Adler, Weibliche Kriminalpolizei, Berlin - Stephan Weichert - E-Book

Adler, Weibliche Kriminalpolizei, Berlin E-Book

Stephan Weichert

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Beschreibung

Berlin 1940: Alliierte Luftangriffe treffen die Reichshauptstadt, es herrscht Verdunkelung bis zum Morgengrauen. Die Männer sind an der Front, während die Frauen die Betriebe am Laufen halten, oft bis spät in die Nacht. Doch ihr Weg nach Hause wird zur Gefahr: in den dunklen S-Bahnzügen Berlins treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Um dem Täter auf die Spur zu kommen, setzt die Polizei auf die Abteilung der weiblichen Kriminalpolizei. Kriminalassistentin Luise Adler soll den attraktiven Lockvogel spielen, doch kommt man bei den Ermittlungen nicht wie gewünscht voran. Fadenscheinig wittert der politische Apparat einen Komplott von Staatsfeinden und schnell wird klar: Es geht nicht mehr um den Fall, sondern um planmäßige Demütigung und Vernichtung all derer, die nicht ins Weltbild der Nationalsozialisten passen.

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Inhaltswarnung!

Gewalt gegen Frauen, Antisemitismus,Rassismus, Diskriminierung, Suizid.

Stephan Weichert

ADLER

Weibliche Kriminalpolizei, BerlinVerdunklung 1940

Kriminalroman

»Für die Frau ist in der Ideenweltdes Nationalsozialismus kein Platz.Die deutsche Erhebung istein männliches Ereignis.«

Engelbert Huber 1933, NS-Ideologe

»Sowohl der Rassist als auch der Sexist tun so,als wenn alles, was passiert ist, niemals passiert wäre.Beide treffen Entscheidungen und ziehen Schlüsseüber den Wert einer Person,indem sie sich auf Faktoren beziehen,die in beiden Fällen irrelevant sind.«

Prof. Pauline M. Leet 1965, Frauenrechtlerin

Inhalt

Prolog

I Veränderungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

II Verstrickungen

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

III Vernehmungen

Kapitel 10

Kapitel 11

IV Verfolgung

Kapitel 12

Kapitel 13

V Verfälschungen

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

VI Verwirrungen

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

VII Verneblungen

Kapitel 21

Kapitel 22

VIII Verurteilungen

Kapitel 23

Prolog

Das Schwache muss weggehämmert werden!

Schmerzen muss der deutsche Mann in der Welt erzeugen.

Einen gewalttätigen, herrischen, unerschrockenen und grausamen Jungen will ich.

Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihm sein.

Ich will keine intellektuelle Erziehung.

Überlegenheit ist das Ziel.

Mit Wissen verderbe ich mir den Deutschen nur.

Die deutschen Jungen sollen zu Männern heranwachsen, vor denen sich die Welt erschrecken wird.

Sie werden in schwierigen Proben die Todesfurcht besiegen lernen.

Adolf Hitler

Samstag, 23. November 1940, Mitternacht

Das Blaulicht spiegelte sich im Schleier des Nieselregens. Es war hier in letzter Zeit schon öfter zu Übergriffen auf Frauen gekommen, doch was ihn nun erwarten würde, gehörte ohne Zweifel in die Abteilung Mord.

Nachdem Kriminalassistent Oscar Zach aus dem schwarzen Mercedes-Benz der Fahrbereitschaft der Reichspolizei gestiegen war, stand er müde, ausgelaugt und noch mit reichlich Promille im Blut irgendwo im Nirgendwo zwischen Berlin-Karlshorst und Betriebsbahnhof Rummelsburg. Sofort war sein Mantel mit Feuchtigkeit überzogen und noch nie hatte er so wenig Lust auf seinen Dienst verspürt wie heute Nacht. Es quälte ihn ein Hämmern in den Schläfen und in seinem Mund gor der Mix aus Bier, Schnaps und vielen gerauchten Zigaretten in der Stammkneipe. Wie ferngesteuert lief er nun über den Schotterboden Richtung Bahndamm. Dabei glitt sein Blick über die benachbarte Laubenkolonie, die in der Finsternis wie eine gigantische Totenstadt erschien.

»750 Volt uff der Anlage!«, stellte sich ein Schupo mit blauer Uniform ihm in den Weg. »Hier kommt keener weiter, det is’ lebensjefährlich!«

Zach zündete sich mit zitternder Hand eine Filterlose an, pulte sich den Rest Tabak von der Zunge und hielt dem Beamten seine Polizeimarke vor die Nase. Mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe begleitete dieser ihn zum Tatort entlang der Schienen vorbei an einer ruhenden S-Bahn. In ihrer berlintypischen Aufmachung lag sie da, wie eine schlafende Riesin, rubinrot bis zur Bauchmitte, ocker bis übers Dach, innen Notbeleuchtung, außen Standlicht. Es war die Nachfolgebahn, die nicht weiter kam, da die Tote breitbeinig, mit blutigem Schritt und zertrümmertem Schädel mitten auf den Schienen lag. Um sie herum war großes Kino: Scheinwerfer standen, trotz Verdunkelungsverordnung, auf hochgekurbelten Lichtstativen, Kamera-Blitze der Spurensicherung explodierten so laut wie Handgranaten und lichteten die Leiche aus jedem Winkel ab.

Als Zach schließlich den Tatort erreichte, begab er sich zu der ihm vertrauten Runde aus dem Reichspolizeiamt. Diese bestand aus dem jungen büroblassen Kriminalsekretär Hans Klaussner, der Direktorin Grete Hartmann, ihres Zeichens Leiterin der Weiblichen Kriminalpolizei sowie dem korpulenten Kriminalrat Wilhelm Lüdke, Chef und Urgestein der Inspektion M1 zur Aufklärung von Sittlichkeitsverbrechen.

»Mensch, Zach, wie sehen Sie denn aus? Etwa wieder gesoffen? Wir wollten schon ohne Sie anfangen!«, motzte der ihn gleich an. Der missgelaunte Lüdke konnte sich etwas Besseres vorstellen, als mitten in der Nacht im unbehaglichen Regen herumzustehen. Und auch Klaussner, sein Sekretär, bemühte sich, den Lagebericht kurz zu halten.

»Bei der Ermordeten handelt es sich um die dreiundzwanzigjährige Karin Borchert«, begann er und entfaltete zwei schlabbrige Papiere wie museale Fundstücke. »Nach Angaben ihres Belegschaftsausweises, den wir in ihrer Handtasche fanden, war sie Fabrikarbeiterin im Turbinenwerk Borsig und wohnte drüben in der Gartenkolonie Gutland Zwo. Das zweite Dokument ist ein Feldbrief ihres Ehemannes. Er ist zurzeit Bomberpilot in Frankreich, daher ist davon auszugehen, dass sie allein in der Laube lebt. Sie wurde hier auf dem Nachhauseweg aus der fahrenden S-Bahn auf die Schienen gestoßen. Vorher muss sie während der Fahrt mit heftigen Stößen vergewaltigt worden sein. Der Gerichtsmediziner entdeckte entsprechende Verletzungen und nahm Proben des Scheidensekrets. Dabei fand er neben Sperma auffälligerweise zwei Blutgruppen. Zum einen AB, also ihre eigene, sowie 0, Rhesus negativ, was im Fachjargon auch als Universalblut bezeichnet wird.«

»Gibt es jemanden, der etwas mitbekommen hat?«, fiel Lüdke ihm ungeduldig ins Wort. Doch Klaussner antwortete ihm nicht direkt, sondern winkte gleich zwei Bahnbedienstete zu sich, die aus der Dunkelheit hervortraten. Sie hatten die Leiche zuerst am Tatort entdeckt: Anton Jahnke, Triebwerkfahrer, der den Folgewagen bei voller Fahrt zum Stehen gebracht hatte, als sich der regungslose Frauenkörper vor ihm auftat, sowie Paul Golzow, Weichenwart im Stellwerksdienst im Betriebsbahnhof Rummelsburg, gleich hier in der Nähe.

