Afalis und das Amulett des Seelenwanderers - T. W. Richter - E-Book

Afalis und das Amulett des Seelenwanderers E-Book

T. W. Richter

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Beschreibung

Vor zwei Jahren endete der langjährige Krieg zwischen den Sobekh (humanoiden Echsenwesen) und einem Bündnis aus Menschen, Sonnenelfen und Zwergen. Jetzt herrscht Frieden auf dem Kontinent Jotomia, den der Rat der Weisen sichern soll. Der 16-jährige Knappe Afalis liebt Bücher, die von großen Abenteuern erzählen und wünscht sich nichts sehnlicher, als selbst eines zu erleben. Als sein Herr, Ritter Leharan von Ehrenstein, zum Rat der Weisen gerufen wird und entscheidet Afalis mitzunehmen, geht sein Traum in Erfüllung. Bereits der Weg zum Rat ist geprägt von mysteriösen Begegnungen und Vorkommnissen. Das ist aber erst der Anfang einer aufregenden Reise, in deren Verlauf ein magisches Artefakt von einem fremden Kontinent mehr und mehr in den Mittelpunkt rückt. Band 1 der Afalis-Reihe. Fantasy für Jugendliche und Erwachsene.

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Afalis und das Amulett des Seelenwanderers

LandkartePrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19DanksagungÜber den AutorImpressum

Landkarte

Prolog

Der Traum

Die Geschehnisse, die in diesem Buch geschildert werden, ereigneten sich im Jahr 498 n. VS1.

Nach Jahrhunderten wiederkehrender Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Sonnenelfen, schlossen beide Seiten Frieden. Die Friedensverträge wurden im unabhängigen Stadtstaat Sandogan unterzeichnet. Das Jahr in dem dieses Ereignis stattfand, erklärten die zwei Völker zum Jahr 0 einer neuen, gemeinsamen Zeitrechnung.

Während den Friedensverhandlungen beschlossen die Magier beider Völker die Gründung eines gemeinsamen Ordens. Der Magierorden errichtete mitten im Gebirge im Grenzgebiet der beiden Reiche die Ephemu-Khatus2, die Akademie der Eintracht. An diesem Institut wurde das gesamte Wissen über Magie gesammelt und durch Forschung erweitert. Auch die jungen Magier wurden dort ausgebildet.

Die Akademie existierte bis 481 n. VS. In diesem Jahr verfiel der Vorsitzende des Magierordens, ein Mensch namens Sotalis Feuersang, dem Wahnsinn und ermordete jeden, der an der Ephemu-Khatus arbeitete oder unterrichtet wurde.

Auf dieses Massaker, bei dem fast alle Magier des Kontinents ums Leben kamen, wird im Verlauf der nun folgenden Schilderungen mehrfach Bezug genommen.

Silanar Morgenschein erwachte an diesem Morgen schweißgebadet. Er hatte lange keinen dieser prophetischen Träume mehr gehabt und keiner war so erschreckend gewesen, wie der heute Nacht. Seit ungefähr acht Jahren offenbarten sich den Mitgliedern des Rates der Weisen hin und wieder Visionen in ihren Träumen und niemand hatte bisher ergründen können, warum. Da sie ihnen halfen Lösungen für Probleme zu finden, mit denen der Rat konfrontiert wurde, fragte irgendwann keiner mehr nach deren Ursprung.

Der Rat der Weisen war im Jahr 487 n. VS gegründet worden und Silanar war eines der Gründungsmitglieder gewesen. Jedes der vier großen Völker des Kontinents Jotomia sendete den Weisesten aus seiner Mitte als Vertreter in den Rat. Es gab einen Weisen der Zwerge, einen der Sonnenelfen, einen der Sobekh3und einen der Menschen. Der Vertreter der Menschen war Silanar, ein kleiner Mann mit grauem, langem Haar und dunkelbraunen Augen, in denen man all sein Wissen und seine Lebenserfahrung sehen konnte. Und mit seinen 92 Jahren verfügte er, für einen Menschen, über sehr viel Lebenserfahrung.

