfasser des Tagebuchs fragte sich, wie das alles hatte so schrecklich schieflaufen können.

Wenn der Schuss für Swami Prem Parvaz allein nicht schon tödlich gewesen wäre – der Sturz war es garantiert für beide.

Swami Anand Abheeru, der Furchtlose, beschrieb auf diesen letzten Seiten sehr klar, wie er von seiner Angst zurückerobert worden war.

Er ging zögerlich an den Rand des Plateaus, auf dem er stand. Tief unter ihm sah er zwei rote Punkte leblos im Tal liegen. Er nahm seine Mala vom Hals, die aus hundertacht Holzperlen und einem Bild Bhagwans bestehende Kette, und steckte sie in die Tasche seiner Jacke. Er würde auch die rote Kleidung ausziehen, sobald er genügend Abstand zwischen sich und die Ranch gebracht hatte.

Hoffentlich, bevor die beiden Leichen entdeckt werden würden.

Er würde versuchen müssen, sich ein Leben jenseits des Ashrams neu aufzubauen. Er hatte keine Ahnung, wo und wie. Aber der erste Schritt würde sein, wieder einen eigenen Namen anzunehmen. Er würde sich mit dem Verlassen der Ranch nicht mehr Swami Anand Abheeru nennen.

Von nun an würde er wieder seinen alten Vornamen annehmen: Joschka.

Ergänzt durch den Mädchennamen seiner Mutter: Breitner.

Ich klappte die letzte Seite des Einbands zu und dachte nach.

Ja, es war ein Vertrauensbruch, meinem Therapeuten das Tagebuch zu klauen.

Aber zumindest wusste ich jetzt nicht nur, wer meinen Therapeuten töten wollte, sondern auch, warum.

ERSTER TEIL

TANTRA

1   SEX

»Das einzig Problematische am Sex ist die Anzahl der dazu notwendigen Personen.«

JOSCHKA BREITNER,

»GODWORK ORANGE –

MEINE ZEIT MIT BHAGWAN«

SELBSTVERSTÄNDLICHHATTEICH eine grobe Vorstellung davon, was Tantra ist.

Immerhin erwirtschaftete meine Mandantschaft einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Einnahmen mit sexuellen Dienstleistungen.

Tantra-Massagen zum Beispiel waren das sexuelle Pendant des Veggie-Burgers.

Nicht ganz so geil wie die echte Befriedigung der Fleischeslust, dafür aber hinterher ohne schlechtes Gewissen.

Für das Gute-Gewissen-Imitat – für den Veggie-Burger wie für die Tantra-Massagen – ließen die Kunden sogar gern mehr Geld springen als für das Original.

Irgendwie schien Askese einfacher zu sein, wenn man sie mit finanziellem Rumgeaase kompensieren konnte.

Meine grobe Kenntnis von Tantra-Massagen hatte mit tatsächlichem Tantra ungefähr so viel zu tun wie ein vor Mayonnaise triefender Veggie-Burger mit gesunder Ernährung.

Dass Tantra eine Philosophie war, in der es nicht um Hunger, sondern um Appetit ging, wurde mir erst durch meinen Achtsamkeitstrainer bewusst.

Tantra ist keine Methode, den Hunger zu stillen.

Tantra ist die Kunst, den Appetit zu genießen.

Zu der Zeit, als ich mir das erste Mal Gedanken über das tatsächliche Tantra – jenseits von Massagen – machte, glich mein Sexleben einem Kärcher-Hochdruckreinigungsgerät. Es war vorhanden, stand aber die meiste Zeit des Jahres unbeachtet in einer Kellerecke. Wenn ich es benötigte, holte ich es hervor, machte mir kurz Gedanken über das alberne Aussehen des Schlauches, war aber erfreut festzustellen, wie schnell doch wieder Druck im System war. Ich genoss nach dem Gebrauch für ein paar Tage das Gefühl, altes Moos von der Terrasse meiner körperlichen Bedürfnisse weggespült zu haben. Der Kärcher stand da schon längst wieder im Keller und sah dabei zu, wie die Terrasse jeden Tag wieder ein bisschen mehr von Sehnsüchten überwuchert wurde.

Tantra ist ein Leben ohne Hochdruckreiniger.

Tantra ist die Freude daran, auf der Terrasse der eigenen sexuellen Bedürfnisse so glücklich tanzen zu können, dass sie gar nicht erst von unbefriedigten Sehnsüchten überwuchert wird.

Dass mein Sexleben in der Tat brachlag und somit jede Menge an Optimierungsmöglichkeiten bot, hatte mich bislang nicht gestört. Ich hatte zumindest schon einmal ein befriedigendes Sexleben gehabt. Ich hatte sogar bereits erfolgreich ein Kind gezeugt. Und ich hatte in den letzten Jahren genug damit zu tun gehabt, mein sich daraus ergebendes Leben als Vater in den Griff zu bekommen.

Darüber ist mein Sexleben dann wohl irgendwie eingeschlafen.

Die bisherigen Konsequenzen meines Intimlebens waren so lebensverändernd gewesen, dass ich Sex seither nicht mehr bloß als unbefangene Freizeitbeschäftigung ansah.

Was ich als nicht weiter schlimm empfand.

Die Optimierung meiner erotischen Aktivitäten stand auf meiner Prioritätenliste irgendwo zwischen »Studienplatz für meine Tochter finden« und »mich über häusliche Pflege informieren«.

Meine Tochter war zu dem Zeitpunkt sechs.

Ich Ende vierzig.

Dass ich aus dem Nichts heraus anfing, mich ziemlich intensiv mit den entspannenden Höhepunkten von Tantra zu befassen, lag daran, dass mein Entspannungstherapeut aus mir nicht erklärlichen Gründen keine Zeit fand, sich vereinbarungsgemäß mit mir um die Vermeidung meiner seelischen Tiefpunkte zu kümmern.

Seit mehr als zwei Jahren besprach ich mit Joschka Breitner alles, was mein Seelenleben bewegte. Jedenfalls alles, was nicht justitiabel war. Er half mir, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, meine Seele aufzuräumen. Joschka Breitner war ein Mann, der Klarheit und Struktur schätzte. Wir hatten einen festen Termin im Monat: Jeden zweiten Donnerstag klingelte ich Punkt 17.30 Uhr an der Tür seiner Praxis, um mich anschließend für zwei Stunden mit ihm auszutauschen. Ich gab ihm meine Ängste – er mir seinen Rat. Das funktionierte nach dem immer gleichen Prinzip. Entweder ich hatte eine konkrete Fragestellung, mit der ich zu ihm kam. Diese wurde meist außerhalb des Antwortrahmens gelöst, der mein Denken bis dahin eingeengt hatte. Oder ein Thema ergab sich aus dem, was ich seit der letzten Sitzung erlebt hatte. Ereignisse, denen ich ohne Herrn Breitner meist gar keine Bedeutung beigemessen hätte.

