Adern im Stein - Horst Gässler - E-Book

Adern im Stein E-Book

Horst Gässler

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Beschreibung

Es sind die kleinen Begebenheiten, die als Mosaiksteine unsere Existenz zu einem schillernden Bild formen. Sie können Impulse setzen, die sich als Wellen durch unser oft so erstarrtes Leben ziehen. Dabei spannt sich der Bogen von der zu späten Erkenntnis vom Sinn des Lebens über einen schelmischen Wunsch bis zur Sehnsucht nach Freiheit, von den Niederungen eines gesellschaftlich Ausgestoßenen über politische Menschenverachtung bis zu den Grenzen der Kunst.

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Seitenzahl: 127

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Über den Autor

Horst Gässler, Gymnasiallehrer für Latein und Englisch a. D., beschäftigt sich seit vielen Jahren kritisch mit pädagogischen und gesellschaftlichen Themen.

Folgende weitere Bücher sind bisher erschienen:

Die Arroganz eines Verlierers – Unsere Zivilisationslüge

Leben wir in der Zivilisation, die wir vorgeben zu sein? Ist die Kunde vom Homo Sapiens Fake News?

Mit dem System zum Terror der Macht

Die phantastischen Abenteuer eines Ritters von der traurigen

Gestalt, der auszog um Bildung zu lehren – Tatsachenroman

(Darin werden exemplarisch die internen Paradoxien von Macht und Ohnmacht, von Anspruch und Wirklichkeit in unseren Schulsystemen, denen Lehrer oft ausgesetzt sind, von einem Insider aufgedeckt)

Das Fettauge

– Roman

(Unsere Gesellschaft in der Sackgasse einer zerstörten Welt und manipulierten Zukunft, aus der nur ein radikaler Neuanfang führen kann)

Inhalt

Sechsundzwanzig Sekunden zum Leben

Das Ende einer Freundschaft

Herzbluten

Der schmerzfreie Patient

Jenseits von Mensch und Tier

Der Verlust

Sechsundzwanzig Sekunden zum Leben

I

Verwundert blieb Frau Lehnbach vor dem Haus mit der Nummer 12 auf pinkfarbenem Schild in der Birkenstraße stehen. Es gehörte zu einem Reihenhauskomplex von fünfzehn Taubenschlägen, den ein findiger Bauunternehmer auf einer ehemaligen Schuttdeponie zu ortsgünstigen Preisen errichtet hatte. Für Menschen wie Frau Lehnbach war der Preis für eine eigene Bienenwabe noch erschwinglich - auf Kosten jeglicher individuellen Form, versteht sich. Frau Lehnbach bewohnte mit ihrem Mann - er war vor einem Jahr in Pension gegangen - den letzten Block. Den hatten sie sich damals rechtzeitig gesichert, »weil da ein bisschen mehr Luft hinten hinaus ist und man einen schönen Blick zum kleinen Wald hat«.

Immer noch stand Frau Lehnbach nachdenklich vor dem Haus Nr.12. Eigentlich hätte sie jetzt schon auf dem Weg über die Brücke, die den Anwohnern die Überquerung einer Schnellstraße ermöglichte, sein müssen. Es war bereits fünf Minuten nach neun Uhr, und Frau Lehnbach verließ stets um punkt neun das Haus, um in dem kleinen Supermarkt, der ungefähr zehn Gehminuten entfernt war, einzukaufen.

Ihr Blick glitt vom Küchenfenster nach oben, schweifte die beiden Fenster im ersten Stock entlang und wanderte dann den gleichen Weg wieder zurück. Was Frau Lehnbachs Verwunderung hervorrief, war die Tatsache, dass alle Rollos noch herabgelassen waren. Die hellgrauen Schablonen verwehrten jeden Einblick und verbargen die wohlaufgeräumten Gewürz- und Geschirrregale aus kräftig gemasertem Tannenholz. Immer wenn Frau Lehnbach das Haus passierte, blickte sie gern auf diese wohlgeordnete Welt. War es doch die Welt eines Junggesellen, der allen Gerüchten zum Trotz einen sehr geordneten Hausstand führte.

