ADUR - Michael Birnbaum - E-Book

ADUR E-Book

Michael Birnbaum

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Beschreibung

»ADUR«, der zweite Afrikaroman von Michael Birnbaum, erzählt die packende Geschichte des deutschen Korrespondenten Michael Baumann, der in den Südsudan reist, um die Grausamkeiten des Sklavenhandels zu dokumentieren. Was als Recherche beginnt, wird schnell zu einer gefährlichen Mission, um ein kleines Mädchen aus den Fängen eines mächtigen Handelsbarons zu befreien. Spannend, bewegend und absolut fesselnd – »ADUR« ist ein Thriller, der unter die Haut geht. Für alle, die spannende und tiefgründige Geschichten lieben.

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Über dieses Buch

Widmung

Buch Eins - Die Wirklichkeit

Kapitel Eins - Der Anfang

Kapitel Zwei - ​Der Auslöser

Kapitel Drei - ​Der Mentor

Kapitel Vier - ​Kampf der Religionen

Kapitel Fünf - Ankunft in Khartum

Buch Zwei - Gang durch die Hölle

Kapitel Sechs - Ein neues Leben

Kapitel Sieben - Die Suche beginnt

Kapitel Acht - Im Hause al-Mahjoub

Kapitel Neun - ​Das Leben der Diplomaten

Kapitel Zehn - Der große Empfang

Kapitel Elf - Die Nachwehen

Buch Drei - Zurück in die Freiheit

Kapitel Zwölf - Riskante Manöver

Kapitel Dreizehn - Kein Zurück mehr

Kapitel Vierzehn - Den Rückzug vorbereiten

Buch Vier - Wo mein Zuhause ist

Kapitel Fünfzehn - Die Reisegesellschaft bricht auf

Kapitel Sechzehn - Kurz vor dem Ziel

Kapitel Siebzehn - Die Rückkehr

Buch Fünf - Alle sind gleich

Kapitel Achtzehn - Wieder am Schreibtisch

MULELE - Ein Roman aus dem Herzen Afrikas

ÜBER DIESES BUCH

Der deutsche Afrika-Korrespondent Michael Baumann reist in den Südsudan, um über die immer noch stattfindenden Sklavenraubzüge des arabischen Nordens zu recherchieren. In Süd-Dafur trifft er Ahmed, einen Dinka und Vater, der seine zwei Kinder an die Milizen verloren hat. Der Reporter begleitet den Dinka bis zu einer Koranschule im Grenzgebiet, die angeblich als Umerziehungslager für die Kindersklaven dient. Dort erfahren sie: Die Tochter Adur wurde nach Khartum verkauft. Die Wahl liegt bei ihnen: Gehen sie weiter in die sudanesische Hauptstadt?

Das kleine Dinka-Mädchen befindet sich dort inzwischen in der Obhut eines mächtigen Handelsbarons, der seine Gattin nach seiner Heirat mit einer zweiten Frau milde stimmen will. Werden der Vater und der Journalist Baumann es schaffen, sie zu finden?

Über den Autor

Michael Birnbaum war fast zwei Jahrzehnte Redakteur, Kommentator und Korrespondent der »Süddeutschen Zeitung«. Für diese Zeitung war er in den 1990er-Jahren der Korrespondent in Afrika. Seine Erlebnisse und Erfahrungen in dieser Zeit inspirierten ihn auch zu seinen Afrikaromanen der Baumann-Reihe – von denen er immer behaupten wird, sie seien ganz und gar erfunden.

Michael Birnbaum hat bereits einen Kongo-Roman geschrieben (»MULELE – Ein Roman aus dem Herzen Afrikas«, 2024) sowie zwei Sachbücher zu Afrika (»Die schwarze Sonne Afrikas«, 2000 Piper, und »Krisenherd Somalia. Das Land des Terrors und der Anarchie«, 2002 Heyne). Er lebt heute in München.

»ADUR - Ein Sklavenroman aus dem Sudan« ist der zweite Band der Baumann-Reihe.

WIDMUNG

Alle Menschen sind gleich

Für meine Kinder und Enkel

Text / Umschlag (c) 2024 Michael Birnbaum

Verantwortlich für den Inhalt:

Michael Birnbaum, Höslstr. 10, 81927 München

birnbaum@me.com

PROLOG

Ahmed war ein einfacher Mann aus dem Dorf Nyamell. Früh am Morgen ging er zum Flussufer. Der frische Duft des neuen Tages überwältigte ihn jedes Mal.

Es roch angenehm nach tropischem Gras, begleitet von einem leichten Wind, der selbst zu dieser frühen Stunde bereits erfrischend war.

Nyamell lag inmitten sanfter Hügel und weiten Graslandschaften von Süd-Darfur im Westen des Südsudans und war ein friedliches Dorf. Die ersten Sonnenstrahlen erstrahlten auf Halmen und Blättern.

Ahmed Kadir Wol war ein erfahrener Fischer. Jeden Morgen bestieg er seinen schlichten handgefertigten Kahn, wenn die Sonne langsam über den Horizont kroch.

Die sanfte Strömung des Flusses trug ihn hinaus.

Sein Boot glitt über das ruhige Wasser. Währenddessen wanderten seine Gedanken zu seiner Familie und seinen beiden Brüdern. Er erinnerte sich an glückliche Kindertage und gemeinsame Fischerabenteuer. Doch über all dem lag stets der dunkle Schatten der arabischen Milizen. Sie hatten ihm seine Brüder geraubt.

Während er sein Boot steuerte, hörte er das leise Plätschern des Flusses. Die Ruder quietschten rhythmisch in den Halterungen.

Das Boot knackte leise. Seine Nase roch nur das Wasser des Flusses und das feuchte Holz des Bootes. Sein Herz schlug für diesen Moment.

Er genoss die Stille.

Aber auch in dieser Ruhe konnte er den Schmerz nicht verdrängen. Erinnerungen an seine Brüder brachen immer wieder durch. Ihr Lachen, ihre gemeinsamen Abenteuer, und dann der Tag, an dem sie ihm genommen wurden. Die arabischen Milizen hatten sein Leben unwiderruflich verändert.

Ahmed hielt inne, ließ die Ruder ruhen und sah über das spiegelglatte Wasser. Bald glitt er an der Stelle am Ufer vorbei, an der er seine Frau Aweng zum ersten Mal getroffen hatte.

Er erinnerte sich an die junge Aweng am Flussufer. Ihr Lächeln und ihre strahlenden Augen wirkten wie ein Gegenmittel gegen die Dunkelheit und die Angst der Menschen. Er war glücklich, dass ihre Wege miteinander verbunden waren. Das machte ihn stark. 

Als er damals Aweng in seinen Armen hielt, fühlte sich ihre Haut so zart an wie die eines Babys. Er konnte ihr Herz gegen seine Brust schlagen spüren. Erst in diesem Moment erlebte er das Gefühl, wirklich lebendig zu sein.

Ahmeds Herz schlug schneller, als er den Ort erreichte, an dem sich sein Leben für immer verändert hatte.

Die Bambusrohre, mit denen er fischte, rauschten sanft im Wasser. Die vertrauten Geräusche der Natur beruhigten ihn.

Dieser Ort war durchdrungen von seinen Erinnerungen, Gefühlen, Gerüchen und Geräuschen. Auf seiner morgendlichen Fahrt hörte er lediglich den Fluss und das Quaken der Frösche. Ahmed liebte es, wenn die Welt noch in einem sanften Schlaf wandelte und die Vögel ihre ersten Lieder anstimmten.

Ahmed Kadirs Kahn schwamm nahezu lautlos im klaren Wasser des Gazellenflusses, die rhythmischen Ruderschläge fügten sich harmonisch in die Klänge der Umgebung. Er kannte diese Geräusche nur zu gut. Sie hatten ihn immer schon beruhigt. 

Doch an diesem Tag wurde seine friedliche Routine plötzlich unterbrochen.

Es waren andere Geräusche, als er sich der trägen Mitte des Flusses näherte. Zunächst dachte er an wilde Tiere, tranken sie am Ufer?

Je näher er kam, desto klarer wurden die Laute. Es waren Schreie, Schüsse und das Knallen von Peitschen. 

Ahmed Kadir Wol war verwirrt und entsetzt. »Was ist hier los? Was passiert hier?«

Er näherte sich dem Ufer. Der Anblick war entsetzlich.

Das Dorf, einst ein Ort friedlicher Menschen und ländlicher Idylle, wurde von arabischen Janjaweed-Milizen heimgesucht.

Die Schläge der Milizen durchschlugen die Luft, die Schreie der Gequälten erfüllten den Morgen. Die Männer wurden gefesselt und wie Vieh auf einem finsteren Markt des Schreckens zusammengetrieben. Ihre verzweifelten Blicke offenbarten die Gewissheit des Unheils.

Als Ahmed immer näherkam, bebte der Boden des Kahns unter ihm. Peitschenhiebe schnitten durch die Luft, gefolgt von qualvollen Schreien der Gefangenen.

Der Geruch von Schweiß und Angst mischte sich mit den Ausdünstungen von Blut und der roten Erde. Ahmed schmeckte bittere Angst auf seiner Zunge. Die ersten Hütten waren in Flammen aufgegangen und das Feuer fraß sich gierig durch die trockenen Büsche.

Frauen und Kinder standen in einer Reihe, voller Angst, mit Tränen im Gesicht. Sie wirkten wie Schachfiguren in einem dunklen Spiel.

Ahmed empfand unerträglichen Schmerz. Jeder Hieb beschleunigte seinen Puls und erfüllte ihn mit ohnmächtiger Wut. Die Schreie der Gequälten und die verzweifelten Rufe nach Hilfe verhallten unerhört. Es fühlte sich an, als würde die ganze Welt in Finsternis versinken.