»’N Abend die Herrschaften«, knetete Jahnke seine Mütze mit beiden Händen, während Golzow mit hochgestrecktem Deutschen Gruß grüßte. Nichts Befremdliches in diesen Zeiten, doch klang es bei ihm aus voller Brust und voller Überzeugung.

Direktorin Hartmann musterte beide genau und wandte sich zuerst an Anton Jahnke, einen kernigen Hallodri mit großen Schultern und großer Berliner Schnauze.

»Herr Jahnke, wie fühlen Sie sich denn nach diesem schrecklichen Erlebnis?«

»Danke der Nachfrage, jeht so«, antwortete er. »Langsam schon Routine dat Janze. Hatte ja schon viele solcher Fälle, will man gar nich’ mehr alle zählen. Sind sonst aber immer nur Selbstmörder, die mir vor die Mühle springen, gerade wenn ich mit voller Kanne unterwegs bin. Die da lag ja schon tot auf der Strecke.«

»Die Frau lag also schon auf den Schienen?«, hakte Zach nach. »Kaum zu glauben! Sie hätten doch die Frau prompt überrollt!«

»Sicher, hät‘ ich, aber dafür gibt’s ja zum Glück meinen Totmann«, antwortete Jahnke.

Sofort mischte sich der Zweite, der Weichenwart Paul Golzow, ungefragt ein und gab eine fachmännische Erklärung wie aus dem Bedienerhandbuch.

»Der Totmannschalter befindet sich im Führerhaus. Durch diesen läuft der Antrieb nur so lange, wie der Bediener ihn betätigt. Lässt er los, stoppt das Fahrzeug sofort.«

»Jenau«, kommentierte Jahnke den Hinweis. »Wie es der Kollege sagt. Der Totmann macht, dass die Mühle stoppt und sofort alle in die Ecke kippen …«

»Heißt somit auch, Herrschaften …«, schlussfolgerte Lüdke, »… dass ein Triebwagenfahrer für uns als Täter nicht infrage kommt, weil er bei voller Fahrt nicht weggehen kann, da der Wagen sofort abbremsen würde.«

Sekretär Klaussner ergänzte. »Außerdem ist eine S-Bahn kein durchgängiger Zug, man müsste einen Vierkantschlüssel haben, um die Türen zwischen den Wagen öffnen und die gesamte Bahn durchlaufen zu können, das würde lange dauern.«

Lobheischend hob er dabei den Kopf, doch sein Chef lobte ihn auf seine Weise.

»Obwohl er sonst ein Armleuchter ist, sage ich nur: Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn«, sprach er abschätzig, um sich schließlich den Darstellungen des Weichenwarts zu widmen.

»Und Sie, Herr Golzow? Was können Sie uns denn Näheres zu den Umständen sagen?«

Rein äußerlich wäre man bei dem Mann nie auf den Beruf des Weichenwarts gekommen, wirkte er eher schmal als kräftig. Die stattliche Uniform und die große Schirmmütze samt Reichsadler vergrößerten seine Statur jedoch immens.

»Tja, am Abend war ich ab elf die ganze Zeit an der W-12er, der Weiche hinten auf der Strecke Richtung Frankfurt/Oder. Bei der rührt sich bei Regen immer nix und ich muss per Stange bedienen.«

»Und wann haben Sie die Leiche auf der Strecke bemerkt?«, hakte Lüdke nach.

»Tja, bemerkt, gute Frage. Gemerkt hab ich’s eigentlich erst, als die Bahn mittendrin stoppte. Hab dann Polizei alarmiert und dann musste ja alles schnell gehen, Pendelverkehr, eingleisiger Betrieb, Zugmeldeverfahren …«

»Vielen Dank an der Stelle, das reicht!«, unterbrach ihn Lüdke eilig, bevor es ins Belanglose abglitt. »Wir werden uns sicher noch mal bei Ihnen melden.«

Die beiden wurden wieder in die Dunkelheit zurückgeschickt und Lüdke erteilte mit seinem Zeigefinger reihum Aufträge.

»Klaussner, Sie fahren mich jetzt nach Hause! Und Sie, Zach, sind morgen gefälligst wieder nüchtern und begeben sich am Vormittag mal in diese Laubenkolonie. Schauen Sie sich mal bei der Borchert ein wenig um! Morgen Mittag um eins dann alle zur Sitzung! Große Andacht mit den großen Tieren. Kollegin Hartmann! Wir hatten ja schon über weitere Schritte der Ermittlung gesprochen. Die Vorfälle häufen sich und nun haben wir mit Karin Borchert unsere erste Tote. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren, wir müssen Quadriga einleiten. Dazu gilt es, die Kriminalassistentin zu akquirieren. Wir müssen sämtliche Kräfte mobilisieren und dafür Sorge tragen, dass die großen Tiere die geheime Nachrichtensperre über die Fälle im Gebiet aufheben. Die Öffentlichkeit muss informiert werden, damit das Morden gestoppt wird!«

I Veränderungen

1

Sonntag, 24. November 1940

Berlin lag unter einer dichten Wolkendecke. Aus den Mietskasernen drang Abwaschgeklapper aus den Küchen, erste Kinder spielten auf den Hinterhöfen und trotz Krieg war es an diesem Morgen friedlich in der Stadt.

Mitten im Zentrum, in unmittelbarer Nähe zum Berliner Stadtschloss, lag das Gebäude des neuen Reichskriminalpolizeiamtes am Werderschen Markt. Ursprünglich war es das Kaufhaus Gerson gewesen, das einem jüdischen Familienunternehmen im Zuge der Arisierung geraubt wurde. Ein Prunkbau mit Glasdach, ganz im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber. Hier wirkte in einem Teil die Kriminalpolizei, die Kripo, und im anderen die Sicherheitspolizei, die Sipo, in deren einschüchterndem Kürzel immer das unausgesprochene Gestapo mitschwang. Kripo und Sipo waren nicht nur durch einen Lichthof getrennt, sondern auch in den Ansichten. Konnten die einen Verbrechen nach klassischen Methoden analysieren und aufklären, wollten die anderen Staatsfeinde und Rivalen tyrannisieren – straff, zentral und effizient organisiert von jungen, zuverlässigen Nationalsozialisten akademischer Prägung.