Manchmal brachte mich Herr Breitner auch mit einer Fragestellung zum Nachdenken über etwas, was ich für mein Leben bislang gar nicht als relevant betrachtet hatte.

Kurz: Es brachte nichts, mir vor 17.30 Uhr vorzustellen, wie eine Sitzung bei Herrn Breitner verlaufen würde. Ich war am Ende immer überrascht. Positiv überrascht.

Auch Anfang August stand ich um Punkt 17.30 Uhr vor der Tür des Altbaus, in dem sich seine Praxis befand. Aber auf mein Klingeln hin geschah zunächst einmal gar nichts.

Ich war weder zu spät noch zu früh.

Ich war weder schlecht gelaunt noch euphorisch.

Mein Leben spielte sich zu diesem Zeitpunkt in verschiedenen, mehr oder weniger strikt voneinander getrennten Kreisen ab.

Da war zunächst der äußerste Kreis: meine Arbeit.

Mein offizieller Job als selbstständiger Einzelanwalt wurde von niemandem angezweifelt. Mein inoffizieller Job als Geschäftsführer diverser ebenso illegaler wie mittelständischer Betriebe im Produktbereich von Drogen, Waffen und Prostitution wurde von keiner der beteiligten Personen infrage gestellt. Ich war beruflich angekommen.

Dass ich auf dem Weg dahin mehrere Menschen achtsam ermordet hatte, weil ich meine ganz eigene, ganzheitliche Lebensphilosophie befolgte, schien niemanden zu interessieren. Im Gegenteil.

Ich hatte vor über zwei Jahren unter anderem zwei Mafiosi getötet.

Um meine eigene Haut zu retten, hatte ich gegenüber deren Mitarbeitern die schöne Geschichte erfunden, die beiden Chefs seien nur kurz untergetaucht. Und ich als ihr Anwalt würde lediglich vorübergehend und ausschließlich zur Vermeidung von Gefahren in ihrer Abwesenheit die Alltagsgeschäfte führen.

Mit jedem weiteren Tag der vorübergehenden Ausnahme hätte diese Geschichte unglaubwürdiger werden müssen.

Wurde sie aber nicht.

Ganz im Gegenteil.

Je länger diese vorübergehende Lösung andauerte, desto gemütlicher richtete sich meine Umwelt in diesem Provisorium ein. Je offensichtlicher meine Lügen wurden, desto begieriger waren die Mitarbeiter, sie zu glauben. Meine Anweisungen wurden nicht nur nicht hinterfragt, sondern in vorauseilendem Gehorsam befolgt.

Wenn die Wahrheit die Erkenntnis ist, belogen worden zu sein, dann glauben die Belogenen offensichtlich lieber die Lüge, sie seien selber Teil einer besseren Wahrheit. Auch das war eine Erkenntnis für mich.

Da war der nächst innere Kreis: mein Privatleben.

Es war überschaubar, aber geordnet.

Ich war vor einiger Zeit einen Monat lang auf dem Jakobsweg gepilgert. Dabei war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass der Sinn des Lebens darin bestand, das eigene Leben voller Lebensfreude zu leben. Und beides – die Freude wie das Leben – weiterzugeben.

Die Energie dieser Erkenntnis trug ich immer noch in mir.

Ich war kein Mensch mit ausuferndem Freundeskreis.

Ich hatte ein sehr entspanntes, freundschaftliches Verhältnis zu meiner Ex-Frau Katharina. Wobei ein Teil der Entspannung auch der Tatsache geschuldet war, dass Katharina am Ende meiner Pilgerreise in meinem Beisein ihren damaligen Freund erschossen hatte.

Es vereinfacht eine Beziehung ungemein, wenn man mehr über die Morde des Partners weiß als umgekehrt.

Da war außerdem Sascha. Zu ihm hatte ich eine Beziehung, die einer Freundschaft ziemlich nahe kam. Er wohnte im selben Haus wie ich, war der ehemalige Fahrer eines der ehemaligen Mafiosi und nun der Leiter des Kindergartens meiner Tochter. Dass er von einigen meiner Morde wusste, verband uns. Ebenso wie seine Mithilfe dabei.

Sascha und Katharina waren die einzigen Menschen in meinem Umfeld, die von meinem Achtsamkeitscoach wussten.

Und schließlich war da noch die Sonne meines Lebens in meinem innersten Kreis: mein geliebtes Töchterchen Emily.

Sie hatte mein Leben umgekrempelt. Sie trug das Leben in sich, das ich voller erfüllender Lebensfreude weitergegeben hatte.

Und ich stellte jeden Tag aufs Neue fest, mit welch großen Schritten sie in ihr eigenes Leben trat.

Vor ein paar Jahren hatte ich noch mit Mafia-Methoden einen Kindergarten übernehmen müssen, um ihr als liebender Vater einen Kindergartenplatz zu sichern.

Nächste Woche sollte nun ihr erster Schultag sein.

Die anstehende Einschulung meiner Tochter war derzeit das einzige Thema, von dem ich wusste, dass ich es mit meinem Entspannungstherapeuten besprechen wollte.

Als ein meinen innersten Kreis betreffendes Ereignis betraf sie unmittelbar mein Seelenleben.

Nächsten Mittwoch würde ich meine Tochter in das System der Schulpflicht übergeben müssen.

Je näher der erste Schultag kam, desto nervöser wurde ich.

Ich merkte, wie alte Gefühle aus meiner Kindheit in mir emporstiegen, über die ich gern sprechen wollte.

Mein Eintritt ins Schulleben war damals von einer ganzen Reihe negativer Empfindungen geprägt gewesen.

Von der Sorge, Freunde zu finden.

Von den Ängsten, in ein fremdes Haus gehen zu müssen, das noch mal so viel größer war als der Kindergarten, den ich bereits gehasst hatte.

Von der offen ausgesprochenen Drohung meiner Eltern, jetzt beginne der Ernst des Lebens.

Von der von allen Seiten an mich herangetragenen Erwartung, mich die nächsten dreizehn Jahre in ein System außerhalb der Familie einzuordnen, damit ich dann – am anderen Ende der Schulzeit – eventuell meinen eigenen kleinen Anspruch auf Glück geltend machen könne.

Eine gute Woche vor der Einschulung meiner Tochter durchlebte ich all diese Ängste erneut.

Verbunden mit der Sorge, meiner Tochter könnte es emotional genauso ergehen wie mir damals. Und ich könnte ihr womöglich keine große Hilfe bei ihrem Schulstart sein.

Ich brauchte Herrn Breitners Ratschlag, wie ich den emotionalen Spagat hinbekäme, meine Tochter aus den Zwängen eines Systems herauszuhalten, dem ich sie dennoch übergeben musste.

Mit der realen Situation meiner Tochter hatten meine Sorgen dabei nicht das Geringste zu tun.

Meine Tochter hatte ihren kleinen Kindergarten geliebt und freute sich mit der gleichen positiven Energie auf die größere Schule.

Sie war anderen Kindern gegenüber aufgeschlossen und hatte keinerlei Probleme, Freundschaften zu schließen.