Die Savanne bebte unter den Hufen der Pferde, deren Reiter mit eiserner Kraft und kalter Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid vorgingen.

Er sah schreckliche Bilder. Ein Albtraum wurde schon wieder wahr, wie damals, als seine Brüder verschleppt und ermordet wurden. Das Geschrei, das Flehen und die Gewalt, er fühlte sich abermals hilflos und musste tatenlos zuzusehen, wie das Böse triumphierte. 

Denn er war allein und ohne Waffen.

Ahmed Kadir Wol ruderte stromabwärts, so schnell es seine Muskeln zuließen. Jeder Ruderschlag stärkte seine Wut. Die Bilder des Grauens trieben ihn an. Diese berittenen Teufel durften nicht wieder ungestraft davonkommen.

BUCH EINS

Die Wirklichkeit

KAPITEL EINS

Der Anfang

DAS FRIEDENSTREFFEN

Katy Peach erwachte in ihrem schlichten Heim aus Beton, Ziegel und Lehm. Ihr Blick fiel auf das abgenutzte Zeltdach, das von der Sonne verblasst war. Ein schwacher, goldener Lichtstrahl drang durch die Ritzen und zeichnete die Umrisse der bescheidenen Einrichtung nach.

Der Morgen dämmerte in Nasir, einer kleinen Stadt am Fluss Sobit nahe der Grenze zwischen Sudan und Äthiopien.

Mit einem tiefen Seufzer setzte sich Katy auf den rohen Betonboden und spürte die kühle Morgenluft auf ihrer Haut. Sie nahm den Geruch der staubigen Erde und des vertrockneten Grases wahr, hörte die entfernten Geräusche der erwachenden Stadt. Draußen zwitscherten die Vögel, das entfernte Blöken der Ziegen verkündete den Beginn des Tages.

Sie nahm einen schlichten Wasserkrug, der neben ihrer Schlafmatte stand, und ließ das erfrischende, kühle Wasser über ihr Gesicht laufen. Das klare Nass weckte sie und verscheuchte die Nachtmüdigkeit.

Im kleinen, zerbrochenen Spiegel sah sie die Spuren der harten Arbeit und der emotionalen Belastung, die ihre Arbeit als Entwicklungshelferin am Ende der Welt mit sich brachte.

Sie bürstete ihre langen, blonden Haare. Ihre Augen waren voller Mut und Zweifel. Ihr Job hier war weit entfernt von ihrem früheren Leben in der Finanzmetropole London. Aber das Gefühl, gebraucht zu werden und einen Unterschied machen zu können, trieb sie an.

Niemand würde sie in London vermissen, dachte sie.

Heute war ein großer Tag in Nasir. Ein Friedenstreffen sollte stattfinden, ein neuer Versuch, die Rebellen des Südsudans wieder auszusöhnen.

Und sie hatte eine Aufgabe erhalten. Ein internationaler Journalist war von der Garang-Fraktion zum Treffen eingeladen worden. Der müsste mit den Unterhändlern aus Nairobi mitkommen. Sie sollte den »beschäftigen«, wie ein Offizier der Machar-Fraktion hier in Nasir sie gebeten hatte.

Also nahm sie den Jumpsuit von der Kleiderstange, die hier ihre Garderobe ersetzte. Katy Peach wollte heute selbstbewusst aussehen.

Ein zweiter Blick in den Spiegel verriet jedoch, dass ihr Körper erste Anzeichen der harten Arbeit und der ungewohnten Lebensweise zeigte. Und wahrscheinlich auch von den zwei Jahren, die sie nun über 30 war. Die leichten Falten um ihre Augen erzählten von schlaflosen Nächten und intensiven Gesprächen mit den Menschen in Nasir, den Ältesten, Frauen und Müttern sowie Rebellenoffizieren. Trotzdem stand sie aufrecht, ihre Schultern leicht nach hinten gezogen und ihre Körpersprache zeugte von Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit.

Katy Peach hat sich inzwischen an das Leben in Nasir gewöhnt, fernab von der Hektik und dem Verrat Londons. Als sie ihre morgendliche Routine beendete, spürte sie die Trockenheit der Luft, die sich wie ein feiner Staubfilm auf ihre Haut legte.

Die Sonne stieg immer höher, während das goldene Licht ihr bescheidenes Zuhause erfüllte. Das war kein Häuschen in Mayfair. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie sie an diesem abgelegenen Ort im Südsudan gelandet war. Ihr Freund, der Banker aus London, hatte sein Geheimnis gut gehütet – er war bereits verheiratet. Es dauerte Monate, bis sie die Wahrheit erkannt hatte, und ihre Enttäuschung war groß.

Aber hier, unter den hochgewachsenen Nuern und Händlern, die auf dem staubigen Pfad vor ihrer Hütte Handel betrieben, fand sie Trost. Die Schönheit dieser abgelegenen Stadt, umgeben von Fluss und Trockensavanne, hatte eine ganz besondere Magie.

Erinnerungen an ihr Soziologiestudium und ihren Master in Entwicklungshilfemanagement gaben ihr Sinn und Zweck, um in dieser kleinen Welt etwas zu verändern.

Katy verließ ihre Hütte. Die Stadt erwachte langsam zum Leben. Kinder lachten und liefen durch die engen Gassen, Frauen begannen ihre Märkte aufzubauen, Bauern trieben ihr Vieh zum Wasser.

Der Geruch frisch gebackener Teigtaschen vermischte sich mit dem der Holzkohleöfen. Sie atmete tief ein, spürte die Wärme der aufgehenden Sonne und lächelte, als ihr bewusst wurde, dass sie in dieser abgeschiedenen Welt nicht nur sich selbst eine neue Chance auf ein besseres Leben geben konnte.

Katy Peach hatte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und war bereit, sich ihrer Zukunft in Nasir zu stellen.

Nasir, einst fremd und nun mein Zuhause, dachte Katy. Die Stadt am Fluss Sobat im Upper Nile, nur 25 Kilometer von Äthiopien entfernt, ist auf keiner Weltkarte bedeutsam, aber für mich immens wichtig.

Katy Peach machte sich auf den Weg zur Landepiste, die hier Flughafen genannt wurde.

Die staubige Sandpiste glühte unter der Sonne, als eine alte DC-3 am Horizont erschien und sich mit lautem Motorenbrummen näherte. Der erfahrene Pilot meisterte trotz Böen und unebenem Boden geschickt die Landung. Die Passagiere, eine Mischung aus Helfern, SPLA-Offizieren und Einheimischen, hielten den Atem an. Das Flugzeug schlingerte über die Piste, bevor es zum Stillstand kam.

Die Flugzeugtüren öffneten sich, und die Wüstenhitze drang in die Kabine. Zuerst stiegen die SPLA-Rebellen aus, groß gewachsene Dinka, die herrisch das Land betraten, in dem sie Feinde waren. 

Denn hier in Nasir lag das Hauptquartier des verfeindeten Nuer von Riek Machar.

Nur die DC-3 stand ruhig auf der staubigen Piste, ihre Motoren surrten noch leise, als ob sie die Ereignisse um sie herum beobachten würde. Kein Journalist, kein Weißer zu sehen, dachte Katy Peach enttäuscht.

Während die Gruppe der SPLA-Rebellen sich langsam auf den Weg machte, stieg eine leichte Brise auf und trug den feinen Sand über die Landepiste. Die DC-3 sah aus, als würde sie das Wüstenland in ihre Obhut nehmen und für immer bleiben wollen.

Das alte Flugzeug wurde beladen. Der Pilot überprüfte sorgfältig die Instrumente und traf alle Vorkehrungen für den Abflug.

Mit einem letzten Blick auf die staubige Piste verabschiedete sich die DC-3 vom abgelegenen Ort im Südsudan. Ihre Motoren heulten auf, sie beschleunigte und stieg in die Lüfte, Kurs auf ihr nächstes Ziel.

Erst jetzt entdeckte Katy Peach am Rande der Piste einen einsamen Weißen, der offenbar mit an Bord gewesen war: Michael Baumann. Das musste er sein.

DER AUFTRAG

Als die Sonne bereits versunken war, nahmen Katy Peach und Michael Baumann auf simplen Holzhockern Platz, nahe dem prasselnden Feuer hinter ihrem Haus. Das farbenfrohe Flackern des Feuers zauberte tänzelnde Schattenspiele auf ihre Gesichter, während sie angeregt über den sudanesischen Rebellenführer John Garang debattierten.

Michael sah Katy ernst an. »Katy, was hältst du von John Garang? Ein unscheinbarer Junge aus einer anglikanischen Familie, der in den USA studierte und später eine Revolution im Sudan anführte.«

Katy runzelte die Stirn und starrte ins Feuer. »Ja, aber vergiss nicht, dass Garang die SPLA autoritär führte, keine Gegenstimmen duldete und seine Truppen mit eiserner Disziplin leitete.«

Michael nickte. »Das stimmt. Sein Führungsstil war umstritten, aber manche sagen, er musste so handeln, um die Unabhängigkeit des Südsudan zu erreichen. Der Konflikt dauert schließlich schon zwei Jahrzehnte.«

Katy zog ihre Beine an und legte das Kinn auf die Hand. »Stimmt, aber ich sehe das anders. Wichtig ist ein Mittelweg. Autoritäre Führung kann zur Unterdrückung führen und das schadet langfristig.«

Michael legte ein weiteres Holzstück ins Feuer und betrachtete die Flammen. »Da hast du recht, Katy. Es gibt Grauzonen bei solchen Konflikten. Trotz Kritik glaube ich, dass Garang das Wohl seines Volkes im Sinn hatte. Es ist eine schwierige Wahl zwischen Freiheit und Führung.«

Katy und Michael hielten inne, während das Feuer in der Eisenschale vor ihnen brannte, Funken sprühte und unregelmäßig zischte. Über ihnen spannte sich der klare Nachthimmel, der von funkelnden Sternen übersät war, und die Laute der afrikanischen Wildnis hallten in der Dunkelheit wider. 