In den vergangenen Jahren hatte er jede Vision deuten können, darum verwunderte es ihn umso mehr, dass es ihm diesmal nicht gelingen wollte. In seinem Traum hatte er allein auf einem Hügel gestanden, inmitten einer nicht enden wollenden Ebene. Plötzlich brach über ihm ein Gewitter los. Der Himmel verfinsterte sich so sehr, dass nichts mehr zu erkennen war. Aber Silanar spürte, dass sich etwas näherte und als die Ebene für einen Augenblick von einem Blitz erleuchtet wurde, sah er, dass er von tausenden schrecklichen Wesen umringt war. Einige hatten Flügel und schwebten in der Luft und die anderen standen auf der ganzen Ebene verteilt. Ihm fiel auf, dass keines der Geschöpfe Augen hatte. Ein Gefühl sagte ihm, diese Wesen könnten die Welt, wie er sie kannte, vernichten, sollte sie niemand aufhalten. In diesem Moment erschienen aus allen vier Himmelsrichtungen je zwei Lichtstrahlen, die direkt auf den Hügel zurasten, auf dem er stand. Als sich diese Strahlen trafen, wurde der Himmel gleißend hell erleuchtet und das Gewitter verzog sich. Sofort begannen die Wesen zu schreien und sie schmolzen, wie Wachs in einer Flamme. Die Lichtstrahlen zogen sich dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Silanar wurde von den beiden mitgerissen, die nach Norden verschwanden und konnte erkennen, woher sie gekommen waren. Sie begannen in Antero, dem Reich der Menschen. Der eine kam aus einer kleinen Burg an einem See und der andere aus einer Festung mit dicken Mauern, die von hohen Hecken umgeben war. Genau in diesem Moment war er aufgewacht.

Nun stand er vor dem Rätsel, was ihm dieser Traum sagen wollte. Er hatte nur erkennen können, dass diese Geschöpfe eine Gefahr darstellten, die der Welt bevorstand und dass die Strahlen, was auch immer sie waren, die Welt beschützen würden. Er beschloss, sofort die anderen Mitglieder des Rates zu fragen, was sie von all dem hielten. Also machte er sich auf den Weg von seinem spärlich eingerichteten Schlafzimmer in den Ratsraum, in dem sich der Rat jeden Morgen versammelte.

Während der lebenslangen Mitgliedschaft im Rat durfte man die Insel, auf der er seinen Sitz hatte, nicht verlassen. Jeder der vier Weisen hatte daher ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer, in die er sich zurückziehen konnte. Das Hauptgebäude, in dem sich diese Räumlichkeiten befanden, hatte die Form einer Pyramide und war aus blauem, glänzendem Gestein erbaut. Der Ratsraum lag oben in der Spitze. Seine Wände waren blau gestrichen und unterhalb der Pyramidenspitze fiel Sonnenlicht herein, obwohl man keine Fenster erkennen konnte. Im Zentrum des Raumes stand ein großer, runder Tisch aus weißem Marmor, um den vier blaubezogene, gepolsterte Stühle standen, auf deren Rückenlehnen in Gold die Namen der Weisen eingestickt waren.

Silanar betrat den Raum, in dem die anderen bereits anwesend und in ein Gespräch vertieft waren. Als sie ihn eintreten sahen, unterbrachen sie die Diskussion und kamen auf ihn zu. Sie schienen sich über irgendetwas nicht einig zu sein und wollten jetzt seine Meinung hören.

„Silanar, endlich wir warten schon“, begrüßte ihn Hyl-Khanya4, die Weise der Sonnenelfen, die vor drei Jahren zum Ratsmitglied ernannt worden war, nachdem ihr Vorgänger Lyt-Mentu verstorben war. Die große Frau hatte ihr langes, schwarzes Haar hinter ihren spitzen Ohren zusammengebunden. Ihre Haut schimmerte goldbraun und ihre grünen Augen hatte sie mit einem schwarzen Kohlestift betont. Sie trug ein weißes ärmelloses Kleid und wie immer viel Goldschmuck um Hals und Arme.

Der Unterschied zwischen Sonnenelfen und Menschen bestand in den spitzen Ohren, der dunkleren Hautfarbe und der höheren Lebenserwartung der Elfen von bis zu 600 Jahren. Hyl-Khanya war 476 Jahre alt, wirkte aber von ihrem Äußeren nicht älter als 30. Sonnenelfen alterten optisch ab ihrem dreißigsten Lebensjahr nicht weiter.