Emily war schon längst ein Schulkind im Geiste.

Täglich machte sie neue Schritte in die Selbstständigkeit. Am anstehenden Wochenende, dem letzten vor der Einschulung, wollte sie sogar zum ersten Mal allein bei ihren Großeltern – Katharinas Eltern – übernachten.

Emily bot im Grunde keinen realen Anlass zur Sorge.

Aber ich besprach mit meinem Coach ja auch nicht die realen Probleme meiner Tochter, sondern meine realen Empfindungen.

Herr Breitner war der einzige Mensch, dem ich den Inhalt meines Seelenlebens offenbarte.

Niemand aus meinen anderen Kreisen kannte Herrn Breitner persönlich.

Bis auf Katharina kannte sogar niemand seinen Namen.

Und so sollte es auch bleiben.

Herr Breitner war mein ganz persönlicher Zufluchtsort.

Einmal im Monat.

Jeden zweiten Donnerstag.

Um 17.30 Uhr.

Nur an diesem Tag eben mit dem Unterschied, dass Herr Breitner auf mein Klingeln hin nicht öffnete.

2   ACHTSAMER SEX

»Sie können alles achtsam tun. Sie können achtsam essen, achtsam wandern, achtsam Sex haben. Es macht allerdings einen Unterschied, ob Sie eine Erdbeere beim Wandern im Wald oder ein Stück Harzer Roller beim Bummeln durch ein Industriegebiet essen. Warum sollte das beim Sex anders sein?«

JOSCHKA BREITNER,

»ENTSCHLEUNIGT AUF DER ÜBERHOLSPUR –

ACHTSAMKEIT FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE«

ICHSTARRTEDIEKLINGEL an. Sie bestand aus einem schwarzen Knopf, der sich in der Mitte einer runden Messingplatte befand. Sie starrte einäugig zurück. Neben der Klingel hing ein Schild: »Joschka Breitner, Sprechstunden nach Vereinbarung, dienstags geschlossen«.

Herr Breitner hatte bereits das ein oder andere Mal meine Unpünktlichkeit zum Anlass genommen, diese zum Sitzungsbeginn zu thematisieren.

Aber heute war ich pünktlich.

Und wir hatten Donnerstag.

Ich klingelte erneut und versuchte, die Wartezeit für eine kleine Atemübung zu nutzen.

Ich stellte meine Beine schulterbreit auseinander und ließ die Arme locker am Körper baumeln. Ich atmete ein. Ich atmete aus. Ich wollte im Hier und Jetzt darauf warten, dass Herr Breitner die Tür öffnete. Ich fühlte mich … wie ein Kind auf dem Schulhof, das die Glocke gehört hatte und darauf wartete, dass der Lehrer die Kinder in die Klasse führte. Hoffentlich würde Emily diese absolute Leere des Wartens nicht so spüren wie ich damals.

Ich merkte, wie mir die Übung entglitt.

Ich war in Gedanken nicht mehr im Hier und Jetzt.

Ich oszillierte emotional über vier Jahrzehnte.

Im Moment dieser Erkenntnis wurde meine kleine Stehmeditation ohnehin vom Türsummer beendet.

Das war sonderbar.

Bisher hatte mir Herr Breitner immer persönlich die Tür geöffnet.

Fast zeitgleich mit dem Summer erklang seine Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Ich … bin noch am Telefon«, sagte Herr Breitner in einer Tonlage, die nicht nur aufgrund der elektronischen Verzerrung völlig anders klang, als ich es von ihm gewohnt war.

»Gehen Sie … schon mal rein. Ich komme gleich.«

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Herr Breitner war bei jedem meiner Besuche immer Herr des Geschehens. Er ließ die Dinge gerne im von ihm kontrollierten Tanzbereich laufen. Aber er überließ die Tanzfläche nie gänzlich mir.

Ich öffnete leicht irritiert die schwere Eingangstür aus massivem Holz und ging durch den langen, mit einem Bambusfaser-Läufer ausgelegten Flur. Linker Hand befand sich sein Büro, in dem ich noch nie war. Auch heute war die Tür dazu geschlossen. Ich hörte allerdings leise seine Stimme.

»Ja … nein … danke … ich …«, klang es tonlos durch die Tür.

Geradeaus befand sich eine kleine Toilette.

Rechter Hand lag das Besprechungszimmer, dessen Türe offen stand.

Ich trat ein.

Es ist leicht, in einem spartanisch eingerichteten Raum Unordnung zu erzeugen. Es reicht schon, wenn ein einziger Gegenstand sich am falschen Platz oder sich ein neuer Gegenstand im Raum befindet.

Die spärliche Möblierung in Herrn Breitners Arbeitszimmer war für mich fester Bestandteil unser Coaching-Normalität. Die zwei Stühle an einem Tisch, das Bücherregal mit den nie variierenden Bänden sowie der Beistelltisch mit Teekanne und Gläsern.

Alles war immer dort, wo es hingehörte.

Bereits beim Betreten des Raumes fiel mir auf, dass die geöffnete Zeitschrift auf dem Beistelltisch dort nicht hingehörte.

Ich setzte mich auf den einen der beiden Freischwinger-Sessel, auf dem ich immer Platz nahm. Er bestand aus einer Stoffeinlage, die äußerst bequem auf einem Aluminium-Rohr-Gestänge befestigt war.

Ich wippte ein wenig vor mich hin und wartete.

Nichts geschah.

Mein Blick wanderte zu dem aufgeschlagenen Magazin. Es lag so auf dem Tisch, dass ich es nur verkehrt herum lesen konnte. Am Aufdruck des Logos am Seitenbeginn erkannte ich eine mir vom Flughafenkiosk bekannte populärwissenschaftliche Zeitschrift mit psychologischem Touch.

Die Überschrift der Doppelseite konnte ich auch ohne Lesebrille verkehrt herum entziffern. Sie füllte in großen Buchstaben das komplette obere Viertel der linken Seite:

TANTRA, SEXUNDACHTSAMKEIT

Die komplette rechte Seite des Artikels bestand aus einem Text, der zu klein geschrieben war, als dass ich ihn hätte lesen können.

Das den Artikel illustrierende Foto, das den Rest der linken Seite einnahm, nahm allerdings auch meine ganze Aufmerksamkeit ein.

Das Bild zeigte den von Kerzenschein erzeugten Schatten eines nackten Paares auf einer ockerrot verputzten Wand. Es hatte eine nostalgisch stimmende Siebzigerjahre-Ästhetik. Es wirkte leicht körnig, es dominierten – rund um den dunklen Schatten – gedeckte Orange- und Rottöne.

Die Proportionen des Paares waren schräg verzerrt. Fotograf, Kerze und Paar mussten im Dreieck vor dieser Wand positioniert gewesen sein.

Die Konturen des Paares waren deutlich zu erkennen.

Sie saß auf seinem Schoß, den Kopf mit den langen Haaren in Ekstase zurückgeworfen.