Michael spürte seine Unwissenheit. Er kannte die politischen Konflikte des Südsudan, die Intrigen und das Blutvergießen. Aber sein Wissen war angelesen, stammte aus Artikeln und Büchern. Jetzt wollte er Katys Meinung, die hier lebte, auch zu dem anderen Mann hören, der hier in Nasir das Sagen hatte.

Er räusperte sich. »Und was ist mit Riek Machar? Was hältst du von dem?«

Katy zuckte überrascht zusammen, als hätte sie seine Frage nicht erwartet. Ihre Augen, blau wie ein Sommerhimmel, suchten die seinen. Sie waren klar und ruhig, ein starker Kontrast zu dem Feuer, das vor ihnen tanzte.

»Riek Machar?«, wiederholte sie leise. Ihre Stimme klang nachdenklich und ein wenig distanziert. »Er ist eine ganz andere Figur in diesem Schachspiel.«

Michael spürte eine aufkeimende Hitze, als er Katy in die Augen blickte. Er konnte nicht umhin zuzugeben, dass sie eine bemerkenswert intelligente und attraktive Frau war. Ihre Hingabe an die Notleidenden und ihr tiefgreifendes Wissen über die politische Situation im Südsudan hatten ihn von Beginn an in ihren Bann gezogen, genauso wie ihr ebenmäßiges Antlitz und die fein geformte Nase.

Katy zog ihre langen Beine enger an ihren Körper und blickte ins Feuer. Ihre Finger spielten mit einer losen Haarsträhne, während sie nach den richtigen Worten suchte.

»Machar war einmal ein wichtiges Mitglied der SPLA unter Garang«, begann sie schließlich. »Er war der Vize-Kommandant und ein frühes Mitglied der Bewegung. Aber 1991 spaltete er sich ab und gründete die SPLA-Nasir.«

Michael nickte, er kannte diese Geschichte. »Ja, und sein Konflikt mit Garang führte zu einigen der schlimmsten ethnischen Gewaltausbrüche in der Geschichte des Südsudan«, fügte er an.

Katy schaute ihn wieder an, ihre Augen waren ernst. »Ja, das Bor-Massaker von 1991 war ein dunkler Fleck in unserer Geschichte«, sagte sie leise. »Machar hat religiöse Vorstellungen missbraucht und durch die Brutalität des Konflikts viel Ansehen verloren.«

Ihre vorwurfsvollen Worte ließen die Betroffenheit in ihrer Stimme erkennen. Michael dachte oft darüber nach, wie es als Entwicklungshelferin in einem von Leid geprägten Land sein musste.

»Ich habe gehört, dass Machar behauptet hat, seine Heirat mit der britischen Entwicklungshelferin Emma McCune sei die Erfüllung einer Prophezeiung gewesen«, sagte er nach einer Weile.

Katy nickte. »Ja, das hat er behauptet«, bestätigte sie. »Aber das war nur eine weitere seiner Manipulationen. Er nutzte seine Beziehung zu McCune aus, um Informationen von Hilfsorganisationen zu erhalten.«

Sie blickte ihn an, ihre Augen funkelten im Licht des Feuers. Sie sagte schließlich: »Es ist kompliziert, Michael. Die Menschen hier sind kompliziert.«

Michael schaute ihr tief in die Augen. Er spürte eine Verbindung zwischen ihnen. »Ja«, stimmte er zu, »das sind sie. Aber das macht sie auch so faszinierend, nicht wahr?«

Katy lächelte ihn an, ein warmes, wirkliches Lächeln, das sein Herz zum Klopfen brachte. Sie lehnte sich zurück und sah in den Sternenhimmel hinauf.

»Ja«, sagte sie leise. »Das macht sie, definitiv.«

Die Stille zwischen Katy und Michael wurde durch den Wechsel des Themas unterbrochen. Ihre Augen, die zuvor noch die Sterne bewundert hatten, fixierten nun Michael mit einer Intensität, welche ihn kurzzeitig verblüffte.

»Michael«, begann sie mit fester Stimme. »Es gibt etwas, das du wissen solltest. Etwas, das mich in letzter Zeit sehr beschäftigt hat.«

Er schaute sie an und sah, wie ernst ihr Gesichtsausdruck geworden war. Ihre Augen glänzten nicht mehr vor Lebensfreude, sondern waren jetzt von Sorge geprägt.

»Es sind die Überfälle des Nordens«, fuhr sie fort. »Die arabischen Milizen … sie entführen Frauen und Kinder. Sie versklaven und verkaufen sie. Der gesamte Zirkus mit den Rebellen und ihrer Spaltung im Süden ist dagegen unbedeutend. Diese Ohnmacht der Afrikaner im Süden macht die Überfälle des Nordens erst möglich. Gewalt gegen Kinder und Frauen, Versklavung, das sind ethnische Säuberungen. Alle wissen davon, niemand tut etwas dagegen. Es ist eine Schande, ein Verbrechen, was da geschieht.«

Auf dem staubigen Patio vor dem verlebten Haus lag eine gespannte Ruhe, die von der Hitze der Debatte und emotionaler Ladung zu beben begann. Katy Peach versuchte, Michael für das Thema zu gewinnen, das ihr so am Herzen lag. Ihre Augen funkelten leidenschaftlich, während sie in der hitzigen Diskussion seinen Arm berührte, um eine tiefere Verbindung herzustellen.

Michael bemerkte den zarten Kontakt und hob überrascht den Blick. Die Intensität in Katys Augen berührte ihn; ihre Worte hatten ihn schon lange angesteckt. Plötzlich unterbrach sie die Diskussion, stand entschlossen auf und kehrte mit Block und Kugelschreiber zurück.

Mit zittrigen Händen drückte sie ihm einen Zettel in die Hand, auf dem die Kontaktdaten der Ansprechpartner zu den Überfällen im Sudan standen. Michael spürte, wie engagiert und emotional die Engländerin bei dem Thema war. 

Katy's Blick, der entschlossen und zugleich verletzlich war, kehrte zurück. Sie versuchte, die Gedanken ihres Gegenübers zu schärfen und seine Emotionen zu entfachen. Fast in Tränen, warf sie ihm eine Decke und ein Kissen zu und deutete mit einem Nicken auf eine Matratze unter dem Wellblechdach.

»Ich gehe jetzt schlafen«, sagte sie mit einer Mischung aus Trotz und Traurigkeit.

Sie ging ins Haus, schloss die Tür. Schob einen Riegel vor. Weg war sie.

DER ERSTE MORGEN

Adur versuchte behutsam ihre Augen zu öffnen, langsam und zögernd, als fürchte sie, was sie erblicken könnte. Wo befand sie sich? War es Nacht oder Tag? Es war finster. Ihr Rücken schmerzte, sie lag auf der harten Erde der Savanne. Der Himmel war noch tiefschwarz, und die Sterne funkelten hell.

Adur ahnte mehr, als dass sie es hörte, sie war nicht allein. 

Ihr Kopf pochte. Und als sie sich aufrichten wollte, schoss ein stechender Schmerz in ihre linke Wade. Sie musste sich verletzt haben.

Adur spürte die kühle Erde unter sich, die das Pochen in ihrer Wade linderte. Die raue Sprache der Milizionäre drang an ihr Ohr. Ihr schrilles Lachen zerriss die nächtliche Stille. Langsam begannen sich ihre Gedanken zu ordnen, und die Erinnerungen kehrten zurück, hart und unbarmherzig.

Es war wie ein Albtraum gewesen. Die plötzliche Aufregung im Dorf, der Ansturm von Männern auf Pferden, das Kreischen von Frauen und Kindern, die Schüsse und Schreie. Adur hatte nur das instinktive Verlangen gespürt zu fliehen, sich zu verstecken, zu überleben.

Sie erinnerte sich an den Moment, als sie das Tukul verlassen hatte, den Blick auf ihr Dorf Nyamell, das in Flammen stand. Sie hatte noch immer den Rauch in ihrer Nase stieg, konnte das Knistern der Flammen hören, die ihr Zuhause verzehrten. Ihr Herz hatte vor Angst laut gehämmert, während sie durch das hohe Gras lief, ihre Füße schmerzten und sie kaum noch atmen konnte.

Dann war plötzlich diese Hand da gewesen. Grob und hart hatte sie sie gepackt und hochgerissen. Sie hatte sich gewehrt, hatte versucht zu schreien, doch ihre Stimme war nur ein heiseres Krächzen gewesen. Ein hässliches Lachen hatte schmerzhaft in ihrem Ohr geklungen, und dann befand sie sich auf einem Pferd. Noch immer konnte sie den Geruch des Tieres wahrnehmen, das raue Fell unter ihren Fingern spüren. Vergeblich hatte sie versucht, sich zu befreien, hatte versucht, vom Pferd zu springen, doch die Hand hielt sie fest.

Der Ritt war endlos gewesen. Die Landschaft verschwamm in einem Meer von Grün und Braun. Sie hatte den Wind auf ihrer Haut gespürt, die Sonne auf ihrem Rücken. Alles war unbedeutend, verglichen mit dem Schmerz in ihrem Herzen.