„Warum wartet ihr? Wir treffen uns jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit“, antwortete Silanar.

„Wir hatten alle diesen seltsamen Traum heute Nacht. Du nicht?“, fragte ihn Komgnur Komgnurson. Der Zwerg war 1,4 Schritt5groß und hatte einen kräftigen Oberkörper und verhältnismäßig kurze Beine. Sein langer weißer Bart hing über den Brustpanzer der schwarzen Rüstung, die er immer trug. Er hatte bleiche, gelbliche Haut und helle, fast farblose Augen. Der Grund dafür war die Tatsache, dass Zwerge vor allem unterirdisch lebten und selten die Sonne sahen. Ihr Reich Magromarok lag größtenteils unter dem Domu-Morut-Gebirge, das sich im Westen und Süden Anteros erhob. Im Süden bildete es einen Großteil der Grenze zum Reich der Sonnenelfen, Nysu-Tuos.

„Doch, ich hatte einen erschreckenden Traum. Und wahrscheinlich war es derselbe, den ihr hattet.“

„Wahrscheinlich war es derselbe. Wann hört ihr anderen endlich damit auf etwas anzunehmen? War es derselbe oder nicht?“, mischte sich Logdush ein, der Weise der Sobekh.

Logdush war erst vor zwei Jahren dem Rat beigetreten. Damals ging der lange Krieg zwischen den Sobekh und den anderen Völkern zu Ende. Die Sobekh mussten sich ergeben, da sie einer Übermacht gegenüberstanden und nichts mehr ausrichten konnten. Anfangs hatte es so viele von ihnen gegeben, dass ihre Verluste nicht weiter ins Gewicht gefallen waren, aber nach 13 Jahren Krieg waren sie so dezimiert worden, dass sie den Kampf endgültig verloren hatten.

Mitverantwortlich für ihre Niederlage war der Rat der Weisen gewesen, der gegründet worden war, um die Zusammenarbeit zwischen Menschen, Zwergen und Sonnenelfen besser zu organisieren. Nach dem Sieg über die Sobekh hatte der Rat seine Aufgabe erfüllt.

Heute sollte er den Frieden zwischen den Völkern sichern, deshalb hatte auch ein Sobekh beitreten müssen. Da Logdush sein Volk in den Krieg geführt hatte, war eine Bedingung des Friedensvertrages sein Eintritt in den Rat gewesen, um ihn unter Kontrolle zu haben. Die Weisen hatten kein weiteres Blutvergießen provozieren und die Sobekh durch eine harte Bestrafung ihres geliebten Anführers wieder aufstacheln wollen.

Nach seinem Massaker an der Ephemu-Khatus hatte Sotalis Feuersang Logdush als ersten Soldaten für seine Armee erschaffen, mit der er seinen Vernichtungszug fortsetzen wollte. Eigentlich sollte der Sobekh keinen eigenen Willen haben und den Befehlen des Magiers blind gehorchen. Sotalis hatte aber einen Fehler beim Schöpfungsritual gemacht und so wurde aus Logdush kein willenloser Sklave, sondern ein intelligentes Wesen, das sogar die Magie seines Schöpfers beherrschte.

Zuerst führte der Sobekh alle Befehle ohne Widerrede aus, da er sich seiner Macht nicht bewusst war. Aber nach wenigen Wochen bemerkte Logdush, welche Kräfte er besaß und begann sich zu weigern, seinem Herrn zu gehorchen. Diesem wurde jetzt klar, dass etwas bei der Erschaffung schief gegangen sein musste und er entschied, seine Kreatur wieder zu töten. Das war ein großer Fehler, denn Logdush wehrte sich und es gelang ihm seinen Schöpfer zu vernichten. Erst nach Ende des Krieges erfuhren die Bewohner Jotomias, was Logdush getan hatte und warum Sotalis spurlos verschwunden war. Der Krieg wurde durch sein plötzliches Verschwinden leider nicht verhindert.

