Adultismus und kritisches Erwachsensein - ManuEla Ritz - E-Book

Adultismus und kritisches Erwachsensein E-Book

ManuEla Ritz

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Beschreibung

In ihrem Teil dieses Wendebuches lädt ManuEla Ritz die Leser*innen zur Teilnahme an einem ihrer Workshops gegen Adultismus – die Diskriminierung von jungen Menschen durch Erwachsene – und für kritisches Erwachsensein ein. Hier treffen wir auf diverse fiktive Teilnehmer*innen, begleiten sie bei ihren Denk- und Lernprozessen und begegnen unter Umständen auch eigenen Denkblockaden oder Widerständen. Simbi Schwarz hat ihren Buchteil darauf ausgelegt, die andere Seite der Medaille zu beleuchten und den Stimmen Raum und Gewicht zu geben, die oft zum Verstummen gebracht und überhört werden. Dies macht sie in Form von fiktiven Geschichten, die von unterschiedlichen und sehr individuellen Charakteren erzählt werden und manchmal realitätsnäher gar nicht sein können. Somit bereitet sie allen jüngeren Menschen, die dieses Buch lesen, einen empowernden Hintergrund und klärt diejenigen auf, die Adultismus nicht mehr ertragen müssen. Humorvoll und berührend zugleich fächern Mutter und Tochter in ihren jeweiligen Buchteilen die verschiedenen Facetten dieser kaum beleuchteten Diskriminierungsform auf und machen sie als Lebensrealität erleb- und fühlbar. Mit einem Comic-Essay von Tashy Endres und Bildgeschichten von Vivi Ryll.

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Seitenzahl: 894

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ManuEla Ritz & Simbi Schwarz:

Adultismus und kritisches Erwachsensein

Hinter (auf-)geschlossenen Türen

mit einem Comic-Essay von Tashy Endresund Bildgeschichten von Vivi Ryll

1. Auflage, März 2022

eBook UNRAST Verlag, April 2023

ISBN 978-3-95405-128-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cuore.berlin

unter Verwendung einer Zeichnung von ManuEla Ritz

Porträtfotografien der Autorinnen: Andy van Kaa

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

ManuEla Ritz: Adultismus und kritisches Erwachsensein

Vorspann

Einen Anfang finden. Ein Versuch

Einen Anfang finden. Zweiter Versuch

Einen Anfang finden. Klappe, die dritte

Adultismus, eine Provokation oder die Sache mit dem Du

Am Anfang wird gewesen sein ... oderDie Sache mit der unsichtbaren Macht

Appetithäppchen gefällig? oder Die Sache mit den Definitionen

MONTAGHerzlich willkommen zum WorkshopBiographie-Arbeit und ein bisschen Input

Always look on the bright side of life oder Die Sache mit dem Montagmorgen

Das Ankommen oder Die Sache mit dem Lernen

Mein Weg zur Teamerin gegen Adultismus oder Die Sache mit der Vorstellung

Das Kennenlernen oder Die Sache mit den Pronomen, dem Alter und den Gefühlen

Erwartungen, Dos & Don’ts oder Die Sache mit dem ›aber‹

Die Geschichte meines Namens (also deines Namens, versteht sich) oder Die Sache mit der Macht der Benennung

Kindermund tut Wahrheit kund oder Die Sache mit dem kritischen Denken

Schattenseiten der Kinderzeit oder Die Sache mit der Biographie-Arbeit (Teil 1)

Alte und neue Landkarten oder Die Sache mit den Gefühlen

Sonnenseiten der Kinderzeit oder Die Sache mit der Biographie-Arbeit (Teil 2)

Noch zwei Definitionen oder Die Sache mit der dunklen Seite der Macht

Diskriminierung im Allgemeinen und Adultismus im Besonderen oder Die Sache mit der Struktur

Auf dem Weg nach Hause oder Die Sache mit der Rolltreppe

DIENSTAGAlles ganz normal!Norm(alisierung), Privilegien und Werte

Auf dem Weg zum Workshop oder Die Sache mit dem ›Normalsein‹

Zuwachs im Workshop oder Die Sache mit ›der Neuen‹

Ich bin ... oder Die Sache mit der Unsichtbarkeit

Von Tischen, Stühlen, Treppen und Lichtschalternoder Die Sache mit den Din-Normen

Verstrickungen oder Die Sache mit den Privilegien

Das Oberprivileg oder Die Sache mit der Er-/Beziehung

Wunderwelten oder Die Sache mit den Werten

Wertewelt I: Millaray, Tonia und Phuongoder Die Sache mit dem Empowerment

Wertewelt II: Mari oder Die Sache mit dem inneren Kind

Wertewelt III: Stephan oder Die Sache mit der Mitmenschlichkeit

Wertewelt IV, Teil I: Njeri, Tarek, Sascha, Alex, Brigitte und Horstoder Die Sache mit ... na, schauen wir mal

Wertewelt IV, Teil II mit special guest Jesper Juul oderDie Sache mit der Gleichwürdigkeit, der Integrität, der Authentizität und der Verantwortung

Wertewelt IV, Teil III: Njeri, Tarek, Sascha, Alex, Brigitte und Horst oder Die Sache mit den Rollen

Das Ende des zweiten Tages oder Die Sache mit den Erkenntnissternen

Auf dem Weg nach Hause oder Die Sache mit dem Klo

MITTWOCHAlle(s) ganz anders?Othering durch Vorurteile und Stereotype

Othering in Theorie und Praxisoder Die Sache mit dem Klassenzimmer

»Ich war ...« oder Die Sache mit dem Andern

Vorurteile und Stereotype oder Die Sache mit den Menschenbildern

Othering ganz praktisch oder Die Sache mit dem Museum

Comic: Zum Museum der andernden Art

Auf dem Weg nach Hause oder Die Sache mit dem Geld

DONNERSTAGIn der Regel alles ganz normal und alle(s) ganz andersRegeln und Grenzen

Auf dem Weg zum Workshop oder Die Sache mit den Spielräumen

Einstieg in den Tag oder Die Sache mit dem Fairplay

König Adultismus I. oder Die Sache mit der Revolution

Voll anstrengend! oder Die Sache mit den Tu- und Veränderungsregeln

Die Heilige Dreifaltigkeit oder Die Sache mit den Grenzen

Stefania und Janusz oder Die Sache mit den Kinderrechten

Workshop-Ausklang oder Die Sache mit den Beatles

Taxifahren mit Hans-Peter oder Die Sache mit den Schlägen

Des Kaisers neue Kleider oder Die Macht der Exklusion

Begegnung mit Clara oder Die Sache mit der Partizipation

Auf dem Weg nach Hause oder Die Sache mit den Phasen

FREITAGLiebe als Antwort

Auf dem Weg zum Workshop oder Die Sache mit den mäandernden Gedanken

Love, Love, Loveoder Die Sache mit den Liebesliedern und denen, die keine sind

30 Schritte zum*zur kritischen Erwachsenen oder Die Sache mit den Oasen

Das Fest der Liebe oder Die Sache mit der Wasserschlacht

Wer bin ich und wenn ja, wie viele oder Die Sache mit den überraschenden Wendungen

Berührende letzte Worte oder Die Sache mit der Liebe

VORHANG AUF FÜR DIE GAST-AUTOR*INNEN

Matti Traußneck: Kind sein und die Liebe

Kimani und Manu: Liebe über Kontinente hinweg

H.R.: Liebe in Zeiten des (Vor- und Nach-)Krieges

Manjiri Palicha: Loving by doing

Manjiri Palicha: Liebe durch Handeln

Mazyar Rahmani: Der Weg zur Sonne

Mazyar Rahmani: Der Weg zur Sonne

Pasquale Virgenie Rotter: Kann denn ein kleiner Klaps auf den Kopf Liebe sein?

Isabel*: Fragen, die mir beim Suchen helfen und mich Liebevolles finden lassen

AK: Liebens-wert‹

Ralf: Elternliebe

Quynh-Nhu: Liebe. Was ist das?

Lucas: Beitrag zum Thema Liebe

dkarl: Liebe ... kurz in der Einzelbetrachtung und zufrieden nach 79 Jahren

Julien: Liebesbrief an mein Kind

Abspann

Dankeschön

Literatur

Eigene Veröffentlichungen

Anmerkungen

Simbi Schwarz: Hinter (auf-)geschlossenen Türen

Vorwort

Raum für den Anfang

Erneuerung

Raum für Neues 1

Das Bild der Wahrheit

Raum für Neues 2

Marys kleiner Albtraum

Raum für Neues 3

Das Kind der Sonne

Raum für Neues 4

Prinzessin der Freiheit

Raum für Neues 5

Symphonie der jungen Träume

Raum für Neues 6

Die Vielseitigkeit der Kunst

Raum für Neues 7

Cheaten für Pro-gamer

Raum für Neues 8

Die Macht der (unaus)gesprochenen Worte

Raum für Neues 9

Silent Scream

Raum für Neues 10

Masken

Raum für Neues 11

Cinderella und das Püppchen

Raum für Neues 12

Zeilt heilt alle Wunden

Raum fürs Ende

Worte der Autorin

Dear Diary

Danksagung

Anmerkungen

Für all jene, die sooo lange auf dieses Buch gewartet haben.

Wie heißt es so schön, was lange währt, wird ...

Ach na ja, schaut und urteilt selbst.