Sie hatte ihr Dorf verloren, ihre Familie. Ihr Vater, ihre Mutter, ihr kleiner Bruder – sie wusste nicht, was mit ihnen passiert war. Waren sie noch am Leben? Waren sie auch gefangen genommen worden? Oder waren sie …

Nein, sie durfte nicht daran denken. Sie musste stark sein. Sie musste überleben.

Jetzt lag sie hier, inmitten des Camps der Janjaweed-Milizen, allein und verängstigt. Aber sie würde nicht aufgeben. Sie würde einen Weg finden, zu fliehen, zu überleben.

Adur schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Aber die Bilder des Überfalls kamen immer wieder hoch, die Geräusche der Milizionäre drangen in ihre Träume ein. Aber sie würde nicht aufgeben.

Die Nacht schien endlos, genau wie der Ritt hierher. Sie drehte sich vorsichtig und langsam auf den Rücken. Adur konnte die Sterne sehen, konnte den kühlen Wind auf ihrer Haut spüren. Sie konnte das Schnauben der Pferde hören und das gelegentliche Murmeln der Männer.

War sie wirklich allein? 

Nein. Neben ihr im Dunkeln lagen überall Körper. Adur kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das waren alle Kinder und Jugendliche aus ihrem Dorf. Einige konnte sie schon an den Mustern der Tücher erkennen, in die sie sich zum Schutz gegen die Kälte der Nacht auf dem Boden eingewickelt hatten.

Adur spürte plötzlich, wie der kühle Wind auffrischte, sie zittern ließ. Sie lauschte auf das ferne Schnauben der Pferde. Die Geräusche der Nacht schienen lauter zu werden, als ob sie jedes Knistern, jedes Rascheln, jedes leise Murmeln hören konnte. 

Und dann hörte sie es – Schritte.

Ihr Herz schlug schneller, als sie die Augen schloss und so still wie möglich blieb. Die Schritte kamen näher, leise und gleichmäßig. Sie konnte das Knirschen des feuchten Grases unter schweren Stiefeln hören. Ein leises Klimpern drang an ihr Ohr, das Geräusch von Metall, das aneinander schlug.

Adur wagte einen Blick durch ihre halb offenen Augen. Die Gestalt eines Mannes zeichnete sich im schwachen Mondlicht ab. Er war groß und breit, mit einer scharfen Silhouette gegen den Nachthimmel. An seinem Gürtel hing ein langes Messer, das im dunklen Licht leuchtete. In seinen Händen hielt er ein Gewehr.

Adur hielt den Atem an.

Der Mann ging langsam durch das Camp, sein Blick glitt über die am Boden liegenden Kinder und Jugendlichen. Er machte eine Kontrollrunde, er überprüfte, ob alles in Ordnung war. Jeder seiner Schritte ließ Adurs Herz lauter pochen.

Sie konnte den stechenden Geruch von Schweiß und Kautabak wahrnehmen, der von ihm ausging. Seine groben Züge waren im Dunkeln kaum noch zu erkennen, aber sie glaubte, die Kälte in seinen Augen zu sehen, die Gleichgültigkeit.

Adur spürte eine Welle von Angst über sich hinwegrollen. Sie fühlte sich so hilflos, so ausgeliefert. Sie konnte nichts tun, außer stillzuliegen und zu hoffen, dass der Mann sie nicht bemerkte.

Die Sekunden dehnten sich aus, als sich der Mann näherte. Adur vernahm sein leises Gemurmel. Ein unverständliches Gemurre in einer Sprache, die sie nicht verstand. Seine Schritte kamen näher und näher, bis sie den Atem des Mannes hörte.

Und dann war er vorbei.

Adur spürte, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel. Sie atmete leise aus und öffnete die Augen. Der Mann war weitergegangen, seine Schritte entfernten sich wieder. Regungslos blieb Adur liegen und lauschte dem allmählich leiser werdenden Geräusch seiner Stiefel.

Sie war sicher. Zumindest für den Moment.

Adur rollte sich vorsichtig auf die Seite und zog die Knie an den Körper. Sie versuchte, den Schmerz in ihrer Wade zu ignorieren und konzentrierte sich stattdessen auf die Geräusche der Nacht.

Die Sterne funkelten am Himmel und Adur blickte in die unendliche Weite des Universums. Sie fühlte sich so klein und unbedeutend unter dem riesigen Sternenhimmel. Und doch wusste sie, dass sie stark sein musste. 

Die Gedanken an ihre Eltern und ihren kleinen Bruder Anyuon brachten ihr Tränen in die Augen. Sie vermisste sie so sehr, die vertrauten Gesichter, die warmen Umarmungen, die liebevollen Worte. Sie vermisste ihr Zuhause, ihr Dorf, ihr Leben.

Wohin die Männer sie am nächsten Morgen wohl bringen würden? Wie sollte das alles weitergehen, was würde aus ihr werden?

RECHERCHE IN NAIROBI

Die Sonnenstrahlen drangen ungehindert durch die halbgeschlossenen Rollos in das Holzbüro von Michael Baumann in Nairobi. Er war umgeben von einem undurchdringlichen Dschungel aus Dokumenten, Berichten und Karten, die die komplexe Situation im Sudan aufzeigten. Ein wirres Durcheinander von Papier bis unter die Decke. Aufgeregt suchte er die neuesten Informationen über den Aufstand im Südsudan und die Anführer Riek Machar und John Garang.

Sein Blick war fest auf den Monitor gerichtet. Seine Finger tanzten über die Tastatur. Der deutsche Afrika-Korrespondent gab gezielte Suchbegriffe ein und durchforstete akribisch die Dokumente. Vor wenigen Tagen hatte er Machar und Garang, die verfeindeten Rebellenführer, in Nasir getroffen. Eine flüchtige Begegnung, ein kurzer Moment im Chaos. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sie zu interviewen. Angeblich würden sie Frieden schließen, um gemeinsam gegen den arabischen Norden zu kämpfen. Aber Michael hatte das Gefühl, dass im Hintergrund ein anderes Spiel gespielt wurde.

Die schwüle Hitze der Mittagssonne war ein Vorgeschmack auf die drückende Regenzeit, die bald über Kenia hereinbrechen würde. Dennoch ließ sich Michael nicht ablenken. Seine Stirn glänzte vor Anstrengung, aber sein Entschluss wuchs. In seinem Inneren tobte ein Sturm aus Ehrgeiz und Neugierde.

Die Zeit verstrich, während er sich in die Realität des Sudan vertiefte. Er spürte die Erzählungen der Menschen dort. Michael war entschlossen, die erforderlichen Details zu sammeln, um eine vollständige, idealerweise bewegende Geschichte zu verfassen.

Die Bilder auf dem Monitor flimmerten und wechselten nacheinander. Sie legten nach und nach die düstere Realität des Sudans offen. Michael betrachtete die Aufnahmen unschuldiger Opfer, Menschen, die in einem erbarmungslosen Konflikt gefangen waren, aus dem es für sie kein Entkommen gab. Das Leiden, das er auf den Bildern sah, erschütterte ihn zutiefst. Die kurzen, beschreibenden Texte ließen Wut und Empörung in ihm aufsteigen.

Diese Menschen hatten Namen. Jeder einzelne hatte seine eigene Geschichte und seine Familie. Sie waren keine abstrakten Zeilen in einem Bericht. Sie waren Gesichter des Leids, das er nun intensiver denn je wahrnahm. Ihre Not schien durch den Bildschirm hindurch spürbar zu sein und traf ihn mit unbändiger Wucht.

Michael Baumann schrieb auf seinem Notizblock, dass die meisten Sklavenraubzüge in Dafur stattfanden. Seine Aufzeichnungen wurden mit immer mehr Stichworten und Ortsnamen gefüllt.

Er las von den schrecklichen Taten, die Männer, Frauen und Kinder erlitten, die unter einem Regime der Unterdrückung und des Terrors trafen, getötet, entführt und versklavt wurden. Diese Informationen wurden nicht nur in Berichten der UNO bestätigt, sondern auch auf den Internetseiten zahlreicher Hilfsorganisationen. Das war für ihn alles nur eine Bestätigung für das, was ihm die blonde Katy Peach, die er in Nasir getroffen hatte, so emotional berichtet hatte. Es war unvorstellbar, was in Südsudan passierte.

MORGENMARSCH

Adur erschrak. Sie war wirklich noch einmal eingeschlafen. Aber jetzt hetzte das scharfe Knallen von Peitschen und die giftigen Rufe der Milizionäre sie aus dem Schutz ihrer Träume.

Adur richtete sich auf, ihre Glieder schmerzten von der ungewohnten Härte des Bodens. Ihr Blick streifte die Zeltplanen der Kämpfer, die sich wie gespenstische Silhouetten gegen den erwachenden Himmel abzeichneten. Staub wirbelte auf, als wieder ein Schlag niederging, gefolgt von einem verzweifelten Aufschrei.

Sie kannte diese Stimmen, waren es doch die gleichen, die sonst Lieder über die Felder trugen oder Geschichten am Feuer flüsterten. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie Tanisha und Safina erblickte, die beiden Schwestern, mit denen sie oft auf den Äckern gearbeitet hatte. Ihre einst leuchtenden Augen waren jetzt von Angst überschattet, ihr sonst so stolzer Gang gebrochen unter der Last der Fesseln.

Lisha, die Tochter des Viehhirten, saß in einer Ecke, zusammengerollt wie ein verängstigtes Tier. Ihre Arme umschlangen ihre Knie so fest, als könnte sie sich damit vor der grausamen Realität abschirmen. Ihr Gesicht war von Tränenfurchen durchzogen, und Adur spürte den Impuls, zu ihr zu gehen und Trost zu spenden. Doch eine unsichtbare Hand hielt sie zurück. Angst.