Frau Lehnbach hatte eine mütterliche Schwäche für Herrn Kulig. Sie liebte seine Art sich gepflegt zu kleiden. Er war ein Mann Anfang dreißig, etwa einen Meter achtzig groß, schlank mit schwarzem buschigem Haar und einem dünnen, strähnigen Oberlippenbart. Seine Ohren und sein Kinn waren ein wenig spitz geraten. Herr Kulig war höflich, aber zurückhaltend. Zu den Nachbarn hatte sich neben den alltäglichen Grußformeln kaum ein engerer Kontakt gebildet. Bisweilen machte Herr Kulig auf seine Umgebung einen geistesabwesenden Eindruck. Des öfteren hatten sich schon Nachbarn bei Frau Lehnbach beklagt, dass er noch nie gegrüßt hätte, wenn er in seinem sündhaft teuren Nobelauto an ihnen vorbeigefahren sei. Sie hatten auch sofort eine Schublade für Herrn Kulig bereit: snobistischer Neureicher!

Frau Lehnbach waren solche Gedanken fern. Was sie jetzt in ihrem Innersten beschäftigte, war die Frage, warum die Rollos von Herrn Kuligs Wohnung nicht hochgezogen waren. Seit sich »der junge Herr« vor drei Jahren hier niedergelassen hatte, war es das erste Mal, dass seine Fenster noch um diese Tageszeit verschlossen waren. Selbst an arbeitsfreien Tagen gehörte er zu den ersten der Häuserreihe, die mit dem unvermeidlichen Rattern der Rollos zu früher Stunde den Tag einläuteten. Die Zeit drängte jetzt Frau Lehnbach weiter, doch der Gedanke an das Außergewöhnliche ließ sie nicht mehr los.

II

Das Jahr strebte der Sonnenwende zu, und der gleißende Feuerball war um diese Tageszeit auf seiner Bahn schon weit nach oben geklettert. Ungeduldig prallten die immer heißer werdenden Sonnenstrahlen gegen die herabgelassenen Rollläden und begehrten heftig Einlass. Nur mühsam konnten sie sich durch die offengelassenen Luftschlitze der drei obersten Lamellenreihen hindurchzwängen und in das Zimmer dringen. Sie schienen in der ersten Dunkelheit des Raumes die Orientierung verloren zu haben, denn sie tanzten, zunächst ziellos, in flimmernden Bewegungen an der Wand, die dem Fenster gegenüberlag, umher. Vielleicht verwirrten sie auch die vielen unterschiedlichen geometrischen Muster der Tapete, die sie kein konkretes Ziel anpeilen ließen. Erst nachdem sich die Lichtaugen an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten, hoben sich auf ihren Prismen die Konturen des Mobiliars allmählich ab.

Das Zimmer bildete ein Rechteck von circa drei auf vier Meter. An der einen Stirnseite spannte sich ein deckenhoher Schrank über die ganze Breite. Es war zu vermuten, dass hier Herrn Kuligs Anzüge, Hemden, Pullover und Mäntel fein säuberlich gestapelt und aufgehängt ruhten. Dem Schrank gegenüber stand in der rechten Ecke, fern vom Fenster, ein futuristisch anmutendes, übergroßes Bett. An den Seiten des Kopfendes ragten zwei stilisierten Flügeln ähnliche Flächen leicht nach vorne hochgezogen heraus. Je drei unterschiedlich große schwarze Rundungen hoben sich gespenstisch wie Argusaugen von dem helleren Hintergrund ab. Sie bildeten wohl die Ausgänge für die wattstarke Musik, die über die Miniturm-Stereo-anlage nach Bedarf eingespeist werden konnte. Ein Regal, das vollgestopft war mit Büchern und kleinen Figuren, hing so über dem Kopfende, dass die gewünschte Bettlektüre bequem von ihrem Standort entnommen und bei übermächtiger Müdigkeit ebenso leicht wieder an ihren Platz gestellt werden konnte, bevor der Lektor endgültig in den Schlaf sank. Dieser selbst wäre in dem Halbdunkel beinahe unerkannt geblieben, hätte nicht ein plötzliches Funkeln auf diese Stelle des Raumes aufmerksam gemacht. Ein Schweißtropfen, der in immer stärkerer Heftigkeit aus der Haut geport war, war überprall der Schwerkraft gehorchend die steile Fläche der Stirn hinabgerollt und über das Ende der rechten Augenbraue so auf das Kopfkissen kaskadet, dass er kurz aufblitzend die Bahn eines Sonnenstrahls kreuzte. Erst jetzt konnte man bei genauerem Hinsehen Teile eines Gesichts erkennen. Wie ein schützendes Dach war der obere Teil des Federbettes über den Kopf gezogen. Hier musste sich inzwischen ein gewaltiger Hitzestau entwickelt haben, der aber der verdeckten Gestalt höchst willkommen schien.