ManuEla Ritz

Adultismus und kritisches Erwachsensein

mit einem Comic-Essay von Tashy Endresund Bildgeschichten von Vivi Ryll

VORSPANN

»If there is a book that you want to read, but it hasn’t been written yet, you must be the one to write it.« | »Wenn es ein Buch gibt, das du lesen möchtest, dasaber noch nicht geschrieben wurde, musst du diejenige sein, die es schreibt.« –Toni Morrison

Einen Anfang finden. Ein Versuch

Hallo! Liest du gern Sachbücher? … äh … nee … warte mal … Lass mich anders beginnen. Theatralischer vielleicht. Dramatischer? Es heißt, der erste Satz eines Buches sei der wichtigste. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber bestimmt stimmt, dass der Beginn eines Buches die potentiell geneigten Leser*innen erst einmal dafür gewinnen muss, sich zu neigen … nein, nicht, sich zu verneigen. Das kannst du – wenn du willst und es für angemessen hältst – gern am Ende der Lektüre tun. Aber noch sind wir ja ganz am Anfang, und der Beginn eines Buches muss die potentiell geneigten Leser*innen dazu bewegen, sich dem entsprechenden Text entgegenzuneigen, sich für das, was da kommt, zu öffnen, bereit zu sein, sich packen und berühren zu lassen, kurz: neugierig zu werden auf das, was auf den folgenden Seiten passiert.

Das gelingt mit anderthalb Sätzen wie »Hallo! Liest du gern Sachbücher?« wahrscheinlich eher weniger. Und deshalb: Alles zurück auf Anfang, noch einmal von vorn.

Einen Anfang finden. Zweiter Versuch

Hallo! Liebst du es, Sachbücher zu lesen? Und mit ›lieben‹ meine ich so etwas wie: Kannst du dir kaum etwas Schöneres vorstellen, als dein Urlaubsgepäck mit Hunderten von Kilogramm, wahlweise Tausenden von Gigabytes Sachtexten zu bestücken, um sie auf dem Berg oder im Tal, im Wald und auf der Heide, in Stadt, Land, Fluss, einem Zelt oder im Fünf-Sterne-Hotel … nein, nicht einfach nur zu lesen, sondern diese deine Reiselektüre geradezu zu verschlingen? Dich ganz und gar ins (Nicht-)Geschehen deiner theoretisch-akademischen Lieblingssachtexte hineinziehen zu lassen?

Und mit ›Sachtexten‹ meine ich keine Zeitungs- oder sonstigen Artikel, sondern den richtig harten Stoff. Texte und Bücher, die mensch gar nicht anzufangen braucht, ohne sich zuvor mit einem Fremdwörterlexikon bewaffnet zu haben. Sätze, die sieben Seiten lang sind (mindestens!), und Absätze, die mensch zehnmal lesen muss, um sie wenigstens ansatzweise zu verstehen.

Wenn dies dein Begehr ist, ungeneigte*r Leser*in, dann möchte ich dich ermutigen, an dieser Stelle auf die Seiten 16 bis 22 vorzublättern und dir das dort Geschriebene durchzulesen. Zugegeben, da findest du zwar nicht den wirklich harten Stoff, aber immerhin ein bisschen Theorie. Danach kannst du das Buch gern wieder dahin zurücklegen oder -stellen, woher du es genommen hast, denn auf den übrigen Seiten wirst du wenig Vergleichbares finden, das deine Lust auf mehr oder weniger hochgestochenes BlaBla stillen wird. Schade, dass wir an dieser Stelle nicht zusammenkommen. Das heißt, vielleicht ist es auch nicht schade, denn schließlich kennen wir uns ja noch gar nicht. Wie dem auch sei: Ich wünsche dir viel Vergnügen mit einer Lektüre, die deinen Ansprüchen genügt.

Einen Anfang finden. Klappe, die dritte

Wenn du zu denjenigen gehörst, die dieses Buch jetzt immer noch in den Händen halten, lass mich dich fragen: Liebst du es, Geschichten zu lesen? Geschichten, die das Leben schreibt? Denn dies hier ist kein Sachbuch (auch wenn du es vielleicht in der Sachbuchabteilung einer Bibliothek oder der Buchhandlung deines Vertrauens gefunden haben solltest). Dies hier ist kein Sachbuch, weil sich der Inhalt des Buches nicht um eine Sache dreht, sondern um eine Lebensrealität. Eine Lebensrealität namens Adultismus. Die Geschichte handelt von Menschen, die in die Realitäten, die Adultismus schafft, verstrickt sind. Menschen, die lieben, lachen, streiten und weinen. Vielleicht straucheln sie, vielleicht fallen sie sogar, ganz sicher aber stehen sie auch wieder auf. Dies ist ein Buch, das von Menschen erzählt, die lernen, verlernen und sich entwickeln. Gerade so, wie es sich für eine gut erzählte Geschichte gehört.

Vor diesen drei gab es unzählige andere Anfänge, dieses Buch zu schreiben. Anfänge, die zwar anfingen, aber irgendwann nicht weiter, sondern in die Irre führten. Anfänge, die ich alleine begann. Anfänge, die wir gemeinsam suchten und versuchten, meine Tochter Simbi und ich. Versuche, die die alltägliche Machtdiskrepanz zwischen mir – einer sogenannten Erwachsenen – und Simbi – einer sogenannten Jugendlichen – auch im Schreibprozess sichtbar und manchmal sogar körperlich spürbar machten. Ja, es gab Gespräche, die dieses Buch füllen sollten, an deren Ende eine von uns oder auch wir beide weinten. Weinten, ob der Ungerechtigkeiten, die Adultismus schafft. Tränen, die wütend die scheinbare Ausweglosigkeit betrauerten, die gesellschaftlichen Machtsystemen innewohnt.

Schließlich entschieden wir uns dafür, dass jede von uns ihren eigenen Text über Adultismus schreibt, unabhängig voneinander. Eine Entscheidung, getroffen in der Hoffnung, dass dieses Buch somit für Leser*innen (fast) jeden Alters attraktiv sein könnte. Eine Entscheidung, gefällt in der Absicht, dass die junge Perspektive von Simbi meine nicht mehr ganz so junge Perspektive ergänzt, bekräftigt oder auch widerlegt.

Nicht zuletzt ermöglichte diese ›Zwei-Bücher-zum-Preis-von-einem‹-Variante jeder von uns, ihre jeweils eigene Sprache, ihre eigenen Schwerpunkte, ihren eigenen Schreibstil zu finden und zu realisieren.

Auf der Suche nach meiner Sprache, meinen Schwerpunkten und meinem Stil habe ich mich entschieden, zwei der Dinge, die ich gut kann und gerne tue, miteinander zu verbinden. Ich teame gerne Workshops, und ich schreibe leidenschaftlich gern Geschichten.

Deshalb möchte ich dich – geneigte*r Leser*in – gern zu einem Workshop einladen. Dieser Workshop hat so im echten Leben niemals stattgefunden. Aber manche Anteile mancher Menschen und verschiedene Szenen sind den unzähligen Workshops entliehen, die ich in den letzten knapp zwei Jahrzehnten zu Adultismus und kritischem Erwachsensein angeboten habe. Der Rest ist Phantasie und ein Hauch Magie. Und … nun ja, vielleicht auch eine Herausforderung.

Adultismus, eine Provokationoder die Sache mit dem Du

Herausfordernd, vielleicht sogar provokant empfand eine Leserin die folgenden Seiten, die das Manuskript vor seiner Veröffentlichung las. Sie fühlte sich – so meine Interpretation ihrer Reaktion – in ihren gewohnten Denkbahnen gestört. Und genau das ist es, was das Nachdenken über Adultismus tut. Es funkt mit unangehmen Störgeräuschen in das seichte Dahinfließen persönlicher Gewissheiten und rüttelt an den Grundfesten kollektiver Überzeugungen darüber, wer oder was Kinder und Jugendliche sind, was sie, erwachsenen Ansichten nach, brauchen und wie wir Erwachsenen demzufolge mit ihnen umgehen können, sollten oder müssen.

Die Auseinandersetzung mit Adultismus stellt vieles von dem in Frage, was wir zu wissen meinen und kann sich deshalb durchaus wie eine Provokation anfühlen.

Vielleicht fühlst du – geneigte*r Leser*in – dich ja beispielsweise bereits davon provoziert, dass ich dich schon vier Seiten lang ungefragt duze. Das wäre wunderbar, denn das führt uns zielsicher in den Inhalt dieses Buches.

Auf den nächsten Seiten geht es im Wesentlichen um den (selbst-)kritischen Umgang sogenannter Erwachsener mit der Macht, die sie über junge Menschen haben.

Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden im Alltag unter anderem durch Rituale, Symbole und Praktiken hergestellt, legitimiert, sicht-, spür- und erlebbar gemacht. Eines dieser symbolhaft praktizierten Rituale ist die sicher oft unbewusste Entscheidung, Menschen im direkten Kontakt zu duzen oder zu siezen. Einen Menschen zu siezen unterstellt in der deutschen Sprache zwar oft eine gewisse Distanziertheit zwischen den jeweiligen Gesprächspartner*innen, gilt jedoch auch als eine Form, Respekt zu erweisen. Bei jungen Menschen bis zu einem gewissen Alter stellt sich wohl kaum irgendeine erwachsene Person ernsthaft die Frage, ob in der direkten Ansprache das Du oder ein Sie angemessener sei. Junge Menschen werden automatisch geduzt, denn Respekterweisungen und -Einforderungen stellen sich im Verhältnis der Generationen nach wie vor häufig als Einbahnstraße dar.

Ebenso automatisch wie vermeintlich Erwachsene junge Menschen duzen, entscheiden sie sich dafür – nicht immer, sogar immer seltener, scheint mir – sich zunächst einmal mit Sie anzusprechen, wenn sie sich nicht kennen und einander für erwachsen halten. Je nach Setting und Szene kann rasch zum Du übergegangen werden, aber dem geht nicht selten eine verhandelnde Frage voraus wie: »Sagen Sie, wollen wir uns nicht einfach duzen?«

Was so ganz selbstverständlich und über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint, sagt viel über Rang und Status aus, die bestimmten Personen(-gruppen) innerhalb einer Gesellschaft zugestanden oder auch vorenthalten werden. Ein mehr oder weniger unbewusst gesetztes Du oder ein – warum auch immer – gewähltes Sie kann ganze Bände über Macht und Machtverhältnisse sprechen. Denn wie ich wen anspreche, welche Worte ich mit welcher Stimme an wen adressiere, ist ein macht- und eindrucksvolles Werkzeug im zwischenmenschlichen Miteinander.