Eine kleine Unterabteilung der Kripo war die Weibliche Kriminalpolizei. Polizeirätin Grete Hartmann, lange Zeit Leiterin der Frauen-Hilfsstelle, war Bauherrin dieser Abteilung. Die Aufgabengebiete waren kriminell und sexuell gefährdete Frauen sowie Vernehmungen weiblicher Tatzeugen oder Tatopfer. Die Mitarbeiterinnen bestanden aus Hartmann selbst, einer Sekretärin, einer Hilfskraft sowie drei weiblichen Kriminalassistentinnen für die gesamte Reichshauptstadt. Nicht viele im Verhältnis zum Personal des Hauses, in dem es mehr als vierhundert Kriminal- und Verwaltungsbeamte gab. Über den Dienstgrad der Kriminalassistentin kamen die Damen selten. Mit unterschiedlichen Berufsbiografien mussten sie zumindest einen mittleren Schulabschluss vorweisen und eine gute körperliche Konstitution. Auch waren behördliche Vorerfahrungen gefordert, daher kamen alle aus unterschiedlichen Dienstbereichen der Berliner Verwaltung.

Direktorin Hartmann prüfte diverse Schreiben ihrer Vorlagenmappe am Schreibtisch ihres geräumigen Amtszimmers. Es war wie sie selbst: klar und in jeder Ecke aufgeräumt. In einer kleinen Vitrine waren unbenutzt und auf Hochglanz poliert drei Handwaffen auf hölzernen Schatullen ausgestellt: Eine Walther P38, eine Sauer 38H und eine Mauser HSc. Jedoch waren diese Waffen nichts weiter als Ausstellungsstücke, da Frauen bei der Weiblichen weder Waffen tragen noch einsetzen durften, und das trotz Schießausbildung.

Hartmann warf einen kurzen Blick aus dem Fenster über den Hof hinüber zum Block der Sipo und nahm zum wiederholten Male den schweren Hörer des schwarzen Telefons aus Bakelit in die Hand. Sie wählte nur eine Ziffer, die Eins, das Vorzimmer ihrer Empfangssekretärin.

»Und …? Wie, schon da? Gut, dann bitte gleich zu mir rein!«

Hartmanns Sekretärin und rechte Hand legte nebenan auf und nickte der jungen Dame um die dreißig freundlich zu, welche auf dem Besucherstuhl saß und sich zuvor noch eine kleine Pille auf die Zunge gelegt hatte, die sie ohne Wasser herunterschluckte. In ihrer Hand sah man noch das winzige Röhrchen, auf dem kaum lesbar der Name der Arznei stand: Pervitin. Dessen ungeachtet öffnete die Sekretärin die ledergepolsterte Doppeltür und sah der Dame freundlich hinterher.

»Ach, wie schön!«, erhob sich Hartmann, blickte in das schmale Gesicht mit den dunklen Augen und plauderte. »Ihr Vater versicherte uns schon am Telefon, dass Sie auf dem Weg sind, daher machte ich mir überhaupt keine Sorgen. Aber bitte, setzen wir uns doch, Kriminalassistentin Adler.«

»Sehr gern!«

Luise Adler nahm auf einem der bequemen Ledersessel Platz und schlug die bestrumpften Beine übereinander. Die Sekretärin hatte sie bereits informiert, warum sie an diesem Sonntagvormittag ins Amt zitiert wurde und war nun bereit zu hören, was ihre Vorgesetzte zu sagen hatte. Die begann sofort, indem sie zunächst die bisherigen Anstrengungen der Kriminalassistentin lobte, bevor sie Adler mit der neuen Aufgabe konfrontierte.

»Ich möchte nicht lange um den heißen Brei reden«, so Hartmann. »Ich sehe, wo Sie heute stehen. Von der Schreibstube in der Reichsjustiz über eine Ausbildung zur Polizeifachangestellten, dann später der Einstieg ins Kriminalamt und in meine Abteilung. Sie konnten sich schon immer schnell auf neue Themen einlassen, Adler. Denken wir nur an Ihren Einfallsreichtum und Ihre ausgezeichnete Ermittlungsarbeit bei den Gewaltverbrechen an den Frauen im Scheunenviertel.« Vorsichtig stopfte sich Hartmann eine Filterlose in ihre Zigarettenspitze, entfachte das Streichholz und kam zum aktuellen Fall. »Zwar wird Ihre nächste Mission mit Quadriga keine leichte Aufgabe, doch glaube ich, dass Sie genau die Richtige für den Fall sind. Der Führer will, dass Frauen bis spät in die Nacht für Ruhm und Ehre arbeiten, verdunkelt aber jede Nacht die ganze Stadt, damit die englischen Bomber nicht sehen, wo wir alle sind. Wenn da so einer im Dunkeln in der Bahn oder am Bahnhof steht, da können Sie nix machen, wenn der irre ist. Das wirkt auf den stimulierend. Da sind die Frauen ihm völlig ausgeliefert. Und ich schätze, der wittert sofort, ob wir ihm ’ne echte Frau wie Sie in die S-Bahn setzen oder nur ’ne Handvoll verkleideter Polizisten.«

»Dass Sie mich da nur nicht überschätzen, Frau Direktorin!«, entgegnete Adler mit leiser Stimme. »Es macht mir schon Sorge, mir vorzustellen, nachts in einer leeren S-Bahn zu sitzen und auf einen Mörder zu warten. Früh sterben ist sicher eine romantische Idee, aber Sie wissen sicher, was ich mit meiner Mutter in einer S-Bahn erleben musste. Zwölf Jahre ist das nun mittlerweile her.«

»Mir ist Ihre Geschichte und der schreckliche Verlust Ihrer Mutter durchaus bewusst«, entgegnete Hartmann. »Und genau aus diesem Grund werden Sie dem Täter nicht einfach so vor die Füße geworfen. Wegen unserer eingeschränkten Waffenbestimmungen bei der Weiblichen versichere ich Ihnen zu einhundert Prozent, ich wiederhole, zu einhundert Prozent, dass Kollegen in Ihrer Nähe sein werden, die bis an die Zähne, ich wiederhole, bis an die Zähne bewaffnet sind. Dafür lege ich persönlich meine Hand ins Feuer. Ich stelle Ihnen Kriminalassistent Oscar Zach zur Seite. Dem Mann kann man vertrauen, auch wenn er sich gerade selbst im Weg steht, nachdem ihm seine Verlobte abhandengekommen ist. Daher bloß keine langen Sätze bei dem Kollegen und immer viel loben. Meine Güte, ich rede ja schon wie in der Hundeschule!«

Nicht nur in der Luft lag Katerstimmung, auch bei Kriminalassistent Zach war die Laune nicht die allerbeste. Doch trank er nun schon zu häufig, um einen echten Kater zu haben.