Und dann war da Achan. Sie war älter als die anderen Mädchen und hatte schon immer eine Mutterrolle für sie eingenommen. Jetzt aber lag eine tiefe Resignation in ihren Zügen. Ihre Augen wanderten müde von einem Mädchen zum anderen.

Beim Anblick ihrer Freunde und Bekannten aus Nyamell durchfuhr Adur ein Schmerz im Herzen. Zusammen waren sie aufgewachsen, hatten gespielt und gearbeitet – und nun erlebten sie gemeinsam dasselbe düstere Schicksal.

Ein neuerlicher Schrei riss Adur aus ihren Gedanken. Die Milizionäre schienen Freude an der Angst zu finden, die sie verbreiteten. Ihre Schatten bewegten sich bedrohlich im frühen Licht der aufgehenden Sonne.

Adur sah sich um; hier war niemand, der ihnen helfen würde.

Sie vernahm ihr leises Wimmern, das zwischen Angst und Entschlossenheit lag. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie mussten fliehen. Aber wie?

Adur richtete den Blick auf und schaute in die Augen ihrer Freunde. In allen erkannte sie dieselbe Kombination aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Doch in ihr selbst erwachte etwas anderes – ein Funke des Trotzes gegen das grausame Schicksal.

Ihr Blick fiel auf ein kleines Messer, das ein Wächter achtlos neben sich liegen gelassen hatte. Ihr Herz schlug schneller, als sie dachte, dass dieses Messer Freiheit oder Tod bedeuten könnte.

Sie wartete darauf, dass die Wachen abgelenkt wurden – eine Mahlzeit vielleicht oder ein Streit untereinander – etwas, das ihr einen Moment geben würde.

Dann war es so weit: Ein Streit brach unter den Milizionären aus; es ging um Beuteanteile oder eine Frau – Adur konnte es nicht verstehen und es war auch nicht wichtig. Wichtig war nur der Augenblick der Unachtsamkeit.

Adur war schnell und mutig. Sie griff nach dem Messer. Ihre Finger umklammerten den Griff so fest, dass sie weiß hervortraten.

Adur fühlte das kalte Metall des Messers in ihrer Handfläche, während ihre Augen alles vor sich fixierten. Ihre Finger zitterten kaum merklich, als sie die Klinge versteckte. Die hohlen Schreie der Milizionäre drangen als seltsame Mischung aus Furcht und Abscheu in ihre Ohren.

Sie zwang sich, aufzustehen und sich der Gruppe zu nähern. Ihre Schritte waren behutsam und bedacht, um kein Aufsehen zu erregen. Ihre Knie fühlten sich wacklig an.

Ihre Hände glitten über ihren Dit, strichen das einfache Tuch glatt. Sie konnte noch immer den Geruch von Rauch und Angst an dem Stoff riechen. Sie spürte ihre Mutter Aweng, die dieses Kleidungsstück mit so viel Liebe gewoben hatte.

Adur erhob die Arme und legte das Tuch um Kopf und Schultern. Dieses Tuch, das ihre Mutter für sie gewebt hatte, trug in jedem Muster und jeder Farbe eine besondere Bedeutung. Es war mehr als nur ein Stoffstück; es war ein Teil ihrer Heimat, ein Teil ihrer Identität.

Dann hörte sie die scharfen Befehle der Milizionäre. Sie wurden zusammengetrieben wie Vieh. Sie wurden in einer Reihe aufgestellt. Adur stand zwischen Lisha und Achan; ihre Hände waren fest ineinander verschränkt. Die Luft war von einem elektrischen Zittern erfüllt, das sie erfasste.

Der Fußmarsch begann. Es war kein gewöhnlicher Marsch; es war ein Marsch ins Unbekannte. 

Adur nahm wahr, wie ihre Füße auf den harten Boden auftraten, wie der Staub unter ihren Sohlen aufwirbelte und sich in ihren Augen festsetzte. Das laute Gelächter der Milizionäre drang in ihre Ohren und jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

Die Hitze der Sonne brannte auf ihrer Haut, und der Schweiß rann ihren Rücken hinunter. Ihre Kehle war trocken und staubig. Doch sie hielt durch, setzte einen Fuß vor den anderen.

Die Landschaft um sie herum verschwamm zu einer eintönigen, farblosen Masse. Adur vernahm das Schnauben und Stampfen der Pferde.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer Mutter Aweng und ihrem Vater Ahmed. Sie erinnerte sich an die sanfte Stimme ihrer Mutter, die ihr Geschichten über Dinka erzählte, an das tiefe Lachen ihres Vaters, wenn er vom Fischen zurückgekehrt war. Sie dachte an ihr Zuhause in Nyamell, die Wärme des Feuers und den Duft, wenn sie kochten. Ja, sie hatte Hunger, sie hatte Durst.

Um sich abzulenken, dachte sie dann an die schönen Nächte, in denen sie unter dem freien Himmel schliefen, an die Geschichten, die sie sich erzählten, während sie den Sternenhimmel beobachteten. Sie dachte an das sanfte Wiegen der Akazien im Wind und das beruhigende Rauschen des Wassers.

Aber all diese Erinnerungen schienen jetzt so weit entfernt zu sein, als ob sie aus einem anderen Leben stammten. Einem Leben, das nun für immer verloren war.

Eine Träne rollte Adurs Wange hinab und landete auf ihrem Dit. Rasch wischte sie sie weg, bevor jemand es bemerkte.

Die Blicke der Milizionäre trafen sie und sie zwang sich, starr geradeaus zu schauen. Sie würde nicht weinen, nicht vor ihren Augen. Keine Tränen würden sie sehen.

Und so setzten sie ihre Marsch fort, Schritt für Schritt, immer weiter ins Ungewisse.

DIE ERSTEN KONTAKTE

Die Sonne zog sich endlich hinter den majestätischen Eukalyptusbäumen im westlichen Teil des Anwesens in Nairobis Stadtviertel Lavington zurück.

Michael Baumann holte sein Mobiltelefon hervor und wählte die erste Nummer, die ihm Katy Peach gegeben hatte. Er fühlte die schwüle Hitze der Tropen auf seiner Haut und roch förmlich den Geruch der rostroten Laterit-Erde, während er auf eine Verbindung hoffte.

Seit er eines der ersten digitalen Handys in Nairobi erworben hatte, verlief das Telefonieren nahezu störungsfrei. Ein paar Herzschläge später nahm jemand den Anruf entgegen. »Hallo?«, ertönte die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Hallo, Michael Baumann hier«, begann er, seine Stimme klang entschlossen, doch eine Spur von Unsicherheit konnte er nicht verbergen.

Die Stimme an der anderen Seite wurde lebendiger. »Ah, Michael! Katy hat mir von dir erzählt. Wie kann ich dir behilflich sein?«

»Katy hat also mit dir gesprochen«, dachte Michael erleichtert. Er wusste zwar nicht, wer Hannes Kastner war, aber Katy hatte ihm versichert, dass er die richtige Person für seine Recherche war.

»Ich plane eine Recherche im Südsudan, speziell über die Sklaverei dort.«

Nach einer kurzen Stille folgte ein tieferes Einatmen. »Sklaverei im Sudan, das ist ein heikles Thema.«

Baumann nickte, obwohl sein Gegenüber es nicht sehen konnte. »Das weiß ich, Hannes. Aber ich kann als Journalist nicht länger untätig bleiben. Ich brauche jemanden, der sich in der Region auskennt, der Kontakte hat.«

Hannes Kastner dachte einen Moment nach.

»Katy hat mir versichert, dass du nicht nur ein Mann der Worte, sondern auch der Taten bist. Was auch immer sie damit meinte. Ich werde dir helfen, so gut ich kann. Wir können uns in Juba treffen, und von dort aus kann ich dir Türen öffnen. Aber Vorsicht, Michael, das ist nicht ungefährlich.«

»Ich bin mir dessen bewusst.«

Hannes Kastner kratzte sich deutlich hörbar nachdenklich den Bart. »Dann lass uns das angehen. Ich werde meine Kontakte mobilisieren. Schick mir deine Reisedaten per E-Mail. Wir werden sehen, wie wir dich tief in den Südsudan bringen.«

Michael fühlte Erleichterung. Der erste Schritt war getan. Die Reise in den Südsudan würde wichtig sein. Dort gab es keine Infrastruktur wie in Kenia, keine Hotels, Taxis, geschweige denn Flughäfen mit regelmäßigem Linienverkehr. Er würde dort auf fremde Hilfe angewiesen sein, brauchte Transport, Unterkunft und Menschen, die seine Sprache verstehen konnten. Hoffentlich hatte er dafür gerade den Grundstein gelegt.

Michael atmete tief durch und fiel auf seinen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er konnte die Anspannung, wie vor jeder solchen Reise, in seinen Schultern fühlen. Sie löste sich langsam. Die Worte von Hannes gaben ihm Hoffnung, dass er nicht allein in diese unsichere und vielleicht auch gefährliche Mission ziehen würde.

Seine Gedanken gingen kurz zu Katy Peach zurück, der britischen Entwicklungshelferin, die ihn mit Hannes in Kontakt gebracht hatte. Sie war eine beeindruckende Frau, voller Energie und Tatendrang. Und sie sah auch gut aus, erinnerte er sich. Katy hatte eindrucksvoll von den Gräueltaten im Südsudan berichtet, von den Geschichten der Opfer und der Mutigen, die gegen die Sklaverei kämpften. Ihr Engagement hatte Michael zutiefst beeindruckt und sein Verlangen gestärkt, diese Geschichte selbst zu erzählen und darüber zu schreiben.