Im Sinne einer Gleichwertig- und Gleichwürdigkeit zwischen angeblich erwachsenen und nicht erwachsenen Menschen habe ich mich also entschieden, dich – geneigte*r Leser*in – zu duzen. Ich könnte freilich auch von nun an beginnen, alle jungen Menschen, denen ich künftig begegne, zu siezen. Dich zu duzen scheint mir allerdings der leichtere Weg, diese Symbolik des Machtunterschieds zwischen Menschen unterschiedlichen Alters auszuhebeln.

Im Sinne der Gleichwertig- und Gleichwürdigkeit kannst du mich im Gegenzug selbstverständlich auch einfach duzen. Solltest du irgendwann beim Lesen des Buches ein (imaginäres) Zwiegespräch mit mir führen wollen, brauchst du beispielsweise nicht zu denken oder zu sagen: »Na, das haben Sie sich ja fein ausgedacht, Frau ähhh … Wie hieß die Autorin nochmal?« (Blick auf den Buchdeckel) »… Frau Ritz«, sondern kannst einfach denken oder sagen: »Na, das hast du dir ja fein ausgedacht, Manu.«

Denn auch das symbolisiert ein gesprochenes oder gedachtes Du: Es überwindet jene Distanz, die das Sie zu schaffen sucht. Ein Du stellt persönliche Nähe her, wo das Sie einen oft vermeintlich professionellen Abstand anmahnt. Ich möchte den Abstand zu den Menschen, die ich hier beschreibe, zu mir selbst und nicht zuletzt zu dir – geneigte*r Leser*in – so gering wie möglich halten. In diesem Sinne: Schön, dass du da bist. Herzlich willkommen!

Am Anfang wird gewesen sein …oder Die Sache mit der unsichtbaren Macht

Am Anfang wird eine Anfrage gewesen sein. Sie könnte mich eines x-beliebigen Tages als E-Mail erreicht haben. Vermutlich wäre sie von irgendeiner erwachsenen Person geschrieben worden. Beispielsweise von einer Person, die in einer Institution arbeitet, die sogenannte Kindereinrichtungen betreibt und unter anderem dafür zu sorgen hat, dass sich die Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen zu diesen, jenen und noch ganz anderen Themen fortzubilden hätten. Möglicherweise wäre der E-Mail ein Anhang beigefügt worden und dieser Anhang hätte vielleicht den Fortbildungskatalog der Institution enthalten. Vermutlich hätte ich den Anhang geöffnet und mich durch die gesammelten Werke der Weiterbildungsmöglichkeiten für Pädagog*innen geklickt und gescrollt. Sicher hätte der Katalog Angebote beinhaltet, in denen es beispielsweise um Kreativität, Bilderbücher und die Selbstwirksamkeit von jungen Menschen geht. Doch mein Blick wäre an Fortbildungstiteln hängengeblieben wie »Die pädagogische Fachkraft als Sprachvorbild«, »Kindliche Entwicklung beobachten und fördern mit der Leuvener Engagiertheitsskala« oder »Förderpläne und Entwicklungsberichte in Kinder- und Schülerläden«. Spätestens an dieser Stelle hätte ich stutzend innegehalten. Junge Menschen beobachten? Über ihre Entwicklung berichten? Engagiertheitsskala? Ich hätte noch einmal zurückgeklickt und mich vergewissert, dass es sich bei dem Dokument tatsächlich um Fortbildungsangebote für pädagogische Fachkräfte handelt und nicht um Seminare für Menschen, die in die Welt der Tierversuche einsteigen wollen. Ich hätte tatsächlich festgestellt, dass es um Menschen geht. Um Menschen, die andere Menschen beobachten sollen. Um Menschen, die das, was sie beobachten, aufschreiben sollen. Es schien darum zu gehen, junge Menschen mit Hilfe von Plänen und Berichten möglichst effizient verwalten zu können. Es wäre nicht so sehr um Menschen gegangen, die mit anderen Menschen spielen, spannende Sachen entdecken oder sich gemeinsam eine gute Zeit machen und das Leben genießen. Es wäre nicht darum gegangen, dass sogenannte Erwachsene junge Menschen einfach nur schützend beim Wachsen begleiten. Es wäre um Vorbilder, um Förderung und Entwicklungsskalen gegangen. Kurzum, es wäre um Macht gegangen. Das Wort ›Macht‹ wäre freilich in keiner dieser Ausschreibungen vorgekommen. Doch gerade die Nichtbenennung ist oft ein Indiz für die unbewusste oder bewusste Herstellung, Anwesenheit und Erhaltung von Macht.

Nun gut, würde ich vielleicht gedacht haben, während ich den Katalog wieder geschlossen hätte. Dann mache ich mal sichtbar, was hier im Verborgenen bleiben soll. Dann mache ich besprechbar, worüber Erwachsene so beredt schweigen.

Meiner Antwortmail an die Person, die mich angeschrieben haben würde, wäre ebenfalls ein Anhang beigefügt gewesen und in dem hätte sich die Ausschreibung des Workshops befunden, den ich anzubieten habe. Der Titel würde vielleicht lauten: »Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel Pause!«, im Untertitel stünde »Workshop zur Sensibilisierung für Adultismus und kritisches Erwachsensein« und der Ausschreibungstext würde wie folgt lauten:

»Adultismus beschreibt das Machtungleichgewicht, das zwischen jungen Menschen und sogenannten Erwachsenen besteht. Kritisches Erwachsensein legt den Fokus auf eben jenen Machtunterschied und sucht Antworten auf die Frage, wie Erwachsene gleichwürdige Beziehungen zu jungen Menschen aufbauen und gestalten können.

Im Workshop gehen wir Fragen nach wie: Was genau ist Adultismus? Was bedeutet es, als sogenannte*r Erwachsene*r zu einer gesellschaftlich privilegierten Personengruppe zu gehören? Welche Funktion hat das Othering (das Andern) junger Menschen in diesem Zusammenhang? Wie können im Rahmen eines Machtgefälles Grenzen und Regeln gerecht und verantwortungsbewusst aufgestellt, verhandelt und gelebt werden? Wie können wir zwischen strukturellen Bedingungen und selbst erschaffenen Regelwerken adultismusfreie Oasen für die uns anvertrauten Menschen und auch für uns selbst schaffen?

Workshop: Der Name ist Programm, das heißt, die Betonung liegt eher auf to work und nicht so sehr auf shoppen. Hier erwartet dich also nicht das Konsumieren langwieriger und schwer verständlicher Frontaltheorien, sondern ein Raum für Selbstreflexion, Austausch und gemeinsames Lernen.

PS: Wenn du dich für diesen Workshop entscheidest, dann bringe bitte ein Gern-reinschreib-Heft mit. Ein Büchlein, ein Heft, einen Block oder auch dein Notebook – was auch immer für dich in diesem Workshop zu einer Art Tagebuch werden kann.«

Dir – geneigte*r Leser*in – lege ich die Idee, dir ein Gern-reinschreib-Heft zuzulegen an dieser Stelle auch schon einmal nahe, denn auch für dich heißt es: Ausprobieren ist besser als konsumieren. Auf den folgenden Seiten erwartet dich, ebenso wie die Teilnehmer*innen des Workshops, die eine oder andere Reflexionsfrage, die du in aller Ruhe beantworten können sollst, wenn du denn magst.

Der so ausgeschriebene Workshop würde übrigens rasend schnell ausgebucht sein, weil viele pädagogische Fachkräfte wissen, tagtäglich erleben und spüren, dass und wie sie an die Grenzen zu enger Strukturen, festgeschriebener Rollenverständnisse und -Erwartungen stoßen. Diverse Korsetts, die viele Erwachsene – vor allem in Einrichtungen für junge Menschen – nicht so arbeiten und leben lassen, wie sie eigentlich gern wollten.

Ob die Institution, die mich einlädt, diesen Workshop zu teamen, ein Jugendamt ist, ein beliebiger größerer oder kleinerer gemeinnütziger Verein oder eine GmbH, ist für die Geschichte, die ich erzählen möchte, nicht weiter von Belang. Sicher ist nur, dass es sich um eine*n phantastische*n Auftraggeber*in handelt, denn der Träger bzw. die Trägerin wird seinen bzw. ihren Mitarbeiter*innen eine Fortbildung ermöglichen, die eine ganze Woche dauert. Von Montag bis Freitag, jeweils von 09:00 bis 16:00 Uhr.

Schon klar, dass das ein klein wenig utopisch ist. Ich zumindest habe so etwas noch nie erlebt. Schon allein manchen Veranstalter*innen verständlich zu machen, dass ein Workshop zur Sensibilisierung für Adultismus mindestens zwei Tage dauern sollte, gehört nicht immer zu meinen leichtesten Übungen. Doch auch wenn oder gerade, weil ich in meiner Eigenschaft als Teamerin solche luxuriösen Arbeitsbedingungen noch nie vorgefunden habe, erlaubt sich die Autorin in mir, in diese dramaturgische Trickkiste zu greifen. Nicht zuletzt, weil sich im Zeitrahmen einer Woche Entwicklungen – die einer Geschichte, die eines Prozesses und durchaus auch die der Protagonist*innen – besser nachzeichnen lassen als in einem Drei-Stunden-Workshop.

Und noch etwas Großartiges hätte sich die auftraggebende Institution einfallen lassen: Sie hätte diesen Workshop nicht nur für pädagogische Fachkräfte ausgeschrieben, sondern auch für Eltern.