Er liebkoste mit einer Hand und seinem Mund ihre Brüste. Obenrum waren die Schatten klar abgegrenzt, untenrum verschmolzen sie. Auch sein Haar war schulterlang. Zudem warf er einen Bartschatten an die Wand.

Das Foto nahm mich komplett in seinen Bann.

Es strahlte eine völlige Natürlichkeit aus: Friede, Heimat, Vertrauen.

Indem es im Vordergrund die Schatten dessen zeigte, was man auf dem Bild nicht sah, wurden die Erotik und Harmonie zwischen den beiden Schattenspendern wesentlich deutlicher sichtbar, als wenn man das Pärchen direkt fotografiert hätte.

Bis auf die Konturen der Köpfe und der Brüste war den Schatten nicht zu entnehmen, welchen Körperbau oder welches Alter das Pärchen hatte.

In dem Bild konnte sich jeder wiederfinden.

Mich erinnerte das Bild an die Zeit, in der ich noch ein wunderbares und ausgeglichenes Sexleben hatte.

Am Anfang meiner Beziehung mit Katharina.

Das kurz auflodernde Feuer der Erinnerung warf den Schatten eines Hochdruckreinigers an die Wand meiner Seele.

Ich überlegte, ob ich mir die Zeitschrift einfach nehmen und den Artikel lesen sollte.

Dagegen sprach, dass Herr Breitner nie irgendwelche Zeitschriften in seinem Wartezimmer zur freien Verfügung liegen hatte.

Weil er kein Wartezimmer hatte.

Diese Zeitung war also offensichtlich seine.

Es konnte sich hier allerdings auch um eine bewusste Versuchsanordnung für mich handeln. Leerer Raum, abwesender Therapeut, ungewohnter Gegenstand auf dem Tisch – wie reagiere ich?

Herr Breitner hatte bereits bei unserem allerersten Treffen aus meinem unbewussten Verhalten auf sein bewusstes Die-Tür-nicht-Öffnen zahlreiche Rückschlüsse auf mein Seelenleben ziehen können.

Vielleicht war er ja auch heute ganz bewusst nicht im Raum, um dadurch Rückschlüsse aus meiner unbewussten Reaktion darauf ziehen zu können.

Vielleicht wollte er testen, wie lange ich brauchte, um mich zu entscheiden, der Versuchung zu widerstehen oder ihr nachzugeben.

Was auch immer der Grund sein mochte, Herr Breitner würde mich schon erhellen. Nachdem ich den Artikel gelesen hatte.

Die Ästhetik des Fotos faszinierte mich zu sehr, um der Versuchung zu widerstehen.

Und auch die Überschrift hatte mich neugierig gemacht: »Tantra, Sex und Achtsamkeit«

Achtsamkeit war die mein Leben verändernde Entspannungstechnik, zu der ich ohne Herrn Breitner keinen Zugang gefunden hätte. Vielleicht war die Zeitung tatsächlich als Impuls für meine Sitzung gedacht. Ich nahm die Zeitschrift meines Therapeuten, drehte sie auf dem Tisch um und zog sie zu mir herüber. Grob überflog ich den Inhalt. Der Artikel handelte von der Renaissance der östlichen Philosophie des Tantra, einer Unterform des Yoga.

In unserer medial völlig sexualisierten Welt setze sich langsam die Erkenntnis durch, dass Sex eben mehr sei als Pornografie, Machtmittel oder Verkaufsargument.

All das sei nicht Sex. All das sei lediglich Sexualität.

Sex sei etwas völlig anderes.

Sex sei der natürliche Ursprung unseres Lebens.

Sex könne auch die natürlichste Meditationsform des Lebens sein.

Im tantrischen Sex befänden wir uns tatsächlich im Hier und Jetzt und würden eins mit dem Augenblick.

Die Lehre von Tantra sei die Kunst des achtsamen Sex.

Auf dem Foto waren all diese Aussagen in einem einzigen Moment vereint.

In den Artikel integriert war ein kleines Kästchen, das ein Interview mit einem Tantra-Therapeuten enthielt. Wie bei allen Experteninterviews, bei denen das Foto des Experten größer war als dessen Expertise, schenkte ich auch diesem beim ersten Überfliegen des Artikels keine Beachtung.

Ich fragte mich, warum Herr Breitner den Artikel für mich dort hingelegt hatte.

Wollte er mich indirekt fragen, welche Rolle Sex in meinem Leben spielte?

Ich horchte in mich hinein.

Die anstehende Einschulung des sexuellen Erzeugnisses meiner Ex-Frau und mir berührte mein Leben, ehrlich gesagt, mehr als die Möglichkeit der seelischen Erlösung durch rhythmische Sex-Gymnastik mit wem auch immer.

Aber war es nicht Herr Breitner, der mir einprägsam aufgezeigt hatte, dass sich mein Leben nicht ausschließlich um meine Tochter drehen sollte, sondern ab und an auch mal um mich?

Vielleicht sollte dieser Zeitungsartikel ein Fingerzeig sein, um mich daran zu erinnern.

Ich war gespannt, wie Herr Breitner das Thema Tantra gleich angehen würde.

Leider kam es nicht dazu.

Just in dem Moment, wo ich den Artikel zurück auf den Beistelltisch legte, öffnete sich die Tür, und Joschka Breitner trat in den Raum.

Nichts an dem Anblick, den er bot, passte zu dem, was ich bislang in diesem Zimmer erlebt und erfahren hatte.

Mein Entspannungstherapeut wirkte völlig durch den Wind – und um Jahre gealtert.

Sein gewohnt minimalistisch anmutender Kleidungsstil aus Jeans, Leinenhemd, grober Strickjacke und Filzpantoffeln an nackten Füßen wirkte heute derangiert. Was ein wenig daran liegen konnte, dass er die Strickjacke auf links und die Pantoffeln gar nicht trug. Seine sonst immer ausgeglichen wirkende Erscheinung machte heute einen ausgemergelten Eindruck. An seinen Schläfen glänzte kalter Schweiß. Seine Stimme war ausdruckslos und brüchig. Seine Augen waren gerötet, so als hätte er vor Kurzem noch geweint.

Ich hatte den in sich ruhenden Asketen bislang immer auf maximal Mitte fünfzig geschätzt. Als er jetzt aufgewühlt und verunsichert den Raum betrat, wirkte er wie jemand, der die sechzig längst überschritten haben musste. Seine Stimme klang tonlos und brüchig.

»Entschuldigung, Herr Diemel … aber wir müssen die heutige Stunde leider verschieben … ich … da ist etwas …«

Herr Breitner war in den vergangenen Jahren für mich immer der Fels in meiner Brandung gewesen.

In diesem Moment wirkte er wie eine Flaschenpost, die auf dem Uferkies des Lebens entkorkt in den Wellen hin und her taumelte.

Die Erscheinung des Mannes, der mich ansonsten bereits durch seine Erscheinung beruhigte, beunruhigte mich.