III

Kulig fühlte sich hundeelend. In Wechselbädern überfiel ihn einmal ein Schüttelfrost, dann wiederum wogte eine Hitzewelle durch seinen gebeutelten Körper. Nicht nur sein Fleisch, seine Sehnen und Muskeln fühlten sich kraftlos, auch sein Geist dehnte sich in matter, konturenloser Zweidimensionalität. Seine Knie hatte Kulig unter dem schweißfeuchten Federflaum wärmesuchend bis an die Brust heraufgezogen. Der Alptraum, seinen Dienst verschlafen zu haben perlte ihm in das nicht mehr saugfähige Textil seines Pyjamas. Nur kurz, halb wach und mit verschwommenem Blick, hatten seine Augen einmal den Schleier dieser mystischen Welt durchdrungen. Doch die Dunkelheit in seinem Zimmer hatte ihn beruhigt: der Tag war noch weit. Er war wieder zurück in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen.

Aus dieser Unendlichkeit holte ihn schließlich der Schweißtropfen zurück, der gerade vorwitzig ins Nichts gesprungen war. Sein Weg hatte eine kitzelnde Spur hinterlassen, die nach und nach in Kuligs Haut eingesickert war. Dieses leise Prickeln schien das alte Leben in seine Nervenbahnen zu reiben. Kulig schlug die Augen auf, besser gesagt, nur das linke. Das rechte nämlich blieb, trotz der öffnenden Bewegung, verschlossen, weil es tief in das Kopfkissen gepresst war, so dass keinerlei Kuhle dem Lid Raum ließ. Als sich die Außenwelt auf Kuligs linker Netzhaut zu entfalten suchte, jagte Entsetzen durch die leidgeprüften Glieder. Die tanzenden Lichtpunkte an der Wand glotzten ihn wie überdimensionale Katzenaugen an. Ein Tropfen Salzwasser hatte sich beim Augenaufschlag wie ein Vergrößerungsglas vor seine Pupille gespannt und ließ ihn alles in schillernder Großflächigkeit sehen. Ruckartig hob er etwas den Kopf, wobei jetzt auch das rechte Auge nachzog, und weitete beide Augenlider bis zum Anschlag. Die Oberflächenspannung der Flüssigkeit riss und brannte Kulig das Salz in das Weiß seiner Augäpfel. Unwillkürlich tauchte die linke Hand aus der Waschküche unter der Bettdecke auf und rieb die gespenstischen Flecken aus den flammenden Augen. Erst jetzt bemerkte Kulig, in welchem Zustand sich er und seine Lagerstatt befanden. Prüfend hob er die Zudecke an und konstatierte mehr fühlend als sehend seine jämmerliche Lage. Aufatmend flüchtete die tropenwarme Luft nach draußen. Die unangenehme Abkühlung andererseits veranlasste Kulig dazu, die Falle schnell wieder zuklappen zu lassen. Völlig erschöpft kippte er in sein warmes Nest zurück.

Dumpf grübelnd fiel Kuligs Blick mehr zufällig auf den Radiowecker, der als zuverlässiger Wächter gut sichtbar neben ihm aufgestellt war. Nüchtern starrten ihn die Digitalziffern der Frontseite an: 9:20. In jeder anderen Situation hätte ein Stromschlag Kulig aus dem Bett gerissen. Doch heute blieb er apathisch ruhig. Kein jagender Puls, keine hektische Betriebsamkeit, kein schlingendes Würgen. Das Fieber hatte ihm den Lebenssaft ausgedünnt. Der osmotische Druck war aus dem Lot.