Die von Lüdke auferlegte Fahrt zur Gartenkolonie hatte er mit der S-Bahn unternommen. Er stand auf dem verlassenen Bahnsteig des S-Bahnhofes Betriebsbahnhof Rummelsburg und sah in der Ferne, wie sich das Grau des Herbstnebels mit dem Grau des Wasserturms der Bahnbetriebsanlage vermischte. Ein ungemütlicher Wind pfiff über den Bahnsteig und er erkannte die vielen Schienen und Züge wieder. Doch keine Spur mehr vom Polizeiaufgebot der vergangenen Nacht. Nachdem er sein Notizbuch aus der Manteltasche herausgekramt hatte und die Seite fand, auf der die Nummer der Parzelle notiert war, lief er zum Ende des Bahnsteigs. Er ging durch einen Tunnel bis zum Ausgang und stand schließlich auf verlassenen Wegen. Noch waren diese gepflastert und mehrere Wegweiser lotsten den Besucher zur Laubenkolonie Gutland II. Am Eingangsportal hing ein verblasstes Schild, auf dem die vielen Wege und Parzellen des Areals wie ein Irrgarten aufgezeichnet waren. Der Versuch eines Überblicks, bevor man das Durcheinander betrat. Ab hier bestand der Weg auch nur noch aus lehmigen Radspuren und tiefen Pfützen, die mit dem Regen der Nacht gefüllt waren. Zach bemerkte, dass er die falschen Schuhe anhatte und stakste daher wie ein Storch im Salat durch den kleistrigen Matsch. Das war also die Mitte von Gutland. Er schaute sich um. Eine Welt umhüllt von schwefligen Nebelschwaden. Alle paar Meter eine schäbige Laube, hinter deren Zäunen die S-Bahnzüge stadteinwärts und auswärts regelmäßig vorbeikamen. Schließlich ging er in den Weg C und stand vor der Parzelle 1: das kleine Stück Heimat der toten Karin Borchert. Auf leisen Matschsohlen schritt er durch das quietschende Gartentor über das ausgesprochen ungepflegte Grundstück zur windschiefen Hütte ohne Charakter. Tür und Fensterläden verriegelt, zwei gruselige Gartenzwerge als Wachposten, das war’s dann auch schon.

»Was machen Sie denn da, junger Mann!?«, fragte ein großer, bärtiger Mann in scharfem Ton über den Gartenzaun des Nachbargrundstückes.

»Guten Morgen, ich bin Kriminalassistent Oscar Zach.« Zach kam näher und hielt seine Dienstplakette hoch. »Abteilung M1 für Sittlichkeitsverbrechen. Ihre Nachbarin, Karin Borchert, ist letzte Nacht ums Leben gekommen. Wir gehen von einem Gewaltverbrechen in der S-Bahn aus.«

Von Weitem machte der Mann einen jugendlichen Eindruck, doch wiesen aus der Nähe seine Falten und das angegraute Haar auf reiferes Alter hin. Auch in seiner Art zu reden wurde das deutlich.

»Das wäre nun Nummer fünf«, antwortete der zu Zachs Überraschung. »Aber Mord? Die Borchert? Wie schrecklich!«

Mehr sagte er nicht. Zach merkte ihm zwar an, dass er schockiert war, doch wunderte er sich auch, dass der Mann sehr gut über alles Bescheid wusste. Die Sipo hatte doch geheime Nachrichtensperre über alle S-Bahn-Vorfälle verhängt.

»Johanna, komm schnell! Hier ist Polizei!«, rief der Mann durch die geöffnete Tür seiner Laube. »Etwas Schreckliches ist passiert. Stell dir vor, die Borchert ist ermordet worden, in der S-Bahn.«

Eine junge zierliche Frau schritt heraus und stellte sich zu ihm an den Gartenzaun – ihr dunkles Haar war kurz geschnitten, ihr Körper wirkte zierlich, ihre Haut durchsichtig. Sie schwieg und wirkte kühl und zurückhaltend. Zach stellte sich höflich vor und berichtete.

»Sie wurde in der S-Bahn überfallen und tödlich verletzt, wahrscheinlich auch vergewaltigt, man fand sie auf den Gleisen.«

Die junge Frau schaute ins Leere.

»Kannten Sie die Tote gut, Herr …?«

»Christian Cornelius. Tja, kennen, nicht wirklich. Man grüßte sich und sprach ab und an über den Gartenzaun. Ich wohne noch nicht so lange hier, erst seit Frühjahr, seit ich von Schöneberg weg bin. So seit März, oder Johanna?«

Die junge Frau seufzte leise, schüttelte den Kopf und bestätigte mit unerwarteter tiefer Stimme.

»Ja … seit März.«

Zach stellte sich die Frage, aus welchem Grund der Typ in diesem öden Gutland wohnte. Es konnte ja nicht der Verlust einer Stadtwohnung sein, hatte doch die Royal Air Force erst Monate später, nämlich Ende August, ihre Bomben zum ersten Mal auf Berlin geworfen. Auch machte es ihn neugierig, in was für einem Verhältnis der reife Kerl zu dieser Jüngeren stand, die noch ein Mädchen zu sein schien.

»Ich heiße Johanna Schenk«, sagte sie und gab ihm offen und ehrlich mehr Antworten, als er eigentlich wissen wollte. »Ich leiste hier in der Nähe mein Pflichtjahr im Kindergarten der Volkswohlfahrt ab. Drüben, in Karlshorst, Ecke Dorotheastraße, nur zehn Minuten Fußweg von hier. Ich übernachte hier oft bei Christian in der Laube. Von Schöneberg brauche ich ja mit der S-Bahn über eine Stunde.«

»Ach, Sie wohnen in Schöneberg?«, fragte Zach scheinheilig.

»Ich wohne an vielen Orten. In Berlin wohne ich zur Untermiete bei meiner Tante in Schöneberg, gemeinsam mit meinem Zwillingsbruder, der hier studiert. Wir kommen beide ursprünglich aus Heiligensee. Sie kennen sicher den Weidenhof?«

»Die Irrenanstalt?«, antwortete Zach.

»Heilstätte für verwahrloste und auffällige Kinder«, verbesserte sie ihn. »Mein Vater ist da Diakon, meine Eltern leiten das Haus.«

Es dauerte nicht lange und ihr Freund Cornelius fiel ihr ins Wort. »Johanna und ich wohnten in Schöneberg auf der gleichen Etage, jedoch in unterschiedlichen Wohnungen, ich war quasi ihr Nachbar. Meine Ehefrau wohnt immer noch dort. Wir leben in Trennung.«

Zach überspielte seine Neugier und winkte ab.

»Ach, wissen Sie, das ist für unsere Ermittlungen nicht maßgeblich. Mich würde eher interessieren, ob Sie mir etwas über Ihre Nachbarin erzählen können? Wir erfuhren, dass ihr Mann im Krieg ist. Empfing Frau Borchert vielleicht unbekannte Herrenbesuche? Trank sie? Haben Sie Veränderungen bemerkt?«

Johanna schlug einen trotzigen Ton an, man merkte, dass ihr die Fragen Unbehagen bereiteten.

»Nein, Frau Borchert war eine junge Frau, die normal lebte und sich nichts zuschulden kommen ließ.«

»Das sind Routinefragen«, rechtfertigte sich Zach.

Ihr Freund Cornelius hingegen spielte erneut den großen Mann und sprach mit ihr wie mit einem bockigen Töchterchen.

»Johanna, es reicht! Ich glaube, du gehst rein und überlegst mal, was du hier sagst!«

Pikiert kehrte sie den beiden Männern den Rücken zu und lief ins Haus.

»Sie müssen wirklich entschuldigen, aber ich glaube, dass sie das alles sehr mitnimmt mit den Fällen hier«, entschuldigte sie Cornelius.

Zach musste an dieser Stelle nun nachhaken.

»Warum wissen Sie so viel darüber? Zu den Fällen gibt es immerhin Informationssperre.«

»Na ja, man hört ja immer erst davon, wenn es sich herumspricht. Es muss wohl geheim bleiben, dass ein schmutziger Verbrecher unter sauberer Hakenkreuzfahne wütet«, sagte er aufmüpfig und mit einem ordentlichen Revoluzzerton in der Stimme.