»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes?«, rutschte es besorgt aus mir heraus.

Eigentlich hatte ich keine Antwort auf diese Bemerkung erwartet. Mir war sehr wohl bewusst, dass es eine Therapeuten-Klienten-Schranke gibt, die nicht überschritten werden soll. Wir redeten über die Brandung. Nicht über den Felsen. Herr Breitner wusste alles über mich. Doch bis auf seinen Namen und seinen Beruf wusste ich eigentlich nichts über ihn. Das Privatleben meines Therapeuten ging mich nichts an.

Auf die Frage nach dem Inhalt der Flaschenpost erwartete ich also nicht wirklich eine Antwort.

Herr Breitner schien aber in diesem Augenblick derart kraftlos neben sich zu stehen, dass er sich offensichtlich auf dem Ausgleichsgewicht der Therapeuten-Klienten-Schranke abstützen musste und damit den Schlagbaum für einen kleinen Moment sperrangelweit öffnete.

»Ich habe vorhin erfahren, dass eine alte Freundin vor ein paar Wochen gestorben ist ….«

Das zu hören war nicht nur sehr privat, sondern auch irritierend.

Herr Breitner war der Mensch, der mir beigebracht hatte, dass der Tod das natürlichste Ereignis der Welt war. Alle alten Freundinnen sterben irgendwann. Warum warf ihn das so aus der Bahn? Und so eng konnte die Freundschaft ja nicht gewesen sein, wenn er von ihrem Tod erst Wochen nach dessen Eintreten erfuhr.

Das war verwunderlich – ging mich aber nichts an. Doch irgendwas musste ich erwidern. Ich hatte diesen ins Morbide abgleitenden Small Talk schließlich begonnen. Und Herr Breitner tat mir in diesem Moment schlicht und ergreifend als Mensch leid.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Die Nachricht vom Tod Ihrer Freundin scheint Sie sehr überrascht zu haben …«

Herr Breitner sank auf seinen Stuhl, nahm wie nebenbei die auf dem Tisch liegende Zeitschrift in die Hand und legte sie auf seinen Schoß. Dort faltete er seine Hände über dem Bild des sich liebenden Pärchen und sank sichtbar in sich zusammen.

»Nein. Eigentlich hat mich überrascht, dass sie überhaupt noch gelebt hat.«

3   GRÜBELN

»Grübeln ist Sinn-los. Sie können es stoppen, indem Sie Ihren Gedanken einen Sinn geben. Oder zwei. Oder drei. Lassen Sie Ihre Gedanken sich mit Ihren Sinnen beschäftigen. Geben Sie Ihren Sinnesorganen – den Augen, den Ohren, der Nase, der Haut, dem Mund – Aufgaben. Sie werden feststellen, dass sich Ihr Kopf mit dieser Beschäftigung sehr schnell Sinn-voller und besser anfühlt.«

JOSCHKA BREITNER,

»ENTSCHLEUNIGT AUF DER ÜBERHOLSPUR –

ACHTSAMKEIT FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE«

ZUMERSTENMAL, seit ich Herrn Breitner kannte, verließ ich seine Praxis aufgewühlt und einigermaßen ratlos. Herr Breitner hatte mir beim Weggehen noch nachgemurmelt, er werde sich wegen eines neuen Termins bei mir melden. Er hatte sich zur Verabschiedung nicht erhoben, sondern war in sich zusammengesunken sitzen geblieben.

Statt meine Sorgen bezüglich der Einschulung meiner Tochter hatte ich nun erst einmal den offensichtlichen Zusammenbruch meines Therapeuten zu verarbeiten. Aufgrund der ausgefallenen Sitzung hatte ich dazu fast zwei Stunden geschenkter Zeit. Und zwei Fragen im Kopf.

Was mochte Herrn Breitner so aus der Bahn geworfen haben?

Und: Ging mich das überhaupt etwas an?

Die letzte Frage war spontan sehr einfach zu beantworten:

Natürlich ging mich das etwas an.

Die Ursache für Herrn Breitners Irritation war schließlich auch die Ursache für meine ausgefallene Stunde.

Was meinem Therapeuten schadete, schadete auch mir. Es handelte sich um nicht weniger als um eine Störung mit Einfluss auf meinen innersten Kreis.

Auf der anderen Seite hatte aber auch jeder Mensch das Recht auf einen Zusammenbruch. Nur meistens war man dabei eben unbeobachtet.

Ich hatte ihm meine Hilfe angeboten. Er wollte keine.

Vielleicht sollte ich um Herrn Breitners Privatsphäre willen die Möglichkeit in Betracht ziehen, seinen Zusammenbruch einfach zu vergessen.

Sich Mühe zu geben, etwas zu vergessen, ist leider die beste Methode, dieses Etwas langfristig im Gedächtnis zu behalten. So bekam ich das Thema garantiert nicht mehr aus dem Kopf.

Ich ging nicht zu meinem Auto, um nach Hause zu fahren.

Ich beschloss, so mit dieser Irritation umzugehen, wie es mir Herr Breitner wahrscheinlich geraten hätte.

Um meine Gedankenwelt zu beruhigen, ging ich erst einmal achtsam spazieren.

Ich wollte das anlaufende Gedankenkarussell durch die achtsame Beschäftigung mit meinen eigenen Sinnen stoppen. Ganz so, wie bei Joschka Breitner gelernt:

»Grübeln ist Sinn-los. Sie können es stoppen, indem Sie Ihren Gedanken einen Sinn geben. Oder zwei. Oder drei. Lassen Sie Ihre Gedanken sich mit Ihren Sinnen beschäftigen. Geben Sie Ihren Sinnesorganen – den Augen, den Ohren, der Nase, der Haut, dem Mund – Aufgaben. Sie werden feststellen, dass sich Ihr Kopf mit dieser Beschäftigung sehr schnell Sinn-voller und besser anfühlt.«

Ich ging die baumbestandene Straße des Altbauviertels vor Joschka Breitners Haus entlang und begann, diesen Ansatz in eine Achtsamkeitsübung umzusetzen. Eine Übung, in der ich zunächst jedem einzelnen meiner Sinne nacheinander eine Beschäftigung gab.

Ich registrierte mit den Augen die Sonnenstrahlen, die von dem grünen Laub der Alleebäume gebrochen wurden. Ich nahm mit den Ohren das Rauschen der Blätter im Wind wahr, mit meiner Nase den Geruch des frisch gemähten Grases eines Vorgartens. Ich leckte mit der Zunge kurz über mein Handgelenk und schmeckte ganz leicht das Salz des Schweißes auf meiner Haut. Ich umfasste den schmiedeeisernen Pfahl eines Gartenzauns und fühlte die Kühle des Metalls.

Danach ging ich einen Schritt weiter, indem ich versuchte, mindestens zwei Sinne miteinander zu kombinieren.