Michael nahm seinen Laptop zur Hand und verfasste eine E-Mail an die Zentralredaktion in München. In dieser Nachricht würde er die Einzelheiten seiner bevorstehenden Reise und seine Ziele darlegen. Er beabsichtigte nicht, um Erlaubnis zu fragen, sondern lediglich zu informieren, dass er in den Südsudan reisen und eine Geschichte über die weiterhin bestehende Sklaverei mitbringen würde. Diese Reportage war zu bedeutsam, um sich von bürokratischen Hürden aufhalten zu lassen.

Während er schrieb, überlegte er, welche Gefahren auf ihn zukommen könnten. Der Sudan war ein Land, das vor allem von Gewalt und Unsicherheit geprägt war. Der Süden war ethnisch und politisch zerrissen. Der arabische Norden führte Krieg gegen den afrikanischen Süden. Die Menschen dort lebten von ihren Herden oder von dem, was sie anbauten, sofern sie nicht zuvor vertrieben worden waren. Alle Elemente des menschlichen Elends waren in diesem brodelnden Kessel vorhanden, ein sicheres Rezept: Hunger, Gewalt, Machtinteressen, ethnische Konflikte.

Aber er fühlte, dass er nicht länger warten konnte. Die Bilder der unschuldigen Opfer und die Geschichten derjenigen, die gegen die Sklaverei kämpften, trieben ihn an.

Nachdem die E-Mail fertig war, drückte Michael auf »Senden«. Es gab kein Zurück mehr. Er war auf dem Weg in eine unbekannte, wahrscheinlich gefährliche Welt.

Nachdem Michael die Mail geschickt hatte, fühlte er sich etwas erleichtert. Aber die Aufregung war nicht vorbei.

Sein nächster Schritt war, Bryan Smith zu kontaktieren, den Mann, der sich bei der International Christian Solidarity (ICS) für die Befreiung sudanesischer Sklaven aus dem Nordsudan einsetzte.

Er öffnete sein Adressbuch und wählte die Nummer von Bryan Smith.

Während das Telefon läutete, konnte er seine Gedanken nicht von den Geschichten abwenden, die er über Bryan gehört hatte. Ein Mann aus bescheidenen Verhältnissen, der seinen Weg von der Leitung einer kleinen Supermarktkette zu einer Berufung bei der ICS gefunden hatte. Ein Mann, der seinen christlichen Glauben in Taten umsetzte und fest an die Möglichkeit glaubte, das Leben Einzelner zu verbessern.

Schließlich nahm jemand ab, und eine näselnde, ruhige Stimme sagte: »Bryan Smith hier.«

»Bryan, mein Name ist Michael Baumann. Ich habe von Ihrer Arbeit bei der ICS gehört und würde gerne mit Ihnen sprechen.«

Es folgte eine kurze Pause, bevor Bryan antwortete. »Michael Baumann? Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind der Journalist, der über die Sklaverei im Sudan berichten will, nicht wahr?«

»Ja, genau. Ich plane eine Recherche im Südsudan und würde gerne mehr über Ihre Arbeit erfahren. Ich denke, wir könnten einander unterstützen.«

Michael spürte, dass Bryans Ton wärmer wurde. »Es freut mich, von Journalisten zu hören, die sich für dieses Thema interessieren. Die Sklaverei ist ein grausames Unrecht, wir bekämpfen das.«

Baumann konnte die Überzeugung in Bryans Stimme hören. »Da sind wir einer Meinung, Bryan. Ich möchte nicht nur über dieses Problem berichten, sondern auch die Welt oder zumindest Deutschland auf dieses Problem aufmerksam machen.«

Bryan nickte, Michael hörte es durch das Telefon förmlich. »Lassen Sie uns sprechen, Michael. Ich kann Ihnen dann mehr über unsere Arbeit erzählen und wie Sie uns unterstützen können.«

Baumann war überzeugt, dass er einen wichtigen Verbündeten gefunden hatte. Die Reise in den Südsudan wurde immer konkreter.

Nach dem Gespräch mit Bryan Smith fühlte sich Michael Baumann bereit, seine Reisevorbereitungen zu intensivieren. Er holte sein Handy hervor und wählte die Nummer einer Flugcharter-Firma, die ihn nach Juba im Südsudan bringen konnte. Er wollte so rasch wie möglich vor Ort sein, um mit seiner Recherche zu beginnen.

»Charter Aviation, wie kann ich Ihnen dienen?«, ertönte eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

»Guten Tag, mein Name ist Michael Baumann. Für meine Recherche im Südsudan benötige ich einen Flug nach Juba. Könnten Sie mir bitte sagen, wann das möglich ist?«

»Einen Moment bitte, ich werde das nachschauen«, antwortete die Stimme, gefolgt von einer kurzen Pause.

Michael nutzte die Zeit, um die bevorstehende Reise weiter zu planen. Er spürte die Unsicherheit und die Gefahren, denen er sich stellen müsste, doch er verdrängte sie schnell. Sein Entschluss stand fest.

»Entschuldigen Sie die Wartezeit. Wir haben morgen einen Flug von Nairobi nach Juba für eine Hilfsorganisation. Sie könnten mitfliegen, wenn Sie möchten«, erklärte die Stimme am Telefon. „Es ist noch ein Platz frei.“

Morgen. Michael war überrascht, dass er so schnell nach Südsudan kommen konnte. »Das klingt hervorragend. Bitte reservieren Sie mir den Platz auf dem Flug.«

»Natürlich, Herr Baumann. Ich notiere Ihre Reservierung. Der Flug startet morgen um 9 Uhr vom Nairobi Wilson Flughafen mit einem Zwischenstopp in Lokichokio. Bitte seien Sie rechtzeitig, etwa eine halbe Stunde früher, am Wilson Flughafen. Und bringen sie den Ticketpreis wie immer in US-Dollar bar mit.«

»Vielen Dank. Ich werde pünktlich sein.«

Michael beendete das Gespräch und lehnte sich für einen Moment zurück. Die Reise begann sehr konkret zu werden.

DAS WIEDERSEHEN

Sie waren Stunden gelaufen, immer geradeaus nach Norden. Auch wenn Adur immer mehr der Akaziensträucher aufgefallen waren, blieb die Landschaft karg. 

Der Boden war trocken, blieb brüchig, aber die Grasbüschel wurden fester, manche waren fast schon grün. 

Sie fühlte sich, als ob ihre Füße immer tiefer in den Boden gepresst wurden. Ihr Mund war trocken wie Pergament. Doch sie ging weiter, aufzugeben war keine Option.

Die Kämpfer der Janjaweed, die den Tross führten, hielten plötzlich abrupt an. Die gesamte Gruppe stand ruckartig still. 

Ein Kämpfer, wild fluchend auf seinem dürren Gaul, kam an Adur vorbei galoppiert und peitschte mit einem Lederriemen laut in die Luft. 

Adur sah auf. Es war das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit von verschwitzten Tagen und kalten Nächten, dass sie Wasser erblickte. Der kleine, unscheinbare Bachlauf schlängelte sich durch die trockene und rissige Landschaft, aber seine bloße Existenz brachte einen Funken Hoffnung in ihre ausgemergelten Körper.

Angetrieben von der Aussicht auf ein wenig Erholung begannen einige der ausgemergelten Milizionäre sofort ein provisorisches Camp aufzuschlagen. Sie zogen ihre Zelte mit Routine hoch und sammelten trockenes Holz für ein Feuer.

Adur und alle anderen Kinder zögerten nicht und machten sich auf den Weg zum Bach. Ihr Körper schrie nach Wasser, ihr Magen krampfte vor Hunger. 

Sie kniete am Bachrand nieder und trank hastig das kühle Nass. Das Wasser war klar und süß und wusch die Erschöpfung aus ihrem Körper.

Dann bemerkte sie den kleinen Jungen. Sein dunkler Teint hob sich kaum von der Umgebung ab, aber seine Augen leuchteten hell in der Sonne. Es war Anyuon, ihr Bruder. 

Adur fühlte sich von Erleichterung überwältigt.

»Anyuon!«, rief sie aus und lief zu ihm hinüber. Sie umarmten sich fest und Adur fühlte die warmen Tränen auf ihren Wangen.

Zu essen gab es wenig. Trockene Hirse-Fladen und schon abgenagte Knochen von Ziegen und Hühnern warf einer der Kämpfer vor ihnen auf den Boden. Es war kaum genug, um den Hunger zu stillen. Adur aß trotzdem. Sie musste bei Kräften bleiben.

Während sie kauten, tauschten sie Blicke aus. Sie sprachen nicht viel, aber ihre Augen sagten mehr als tausend Worte. Sie waren zusammen in der Hölle, aber nicht alleine. Adur und Anyuon hatten einander.

Mit dem Einbruch der Dunkelheit, die das karge Lager in einen Schleier der Unsichtbarkeit tauchte, kuschelte sich Adur eng an Anyuon. Sie kuschelte sich an seinen kleinen Körper. Sie suchte Trost in seiner Nähe. 

Sie spürte das gleichmäßige, ruhige Atmen ihres Bruders, ein sanfter, beruhigender Rhythmus der verwirrenden Gedanken und Ängste. Sie fühlte seine Wärme, eine vertraute, sanfte Wärme, die sich gegen ihre bebende Seite schmiegte. Eine kleine, aber bedeutsame Erinnerung an das Leben, das vor der abrupten und gewaltsamen Entführung stattfand – ein Hauch von Normalität und Geborgenheit inmitten der Dunkelheit.