Nach einiger Zeit rührte aber das über die Maßen lange Liegen an einem alten Nerv. Er hatte noch nie verschlafen und er hasste Unpünktlichkeit. Zwei Rekorde waren gleichzeitig zunichte. Er musste das Büro anrufen. Die haben sicher schon versucht, ihn zu erreichen. Er wälzte sich aus dem Leinen. Der eigene Dunst, der wie aus einer modrigen Gruft in seine Nase stieg, war ihm zuwider. Er schleppte sich aus dem dunklen Raum. Was wollte er? Ja, telephonieren! Er wollte sich schon zur Treppe, die nach unten führte, wenden, als die durchnässte Hose seines Pyjamas im Schritt kleben blieb. »Ich muss erst etwas Trockenes anziehen«, murmelte Kulig beinahe entschuldigend in den zuschauerleeren Flur. Er schlurfte in seinen schwarzen Lederpantoffeln, die sonst in präziser, schlupfbereiter Stellung neben dem Bett standen - heute musste er seine Füße allerdings mühevoll in die Öffnungen nesteln - , in das Badezimmer. Er tastete nach dem Lichtschalter. Als das Neonlicht aufflackerte, zwang ihn ein leichtes Schwindelgefühl , sich mit den Händen an dem weitläufigen Zwillingswaschbecken entlang zu tasten. Ihn fröstelte. Als er am linken Bassin angekommen war, musste er entkräftet innehalten. Sein Kopf hing schlaff herab, wie wenn er sich jeden Moment in das Becken übergeben wollte. Eine Zeit lang verharrte er in dieser Stellung. Kulig fühlte sich absolut leer.

Die Pause tat ihm gut. Er hob langsam den Kopf - und erschrak. Eine aschfahle Maske glotzte hinter dem Spiegel hervor. Ihre dunklen Haare klebten nass am Kopf. Eine Strähne hatte sich, aus dem Haupthaar aufsteigend, schräg in die Stirn gelegt. Der Schädel schien, durch den von der Lampe aufgeworfenen Schatten verstärkt, in zwei ungleiche Teile gespalten zu sein. Der Schnurrbart war vom unnatürlichen Liegen platt nach unten gepresst, und seine jetzt aus der Form geratenen Haare wirkten wie Reusen oder Tentakel vor dem halboffenen Mund. Backen und Kinn waren übersät mit kleinen schwarzen Pünktchen. Ein so starker Bart duldete keine späte Rasur. Noch war Kuligs Blick global. Er wagte es nicht, seinem Gegenüber direkt in die Augen zu sehen. Aber dann konnte er dem Zwang nicht mehr standhalten. Sein Blick kreuzte das fremde Augenpaar, bohrte sich durch dessen stechende Pupillen, als suche er erst weit dahinter das eigentliche Ziel. Langsam rekursierte der tiefe Blick in sein Bewusstsein. So entblößt war seine Existenz noch nie vor ihm gelegen. Bisher lag sie schön eingebettet in der Überzeugung, ohne ihn gehe nichts. Auch jetzt wieder legten sich Schuldgefühle über seine Unentbehrlichkeit. Ohne ihn war der Betrieb verloren.

Plötzlich kräuselte ein wellenartiges Zucken über sein Gesicht. Von der Stirn, die sich unmerklich straffte, ausgehend, erfasste es die Augenbrauen, die sich leicht nach oben zogen, ließ die Nasenflügel vibrieren - selbst die Ohren wippten in ihren Wurzeln - und zog die Mundwinkel weit in die Mitte der Backen. »Ja, sie werden heute ohne mich auskommen müssen, denn die Planung des Projektes läuft über meinen Computer, und der ist wegen der Brisanz der Thematik durch ein Passwort geschützt, das nur ich kenne. ‘Goliath’ wäre der Schlüssel zum Geheimnis, aber ‘Goliath’ nimmt sich heute einen Tag frei. Ich werde nicht im Büro anrufen!« Kulig fühlte eine sichtliche Genugtuung. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass auch seine Gesundheit nicht aus einer ewigen Quelle schöpfen konnte. Diese Erkenntnis spaltete unversehens die bisher nie in Frage gestellte Personalunion von Ego und Beruf in zwei Teile. Proportionalität war, so erstaunlich, vielleicht erschreckend das klingen mag, nicht mehr gefragt. Sechsundzwanzig Sekunden Zwiesprache mit seinem Gegenüber hatten zu dieser Wiedergeburt genügt.