Mein Ohr hörte das vertraute Gemecker einer Amsel in einem Baum am Rand des Gehwegs. Ich suchte sie so lange mit meinen Augen, bis ich ihren schwarzen Körper und den kleinen gelben Schnabel durch das dichte Sommerlaub einer Kastanie sah.

Ich ging an einem Vorgarten vorbei. Mein Auge sah ein paar üppige, lila-gräulich blühende Lavendelbüsche, die einen hellbraunen Holzzaun überwucherten, dessen wettergegerbter Lack bereits an einigen Stellen abblätterte.

Ich nahm einen kleinen Lavendelast in die Hand und zerrieb ein paar Blüten sanft zwischen meinen Fingern. Ich spürte auf der Haut der Fingerkuppen, wie sich die Blüten dem Widerstand der Reibung ergaben. Anschließend sog ich mit meiner Nase den entspannenden Duft Südfrankreichs ein.

Ich sah einen Kieselstein, ungefähr so groß wie eine Kastanie, der vor mir auf dem Gehweg lag. Er war elfenbeinfarben, bis auf eine kleine rötliche Ader, die ihn durchzog.

Ich wollte erfahren, wie es sich in meinem Schuh anfühlte, den Stein ein wenig vor mir herzukicken und dabei auf das Geräusch achten, das ein Stein verursacht, der über Betonplatten kullert.

Das Gefühl war ein kleiner dumpfer Stoß im Gelenk meines großen Zehs. Ich hatte den Stein viel zu fest und obendrein nicht gerade getroffen.

Das folgende Geräusch war auch nicht das, was Stein auf Beton verursacht. Es klang eher nach Stein auf Wagentür.

Zumindest hatte dies zur Folge, dass sich meine Gedanken nun nicht mehr um Herrn Breitner, sondern um den Besitzer des Wagens drehten. Ich brach die Übung ab.

An der nächsten Straßenecke sah ich die Eis-Flaggen eines kleinen Kiosks. Ich würde mir dort einen Kaffee holen, Geruch und Geschmack auf mich wirken lassen, um nicht mehr an den Wagenbesitzer denken zu müssen, und dann nach Hause fahren.

Und mir über Herrn Breitner erst wieder bei seinem angekündigten Anruf Gedanken machen.

Der Kiosk entpuppte sich als ein kleiner Ein-Raum-Supermarkt im Souterrain eines Mehrparteienhauses. Der Besitzer wollte gerade schließen. Er hatte die Drehständer mit den verschiedenen Tageszeitungen, Wochen- und Monatsmagazinen bereits vor der Tür seines Geschäfts zusammengestellt, um sie in den Verkaufsraum zu tragen. Aber er war gern bereit, mir noch einen Kaffee-to-go zu machen. Während er im Inneren des Kiosks die laut gluckernde Pumpe der Thermoskanne bediente, streifte mein Blick über die Zeitungen. Er blieb auf dem aktuellen Cover des Psychologie-Magazins hängen, das auch bei Herrn Breitner auf dem Tisch gelegen hatte. Einem spontanen Impuls folgend, kaufte ich nicht nur den Kaffee, sondern auch die Zeitschrift.

Wenn Herr Breitner mir mit der Zeitschrift ursprünglich irgendetwas hatte sagen wollen, dazu aber aufgrund privater Gründe nicht in der Lage gewesen war, dann konnte ich ihm ja die Arbeit ein wenig erleichtern. Ich konnte mich zunächst einmal allein mit dem Thema beschäftigen.

Als Vorbereitung. Auf die nächste Sitzung.

Wenn die Zeitschrift auf dem Tisch von Herrn Breitner als Brotkrumenspur gemeint war, anhand der ich ihm in den Tantra-Wald folgen sollte, warum sollte ich mir dann nicht meine eigenen Krümel kaufen?

Mit dem Magazin in der einen und einem Pappbecher in der anderen Hand schlenderte ich durch das Altbauviertel zurück zu meinem Wagen. Unterwegs konzentrierte ich mich Kaffee trinkend auf meinen Geschmackssinn, um achtsam den am Straßenrand stehenden 7er-BMW mit der zerbeulten Autotür zu ignorieren.

4   ENERGIE

»Ob Sex als Energiequelle taugt, hängt nicht von der Größe des Steckers, sondern von der Intensität der Spannung ab.«

JOSCHKA BREITNER,

»GODWORK ORANGE –

MEINE ZEIT MIT BHAGWAN«

IMTREPPENHAUSDESALTBAUS, in dem ich wohnte, begegnete mir Sascha. Er kam gerade aus seiner Wohnungstür, als ich an ihr vorbei die Treppe hochging. Er sah auf die Uhr.

»Nanu? Hast du heute nicht Coaching?«

Neben Katharina war Sascha der einzige Mensch, der von meinem Achtsamkeitstrainer wusste.

»Fällt aus«, antwortete ich lapidar.

»Dann komm mit in die Stadt. Ich wollte was essen und dann ins Kino.«

»Das ist nett, aber ich wollte noch was lesen.« Ich hob die Zeitschrift andeutungsweise hoch.

»Worüber?«, wollte Sascha wissen.

Vielleicht war dieser Moment gar keine schlechte Gelegenheit, eine kleine Praxisprobe zu machen. Ich hatte so gut wie keine Ahnung von Tantra. Wie sah es mit Sascha aus?

»Kennst du Tantra?«

»Tantra direkt nicht. Aber Tantra-Massagen.«

»Wo liegt der Unterschied?«, fragte ich interessiert.

»Zum Tantra gehen die Frauen aus der Dove-Werbung. Zur Tantra-Massage deren Männer.«

Ich war ein wenig irritiert. Mit dieser Antwort hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet.

»Frauen aus der Dove-Werbung?«

»Na – diese Seifenfirma mit der verrückten Idee, in der Werbung auf professionelle Models zu verzichten und nur ›natürliche‹ Frauen zu zeigen, damit sich die Kundinnen nicht hässlich fühlen.«

Ich war noch irritierter.

»Was soll daran verrückt sein? Und vor allem: Was hat das mit Tantra zu tun?«

»Kennst du eine Plattenfirma, die so verrückt ist, auf professionelle Musiker zu verzichten, damit sich die Hörer nicht unmusikalisch fühlen?«

»Nein, aber das ist doch kein Vergleich.«

»Kennst du ein Restaurant, das so verrückt ist, auf professionelle Köche zu verzichten, damit die Kunden nicht das Gefühl haben, nicht kochen zu können?«

»Nein, aber …«

»Warum sollte dann ausgerechnet Werbung für Körperpflege auf professionelle Models verzichten, damit sich die Kunden nicht hässlich fühlen?«

Warum sollte ausgerechnet ich jetzt im Hausflur diese philosophische Frage beantworten?