Die Nacht war dunkel und still. Die Janjaweed schliefen tief und fest, nur gelegentlich unterbrochen von einem lauten Schnarchen oder einem Fluch im Schlaf. 

Adur lag wach und starrte in die Dunkelheit. Sie musste an ihre Eltern denken und an ihr einfaches Leben, das sie einmal geführt hatte.

ZWEIFEL UND ABENTEUER

Michael Baumann saß an einem schlichten Tisch aus Holz, der in seiner Küche in Nairobi stand. Draußen spielte die Sonne mit den Blättern der Bäume, während der Geruch von frisch zubereitetem Kaffee in der Luft hing. Er war nervös, als er seiner Frau Jojo die Neuigkeiten sagte.

»Jojo, ich muss wieder eine Reise antreten.« Er legte seine Hand auf Jojos warme Handfläche.

Jojo, mit ihren blonden Haaren und liebevollen, graublauen Augen, blickte ihn besorgt an. »Wie lange wirst du weg sein? Wohin geht es? Und ist es dort gefährlich für dich?«

Michael versuchte, ihre Sorgen zu beruhigen. »Ich denke, ich werde eine Weile weg sein, möglicherweise ein oder zwei Wochen. Aber keine Sorge, ich passe schon auf. Wie immer. Es soll eine Geschichte über Sklaverei im Sudan werden.«

Jojo seufzte, ihre Stirn zeigte leichte Falten. »Ich sorge mich immer um dich, Michael. Die Mädchen und ich werden dich vermissen.«

Michael lächelte, während er ihre Hand sanft massierte. »Ich werde zurückkommen, Jojo. Unkraut vergeht nicht. Und dann planen wir ein großes Safari-Wochenende, versprochen.«

Michaels Gedanken schweiften zu seinen drei Töchtern. Esther und Rachel, in Deutschland geboren, hatten bereits viele Teile der Welt gesehen. Die Jüngste, Ruth, erblickte in Nairobi das Licht der Welt. Er liebte sie alle. Der Gedanke, sie immer wieder für Tage, oft sogar Wochen zu verlassen, schmerzte sein Herz. Er wollte sie aufwachsen sehen, an ihrem Leben teilhaben, als Vater gegenwärtig sein. Doch er wusste, diese Reise musste sein.

Nachdem er Jojo offenbar beruhigt hatte, holte er mit seinem Geländewagen die beiden älteren Töchter vom Schulbus ab. Der Treffpunkt war Lavington Green, ein kleines, schlichtes Einkaufszentrum.

Die Sonne stand niedrig, als er den Haltepunkt erreichte. Und die goldenen Strahlen tauchten die Szene in ein warmes Licht.

Der Schulbus hatte bereits gehalten und die aufgeregten Kinder entlassen. Michael wartete auf die beiden Töchter, die aus dem Bus stiegen, strahlend und voller Lebensfreude.

Esther, mit zwölf Jahren die Älteste, war stets die Abenteuerlustige. Sie hatte das blonde Haar ihrer Mutter geerbt und Michaels Entschlossenheit. »Papa, ich möchte noch ein paar Süßigkeiten vom ‚dicken Inder‘ kaufen. Bitte?«, bat sie mit einem Lächeln, das ihn wie meistens schmelzen ließ.

Michael grinste, er konnte ihrem Wunsch einfach nicht widerstehen. »Na gut, aber beeil dich. Wir haben heute Abend noch viel zu besprechen.«

Die Mädchen rannten in den kleinen Laden, der bis zur Decke mit bunten Süßigkeiten und Leckereien gefüllt war. Michael stand draußen und sah, wie seine Töchter Süßigkeiten auswählten und fröhlich tuschelten.

Es roch frisch nach Süßigkeiten und frischem Brot. Der dicke Inder war ein freundlicher, tatsächlich übergewichtiger Mann, der den Laden führte. Er kannte die Familie Baumann und hatte immer ein Lächeln für sie parat. Michael atmete die vertraute Atmosphäre des Ortes ein und spürte die Geborgenheit einer bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft.

Seine Gedanken schweiften ab. Bald würde er diesen Ort verlassen. Aber für diesen kurzen Moment genoss er die Unbeschwertheit seiner Kinder und den Glanz des Alltags.

Daheim angekommen, begann Michael Baumann, seine Sachen zu verstauen. Ihm war bewusst, dass er für diese Reise bestens gerüstet sein musste. In den abgetragenen Rucksack legte er nützliche Kleidung, seine Laptop-Ausrüstung und essentielle Dokumente. Doch ein spezielles Stück durfte keinesfalls fehlen – seine heißgeliebte Fotokamera. Inmitten all der Risiken und dem Nervenkitzel würde er versuchen, die Momente einzufangen, um sie seinen Lesern zu präsentieren.

Als er die Kamera mit den verschiedenen Objektiven sorgfältig in seinen Rucksack legte, kamen ihm Gedanken an die vergangenen Reisen und die Geschichten, die er in Bildern erzählt hatte. Bilder können mehr sagen als Worte, und er hoffte, dass seine Fotos dazu beitragen würden, die schrecklichen Umstände der Sklaverei im Sudan zu enthüllen und zum Nachdenken anzuregen.

Nun war es an der Zeit, an die Sicherheit seines Geldes zu denken. Er öffnete sein Geheimversteck, eine Biografie über Friedrich II. von Gustav Seibt. Er zog vorsichtig einen Umschlag mit den vielen US-Dollar heraus und zählte 4.000 davon ab. In unsicheren Zeiten wie diesen war Vertrauen riskant. Ein Wandsafe wäre bei einem Einbruch nicht sicher genug. Michael war sich bewusst, dass finanzielle Reserven in kritischen Momenten lebensrettend sein können.

An diesem Abend lag Michael Baumann lange wach im Bett. Seine Aufregung über die bevorstehende Reise ließ ihn nicht mehr los.

Die Gedanken sprudelten und quirlten in seinem Kopf, während die Dunkelheit die Stunden verstreichen ließ. Warum ließ er sich immer wieder auf solche Risiken ein? Die Frage drängte sich wieder auf, ein Schatten, der ihn in Augenblicken der Stille heimsuchte.

Ein Bürojob in Deutschland hätte sicherlich ein friedlicheres Leben bedeutet, weniger Risiken, weniger Ängste für Jojo und die Mädchen. Er hätte ein bequemes Leben führen können, ohne ständig den Geistern der Ungewissheit zu begegnen. Die Antwort darauf fand er jedoch tief in seinem Inneren. Das Abenteuer, die Jagd nach der Wahrheit, das Bedürfnis, eine Stimme für die Stimmlosen zu sein, die Notwendigkeit, es selbst zu erleben, mit den betroffenen Menschen zu sprechen, sie zu verstehen und es anderen zu berichten, trieb ihn an.

Er war einmal ein idealistischer Pazifist, der überzeugt war, dass Gewalt niemals die Lösung sein würde. 

Seine Überzeugungen wurden jedoch durch die Realität in Somalia während der Hungerkatastrophe 1992 erschüttert. Die Welt war nicht so einfach, wie er angenommen hatte. Sie war voller Zweifel und moralischer Zugeständnisse.

Aber diese Erkenntnis hatte ihn seitdem oft in Konflikt mit sich selbst gebracht. Die Grenze zwischen seiner journalistischen Neugier und seiner bedingungslosen Neutralität war zunehmend unscharf geworden. Die Konflikte in Afrika und die enge Beziehung zu den Menschen hatten ihn immer zerrissen.

Die Welt ließ sich nicht in klare Kategorien von Gut und Böse einteilen. Michael war sich bewusst, dass seine Entscheidungen das Schicksal anderer beeinflussen konnten. Trotzdem wählte er den Weg des Journalisten, um die vielfältigen Schattierungen zu beleuchten und jenen zu helfen, die es am meisten brauchten. So lag er in der Dunkelheit seines Schlafzimmers.

Trotz seiner Zweifel freute er sich auf die Reise. Das Abenteuer rief.

KAPITEL ZWEI

​Der Auslöser

DER SCHEICH

Scheich Yassin thronte auf seinem glänzenden Rappen. Das karge Gelände spiegelte seine kalten, grausamen Augen wider, die das Camp um ihn herum beobachteten. Die meisten Kinder schliefen noch. Zumindest rührten sie sich nicht.

Der Rappen scharrte unruhig auf dem staubigen Sand. Scheich Yassin musterte seine Beute. 

Er gab die Anweisung, die Kinder zusammenzutreiben und sich aufzustellen. In finstere, lederne Gewändern gehüllt, erhob er sich wie ein Dämon aus der staubigen Hitze. Die Sonne blinzelte über den Horizont, aber Yassins Präsenz schien das Licht zu verschlucken.

»Scheich Yassin, wir haben die Kinder aus den Dörfern geholt. Ihre Eltern haben sich zu wehren versucht, aber wir haben sie zum Schweigen gebracht«, meldete einer der Milizionäre.

Die Kinder sammelten sich aufgeregt vor seinen Augen. Scheich Yassin ließ es sich niemals nehmen, die Beute persönlich in Augenschein zu nehmen. Er wollte immer in höchst eigener Person die Auswahl vornehmen; er hatte darin Erfahrung, welche der Sklaven sich nur für niedere Aufgaben eigneten, und bei welchen es sich lohnte, Zeit und Geld zu investieren, um richtig an ihnen zu verdienen.

Auch wenn das immer mit Mühsal und weiten Ritten verbunden war, dachte er sich. Khartum war angenehm, bequem und leicht. Aber hier draußen in der Steppe war er König, Richter über Tod oder Leben. Er liebte dieses Gefühl, genoss die Unterwürfigkeit seiner Kämpfer und fühlte sich stark und geachtet.