Der Sekundenzeiger der alten Standuhr tickte in die siebenundzwanzigste Sekunde, das kurze Klacken der Mechanik rollte wie das Krachen eines von einer Sturmbö abgeknickten Baumes aus dem Uhrengehäuse in die Stille des Wohnraumes und dünnte zu einem ewigen Rauschen aus.

IV

Als Kuligs Gesicht seitlich aus dem Spiegel kippte, war er gerade dabei, seinen nassen Schlafanzug vom Leib zu ziehen. Er wollte den stickigen Schweiß aus den Poren duschen. Den Temperaturregler drehte er weit in das rote Feld und zog den Griff, der das Wasser frei gab, ganz aus dem modern geformten Tubus in der Wand. Mit der rechten Hand prüfte er den Strahl, der gesträhnt aus dem Duschkopf schoss. Dann stellte er sich unter das herabbrausende heiße Wasser. Langsam drehte er sich, abwechselnd den rechten, dann den linken Arm hebend, um die eigene Achse und gönnte auf diese Weise dem ganzen Körper, der die Wärme immer gieriger aufsog, diesen Genuss. Versunken in seine neue Welt kreiste er beinahe mechanisch in diesem Wärmestrudel. Dieses wohlige Gefühl konnte er nicht, wie er es sonst zu tun pflegte, mit einem abschließenden eiskalten Strahl zunichte machen. Nach etwa siebzehn Minuten stieg Kulig dampfend aus der Duschkabine und streckte sich wohlig nach dem Badetuch, das über dem Korbstuhl neben der Glaswand bereit hing (Er hatte an dieser Stelle immer ein Badetuch hängen, da er einmal, aus Unachtsamkeit, alle großen Tücher gleichzeitig in die Wäscherei gegeben hatte und sich frierend mit dem knappen Stoff eines kleinen Handtuchs begnügen musste). Kulig legte sich das Textil um seine Schultern und begann, sich langsam von oben nach unten abzutrocknen. Dabei entdeckte der unvoreingenommene Zuschauer, dass dieser Vorgang mit einer Bewusstheit vollzogen wurde, die bisher in diesem geregelten und geplanten Leben für derartige Nebensächlichkeiten keine Nische gefunden hatte. Als er mit einer Ecke des Badetuches die letzten Nassflecken aus den Zwischenräumen der Zehen wegtupfte, huschte erneut ein Lächeln über sein Gesicht. Er konnte es plastisch vor seinen Augen sehen: Seine Arbeitskollegen schwirrten wie ein aufgescheuchter Bienenhaufen um einen viereckigen Kasten, der jede elektronische Anfrage mit dumpfem Schweigen, aber mit dem lakonischen Schriftzug »Ich kenne den Befehl nicht!« auf dem Bildschirm beantwortet. Mit beispielloser Emsigkeit suchten die Teamkollegen - jeder war sich sicher, des Rätsels Lösung zu kennen, und drängte den Vorläufer, dessen Erfolglosigkeit schon nach den ersten Tasteneingaben zu erkennen war, für den eigenen erfolgversprechenden Versuch Platz zu machen - nach dem Abrakadabra, das ihnen ihre Arbeitswelt neu erschließen würde. Keiner wäre jetzt auf die Idee gekommen, den Tag im Nichts enden zu lassen. Mit ein paar Spritzern aus dem Eau-de-Cologne Fläschchen zog Kulig einen endgültigen Strich unter die muffige Vorzeit. Dieses geheimnisvolle Wasser schien ihm neues Leben in seine Adern zu prickeln.