»Sascha. Was haben die ›natürlichen‹ Frauen aus der Dove-Werbung mit Tantra und was deren Männer mit Tantra-Massagen zu tun?«

»Schau dir die Homepage eines Tantra-Seminars an, und dann schau dir die Homepage eines Tantra-Massage-Studios an. Dann siehst du es. Zu Tantra-Kursen werden Frauen aus der Dove-Werbung mit dem Versprechen gelockt, dass Aussehen beim Sex zweitrangig ist. Zu Tantra-Massagen werden deren Männer mit dem Versprechen gelockt, dass das in Bezug auf die Masseurinnen nicht gilt.«

»Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass die Frauen aus der Dove-Werbung keine sexuelle Attraktivität ausstrahlen?«

»Frauen aus der Dove-Werbung wirken sehr erotisch. Wenn du amerikanischer Präsident bist und deine Frau aussieht wie Hillary Clinton.«

»Aber das ist doch völliger Unsinn. In der Realität sind wir nun mal nicht alle Models. Weder Frauen noch Männer.«

Sascha schien abrupt das Thema wechseln zu wollen.

»Weißt du eigentlich, warum ich gleich ins Kino gehe und mir einen amerikanischen Blockbuster anschaue?«

»Warum?«

»Weil das spannender ist, als mich mit dem Kissen aus dem Fenster zu hängen und mir die Realität anzuschauen. Das Leben wäre ohne bewusste Illusionen ziemlich langweilig. Warum sollte das beim Sex anders sein?«

Sascha war also kein Freund von Tantra und kein Freund von Arthouse. Aber er war mein Freund. Ich musste seine Meinung nicht tolerieren. Ich konnte sie akzeptieren.

»Dann wünsche ich dir großes Kino.«

»Und ich dir sexuelle Erleuchtung.«

Damit ließ Sascha mich und seine Vorurteile im Hausflur stehen.

In der Wohnung angekommen, flegelte ich mich sofort auf mein großes Wohnzimmersofa.

Aufgrund von Saschas Bemerkungen dachte ich zunächst ein paar Momente über meinen eigenen Körper nach. Es war der Körper eines Geheimagenten: Man sah ihm sein Potenzial nicht direkt an.

Ich war mit meinem Körper zufrieden.

So wie ich mit meiner Wohnzimmereinrichtung zufrieden war.

Aber ich würde weder mein Wohnzimmer auf dem Cover von Schöner Wohnen noch meinen Körper auf dem Cover von GQ sehen wollen.

Ich fühlte mich auch nicht unwohl, wenn es in Zeitschriften schönere Einrichtungsstile und schönere Körper als meinen zu sehen gab. Ganz im Gegenteil. Das erwartete ich. Deswegen las ich sie.

Ich mochte die Vision von Menschen, die schöner waren als ich und in schöneren Wohnzimmern als meinem lebten. Mit all den für sie damit verbundenen Einschränkungen.

Denn der schöne Mann auf dem GQ-Cover würde nicht eine 500-Gramm-Packung Party-Frikadellen mit auf sein Schöner Wohnen-Cover-Sofa nehmen können, ohne dass beide Cover ihren Reiz verlieren würden.

Ich konnte beides.

Ohne jeden negativen Effekt.

Das war Freiheit.

Derart inspiriert, stand ich noch einmal auf, ging zum Kühlschrank, holte mir ein paar Frikadellen und setzte mich zurück auf mein Sofa.

Dort las ich den Tantra-Artikel mit dem ästhetisch schönen Foto ohne Supermodels zum ersten Mal in aller Ruhe.

Der Artikel erklärte in wenigen, kurzen Absätzen, worum es bei Tantra tatsächlich ging. Es war der Erfahrungsbericht einer Journalistin, die selber an einem Tantra-Kurs teilgenommen hatte. Wie sie aussah, erfuhr der Leser nicht.

»Bei Tantra geht es nicht einzig und allein um Sex. Bei Tantra geht es einzig und allein um dich. Da es dich ohne Sex nicht geben würde, gibt es auch Tantra nicht ohne Sex. Tantra lehrt dich, dich vollständig so zu akzeptieren, wie du bist. Wenn du zu dir selbst Ja sagen willst, kannst du nicht zu Sex Nein sagen. Ein ganzheitliches Leben ist ohne ein liebevolles Verhältnis zu Sex nicht möglich.

In unserer medial völlig sexualisierten Welt glauben viele, Sex sei Pornografie, Machtmittel oder Verkaufsargument.

All das ist nicht Sex. All das ist lediglich Sexualität.

Sex ist etwas völlig anderes.

Sex ist der natürliche Ursprung deines Lebens.

Sex kann die natürlichste Meditationsform des Lebens sein.

Im tantrischen Sex befinden wir uns tatsächlich im Hier und Jetzt und werden wir eins mit dem Augenblick. Die Lehre von Tantra ist die Kunst des achtsamen Sex.

Sex ist eine rohe Energie. Als Energieform ist Sex ist wie der Wind: Wenn du diese Energie nutzen willst, musst du sie umwandeln.

Wenn du dir aus Holz ein Haus baust, um dich vor dem Wind zu verstecken, wird dir seine Energie zuerst das Dach und dann die Wände nehmen. Wenn du dir aus demselben Holz ein Boot baust, wird dich die Energie des Windes hinter jeden Horizont segeln lassen, den du dir vorstellen kannst.

Und genauso ist es mit Sex.

Wenn du Sex verleugnen willst, wird dich das weder befriedigen noch befrieden.

Wenn du dich im Fluss des Sex treiben lässt, führt dich das nicht bloß zur Befriedigung, sondern auch zum inneren Frieden.

Tantra lehrt dich das Schwimmen, um dich im Sex treiben lassen zu können.

Tantra lehrt dich die Kunst, Sex als unerschöpfliche Energiequelle zu nutzen.«

Sex als Energiequelle. Ich hatte schon wissenschaftlich blödsinnigere Aussagen zur Begründung des gleichzeitigen Ausstiegs aus Kohle- und Atomenergie gehört.

Die Sex-Energie war im Gegensatz zum Wind allerdings jederzeit abrufbar. Und sie musste ja auch nicht nachts bei Flaute die gesamte Schwerindustrie erleuchten, sondern laut dem Artikel nur die am Akt beteiligten Personen.

Sex als Energiequelle zu betrachten wirkte für mich auf den ersten Blick ziemlich unerotisch. Auf den zweiten Blick gab diese Sichtweise dem Sex aber eine sehr angenehme Alltagsnormalität. Sollte Sex genauso natürlich sein wie der Espresso gegen das Mittagstief?

Dem schien nicht so zu sein, wie ich dem Artikel im Weiteren entnahm. Die Autorin erzählte begeistert davon, dass Sex mit Tantra über Stunden ausgedehnt und genossen werden könne. Das klang eher nach Bergischer Kaffeetafel als nach Espresso-Quickie.

Wie auch immer: Die Vorstellung, Sex als etwas durch und durch Positives in mein Leben einbauen zu können, fand ich verlockend. Und zwar umso mehr, da mir bewusst wurde, welche geringe Rolle Sex in meinem Leben tatsächlich spielte.

Sex war für mich bislang immer eine Kombination aus Stunden des unterdrückten Verlangens, Momenten der ungewohnten Erregung, Minuten der Geilheit und Sekunden weltentrückten Höhepunktes.