Appetithäppchen gefällig?oder Die Sache mit den Definitionen

Bevor die Geschichte endlich beginnt, mag es sinnvoll sein, zumindest einen kleinen Einblick zu geben, wie verschiedene Menschen und unterschiedliche Nachschlagewerke Adultismus definieren. Allerdings möchte ich vorausschicken, dass ich nicht wirklich eine glühende Anhängerin und Verfechterin von Definitionen bin. Begreift mensch Adultismus nicht nur als ein strukturelles System und Problem, sondern auch als eine Ausdrucksform zwischenmenschlichen Mit- – oder wohl besser – Gegeneinanders, das von gesellschaftlichen Machtstrukturen gerahmt, festgezurrt und fortwährend am Leben gehalten wird, stellt sich durchaus die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Definition. Klassische Begriffsbestimmungen, die zwischenmenschliches und gesellschaftliches Gegeneinander zu beschreiben versuchen, werden in der Regel nicht so verfasst, dass sie konkrete Lebensrealitäten konkreter Menschen widerspiegeln. Bei klassischen Definitionen, die Diskriminierungs- und Unterdrückungssysteme beschreiben, bleibt nicht selten das auf der Strecke, was innerhalb derartiger Settings erlebt, erfühlt und erlitten wird.

Deshalb bin ich der Überzeugung, dass es einer ausführlichen Herangehens- und Erzählweise bedarf, um die vielschichtigen Zusammenhänge und Wirkweisen von Diskriminierung im Allgemeinen und Adultismus im Besonderen nicht nur verstehen, sondern auch durchdringen zu können. Die hier zu erzählende Geschichte erhebt den Anspruch, mit circa 89,35 Prozent des Erzählten, Adultismus in seinen vielen Facetten und Erscheinungsformen klar sicht-, fühl- und nachvollziehbar zu machen. Doch wie Geschichten nun mal so gehen: sie unternehmen hier eine kleine Abschweifung, mäandern da in eine Richtung, die nicht auf den ersten Blick zielführend erscheinen mag (auf den zweiten hoffentlich dann doch), illustrieren und fabulieren vor sich hin und – schwupp – bist du plötzlich beispielsweise auf Seite 83 dieses Buches und weißt immer noch nicht, wie sich Adultismus in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt. Um dem vorzubeugen, möchte ich dir – geneigte*r Leser*in – an dieser Stelle ein paar kleine Appetithäppchen offerieren, auf dass sie den ganz großen Wissenshunger vorerst stillen und als Wegzehrung dienen, wenn wir uns dann auf die Reise durch die Geschichte und den Workshop begeben.

Ich selbst hörte das Wort ›Adultismus‹ erstmals vor ungefähr zwei Jahrzehnten im Rahmen einer Weiterbildung und hatte damals kaum Eiligeres zu tun, als die unendlichen Weiten des weltweiten Netzes zu befragen, wie Adultismus definiert wird. Zu jener Zeit allerdings ergab die deutsche Schreibweise keinerlei Treffer, abgesehen von dem Eintrag auf einer Homepage, die in die Schweiz führte. (Dazu gleich mehr.) Gab ich damals das Wort ›Adultism‹ ein, fand ich einige wenige englischsprachige Internet-Seiten, die das Phänomen zwar beschrieben, sich jedoch um eindeutige Definitionen herummogelten. In dieser Hinsicht hat sich in den letzten 20 Jahren so einiges getan, denn sogar die Online-Version des altehrwürdigen Dudens wartet heute mit einer Adultismus-Definition auf.

Eines noch vorab. Du wirst auf den folgenden Seiten immer mal wieder über die Worte ›Privileg‹ und ›privilegiert‹ stolpern. Damit du nicht wirklich stolpern musst, sondern geschmeidig gleiten kannst, hier ein paar Worte zur Erklärung. Privilegiert zu sein, heißt in machtkritischen Zusammenhängen nicht nur, über alle möglichen Statussymbole, Ansehen und Sonderrechte zu verfügen, sondern sich dessen auch nicht besonders bewusst zu sein. Oder mensch ist sich seiner Bevorzugungen durchaus bewusst, pfeift jedoch darauf, weil das nun mal der ›normale Lauf der Welt‹ ist. Historisch gemachte und gewachsene Diskriminierungsformen haben die unangenehme Eigenart, vielen, vor allem privilegierten Menschen sehr lange Zeit als der ›normale Lauf der Welt‹ zu erscheinen. Diese vermeintliche Normalität nicht zu hinterfragen, nicht hinterfragen zu können oder zu wollen, wird Verinnerlichung genannt. Wie sehr Adultismus in den allermeisten von uns verinnerlicht ist und wie selbstverständlich er sich auch in unserer Sprache widerspiegelt, wird beim Lesen der Adultismus-Definition des Dudens erkennbar. Den Verfasser*innen dieses Eintrages – wer auch immer sie sein mögen – ist offenbar nicht aufgefallen, dass sie bei dem Versuch, Adultismus zu umreißen, selbst auf adultistisches Vokabular zurückgegriffen haben.

Adultismus im Duden

Der Duden beschreibt Adultismus in einem ersten Satz kurz und bündig als »Diskriminierung Minderjähriger durch Erwachsene«[1].

Schauen wir uns das einmal genauer an. Das Wort ›minder‹ im Wort ›Minderjähriger‹ ist im selben Nachschlagewerk als »in geringerem Grade; nicht so sehr«[2] definiert. Die Vorsilbe ›er‹ in ›Erwachsene‹ hingegen »drückt in Bildungen mit Verben aus, dass etwas erfolgreich abgeschlossen wird, zum gewünschten Erfolg führt, dass man eine Sache bekommt, erreicht«[3]. Er-wachsene haben demnach etwas – das Wachsen zum Beispiel – abgeschlossen, was scheinbar als Erfolg verbucht werden kann, auch wenn die meisten Menschen dafür kaum mehr leisten müssen, als Zeit vergehen zu lassen und hin und wieder einen Happen zu essen. Auf dieser Grundlage nun erreichen bzw. bekommen Erwachsene Sachen. Sachen wie Macht und Einfluss beispielsweise. Unter anderem auch die Macht, eine Personengruppe »von geringerem Grade« zu diskriminieren. Schonungslos offenbart sich in der Wortwahl von ›er‹ versus ›minder‹ ›Erfolg‹ versus ›nicht so sehr‹ erwachsenes Denken und erwachsene Haltungen gegenüber jungen Menschen.

In einem zweiten Satz definieren die Duden-Eintragsverfasser*innen Adultismus als »Machtmissbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen«[4]. Es scheint unnötig zu erwähnen, von wem dieser Machtmissbrauch begangen wird. Und in der Tat haben die vermutlich erwachsenen Autor*innen mit ihrer vorangegangenen Formulierung ja bereits deutlich vorgeführt, wie sich der Missbrauch erwachsener Macht äußern kann. Denn ja, auch Sprache ist Macht.

Adultismus bei Wikipedia

Werfen wir nun einen Blick in ein Nachschlagewerk, das in mehr oder weniger wissenschaftlichen Kreisen zumindest öffentlich geschmäht, im Privaten jedoch vermutlich umso häufiger bemüht wird. Während die deutschsprachige Wikipedia-Seite noch darauf wartet, befüllt zu werden, hält das englischsprachige Pendant folgende Definition parat: »Adultism is ›the power adults have over children‹. More narrowly, adultism is defined as ›prejudice and accompanying systematic discrimination against young people‹. On a more philosophical basis, the term has also been defined as ›bias towards adults … and the social addiction to adults, including their ideas, activities, and attitudes‹.«[5] (»Adultismus ist ›die Macht, die Erwachsene über Kinder haben‹. Im engeren Sinne wird Adultismus als ›Vorurteile gegenüber und damit einhergehende systematische Diskriminierung junger Menschen‹ definiert. Auf einer eher philosophischen Grundlage wurde der Begriff auch als ›Voreingenommenheit gegenüber Erwachsenen …« – hier liegt offensichtlich ein Missverständnis vor, denn es geht nicht um Voreingenommenheit gegenüber Erwachsenen, sondern um Voreingenommenheiten, die Erwachsene gegenüber jungen Menschen haben – »… und die soziale Abhängigkeit von Erwachsenen, einschließlich ihrer Ideen, Aktivitäten und Einstellungen‹ definiert«.[6])

Die als eher philosophisch bezeichnete Aussage innerhalb der Wikipedia-Definition stammt übrigens von Adam Fletcher. Eine ausführlichere Begriffsbestimmung dieses Menschen findest du weiter unten. Doch bereits an dieser Stelle seien dir zwei von Fletchers Büchern ans Herz gelegt, vorausgesetzt, du liest (gerne) Englisch. Das eine Buch trägt den Titel »Ending Discrimination against young people« und das andere heißt schlicht und ergreifend »Facing Adultism«.

Adultismus bei Maisha-Maureen Auma

Wer es gern wissenschaftlich hat, wird sich möglicherweise an den Worten von Prof. Dr. Auma erfreuen. Die Definition der Professorin für Kindheit und Differenz im Bereich Diversity Studies liest sich wie folgt: »Mit dem Analysebegriff Adultismus wird der gesellschaftliche Umgang mit der Machtungleichheit zwischen Erwachsenen und Kindern problematisiert. Das Generationsverhältnis wird hier als ein hierarchisches, ein eingespieltes Dominanzverhältnis verstanden. Kinder werden in der Regel nicht als aktive Beteiligte an ihrer eigenen biographischen Entwicklung konzipiert. Vielmehr positioniert das Ungleichheitsverhältnis, Kinder als passive Empfänger*innen pädagogischer Maßnahmen. Das gesellschaftlich vermittelte Bild des Kindes enthält viele Eigenschaften, von denen sich erwachsene Akteur*innen abgrenzen wollen. Im Sinne von ›Gemachten Differenzen‹ werden Kinder markiert als unvernünftig, unzivilisiert und störend. Diese zugeschriebenen Differenzen werden dramatisiert. Damit wird die Beobachtung, Kontrolle und Disziplinierung von Kindern durch ›vernünftige, zivilisierte‹ Erwachsene gerechtfertigt. Kinder sind also eine soziale Klasse, denen aufgrund der Generationalen Ordnung wenig Einflussmöglichkeiten auf den Verlauf des eigenen Lebens zugestanden wird.«[7]