»Können Sie mir bitte noch sagen, wo Sie sich gestern Abend aufhielten? Wieder eine reine Routinefrage, Sie verstehen sicher!«

»Ich war hier, Johanna war hier, wir waren die ganze Zeit hier.«

Zach hatte genug gehört und zückte ein Kärtchen, das er aus der Manteltasche zog.

»Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, würde ich Sie bitten, sich unter diesen Angaben bei uns im Revier zu melden und uns für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen. Wo sind Sie beide tagsüber erreichbar?«

Cornelius nannte die Adresse des Volkskindergartens und auch die seines Arbeitsplatzes.

»Ich arbeite im Berliner Werk bei Degesch. Da haben wir auch Fernsprecher.« Er sagte die Telefonnummer, die Zach gleich notierte.

»De-gesch?«, hakte Zach nach.

»Degesch ist die Abkürzung für Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung.«

»So, so. Schädlingsbekämpfung. Klingt ja wie Innere Sicherheit«, witzelte Zach nicht ohne Ironie und notierte die Wortschlange der Arbeitsstätte.

»Nein, ich forsche da über Pflanzenschutz, also Pestizide, das läuft gerade gut, die Nachfrage ist groß.«

Pestizide? Pflanzenschutz? Für Zach klang das wie eine Nonsens-Wissenschaft.

»Damit wären wir am Ende, Herr Cornelius. Auf Wiedersehen und vielen Dank.«

Das Gespräch mit Adler in Hartmanns Büro zog sich.

»Warten Sie nur ab!«, sprach die Chefin. »Wir haben mit Quadriga einen guten Plan entwickelt. Deshalb ist es wichtig, dass Sie gleich an der Besprechung teilnehmen. Sie sitzen natürlich neben mir, keine Frage.«

»Ehrlich gesagt mache ich mir große Sorgen, dass ich von den Kollegen nicht ernst genommen werde. Ich weiß doch, wie das vor sich geht. Wenn eine Frau da bleibt, wo sie ist, ist sie für Männer keine Gefahr. Aber wenn sie da hinkommt, wo die Männer sind, wird sie von ihnen verächtlich behandelt.«

»Ich habe bei Ihnen immer das Gefühl, Sie leben nach vorne, denken aber rückwärts!«, erwiderte Hartmann. »Natürlich wird es anfangs Sprüche geben, die Männer werden versuchen, Sie an die Wand zu drücken. Aber das wird sich legen. Männer brauchen immer schnelle Lösungen, brauchen dieses Fuchteln mit den Dienstplaketten, das Springen über Zäune und das Eintreten von Türen. Ihr Denken hat zwei Farben, Schwarz und Weiß. Frauen haben zwar ein kleineres Gehirn, wissen es aber besser einzusetzen. Sie finden heraus, wo der Schlüssel der Tür versteckt ist, damit Sie sie eben nicht eintreten müssen. Und das wissen die Herren bald zu schätzen. Also, zeigen Sie, wie es geht!«

Im Prinzip hatte die Chefin recht. Adler wollte nie mehr Schwäche zeigen, hatte Gespür und Stärke aus den schrecklichen Ereignissen ihres Lebens entwickelt und kämpfte gegen Gewalt und Verbrechen an. Welchen Anteil das Pervitin und ihre emotionale Taubheit dabei hatten, verdrängte sie. Auch jetzt, als ihr Kopf ihr diese Frage immer wieder stellte.

»Ich brauche nun endlich eine Entscheidung!«, sagte Hartmann und schlug die Akte auf. Was nun aber kam, war nicht das Warten auf eine Antwort, sondern eine Erklärung wie beim Staatsakt.

»Frau Luise Adler! Ich will Sie! Wir brauchen Sie für diese Aufgabe! Deshalb möchte ich Ihnen nun ein Angebot unterbreiten, das Sie einfach nicht ausschlagen können.«

Während Hartmann nebenan nur undeutlich durch die Diplomatentür zu hören war, starrte Eva Schiller, Hartmanns Sekretärin, im Vorzimmer gelangweilt auf das Führerbild an der Wand. Der Mord der vergangenen Nacht verlangte Sonderdienst auf Abruf, auch für sie. Die Schiller, wie sie alle nannten, war mit ihren Mitte fünfzig zwar keine junge Frau mehr, doch strahlte sie attraktive Reife aus. Haarfestiger, gute Figur, stilsicher gekleidet, selbstverständlich gute Schuhe. Ihre Gedanken kreisten, ging der Mord der Nacht schließlich nicht an ihr spurlos vorbei. Sie war sich sicher, dass sie die einzige Frau im Amt war, die mit ihrer Wohnung in Karlshorst dem Schrecken ganz nah war. Ein Mörder meuchelte auf ihrem Arbeitsweg, auf ihrer Bahnstrecke, was für eine grauenhafte Vorstellung. Dass er direkt vor ihrer Haustür über Frauen herfiel und sie ihn nicht schnappen konnten, war für sie die ganze Zeit schon beklemmend, aber Mord? Das versetzte sie nun in Angst und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aus Karlshorst wegziehen, ging nicht. Dass Simon, der Mann, den sie liebte und versteckte, raus vor die Tür ging und sie vom Bahnhof abholte, schon gar nicht. Es würde alles herauskommen und sie wäre als Judenhelferin entlarvt. Und was würde dann aus Simon werden? Umsiedeln würde man ihn, Richtung Osten, ins KZ. Niemand wusste, dass er bei ihr war, sie ihn versteckt hielt und vor dem Tod rettete. Noch nicht einmal Harald, ihr erwachsener Sohn und Adjutant drüben bei der Sipo wusste davon, obwohl er jeden Mittwoch nach Hause zum Kaffeetrinken kam. Niemand durfte es erfahren, niemand!

Im Namen des Deutschen Volkes!

Die Strafkammer verurteilt Juden wegen Rassenschande, da ein Verhältnis zwischen Juden und deutschen Frauen verboten ist. Die Strafandrohung richtet sich nur gegen den Mann, nicht gegen die Frau.

(Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehr § 11)

Eva Schillers furchtbare Gedanken rissen durch das grelle Läuten des Telefons. Schnell hob sie den Hörer ab.

»Ja, Frau Kriminaldirektorin? Richtig, Lüdke hat die Beförderung bereits unterzeichnet … Ja, habe ich verstanden! … Dann komme ich jetzt rein!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel, strich sich den Rock glatt und befestigte die gelockerte Haarklammer am Hinterkopf. Mit einer goldumkordelten Beförderungsurkunde und einer Polizeimarke aus Messing mit der Aufschrift Kommissar schritt sie schließlich ins Nachbarzimmer.

2

Die große Sitzung im Haus begann nicht pünktlich. Mitten auf dem stumpfen Parkett des großen Saals stand der große Konferenztisch, um den viele Stühle noch leer waren. Die große Rolltafel an der Seite war mit Fotos, Skizzen und Gebietsplänen der laufenden Ermittlung bestückt. Auch Kriminalrat Lüdke befand sich noch im Wartemodus und saß gut organisiert an der Stirnseite. Er war ganz in dichte Qualmwolken gehüllt, weil er sich gerade mit großer Flamme seine dicke Zigarre angezündet hatte. Das machte er immer, bevor er mit einer Sitzung begann, konnte er sich so besser konzentrieren. Überhaupt war Sitzungsrauchen Lüdkes Erfindung und ein wichtiges Ritual, das irgendwann alle in der Abteilung übernommen hatten, bis auf Sekretär Klaussner, der Nichtraucher war und als Protokollant bereits in seiner Nähe saß.