Wobei die Abstände zwischen den Höhepunkten über die Jahre immer größer geworden waren.

Und nach jedem Höhepunkt lief das Gedankenkarussell an und drehte sich um die Frage, ob das alles so richtig war, wann sie oder ich gehen würde oder ob wir jetzt heiraten müssten.

Sex einfach nur zu haben und zu genießen, ohne sich dabei Gedanken um Zeit, Unterdrückung oder Folgen zu machen, war mir schlicht fremd.

Aber es war eine wunderbare Vorstellung, dass dies möglich sein sollte.

Konnte es sein, dass es da einen Quell Glück bringenden Potenzials in meinem Leben gab, den ich einfach nicht nutzte? Und dass Herr Breitner heute darüber mit mir hatte reden wollen?

Ich nahm mir das Kästchen mit dem Interview vor, das ich bei Herrn Breitner nicht gelesen hatte. Es enthielt ein kurzes Gespräch mit einem Dozenten aus dem Tantra-Kurs der Journalistin. Er wurde als »Günther, 63, Sexualtherapeut« vorgestellt. Offensichtlich ein Mann. Ein Familienname fehlte. Aber warum sollte man sich auch in Zeiten des frei wählbaren Geschlechts an überwundenen Lappalien wie Nachnamen festklammern? Ein im Vergleich zum Interview ziemlich viel Platz einnehmendes Schwarz-Weiß-Bild zeigte das Gesicht eines asketisch anmutenden Herrn mit durchdringendem Blick. Er wirkte wesentlich jünger als dreiundsechzig und wäre auch als Anfang fünfzig durchgegangen. Aber vielleicht war das Foto auch nicht aktuell. Der Sexualtherapeut trug kurz geschnittene graue Haare auf dem Kopf und ein Lächeln auf den Lippen. Letzteres passte nicht ganz zum durchdringenden Blick seiner Augen. Wie Robert de Niro hatte er ein Muttermal auf dem rechten Jochbein. Seine Nase wirkte ein ganz klein wenig schief, so als wäre sie einmal gebrochen gewesen. Dem Foto nach zu urteilen, verfügte Günther über genügend Selbstbewusstsein, sich nicht nur selbst als sexuelle Bereicherung zu empfinden, sondern gern auch andere an diesem Reichtum teilhaben zu lassen. Eine Art Doktor Sommer für Erwachsene.

Aber das war lediglich mein erster Eindruck anhand eines Bildes. Wenn mir Herr Breitner über den Artikel einen Zugang zu Tantra ermöglichen wollte, dann sollte ich mich mit meinen subjektiven Empfindungen vielleicht einfach mal zurückhalten.

Das Institut, an dem Günther tätig war, nannte sich »Superconsciousness Tantra Center (STC)« und war in der Nähe meiner Stadt ansässig.

Günther behauptete nun in dem Interview, der Mensch könne durch Sex ein höheres Bewusstsein erlangen.

Unter erfahrener Anleitung.

Selbstredend seiner.

Früher hätte ich so eine Behauptung als Hochglanz-Diskotheken-Abschleppspruch abgetan.

Aber mein Zugang zur Selbstoptimierung war zwischenzeitlich ein anderer geworden.

Sich selbst etwas Gutes zu tun war durchaus einfacher, wenn ein Profi dabei half, das, was einem nicht guttat, auszusortieren. In jedem Lebensbereich.

Warum also nicht beim Thema Sex von einem Günther?

Wenn Herr Breitner der Ansicht war, Tantra könnte eine Erweiterung meines achtsamen Lebenswandels sein, dann sollte auch dies unter Anleitung geschehen.

Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, Herrn Breitner diesbezüglich ein wenig zu entlasten.

Ich beschloss, schon mal allein ein wenig tiefer in den Wald zu gehen, als die von ihm gelegte Brotkrumenspur führte.

Denn schließlich: Wann war der richtige Zeitpunkt, sich selber etwas Gutes zu tun?

Es war zu jedem Zeitpunkt im Leben derselbe: Jetzt!

5   HÖHERES BEWUSSTSEIN

»Geistige Entwicklung ist wie Tanzen. Die Grundvoraussetzung zum Tanzen ist es, mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen zu können. Die Grundvoraussetzung für ein höheres Bewusstsein ist ein Bewusstsein.«

JOSCHKA BREITNER,

»GODWORK ORANGE –

MEINE ZEIT MIT BHAGWAN«

ICHHOLTEMIRMEINENLAPTOP auf das Sofa und ergoogelte die Homepage des »Superconsciousness Tantra Center (STC)«.

Mir kam das Gespräch mit Sascha wieder in den Sinn.

Ich ergoogelte aus Interesse ebenfalls die Homepage des Tantra-Massage-Studios, das von Carla betrieben wurde, der Geschäftsführerin der Erotiksparte des von mir als Anwalt vertretenen Unternehmenskonsortiums.

Ich legte beide Homepages nebeneinander.

Beide Homepages arbeiteten mit fernöstlichen Grafikelementen. Beide Homepages stellten den entspannenden Wellness-Charakter ihrer Dienstleistungen in den Vordergrund.

Die Unterschiede zeigten sich allerdings, wenn man auf den Button »Mitarbeiter« klickte.

Bei Carlas Tantra-Massagen trugen die durch die Bank attraktiven Mitarbeiterinnen Dessous und gepixelte Augenpartien.

Beim Superconsciousness Tantra Center trugen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein weißes Poloshirt mit Namensschildchen und zeigten ein strahlendes Lächeln.

Von den Kunden wurden auf beiden Homepages keine Gesichter gezeigt.

Ich hatte das Gefühl, dass Sascha mit seiner Einschätzung nicht ganz neben der Spur gelegen hatte. Dies war im Endeffekt aber egal. Ich wollte mich ausschließlich auf das STC konzentrieren. Schließlich hatten die von Herrn Breitner gestreuten Brotkrumen dorthin geführt und nicht zu Carlas Tantra-Tempel.

Der Leitspruch des Institutes lautete »Durch Sex zu einem höheren Bewusstsein«.

Name und Slogan des Centers bezogen sich auf das mir unbekannte Buch From Sex to Superconsciousness eines mir unbekannten Autoren namens Osho.

Durch Sex zu einem höheren Bewusstsein zu gelangen klang ambitioniert, aber interessant.

Wobei mir mein Schulenglisch einredete, das Wort »from« heiße gar nicht »durch«, sondern »von«. Aber zu diesem Zeitpunkt hielt ich das für eine Petitesse.

Das Center befand sich in einem hochwertig restaurierten Bauernhof ungefähr eine halbe Stunde Fahrzeit außerhalb der Stadt. Den Bildern nach hätte es auch als Fünf-Sterne-Wellness-Resort durchgehen können. Es gab dort Seminarräume, ein veganes Restaurant und Übernachtungsmöglichkeiten für die Seminarteilnehmer.