Adultismus bei NCBI

Lass mich nun das kleine Geheimnis lüften, was es mit dem Eintrag auf der vorhin erwähnten Schweizer Homepage auf sich hat. Irgendwann wurde ich bei meinen Recherchen vor zwei Jahrzehnten auf Ron Halbright aufmerksam. Der gebürtige US-Amerikaner, Pädagoge und Ethnologe arbeitet als Geschäftsführer bei NCBI (National Coalition Building Institute) in der Schweiz. Und wie der Zufall es wollte, fand kurz nach unserem Kennenlernen via Internet eine Tagung in der Schweiz statt. Sie wurde im Wonnemonat Mai 2004 unter dem Titel Adutlismus. Rassismus. Partizipation von NCBI und der Kinderlobby Schweiz durchgeführt. Diese Veranstaltung hat mich nachhaltig beeindruckt, denn bereits am Empfang saßen junge Menschen, welche die mehrheitlich erwachsenen Tagungsgäste begrüßten und ihnen ihre Tagungsmappen aushändigten. War mensch auf der Suche nach einer Toilette oder sonstigen Notwendigkeiten, waren junge Menschen die Ansprechpartner*innen. Doch nicht nur das: Junge Menschen führten durchs Programm, leiteten Workshops und gegen Ende der Tagung führten einige junge Menschen einen Sketch auf, in dem sich die Akteur*innen über das seltsame Wort Adultismus den Kopf zerbrachen. Sie beschwerten sich darüber, dass Erwachsene immer alles so kompliziert machen müssen. Nach einigen humorvollen Debatten und Wortspielereien entschieden die jungen Schauspieler*innen, Adultismus solle doch lieber KiJuDi heißen: Kinder- und Jugend-Diskriminierung.

Nun, leider hat sich das Wort nicht durchgesetzt, doch NCBI führt in seiner Definition einige Sprach-Handlungen auf, in denen sich Adultismus widerspiegelt. »›Du bist zu jung, um das zu verstehen‹ oder ›Warte, bis du älter bist!‹ sind Äußerungen, in denen Adultismus zum Ausdruck kommen kann; nicht ernst nehmen, nicht entscheiden lassen und Bevormundung. Alle erleben das, wenn sie jung sind und viele betrachten es als alltäglich. Es ist die erste Diskriminierung, auf die alle anderen Arten von Diskriminierung aufbauen. Ältere Kinder behandeln jüngere in derselben Weise. Manchmal nehmen Kinder sich selbst nicht ernst, weil sie Adultismus verinnerlicht haben.«[8]

Adultismus bei Adam Fletcher

Und zu guter Letzt nun Adam Fletcher, der bereits in der Wikipedia-Definition zu Wort kam. Seine Erklärung dessen, was Adultismus ist, gehört aufgrund ihrer Unverblümtheit und Kompromisslosigkeit zu meinen Favoriten. Der in Kanada geborene community educator bezeichnet sich auf seiner Homepage auch als (Auftrags-)Autor, Berater, Sprecher und Ermöglicher.[9] Fletcher meint: »Wenn eine Entscheidung ausschließlich auf der Grundlage des Alters getroffen wird anstatt aufgrund der Fähigkeiten eines Menschen, ist das Diskriminierung. Eine Sprache, die ausschließt, verharmlost oder junge Menschen klein macht, ist Diskriminierung. Gesetze, die benutzt werden, um Menschen aufgrund ihres Alters zu bestrafen, sind diskriminierend. Jedwedes Verhalten und jede Einstellung, die routinemäßig jungen Menschen gegenüber voreingenommen ist, nur weil sie jung sind, ist Diskriminierung.«[10]

Im weltweiten Netz sind noch mehr Einträge zu finden, die Adultismus zu definieren versuchen. Viele, die im deutschsprachigen Raum kursieren, sind – mit Verlaub und in aller Bescheidenheit – entweder von mir, lehnen sich an meine Definitionen an oder zitieren mich. (Stand 2021) Wie ich – die Definitions-Unliebhaberin – Adultismus definiere, erfährst du im Laufe der Geschichte, die nun endlich beginnt.

MONTAGHerzlich willkommen zum WorkshopBiographie-Arbeit und ein bisschen Input

»Aber vor allem ist es das Gefühl, mit den Eltern in Übereinstimmung zu sein, das die Kinder motiviert, die eigenen Zweifel an der Berechtigung der bestehenden sozialen Hierarchien zu unterdrücken. Es überwiegt der Wunsch, mit ihnen eins zu sein und ihre Anerkennung zu gewinnen. Das Verstummen und Stillhalten der Kinder nährt sich auch von dem Versprechen, eines Tages ebenso wie die Eltern Macht ausüben zu können sowie Privilegien und Anerkennung zu genießen.« – Birgit Rommelspacher

Always look on the bright side of lifeoder Die Sache mit dem Montagmorgen

Frühling, Sommer, Herbst oder Winter? Eigentlich spielt die Jahreszeit keine Rolle, denn Adultismus hat leider immer Saison. Dennoch soll sich diese Geschichte im Juni zutragen, einfach weil in diesem Monat das Wetter meist angenehm warm, aber nicht zu heiß ist und weil ich in diesem Monat Geburtstag habe. Völlig nebensächlich ist auch, in welcher Region, in welcher Stadt Deutschlands sich die Geschichte zuträgt. Ein Freund, der das Buch las, bevor es überhaupt gedruckt war, meinte zwar, eine Teilnehmer*innenschaft, wie ich sie mir ausgedacht habe, gäbe es nur in Berlin. Keine Ahnung, ob er recht hat. Vielleicht zeigt sich in dieser Annahme auch nur die sprichwörtliche Überheblichkeit (zugezogener) Berliner*innen. Ich weiß, wovon ich schreibe, ich bin schließlich selbst eine. Fühl dich also nicht gezwungen, an Berlin zu denken, während du liest. Wenn du magst, verlege den Workshop einfach in die Stadt, in das Dorf oder die Gemeinde, in der du lebst.

So richtig klar ist im Moment also nur: Es ist ein Montagmorgen im Juni und die Protagonist*innen der Geschichte machen sich bereit für den Workshop, an dem sie von heute an fünf Tage lang teilnehmen werden.

Ein Fahrrad steht auf dem Kopf bzw. auf Sattel und Lenker. Ein Mensch hockt vor diesem Rad und macht sich mit Gummihandschuhen an den Händen an dem Drahtesel zu schaffen. Die Person denkt: Na, das geht ja gut los. Montagmorgen! Blöde Fahrradkette! Deinetwegen komme ich jetzt vielleicht noch zu spät zum Workshop.

Ein Mensch bindet einem anderen Menschen die Schuhe zu, nimmt ihn dann bei der Hand und verlässt eilig das Haus. »Heute Nachmittag holt dich Papa vom Kindergarten ab. Das weißt du noch, ja?«, sagt der eine Mensch zu dem anderen. »Ja!«, erwidert dieser und versucht, mit dem einen Schritt zu halten. »Und ich weiß auch noch, dass ich die ganze Woche bei Papa schlafen darf, wenn ich will, weil du zur Schule musst.« – »Schauen wir mal«, lautet die knappe Antwort der einen Person. Im Stillen denkt sie: Wenn dein Papa dich eine ganze Woche lang behält, fress’ ich ‘nen Besen. Und dann denkt sie: Hoffentlich ist der Workshop nicht wirklich wie Schule. Während der eine Mensch in missmutigen Gedanken versinkt, kramt der andere eine himmelblaue Glasmurmel aus seiner Hosentasche und gibt sie dem Menschen, der ihn an der Hand hält. »Hier, meine Gute-Laune-Murmel für dich, Papi«, sagt er. »Aber nur geborgt!«, fügt er bedeutsam hinzu.

Als die beiden eben beschriebenen Personen einen Kindergarten erreichen, begegnen sie dort zwei weiteren Menschen. Sie geben sich gerade einen Abschiedskuss und dann setzt der eine dem anderen Menschen lachend sein Basecap auf den Kopf. Dabei faucht er wie eine Wildkatze und sagt: »Damit du schick bist.« – »Oh!«, lacht die beschenkte Person ein bisschen peinlich berührt und denkt: Mit einem Black-Panther-Cap morgens um acht allein durch die Straßen laufen? Dann fällt ihr Blick auf eine pink-himmelblau-zartlilafarbene Kopfbedeckung, die an einem Garderobenhaken hängt. Auf der Vorderseite der Kappe ist ein weißes Mädchen abgebildet, an der Rückseite der Baseballmütze baumelt ein blonder Zopf aus Kunsthaar. Während sich die Person mit dem Black-Panther-Cap fragt, was das soll, erklärt die andere Person: »Das ist Elsa. Voll langweilig!« Stolz rückt sie das Black-Panther-Cap auf dem Kopf der anderen Person zurecht und flüstert ihr ins Ohr: »König T‘Challa hat viel coolere Superkräfte als Elsa!« Als dann zwei der vier Menschen in einen Gruppenraum flitzen, stellen die anderen beiden fest, dass sie sich für denselben Workshop angemeldet haben und machen sich gemeinsam auf den Weg.

Ein Mensch wartet an einer Haltestelle auf einen Bus und tippt eine Nachricht ins Smartphone: »Hallo, mein Schatz! Wer hat nur an der Uhr gedreht und gemacht, dass das Wochenende so schnell um ist? Ich spüre, schmecke und rieche dich noch. Du fehlst mir schon jetzt. Eine ganze Woche ohne dich! Ich glaub, das halte ich nicht aus. Hoffentlich lenkt mich der Workshop ab. Die gute Nachricht ist, wenn der Workshop vorbei und die Woche um ist, ist wieder Wochenende und dann sehen wir uns endlich wieder. Ich küsse dich.« Die Person schickt die Nachricht ab, tippt: »… heiß und innig!«, bringt auch diese drei Worte auf den Weg, tippt: »rrrr!!!« und drückt abermals auf Senden.