»Klaussner, Sie Schüler! Mütze ab!«, maßregelte ihn Lüdke.

Einige Herren der Abteilung kamen im Schlendergang und erreichten, mit Aktenordnern und Rauchutensilien bewaffnet, den Saal. Man setzte sich und redete über Belangloses. Die Ranghohen ließen sowieso immer auf sich warten, aber auch Zach fehlte noch. Lüdke betete, dass er sich nicht zum sonntäglichen Frühschoppen in einer der Trinkhallen hatte hinreißen lassen.

»Obwohl ich mit Blick auf die Uhr gerne pünktlich beginnen würde, schlage ich vor, dass wir einigen fehlenden Mitgliedern der Sondersitzung noch Zeit geben«, warf Lüdke in die gemischten Gespräche ein. Mit einem freundlichen »Mahlzeit, Kollegen!« schlenderte schließlich auch Zach lässig durch die Tür. Mit Hut auf dem Kopf und Mantel am Finger suchte er sich einen freien Platz. Er wirkte wach und seine Augen waren nicht glasig, was schon die halbe Miete war. Lüdke musterte scharf seine Schritte, bis er beim korpulenten Kollegen, Willi Kuttnik, angekommen war. Schließlich schmiss Zach den Hut auf den Tisch, den Mantel lässig über die Stuhllehne und begann einen kurzen Kollegenplausch mit Tischnachbar Kuttnik.

»Wat hast’n mit deene Schuhe jemacht, Oscar? Biste übern Acker jeloofen?«

Auch wenn Kuttnik auf den ersten Blick rustikal und burschikos daherkam, wurde er im Kollegium von allen respektiert. Er war ein Bulle im wahrsten Sinne des Wortes, arbeitete vorrangig im Innendienst und war ein sympathischer Kerl. Bei ihm wusste man, dass es nie die Runde machte, was man ihm anvertraute. Zudem war Kutti, wie ihn alle bis auf seine Vorgesetzten nannten, ein grandioses Organisationstalent und konnte alles beschaffen, was es auf der Welt oder zumindest im Großraum Berlin gab: Essbares, Hochprozentiges, Fahrzeuge, Werkzeuge, aber auch Informationen aus jedem Winkel der Stadt.

»Und, Oscar? Wat machste jetze mit die große Wohnung? Isse schon ausjezojen?«, flüsterte Kuttnik zu Zach, der ihm auch antworten wollte, wenn nicht plötzlich alle stuhlqietschend wie gehorsame Soldaten aufgesprungen wären, weil der Chef des Amtes, Reichskriminaldirektor Arthur Nebe, den Raum betrat. Das Oberhaupt der Polizei des Deutschen Reiches. Eisernes Kreuz der ersten und zweiten Klasse 1914, Verwundetenabzeichen 1918, Medaille zur Erinnerung an den 1. Oktober 1938, Kriegsverdienstkreuz, Dienstauszeichnung der NSDAP sowie noch drei weitere Polizeidienstauszeichnungen inklusive Reichssportabzeichen.

»Meine Herren, bleiben Sie doch sitzen! Mein lieber Lüdke, ich grüße Sie!«

Vor versammelter Mannschaft folgte ein zangenhafter Händedruck, bei dem sogar Lüdkes kräftige Pranke Schwierigkeiten hatte, mitzuhalten.

»Wie ich sehe, läuft hier alles auf Hochtouren«, sprach Nebe. »Sehr ordentlich!« Dabei blickte er zwar durch den Raum, sah aber an allen nur vorbei. Von außen wirkte er in der stahlblauen Polizeiuniform mit den vielen Abzeichen freundlich und vertrauensselig. Es war dieses ständig lächelnde Großvatergesicht und das weiße Haar, das ihn zu einem netten älteren Herrn machte. Doch war man sich nie sicher, ob sich hinter der freundlichen Fassade nicht Kalkül verbarg. Es war bekannt, dass Nebe von Beginn an ein nationalsozialistischer Mittäter ersten Ranges war. Sein Karrierestart hatte begonnen, als er Propaganda gegen Juden in der Polizei machte. So wurde er zum Leibwächter von Göring, seinem zweitbesten Freund, und kurze Zeit später Chef der Reichspolizei, befördert durch Reichsinnenminister Himmler, heute sein bester Freund.

»Herr Kriminaldirektor! Zigarre vielleicht? Hilft beim Denken! Mir jedenfalls«, öffnete Lüdke das dickledrige Täschchen mit den drei Reservoirs und bot ihm eine an.

»Nee, Lüdke, lassen Sie mal! Der Magen!«

Plötzlich standen zwei Uniformierte im Türrahmen – und obwohl sie erwartet wurden, hatte es den Anschein, als wollten sie den Saal durchsuchen, so überheblich traten sie mit lauten Stiefelschritten ein. Der eine, ein großer, blonder junger Mann in einfacher Uniform, war Harald Schiller – im echten Leben nicht aus Zufall der Sohn von Hartmanns Sekretärin, Eva Schiller. Er gehörte zur Verfügungstruppe der SS und seine Dienstbezeichnung war kürzlich erst erfunden worden. Er war Assistent des Ogruf, die Abkürzung für Obergruppenführer und einer der vielen Titel des Mannes, der wie eine uniformierte Vampirgestalt mit breiter Narbe über dem Auge, Totenkopfmütze und geöffnetem Ledermantel hinter ihm erschien. Kurt Eugen Görnitz, der politische Polizeikommandeur der Sipo und oberste Dienstvertretung hier im Kriminalamt am Werderschen Markt. Ein Überzeugungstäter, der mit inhumanen Maßnahmen frei von Gewissen agierte. Nur er wusste, wie man mit einer Verbindung aus Skrupellosigkeit, karrieristischem Denken und Effizienz die fanatischen Ideologien in den normalen Alltag brachte. Unter den vielen Speichelleckern war er einer der Fähigsten im Männerbund der Massenmörder: Ein Manager des Bösen, der Klassenbeste, die Supernova.

»Heil Hitler, die Herrschaften!«, rief er in den Raum, zog sich Finger für Finger die schweinsledernen Handschuhe aus und ließ sich vom Gehilfen Schiller den schweren Mantel wie ein Sonnenkönig abnehmen. Alle wiederholten den Deutschen Gruß deutlich, da es unter Höchststrafe stand, sich dem zu verweigern. Bis auf Lüdke: der schummelte sich, wie immer, mit einem murmelnden »Drei Liter!« aus der Affäre und begrüßte Görnitz kühl, fast eisig, indem er ihn weder mit Titel ansprach, noch sich bemühte, sich zu erheben.

»Görnitz! Schön, dass Sie noch für uns Zeit gefunden haben. Wir haben sehnsüchtig gewartet und wollten schon ohne Sie anfangen. Sitzungsbeginn war ja vor knapp acht Minuten. Ich möchte nicht pingelig sein, aber ich denke, wir haben nicht ewig Zeit! Es ist Sonntag und die Kollegen haben Familie, im Vergleich zu manch anderem hier!« Auch jetzt ließ Lüdke ihn spüren, wie sehr er ihn verachtete, konnte er mit dem ganzen Getue, der Uniform und den Schikanen dieses aalglatten Typen nichts anfangen. Alles Mumpitz, wie er immer sagte, weil es in seinen Augen diesem verkleideten Blutsauger nur darum ging, seiner Abteilung die Nährstoffe zu entziehen. Lüdke wusste, dass Görnitz so ein Fossil wie ihn am liebsten mit einer vom Führer signierten Dankessurkunde entsorgt hätte, doch wusste er auch, dass man auf ihn nicht verzichten konnte. In keinem Archiv fand man mehr Informationen als in seinem Kopf.