Scheich Yassin neigte den Kopf leicht und warf einen gefährlichen Blick auf die gefangenen Kinder. Die Kinder zitterten vor Furcht, als sie seinen Blick auf sich spürten. Die Mädchen, mit weit aufgerissenen Augen und erschrockenen Gesichtern, zitterten vor ihm. Sein eiskalter Blick ruhte auf ihnen, als könnte er direkt in ihre Seelen blicken.

»Wie oft muss ich euch erklären, dass diese Kinder uns gehören? Ihre Zukunft liegt in meinen Händen«, sagte er mit einer Stimme, die von Jahren der Grausamkeit heiser angeraut worden war. Er grinste mit einem schelmischen Lächeln, während er seine Worte genoss.

Die Luft füllte sich mit bedrohlichem Schweigen, nur unterbrochen vom hüstelnden Flüstern des Windes, der wie ein trauriger Zeuge durch die Wüste strich. Scheich Yassin trieb sein Pferd voran und ritt langsam auf die gefangenen Kinder zu. Sein Rappe schnaubte, als könnte er die Verzweiflung riechen.

»Habt ihr Angst?«, fragte er mit kalter Stimme. »Ihr Dinka werdet zu nützlichen Dienern für den heiligen Weg des Islam herangezogen. Dies ist eine Ehre, die euch widerfährt, obwohl ihr minderwertig seid.«

Ein kleines Mädchen, kaum älter als sieben Jahre, wagte es, den Blick zu heben und leise zu fragen: »Wann können wir wieder nach Hause?«

Scheich Yassin lachte voller Hohn, als ob das Lachen selbst eine Waffe wäre. Er hatte kein Wort verstanden, nur die Angst in der Stimme gehört. Er sprach kein Dinka – und die Kinder konnten nur selten etwas Arabisch.

Seine Augen strahlten Überlegenheit aus, während er die Gefangenen verächtlich ansah. »Versteht dies, Kinder, ihr werdet zu Dienern Allahs gemacht, und ich bin sein Werkzeug auf Erden. Euer Schicksal ist besiegelt, Widerstand ist zwecklos.«

Die Kinder senkten ihre Köpfe. Mit einem schnellen Handzeichen trieb er sein Pferd an und ritt zu seinen Männern.

»Teilt die Jungen von den Mädchen, und dann lass sie alle jeweils in einer Reihe antreten.«

Scheich Yassin genoss die Macht, die er über die Kinder hatte. Jedes Kind, das er auswählte, bedeutete mehr Geld in seinen Taschen und mehr Macht in seinen Händen. Seine Augen glitten über die zitternden Gestalten vor ihm.

»Du, Mädchen«, sagte er und zeigte auf ein Mädchen mit großen, ängstlichen Augen. Sie zuckte zusammen, als sein Finger auf sie zeigte. »Du kommst nach Khartum.«

Die anderen Kinder sahen sie neidisch an. Sie wussten nicht, dass Khartum für sie kein Ort des Glücks sein würde. Es war ein Ort der Sklaverei und Unterdrückung. Aber sie ahnten nicht, was auf sie zukam.

Die Auswahl ging weiter. Scheich Yassin sortierte sorgfältig aus, wer nach Khartum geschickt werden sollte und wer für einfache Hirtenaufgaben eingeteilt wurde. Die Jungen wurden meist zu Hirten gemacht. Nur eine kleine Gruppe von etwa zwei Dutzend Kindern sollte für Khartum vorbereitet werden.

Adur gehörte dazu.

Das kleine Mädchen stand mit großen Augen da, als der Scheich sie auswählte. Sie sah ihn an, und ihre Augen waren voller Panik und Verwirrung. Aber in ihrem Inneren glomm ein Funken Hoffnung. Möglicherweise könnte sie ihren Bruder wieder in Khartum finden. Aber noch war er nicht ausgewählt worden.

Scheich Yassin genoss das Gefühl der Kontrolle. Er sah das Funkeln in Adurs Augen und lächelte kalt. Das Mädchen würde bald erfahren, was es bedeutete, in Khartum zu leben.

Er sah sie an, dieses kleine Mädchen, das so viel Mut zeigte. Es war fast schade, dass sie eine Dinka war. Sie hätte in ein paar Jahren eine gute Dienerin für ihn abgeben können. Aber es war nun einmal so. Die Dinka waren minderwertig. Sie waren dazu bestimmt, einfache Sklaven zu sein.

Die Auswahl war beendet. Scheich Yassin blickte zufrieden auf die ausgewählten Kinder. Sie würden eine gute Summe einbringen. Und diejenigen, die er als Hirten eingeteilt hatte, würden seine Herden hüten und seinen Reichtum mehren oder an andere reiche Viehzüchter mit großen Herden an Kühen oder Ziegen verkauft werden.

Er wandte sich an seine Männer und befahl ihnen, die Kinder in ihre jeweiligen Gruppen zu teilen. Die Kinder wurden in verschiedene Richtungen abgeführt.

Scheich Yassin blieb allein zurück und blickte über das Camp. Er konnte Angst und Unsicherheit riechen. Es war der Geruch, den er liebte.

Er blickte auf eine lange Geschichte im Sklavenhandel zurück. Es war ein Geschäft, das seine Familie über Generationen hinweg betrieben hatte. Und er setzte diese Tradition fort.

Er wendete sein tänzelndes Pferd und ritt in Richtung seines Zeltes. Der Tag war noch nicht vorbei, und es gab noch einiges zu tun.

Aber er konnte es sich nicht verkneifen, einen letzten Blick auf die Kinder zu werfen, die er gerade für Khartum ausgewählt hatte. Sein Blick fiel auf das kleine Mädchen Adur und ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen.

Sie würde lernen, was es bedeutet, eine Sklavin zu sein. Sie alle würden es lernen.

ALLER ANFANG IST SCHWER

Die Beechcraft King Air 100 näherte sich dem Flughafen von Juba im Südsudan. Michael Baumann spürte die Spannung. Die Druckkabine dämpfte die Geräusche von draußen, jedoch konnte er das leichte Vibrieren des Flugzeugs wahrnehmen, als es sich in die Anflugposition begab.

Das Flugzeug begann mit der Landung. Michael saß auf dem einzigen Sitz, umgeben von Kisten voller lebensrettender Medizin und medizinischer Ausrüstung für die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Der Flughafen von Juba war in Sichtweite, eine Ansammlung von Gebäuden und einer Start-und-Landebahn inmitten der staubigen Landschaft des Sudan.

Als die Räder des Flugzeugs den Boden berührten, fühlte sich Michael Baumann erleichtert und aufgeregt. Seine Mission begann nun wirklich. Der Pilot lenkte das Flugzeug sicher auf das Rollfeld, wo bereits ein Team bereitstand, um die Hilfsgüter zu entladen. Sonst war weit und breit kein anderes Flugzeug zu sehen.

Michael schaute aus dem Fenster und sah, dass die Sonne bald am Horizont untergehen würde. Es war ein beeindruckender Anblick, doch er hatte keine Zeit. Seine Augen suchten den Flughafen ab, nach Hannes Kastner, dem Tierarzt und seinem Ansprechpartner. Er fragte sich, ob Hannes hier sein würde, um ihn abzuholen.

Schließlich hielt das Flugzeug an und die Turbinen verstummten. Einige Helfer öffneten die Ladeluke. Dann ging das Entladen los. Michael nahm seinen Rucksack, stieg aus der King Air und atmete die heiße, staubige Luft des Südsudans ein.

Als er nach Hannes Kastner suchte, wuchs seine Nervosität. Hoffentlich würde Hannes rechtzeitig auftauchen, um ihn abzuholen, einen Schlafplatz bereitzustellen und ihn in die Recherche einzuführen.

Als die letzten Kartons mit medizinischen Hilfsgütern aus der Beechcraft King Air 100 gehoben wurden, wandte sich Michael Baumann um und sah Hannes Kastner kommen. Hannes’ Gesicht war von der sengenden Sonne und dem staubigen Wind gegerbt, aber sein trockener Sinn für Humor blitzte in seinen Augen auf.

»Baumann, du siehst genauso aus, als hättest du gerade die Sahara durchquert«, bemerkte Hannes mit einem Augenzwinkern und einem Hauch von Sarkasmus in seiner Stimme.

Michael lächelte erleichtert. Hannes’ unverblümter Humor war ihm von Katy Peach bereits erzählt worden. »Du hast keine Ahnung, wie recht du hast. Die Hitze hier ist eine echte Herausforderung.«

Hannes Kastner kam näher und schüttelte fest Michaels Hand. Trotz seiner derben äußeren Erscheinung strahlte er Wärme aus. »Nun, willkommen im Südsudan, Baumann. Du hast einen wunderschönen Ort gewählt, um eine Geschichte zu finden.«

Michael fand Hannes selbstbewusst. Dennoch empfand er eine gewisse Verbundenheit. Beide waren hier, um Einfluss zu nehmen, wenngleich auf unterschiedliche Weise.

»Vielen Dank, Hannes. Ich habe bereits viel über deine Arbeit gehört und bin erleichtert, dass du mich hier abholst.«

Hannes Kastner schien kurzzeitig nachdenklich. »In Ordnung. Aber sei gewarnt, das hier ist kein einfacher Ausflug. Die Lage im Südsudan ist härter, als du dir das vorstellen kannst. Komm, wir gehen zu meinem Wagen. Ich werde dir einen kleinen Einblick in das wirre Geschehen hier geben.«

Während der Fahrt in dem ziemlich abgenutzten Geländewagen vom Flughafen Juba aus begann Hannes damit, von der Geschichte der Stadt zu erzählen.



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