Ein Mensch steht in der Schlange des Ladens, in dem es seiner Meinung nach den besten Latte Macchiato der Welt gibt. In einer Hand hält er einen mitgebrachten Kaffeebecher. Von der Aufschrift auf dem Becher ist nur »What would …« zu lesen. Den Rest des Textes verdeckt die Hand der Person. Mit der anderen Hand hält sich die Person ihr Telefon ans Ohr. »Ja, Mama, ich helfe heute Abend aus. Kein Problem. Der Workshop geht bis vier Uhr, dann kann ich spätestens um fünf da sein«, sagt die Person, lauscht kurz in den Hörer und sagt dann: »Ich dich auch.« Eltern, denkt sie, als das Telefonat beendet ist. Werde ich mich je von ihnen emanzipieren?

Ein Mensch sitzt im Büro einer Universität. Seine Finger rasen flink über die Tastatur eines Laptops. Ein wenig gehetzt wirkend schaut die Person auf ihre Armbanduhr. Mist, ganz schön knapp, denkt sie. Der Bericht muss heute noch raus. Für den Rest der Woche komme ich ja zu nichts mehr wegen des Workshops. ‘Ne ganze Woche! Eigentlich perfekt für meine Diss. Hoffentlich geht es bei Adultismus überhaupt um Kinderrechte.

Zwei Menschen schlendern durch die Straßen, sorgfältig darauf achtend, bloß nicht auf die Fugen zwischen den Gehwegplatten zu treten, denn einer der beiden weiß ganz genau, dass da Lava drin ist. Zwischen kleinen und großen Schritten und Hopsern unterhalten sie sich über Pokémons. Der eine zieht eine katzenähnliche Figur aus der Hosentasche und fragt: »Wie heißt das hier nochmal?« Der andere Mensch verdreht kurz die Augen und antwortet: »Weißt du das immer noch nicht?« – »Lass mich raten!«, wirft der eine hastig ein, »nenn mir nur den Anfangsbuchstaben, dann komm ich drauf.« Der eine Mensch überlegt eine Weile und sagt dann: »M. Es fängt mit M an.« So kann mensch auch das Alphabet lernen, denkt die ratende Person und ruft siegessicher: »Mewtu.« – »Richtig!«, lautet die Antwort. »Dafür darfst du ihn heute behalten. Mewtu ist nämlich legendär!« – »Was? Echt? Wie cool!«, sagt daraufhin der eine Mensch und ups … beinah wäre er in Lava getreten.

Ein Mensch sitzt mit nacktem Oberkörper am Küchentisch seiner Einraumwohnung und isst ein kaltes Stück Pizza vom Vortag, während die zischende Espressomaschine dafür sorgt, dass die leicht verkaterte Person hoffentlich bald in die Gänge kommt. Missmutig denkt er an den Workshop, der heute beginnt. Plötzlich – wie von einem Geistesblitz getroffen – steht die Person auf, geht zu einem Regal voller unsortierter Kleidungsstücke und wühlt darin herum, bis sie das T-Shirt findet, das ihr für den heutigen Tag angemessen scheint.

Ein Mensch verlässt mit einer Aktentasche und einer unter den Arm geklemmten Zeitung ein Gebäude. Er greift in seine Jackettasche, kramt etwas Kleingeld hervor und wirft es in einen am Boden liegenden Hut. Der Hut gehört einer Person, die gerade »Always look on the bright side of life!« singt und sich dabei auf einer schlecht gestimmten Gitarre selbst begleitet. Der aktentaschentragende Mensch nickt der musizierenden Person zu und denkt: Oh ja, bright side of life! Gut, dass die neue Stellvertreterin so fähig ist. Ich vertraue ihr so sehr, dass ich mich tatsächlich eine ganze Woche lang ruhigen Gewissens etwas anderem widmen kann als der Leitung der Schule. Das wäre mit ihrem Vorgänger – diesem Schlonz – gar nicht in die Tüte gekommen.

Ein Mensch sitzt am Frühstückstisch und auf dem Schoss eines zweiten Menschen. Sie schauen einander tief, weil frisch verliebt, in die Augen. Die eine Person steckt der anderen kokett eine Weintraube in den Mund. Das Frühstück endet in einem leidenschaftlichen Kuss und beide denken in diesem Moment … gar nichts.

Das Ankommenoder Die Sache mit dem Lernen

Ich habe gut geschlafen, wie immer nicht gefrühstückt, aber geduscht und Kleidung ausgewählt, die sowohl meine Stimmung als auch meine Wünsche an diesen Tag widerspiegelt (irgendetwas Farbenfrohes). Das Wetter lud dazu ein, den Weg zum Veranstaltungsort zu Fuß zurückzulegen, und so finde ich mich nun in einem Gebäude wieder, das hell und einladend wirkt. Das Gefühl, willkommen zu sein, verblasst allerdings schnell wieder, als mein Blick auf eine elektronische Anzeigetafel fällt. Auf einem riesigen Flachbildschirm an der Wand eines Flures, von dem mehrere Türen abgehen, sind sämtliche Veranstaltungen aufgeführt, die heute in diesem Haus stattfinden sollen. Weit und breit ist kein menschliches Wesen zu sehen. Ich setze meine Lesebrille auf. Meine Augen irren über den Riesenmonitor, bis ich in der Auflistung schließlich den knappen Hinweis »Anti-Adultismus-Workshop« finde und dahinter die Nummer eines Seminarraums. Keine Menschen, nur Elektronik. Keine Begrüßung, kein Kontakt, nur Infos und Nummern. Kopfschüttelnd schaue ich mich um, gehe ein paar Schritte und finde bald den Raum, der für die nächsten fünf Tage zu meinem Arbeitszimmer werden wird. Der Anblick, der sich mir hinter der Tür bietet, entschädigt zwar nicht wirklich für den kontaktlosen Empfang, überrascht mich aber doch sehr positiv. Ein großer, lichter Raum, edles Parkett, eine riesige Fensterfront, die den Blick auf ein verwildertes Grundstück freigibt. Das imposante Oberlicht sorgt nicht nur für noch mehr natürliches Licht, sondern vielleicht ja auch für ein bisschen geistige Erleuchtung, denke ich. In einer Ecke des Raumes steht ein gemütlich anmutendes Sofa. Nur wie die Tische und Stühle angeordnet sind, findet so gar nicht mein Gefallen. Tische in Reih und Glied und vorn ein einzelner Tisch in entgegengesetzter Richtung. Klassenzimmeratmosphäre, die sofort die Hierarchien zwischen Sprecher*innen und Zuhörer*innen, zwischen vermeintlich Wissenden und vermeintlich Unwissenden versinnbildlicht und festschreibt. Ein herkömmlicher Seminarraum, doch ich will einen Workshop-Raum.

Nichts in den Räumen, in denen ich teame, soll an klassische Schuleinrichtungen erinnern. Sind die meisten sogenannten Regelschulen doch Orte, an denen Adultismus tagein tagaus, Schulstunde für Schulstunde und wahrscheinlich selbst noch in den Pausen praktiziert, ge- und erduldet wird und dabei oft unerkannt und unbesprochen bleibt. Die meisten staatlichen Schulen in diesem Land sind Orte, an denen vielen, vielleicht sogar den meisten Menschen das Lernen vermiest wird, anstatt die natürliche Lust zu unterstützen, Neues zu erfahren und zu lernen.

Nach solch einer Schul- und Hochschullaufbahn, die ungefähr ein Drittel meiner bisherigen Lebenszeit ausgemacht hat, wollte ich einst das Wort ›Lernen‹ neu und vor allem positiv besetzen, sowohl für mich als auch für andere. Ich erinnere mich noch gut an jenen Moment nach meiner letzten Hochschulprüfung, als mir schlagartig bewusst wurde, dass ich von nun an nur noch das zu lernen bräuchte, was ich wirklich lernen möchte. Damals durchströmte mich ein vorfreudiges, Abenteuer verheißendes Glücksgefühl. Heute bedeutet Lernen für mich zuallererst, Neugier, Interesse und Wissensdurst zu haben. Neugier auf und Interesse an anderen und auch an mir selbst. Neugier auf das, was in uns Menschen – ganz gleich welchen Alters – an Erfahrungswissen und Weisheiten verborgen ist. Für mich soll Lernen nie eine Einbahnstraße sein, die – abhängig vom Alter eines Menschen – nur in eine Richtung führt. Lernen bedeutet in meiner Welt, Dinge, Themen, vermeintliche Realitäten aus verschiedenen, vielleicht mir bisher unvertrauten Perspektiven zu betrachten und dadurch neu begreifen zu können. Lernen geschieht, wenn Menschen mehr Fragen als Antworten haben, wenn sie weitläufigste Reflexionsspielräume vorfinden und selbige auch nutzen können und wollen. Und last but not least heißt Lernen, nicht nur andere, sondern auch mich selbst, meine eigenen Handlungen und Haltungen immer wieder neu zu hinterfragen. Deshalb nenne ich mich auch Teamerin und nicht Workshop- oder gar Seminarleiterin. Ich will nicht leiten. Ich will lernen und am liebsten lerne ich im Team mit anderen Menschen.

Deshalb besteht ein wesentlicher Teil meiner Arbeit darin, eine angenehme, entspannte, schöne und anregende (Arbeits-)Atmosphäre zu kreieren. Eine Atmosphäre, in der sich Menschen willkommen- und wohlfühlen können. Einen Raum, in dem sie Lust bekommen, einander zu begegnen und sowohl mit- als auch voneinander zu lernen.

Wenn ich mit der Gestaltung eines solchen Raums fertig bin, stehen alle Tische an den Wänden, alle Stühle in einem Kreis und inmitten des Stuhlkreises liegt hübsch drapiert eines meiner Workshop-Lieblingstücher auf dem Boden. Auf dem Tuch stehen ein Blumenstrauß und eine Kerze. Ein paar Marker, Namensschilder in verschiedenen Farben und Erkenntnissterne aus goldfarbenem Papier vervollständigen die obligatorische ›schöne Mitte‹. Was es mit den Erkenntnissternen auf sich hat, erfährst du – geneigte*r Leser*in – wie die Teilnehmer*innen auch, wenn der Workshop beginnt.