»Lüdke, Sie altmodischer Idealist!«, begann Görnitz nicht ohne Verachtung in der Stimme und mit dem Gesichtsausdruck eines bösen Gorillas. »Ich bin ja heute sehr gespannt, was mir die Fachmänner für Unsittlichkeit und ihr vorzeitlicher Dinosaurier heute wieder für spannende Geschichten liefern werden.«

Lüdke überhörte das bewusst, legte in aller Ruhe seine angekaute Zigarre in den Aschenbecher und griff zum Zeigestock.

»Somit begrüße ich heute alle aus ernstem Anlass zur Sondersitzung. Wir hatten es in der Nacht zum ersten Mal mit Mord zu tun. Unser Täter hat sein erstes Mordopfer auf dem Gewissen und wir müssen davon ausgehen, dass es nicht sein letztes sein wird. Er probt hier sein System, und …«

Die bereits geschlossene Tür wurde erneut aufgerissen und Hartmann und Adler drückten sich verspätet durch den schmalen Spalt. Schnell schlichen sie auf Zehenspitzen zu den zwei für sie freigehaltenen Plätzen.

»’Tschul-di-gung!«, zischelte Hartmann in die Runde und Adler hinter ihr nickte freundlich und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sie merkte, dass die Blicke jetzt an ihr klebten, war sie doch für viele ein noch unbekanntes Gesicht. Lüdke kommentierte indes weiter die Karten der Gleisanlagen, des Laubengeländes und des Betriebsbahnhofes. Er gab relevante Zeugenaussagen wieder, beschrieb die Erkenntnisse der Gerichtsmedizin und nebenbei hörte man das schnelle Bleistiftkratzen von Protokollant Klaussner.

»Die Gewaltspirale dreht sich und wir erleben einen Anstieg in der Qualität der Taten«, sprach Lüdke eindringlich. »Es kam zu Misshandlungen der Opfer, nachdem sie erst mit der Taschenlampe angeleuchtet und im Dunkeln belästigt wurden. Später wurden sie gewürgt, mit einem Messer verletzt, erhielten schwere Schläge mit einem Gegenstand aus Metall oder gleich alles auf einmal. Einige Frauen erinnern sich an eine Uniform und an eine Kopfbedeckung mit Hoheitsadler, doch davon haben wir viele im Reich. Ich hatte es schon mit vielen Sexualstraftätern zu tun. Das hier lässt ganz deutlich auf die Psychologie eines Einzeltäters schließen. Er agiert allein, ohne Komplizen. Mit dissozialer Persönlichkeit, mangelnder Triebkontrolle und, ganz wichtig, mit Blutgruppe 0.«

Lüdke umfuhr mit dem Zeigestock noch einmal das Gebiet, das auf einem der Pläne markiert war.

»Vermutlich kommt er aus der unmittelbaren Region, mit besonderem Augenmerk auf den Stadtteil Karlshorst, den Laubenkolonien westlich davon und dem Betriebswerk Rummelsburg im Zentrum. Seit Monaten fischen wir im Trüben, weil wir Stillschweigen bewahren sollen. Jetzt wird es Zeit, an die Öffentlichkeit zu gehen: mit Aushängen, Belohnungen, Phantombildern, Zeitungsmeldungen und, und, und …«

»Nun bohren Sie hier mal nicht so dicke Bretter, Lüdke!«, keifte plötzlich Sipo-Chef Görnitz vorlaut dazwischen. »Nach Ihrem kilometerlangen Vortrag frage ich mich, warum ich mir das wieder anhören musste, können Sie mir das eventuell beantworten? Wir sind im Krieg, die Reichshauptstadt wird bombardiert und Staatsfeinde verstecken sich in jeder Arschritze Berlins. Da ist kein einzelner Triebhafter am Werk, sondern Staatsfeinde der übelsten Prägung, von England geschickt. Kein Mensch glaubt doch jemals, dass da ein Einzelner im müden Karlshorst rumläuft, um ein paar öden Weibern die Fresse zu polieren.«

In diesem stattlichen Eigenheim nebst Arztpraxis hatten sich Dr. Hedwig Ebauer und Marianne Finck mittlerweile in Karlshorst, in der Dorotheastraße 13, am biederen und bürgerlichen Rande der Straße eingelebt – auch wenn es ihnen immer noch nicht leichtfiel. Marianne und sie mussten immer auf der Hut sein, sie hätten sich sonst beide verraten und es hätte die Runde gemacht. Eine nette Umarmung, womöglich ein schneller Kuss im Vorübergehen, es wäre fatal gewesen. Beziehungen dieser Art standen unter Strafe und bedeuteten Gefängnis oder sogar mehr:

Verordnung

Lesbische Frauen sind als Prostituierte zu betrachten. Sie werden aus Gründen der Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus inhaftiert.

Heinrich Himmler, Reichsführer-SS

Viele dachten, Marianne sei ihre jüngere Schwester, einige vermuteten sogar, sie sei ihre erwachsene Tochter, aber niemand ahnte, wer oder was Marianne in Wirklichkeit war, nämlich ihre Liebe und ihr Leben.

Um sich in ihre zweite Leidenschaft, die Töpferkunst, zu vertiefen, die schon ihre Großmutter beherrschte und ihr als Kind beigebracht hatte, hatte sich Hedwig Ebauer unten im Keller einen kleinen Zufluchtsort eingerichtet. Ihn als Werkstatt zu bezeichnen, wäre übertrieben gewesen, aber hier bekam sie den nötigen Abstand nach der herausfordernden Sechs-Tage-Woche.

Sie verknotete ihr langes geordnetes Haar zu einem unordentlichen Zopf und genoss das kühle Nass zwischen den Fingern. Ein Schwämmchen, etwas Wasser und den Klumpen Ton, mehr brauchte es nicht, um für die Welt etwas Neues entstehen zu lassen und mit den Händen zu erschaffen. Es war ganz das Gegenteil von dem, was sie sonst tat. Als Allgemeinmedizinerin hatte sie unter der Woche oben viel zu tun. Im November standen die Patienten sogar draußen Schlange und mussten bei Kälte krank vor der Eingangstür warten, weil ihr Wartezimmer viel zu klein für den zu großen Andrang war.

Vor nun mehr als einem Jahr, im Januar 1939, hatte sie dieses Haus mit Praxis übernommen, nachdem der langjährige Vorbesitzer, Dr. Simon Blumberg, von heute auf morgen unbekannt verzogen war. Man erzählte sich in der Nachbarschaft, er kam wohl nach den Ereignissen im November 1938 ins KZ Sachsenhausen, mehr wusste man nicht.

Sie legte den Tonklumpen in die Mitte der Töpferscheibe, trieb sie unten mit nackten Füßen an und bildete mit ihrer Hand eine Kuhle in der feuchten Masse. Marianne unterstützte sie oft in der Praxis, obwohl sie als Krankenschwester im Kreuzberger Bethanien-Krankenhaus nicht nur gefordert, sondern ganz und gar überfordert war. Der Krieg hatte viele Opfer in der Stadt gefordert.