Tja, und wie im richtigen Leben: wenn mensch an die Teilnehmer*innen denkt, dann kommen sie auch schon. Während ich noch die ›schöne Mitte‹ des Stuhlkreises betrachte, betritt eine Person den Raum. Sie begrüßt mich mit Handschlag. »Blümlein-Hämmerle«, sagt sie. »Wie bitte?« – »Blümlein-Hämmerle, mein Name. Horst Blümlein-Hämmerle.« – »Oh, angenehm«, erwidere ich. »Ritz, mein Name. ManuEla.« Der Mensch mit dem hammermäßigen, blumigen Namen schaut sich kurz um. »Bin ich der Erste?«, will er dann wissen. »Der Erste schon«, bestätige ich. »Aber ich war vor Ihnen da und damit wären wir schon zwei.« Ich lächle offen, Herr Blümlein-Hämmerle ein bisschen gequält. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich die Zeit nutze, um noch ein wenig in meiner Zeitung zu blättern?«, erkundigt sich Herr Blümlein-Hämmerle. »Natürlich nicht«, antworte ich. »Suchen Sie sich einen Platz, machen Sie es sich gemütlich und lesen Sie in Ruhe Ihre Zeitung«, sage ich. Jetzt lächelt auch Herr Blümlein-Hämmerle offen. Und er öffnet nicht nur sein Lächeln, sondern auch den Knopf seines Jacketts, setzt sich auf einen Stuhl im Stuhlkreis und schlägt laut raschelnd seine Zeitung auf. Und ich? Ich hänge derweil die schon vorbereitete ›Willkommen!‹-Seite an das Flipchart.

»Kritisches Erwachsensein? Großartig! Hier bin ich richtig«, stellt eine Stimme fest. Ich drehe mich um, um die Person, die zu der Stimme gehört, in Augenschein zu nehmen. Ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, Jeans und ein Paar weiße Turnschuhe stehen vor mir, inklusive der darin steckenden Person, versteht sich. Als ich ihr die Hand zum Gruß entgegenstrecke, wechselt eine kleine pink-lilafarbene Figur von der rechten in die linke Hand meines Gegenübers. »Oh, ein Pokémon!«, sage ich, als würde ich mich in der Welt der japanischen Taschenmonster bestens auskennen. Dabei war das definitiv eine Lern-Einbahnstraße, als meine Kinder vor etlichen Jahren versuchten, mir zumindest ein paar Namen der knapp 900 Figuren beizubringen. »Darf ich vorstellen?«, fragt der sympathisch wirkende Mensch und hält die kleine Figur in die Höhe. »Das ist Mewtu.« Und während er meine Hand mit seiner Rechten ergreift: »Ich hingegen heiße Tarek.« – »Willkommen, ihr Zwei«, erwidere ich und nenne auch meinen Namen. Kaum haben sich Tarek und Mewtu einen Platz im Stuhlkreis gesucht, geht es Schlag auf Schlag. Eine Person nach der anderen trifft ein. Gerade kommt ein Mensch in den Raum, der seinen Blick offenbar nicht von seinem Smartphone lösen kann, gefolgt von einer Person, die nicht nur zu strahlen, sondern auch zu schweben scheint. Eine kleine Weinrebe in der linken, reicht sie mir die rechte Hand und flötet: »Hi. Ich bin Tonia.« – »Angenehm. Manu. Schön, dass Sie da sind, Tonia«, sage ich und schaue zu, wie Tonia zu einem freien Platz gleitet. Während Tonias Outfit eher sportlich wirkt, betritt nun eine sehr elegante Erscheinung den Raum. Sie trägt einen Hosenanzug, einen Dutt und perfekt sitzendes Makeup. Die Person wirft ein Paar Gummihandschuhe in den Mülleimer neben der Tür, bevor sie mir kurz freundlich lächelnd zunickt und sich dann neben Horst Blümlein-Hämmerle setzt. Der lässt daraufhin seine Zeitung sinken, lächelt ebenfalls freundlich. »Blümlein-Hämmerle«, sagt er, worauf die andere Person erwidert: »Sagen Sie, wollen wir uns nicht einfach duzen?«

Nach und nach treffen weitere Menschen ein. Ich nehme die Wartezeit zum Anlass, die bereits Anwesenden zu bitten, sich ein Namensschild anzufertigen. »Schreibt zu eurem Namen bitte auch das Personalpronomen, mit dem ihr angesprochen werden wollt, auf eins der Schilder hier in der Mitte«, rufe ich in die Runde, die sofort in Bewegung kommt. »Vor- oder Nachnamen?«, will eine Person wissen. »Je nachdem, wie ihr angesprochen werden wollt«, antworte ich. »Und was sind nochmal Pronomen?«, fragt jemand anderes. »Traditionell sind Personalpronomen ›er‹ oder ›sie‹«, erkläre ich, »aber mit den Traditionen ist das ja manchmal so eine Sache. Es ist gut, sie von Zeit zu Zeit zu erweitern oder zu verändern. Wenn ›er‹ oder ›sie‹ also für euch nicht passt, soll jede andere Variante recht sein.« Ich ernte den fragenden Blick eines Menschen, der gerade ein grünes Namensschild ausgewählt hat. Die Person trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Nen Scheiß muss ich!« Ich schmunzle, während ich zu jener Person gehe, die nach wie vor auf ihrem Handy herumtippt und -wischt. »Entschuldigen Sie die unbedachte Platzierung der Schilder und Stifte«, sage ich und frage, welche Farbe das Namensschild der Person haben soll. Diese dreht rasch ihr Handy weg, als wäre es ihr peinlich, wenn ich sehen könnte, was sie gerade getippt hat. »Blau«, lautet die knappe Antwort. Als ich ihr Stift und Schild reiche, erklärt mir die Person kühl und sachlich: »Für mich ist es nicht ideal, wenn Arbeitsmaterialien auf dem Boden liegen.« Ein Blick aus graugrünen Augen trifft mich und ich meine, darin lesen zu können: Immer und immer wieder! Kann nicht einmal eine von diesen gehenden und stehenden Personen mitdenken? »Ich habe mich extra hier neben diesen Tisch gesetzt, damit ich alles, was ich brauche, in meiner Nähe habe. Legen Sie also bitte künftig mein Arbeitsmaterial hierhin, ja!?« – »Klaro!«, sage ich und entschuldige mich noch einmal für meine Unbedachtheit. Bingo!, denke ich. Der Workshop hat noch gar nicht begonnen und schon habe ich den ersten Minuspunkt eingefahren. Ich nenne mich Teamerin gegen Diskriminierung, doch Ableismus[11] habe ich eindeutig noch nicht genug auf dem Schirm. Auf dem blauen Namensschild der Person, die mir diese Lektion erteilt hat, steht in einer wunderschönen Handschrift der Name »Alex« und »kein Pronomen bitte«.

Mein Weg zur Teamerin gegen Adultismusoder Die Sache mit der Vorstellung

Punkt neun Uhr sitzen alle Anwesenden auf ihren Plätzen und ertragen geduldig das Schweigen im Raum. Sowohl als Autorin als auch als Teamerin verstehe ich freilich ein bisschen was von Spannungsbögen und so lasse ich die Stille noch ein wenig wirken. Ruhig schaue ich in erwartungsvolle, schüchterne, offene, lächelnde, zu Boden blickende und/oder nachdenklich wirkende Gesichter. Mein Blick fällt auf einen Coffee-to-go-Becher. »What would Beyoncé say?«, steht darauf, und ich lächle die Person, die den Becher in ihren Händen hält, an. Schließlich zünde ich die Kerze an, setze mich auf den letzten freien Stuhl im Kreis und sage mit meiner Gute-Laune-Stimme: »Guten Morgen! Schön, dass Sie da sind!« Abgesehen von zwei Menschen haben alle lediglich ihren Vornamen auf die Namensschilder geschrieben. Ich frage, ob ich das als Einladung zum Duzen verstehen darf. Alle nicken, auch die Person im Hosenanzug, die Brigitte Weiß heißt, und Horst Blümlein-Hämmerle, der trotz der Länge seinen ganzen Namen auf das Schild gequetscht hat. Bevor ich loslege, weise ich noch auf die Erkenntnissterne hin und ermuntere die Teilnehmer*innen, diese im Laufe der Tage nach und nach mit Gedanken, Ideen und Erkenntnissen zu füllen und an die Wand neben der Tür zu kleben. »Zunächst möchte ich mich euch vorstellen«, eröffne ich dann. »Mein Name ist ManuEla Ritz, für euch kurz: Manu. Und ich nutze für mich das Pronomen ›sie‹. Lasst mich euch zunächst in einer Art Zeitreise von meinem bisherigen Lebensweg berichten. Dabei fokussiere ich mich auf Situationen, die alle direkt oder indirekt mit Adultismus zu tun haben und am Ende erkennen lassen, warum ich hier heute zusammen mit euch in diesem Stuhlkreis sitze.« Alle Augen sehen mich an. Ich hole tief Luft und beginne mit meiner persönlichen Zeitreise.

»Ich werde in Sachsen geboren. Ich werde geboren und zur Adoption freigegeben. Vermutlich weiß meine Seele schon damals von der überlebensnotwendigen Abhängigkeit junger Menschen von sogenannten Erwachsenen. Bewusste Erkenntnis kommt erst später mit erkennendem Bewusstsein.

Wenn Eltern Kinder als ihr Eigentum betrachten und die Gesellschaft diese Sichtweise durch kollektive Glaubenssätze und Gesetze unterstützt, bekommen – nicht nur – Eltern die Macht, mit ›ihren‹ Kindern tun und lassen zu können, was immer sie wollen. Sie können beispielsweise entscheiden, sich von ihrem Eigentum zu trennen und das von ihnen abhängige Kind im Stich zu lassen.

Eine Erkenntnis: Je jünger der Mensch, desto unausweichlicher ist er auf Gedeih und Verderb den Ideen, Gedanken, Gefühlen und Handlungen sogenannter Erwachsener ausgeliefert.

Das Schicksal entscheidet sich für mein Gedeihen. Ich werde adoptiert oder wie meine Mutter zu sagen pflegt, von ihr ›an Kindes statt angenommen‹. Mein Kinderkopf versteht diese Worte nicht. Er spielt mit ihnen. An Kindes statt. Ein Kind? Eine Stadt? Statt eines Kindes? Bin ich hier anstatt eines anderen Kindes? Bin ich ihr Kind oder bin ich es nicht? Es bleiben ein kleiner Zweifel und eine kleine Angst in meinem kindlichen Denken: Wenn Erwachsene Kinder einfach so abgeben und einfach so annehmen können, könnte ich dann nicht jederzeit auch wieder abgegeben werden?

Eine Erkenntnis: ›Ich muss einfach nur lieb sein. Dann gibt es keinen Grund, mich irgendwann irgendwo wieder abzugeben.‹

Mit der Frau, die mich adoptiert hat und die ich ›Mama‹ nenne, lebe ich in einer kleinen Wohnung unter dem Dach des Kinderheims, in dem sie als Erzieherin arbeitet und aus dem heraus sie mich an Kindes statt aufgenommen hat. In gewisser Weise bleibe ich also ein Kind im Heim, aber kein Heimkind. Ich spüre eine gewisse Verbindung zu anderen Kindern ohne Eltern oder mit Eltern ohne Zeit oder ohne ›Erziehungsberechtigung‹. In mir ist Mitgefühl, wenn ich abends in meinem Bett im Schlafzimmer meiner Mutter liege und an die Kinder in den Schlafräumen unter mir denke. Ein, zwei Stockwerke trennen uns und doch spüre ich ihre Nähe. Fühle ich auch so etwas wie Solidarität? Vermutlich nicht.

Eine Frage: Kinder werden in der Regel nicht dazu ermutigt, solidarisch miteinander zu sein. Warum eigentlich nicht?

Lieb sein also, das ist der Plan. Es gelingt mir meist eher schlecht als recht. Oder? Ich als Kind habe nicht die Macht zu beurteilen, ob ich lieb bin oder nicht. Wie ist mensch lieb? Ein Lied erklärt es mir. Ich lerne es im Kindergarten. Ich lerne es auswendig und werde es mein Lebtag nicht mehr vergessen. Und in den Augen der Erwachsenen, die mich bitten oder auffordern, das Lied wieder und wieder zu singen, bin ich ›sooo süß‹. Also singe ich: »Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich bind’ mir eine Schürze um und feg die Stube aus. Das Essen kochen kann ich nicht, dafür bin ich zu klein, doch Staub hab ich schon oft gewischt, wie wird sich Mutti freuen.«

Eine Erkenntnis: Erwachsene haben die Macht zu entscheiden, wann etwas oder jemand lieb ist und wann nicht. Und lieb sein heißt offenbar, den Erwartungen der Erwachsenen zu entsprechen, süß zu sein und sich nützlich zu machen.

In der zweiten Klasse klettere ich ohne Erlaubnis auf eine Art Schwebebalken, der im Garten der Schule angebracht ist. Ein Mädchen tut es mir nach, fällt und bricht sich einen Arm. Ich werde zur Schuldigen erklärt und eine der Erzieherinnen nennt mich in diesem Zusammenhang »einen richtigen Teufel«. Der Satz nistet sich in meiner Seele ein, weil Erwachsene doch alles wissen und immer Recht haben. Oder nicht? Der Satz gesellt sich zu jenen Selbstzweifeln und jenem Selbsthass, der vermutlich so manches Schwarze Kind geißelt, das als einzige*r nicht weiße*r Mensch in einer weißen Dominanzgesellschaft aufwächst. Eine Erkenntnis: Worte – zumal von Erwachsenen an Kinder gerichtet – können nicht nur verletzen. Sie haben auch die Macht, in Kinderköpfen zu unguten Realitäten und Selbstbildern zu werden.

Unser Mathe-Lehrer setzt bei seiner Unterrichtsgestaltung auf Einschüchterung. Heute frage ich mich, was Erwachsene davon haben, Kindern Angst vor ihnen einzuflößen. Was gibt ihnen das? Als Erwachsene begegne ich diesem Lehrer noch einmal. Mein Sohn ist bei mir. Der Lehrer schwärmt voller Begeisterung, ja fast liebevoll darüber, was für eine gute Schülerin ich gewesen sei. Ihm scheint nicht bewusst zu sein, dass er die Vergangenheit bis zur Unkenntlichkeit verklärt. Ich war nie gut in Mathe und auch nur den kleinsten Hauch einer Ahnung, ich hätte so etwas wie ein mathematisches Verständnis, hat er mir mit seiner Schreckensherrschaft einst ausgetrieben. Trotzdem widerspreche ich ihm nicht, als ich ihm nun als Erwachsene gegenüberstehe.

Eine Erkenntnis: Erwachsene schmieden zuweilen seltsame Allianzen und verbünden sich durchaus auch ohne ersichtlichen Grund miteinander. Sie stellen einander nicht bloß. Sie entlarven einander nicht. Schon gar nicht vor Kindern. Warum nicht? Was befürchten wir?

Als Teenagerin arbeite ich in den Schulferien in dem Heim, in dem ich einst als Kind gelebt habe. Ich bind’ mir eine Schürze um, fege und putze und bin sogar schon groß genug, der Köchin beim Kochen, vor allem aber beim Abwasch zu helfen.

Manchmal, wenn ich Glück habe, möchte eine Erzieherin, dass ich ihr dabei helfe, die Kinder zu füttern oder zu Bett zu bringen. Auch hier im Heim gibt es eine Erzieherin, die auf Strenge, Angsteinflößung und Grobheit setzt. Vor allem ein Mädchen wird zur Zielscheibe ihres Spotts, ihrer Ungeduld, ihrer Beschimpfungen, schlimmer bösartiger erwachsener Macht. Meine Macht ist kleiner als die der erwachsenen, ausgebildeten Erzieherin, dessen bin ich mir bewusst. Und so lasse ich geschehen, was mit dem Mädchen geschieht, mache auf Geheiß der Erzieherin vielleicht sogar mit. Doch dann eines Tages bin ich Zeugin besonders lauter oder höhnischer oder beschämender Worte, die das Mädchen treffen wie verletzende Pfeile. Und plötzlich und endlich legt sich ein Schalter in mir um. Das einstige Mitgefühl für die Kinder ohne Eltern schiebt die kleine Macht beiseite, die in mir wächst und keimt und bereits droht, einst hässliche Blüten zu tragen. An den Platz der aufkeimenden Macht schiebt sich eine große Nähe zu dem kleinen Mädchen. Da ist Verbindung und so etwas wie Solidarität. Ich stecke ihr kleine Leckerbissen zu oder streichle vor dem Einschlafen liebevoll ihren Kopf, wenn die Erzieherin nicht hinsieht. Doch da, wo die kleine aufkeimende Macht war, ist nun auch Ohnmacht. Ich werde das Mädchen gegen die Gemeinheiten der erwachsenen Erzieherin nicht offen verteidigen können.

Eine Erkenntnis: Wenn die eigene Macht nicht ausreicht, um große Veränderungen bewirken zu können, mag es hilfreich sein, sie da, wo machtlosere Menschen leiden, zumindest lindernd wirken zu lassen.

Ich erlerne den Beruf der Krippenerzieherin. In der Ausbildung wird uns beigebracht, dass es unsere Aufgabe ist, junge Menschen zu allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Eines Tages liest uns ein junger Vertretungslehrer aus einem verbotenen Buch vor. Verboten, weil es aus dem Westen kommt, verboten ganz sicher auch aufgrund seines Inhalts. »Das Drama des begabten Kindes« von Alice Miller. Der junge Lehrer, mehr noch sein Mut, uns mit solch ungewohntem, verbotenem Wissen vertraut zu machen, sowie die Inhalte des Buches entflammen mich.

Erkenntnisse in Fragen gekleidet: Was, wenn all das beigebrachte Wissen nur eine Wahrheit unter vielen oder auch gar keine ist? Was, wenn mensch grenzüberschreitend denkt und vermeintliche Wahrheiten hinterfragt?

Ich ziehe nach Ost-Berlin, arbeite dort als Krippenerzieherin. Ich setze darauf, eine Art Freundin der Kinder meiner Gruppe zu sein. Manche der Kinder nennen mich ›MamaEla‹. Als Erzieherin habe ich Macht. Als Freundin will ich spielen. Ich nutze meine Macht, um Spielräume zu schaffen. Natürlich reden wir bei Tisch. Natürlich muss kein Mensch schlafen, wenn er nicht müde ist. Er muss auch nicht so tun als ob. Er kann kuscheln, mit mir meine alten Märchenschallplatten anhören oder draußen im Garten toben. Doch meine Macht als Erzieherin ist kleiner als die Macht der Leiterin. Den Spielräumen werden Grenzen gesetzt. Kein Toben im Garten, wenn andere Kinder schlafen sollen! Okay, wenn Grenzen gesetzt werden können, lassen sie sich auch verschieben. Kein Toben mehr im Garten? Na, dann halt in den wilden Wiesen in unmittelbarer Nachbarschaft.

Eine Erkenntnis: Ich habe die Macht zu entscheiden, für wen ich arbeite, zu wessen Gunsten ich meine Macht einsetze. Ich muss mich entscheiden, wem ich mich nah und verbunden fühlen will. Der Leitung? Meinen Kolleg*innen? Den Eltern der Kinder, mit denen ich viel Zeit verbringe, oder den Kindern selbst?