Sie drehte die Scheibe mit den Füßen weiter voran. Niemand durfte jetzt stören, außer Marianne, die durfte alles. Sie durfte sogar mit ihr dabei zusehen, wie gerade die Welt unterging. Doch wenn sie mit Marianne unterging, war es kein echtes Problem – Liebe ist halt ein großes Gefühl.

Nach wenigen Augenblicken entstand aus dem Klumpen ein Gefäß mit dünnen Wänden und eleganten Proportionen. Sie schaffte es immer in einem Zug. Marianne sagte immer, wenn sie mal hier unten war, und das war sie selten, dass viel zu viele unfertige Dinge hier auf den staubigen Regalbrettern standen. Rohlinge von Schüsseln, Tassen und Kannen, alle noch stumpf und spröde. Am liebsten hätte Hedwig die Gefäße mit besonderen Mustern bemalt. Sie mochte kleine weiße Punkte in einer perlenkettenartigen Anordnung, jedoch kam sie einfach zu selten dazu, die Stücke fertigzustellen.

»Darf ich dich kurz stören, Hedwig?«, fragte das schemenhafte Gesicht durch das trübe Rauchglas der Tür.

»Komm doch rein, Schatz!«

Mit Schürze bekleidet und einem gefüllten Tablett kam sie rein – mit ihrem dichten dunklen Haar und dem freundlichen Gesicht, in das Hedwig gerne schaute. Am meisten mochte sie Mariannes schlanken, stabilen Nacken. Er war nicht nur schön anzusehen, sondern konnte so manche Belastungen aushalten.

»Mein liebes Fräulein Finck, du bist einfach verrückt!«

»Wieso verrückt? Ich dachte, jemand hier braucht heißen Tee und ich bin mir sicher, dass du dieser Jemand bist!« Marianne schenkte gleich ein, reichte ihr eine dampfende Teetasse aus zartem Porzellan und rückte ein Schälchen Plätzchen zurecht.

»Du bist eine wahre Hellseherin, Marianne. Kein Gold der Welt ließe sich mit dir aufwiegen! Schau nur, was ich hier in der Zeit für Unsinn erschaffen habe!«

Sie zeigte auf ihr jüngstes Werk.

»Oh, schön!«, sprach Marianne. »Eine Vase, oder? Nein, eine Kanne! Oder ist es ein Kochtopf?«

»Kochtopf aus Ton. Eine reizende Erfindung.«

»Wieso nicht?«, sprach Marianne amüsiert. »Im Krieg verbringen wir lange Abende der Finsternis mit Ersatzkeksen, trinken dazu Ersatztee und du erfindest halt den Ersatzkochtopf, der auch nix wert ist. Kratz doch noch ein Hakenkreuz rein, dann verkaufen wir viele davon und werden reich!«

Beide kicherten, nippten an ihren Tassen und aßen weiter Ersatzbutterplätzchen ohne Butter.

»Geniale Vorstellung, du Erfinderin«, sprach die Ärztin, mit dem Mund voller Krümel.

»Ich finde übrigens, hier stehen zu viele unfertige Dinge auf deinen Regalbrettern. Du solltest mal nachdenken, sie zu verschenken!«

Hedwig reagierte mit spitzem Grinsen, erstaunt darüber, dass sie es erst jetzt aussprach. Marianne zog indes einen kleinen Zettel aus der Schürzentasche.

»Ich habe nun eine gute und eine schlechte Nachricht, Frau Doktor!«

»Ich brauche immer erst die Gute, Marianne, Liebes! Was ist die Gute?«

»Ich habe meine Nachtschichten mit Schwester Christa getauscht und muss heute Nacht noch einmal in die Klinik, habe dann aber die ganze nächste Woche frei. Ich helfe dir dann in der Praxis, abgemacht?«

»Wirklich? Ach, das freut mich. Du bist ein wahrer Schatz! Aber ich ahne schlechte Nachrichten. Wer zerstört unseren schönen Sonntag und hat sich nun schon wieder angekündigt?«

»Ein Notfall. Frau Golzow. Du kennst sie. Die Frau von diesem Bahnarbeiter, der dir immer ellenlang vom jüdischen Arzt erzählt und was er ihm angetan hat. Sie kommt nachher noch einmal mit ihren beiden Kindern. Angeblich ist sie gestern ganz dumm in der Wohnung über ihre Tochter gestürzt. Sieht wohl nicht gut aus und sie möchte sich versichern, dass bei ihrer Tochter nichts gebrochen ist. Sie wollte gleich zu dir, aber ich habe ihr gesagt, sie soll am späten Nachmittag noch mal klingeln, weil du beschäftigt bist. Wenn ich nur gewusst hätte, dass du Reichsersatzkochtöpfe für Volk und Führer erfindest, hätte ich sie natürlich für heute ganz abgewimmelt.«

Hedwig kramte in ihrem Gedächtnis und trank den letzten Schluck aus der Tasse.

»Golzow? Golzow. Ja, ich erinnere mich. War sie nicht schon wegen ähnlicher Geschichten bei mir?«

3

Rundfunkverbrecher sind Volksverbrecher war eine Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen, die das Hören von ausländischen Feindsendern verbot und unter schwere Strafe stellte. Für den Chemiker Cornelius aus der Laubenkolonie Gutland II war das Hören dieser Sender jedoch die einzige Möglichkeit, an Nachrichten über die wahre Lage im Land zu gelangen. Er wollte sich nicht von Propagandamärchen einlullen lassen. Englisch inhalieren hieß es, wenn man heimlich die BBC hörte. »Hier ist England. Hier ist England. Der deutsche Service der British Broadcasting Corporation. This is London calling.« Der Morgen wurde zum Vormittag, die deutschen Nachrichten der BBC waren zu Ende und was folgte, waren die Anfangstakte der fünften Symphonie Ludwig van Beethovens. Tata ta taaa. Danach kamen die dumpfen Paukenschläge im gleichen Tonmuster, die Erkennungstöne der BBC. Sie allein waren eine Botschaft, da sie das Morsezeichen für den Buchstaben V wie Victory bildeten. Im Anschluss dudelte entspannte Orchestermusik, die nur leise zu hören war.

Der Streit war wieder vergessen. Johanna und Cornelius lagen im Bett, das noch ungeordnet war. Er umfasste sie von hinten, zog die Decke über ihren nackten Körper. Sie schmiegte sich an ihn und genoss seine Nähe. Seine Lippen glitten zu ihrem Ohr und er glaubte, ihre Gedanken zu hören. Doch sie wollte in diesem Moment nicht denken, sondern nur noch fühlen. Später irgendwann, als sie noch so da lagen, fragte sie ihn irgendwann.

»Sag, wie spät war es eigentlich gestern Nacht, als du kamst, Christian?«

»Nicht spät. Hast geschlafen wie ein Stein, wieso?«

»Hättest du diesem Zack oder Zach vorhin nicht sagen sollen, dass du gestern noch spät unterwegs warst?«

»Willst du schlafende Hunde wecken?«, warnte sie Cornelius. »Du weißt, was sie mit Widerständlern machen! Kurzen Prozess! Ich möchte meinen Kopf noch behalten.«

»Hast du außer deinem Kopf vielleicht noch irgendwo etwas zum Essen im Haus? Ich habe mordsmäßigen Hunger.«