Mit der Macht, die Logdush besaß, begann er weitere Sobekh zu erschaffen. Sein Volk wurde immer größer und das Gebiet rund um die Akademie der Eintracht im Domu-Morut-Gebirge bot nicht mehr genug Platz. Um neuen Lebensraum zu erobern, formte er aus den Sobekh ein riesiges Heer, dessen Führung er übernahm. Ein sehr kleiner Teil seiner Soldaten entwickelte nach der Schöpfung magische Fähigkeiten. Diese Sobekh bezeichnete er als Beschwörer. Das Heer bestand aus einigen dieser Beschwörer und tausenden Kriegern. Mit dieser Armee begann er die Völker Jotomias zu terrorisieren und gründete in den eroberten Gebieten sein Reich. Keines der Völker hatte sich allein gegen die Sobekhmassen wehren können.

Obwohl jetzt Frieden herrschte, waren die Sobekh unter den anderen Völkern immer noch verhasst. Auch Logdush hatte sich überwinden müssen, mit den einstigen Feinden zusammenzuarbeiten.

Sobekh wurden um die zwei Schritt groß und ihre Haut war aschgrau und geschuppt. Sie hatten gelbe Augen, ein breites Echsengesicht und eine flache Nase. Aus ihrem ebenfalls breiten Mund ragten die vier spitzen Eckzähne hervor, selbst wenn sie ihn schlossen.

Logdush war ein sehr großer Sobekh. Mehr konnte niemand über ihn sagen, da er sich immer in einen roten Umhang hüllte und seine Kapuze weit ins Gesicht zog.

„Es tut mir leid, Logdush, aber ich kann nicht Gedanken lesen wie du“, wendete Silanar ein.

Logdush behauptete, dass er diese Fähigkeit, genau wie die magischen Kräfte, von seinem Schöpfer übertragen bekommen hatte, aber jeder, der Sotalis gekannt hatte, war sich sicher, dass dieser nie Gedanken lesen konnte. Um die Gedanken einer Person zu lesen, musste er Augenkontakt halten.

„Das ist ja das Problem. Wärt ihr auch dazu fähig, könnten wir uns diese ewigen Diskussionen ersparen“, meinte der Sobekh.

„Logdush, lass ihn erzählen, was er geträumt hat, dann können wir erfahren, was du schon weißt“, entgegnete Komgnur genervt. Logdush ging zur schrägen Wand und lehnte sich dagegen, während Silanar schilderte, was in seinem Traum geschehen war. Als er geendet hatte, erklärte Hyl-Khanya: „Der Anfang des Traums ist bei uns allen identisch, aber dann wird jeder von zwei anderen Strahlen mitgerissen, die an Orten im jeweiligen Heimatland enden.“

„Habt ihr eine Idee, was uns dieser Traum sagen will und was das für Kreaturen sind? Ich hab nur so viel deuten können: Die Wesen stehen für eine Bedrohung und diese Strahlen sind die einzige Rettung.“, sagte Silanar.

„Wir konnten bis jetzt auch nicht mehr herausfinden“, erwiderte Hyl-Khanya. Logdush fing an zu lachen und kam zurück zu den anderen: „Zu was seid ihr eigentlich nütze? Ich dachte Träume deuten wäre euer Spezialgebiet. Ihr behauptet immer die Träume helfen euch Lösungen für Probleme zu finden. Heute erlebe ich zum ersten Mal einen dieser Träume mit und schon versagt ihr.“

Er sah jedem der drei tief in die Augen und damit auch in die Gedanken.

„Du sollst nicht ungefragt unsere Gedanken lesen“, fuhr Hyl-Khanya ihn an, aber anstatt zu antworten, fiel er auf die Knie, krallte die Hände in seine Kapuze und stöhnte laut auf.

„Was ist los?“, fragte Komgnur verwundert und die anderen beiden sahen den Sobekh überrascht an. Dieser richtete sich langsam auf und brachte nur mit Mühe hervor: „Nichts, mir geht es gut.“

Bevor eines der Ratsmitglieder weiter nachhaken konnte, sprach Logdush mit festerer Stimme weiter: „Ich glaube, ich kann einen Teil des Traums jetzt deuten.

nach den Verträgen von Sandogan

Aussprache Sonnenelfisch: ph ≙ f; kh ≙ ch:Efemu-Chatus

Humanoide Echsenwesen

Aussprache Sonnenelfisch: y vor Konsonant ≙ i; y vor Vokal ≙ j:

Hil-Chanja

1 Schritt ≙ 1 m

Kapitel 1

Ein geheimnisvolles Geschenk

„Afalis, steh auf. Der Herr ruft dich.“

Afalis war ein großer, schlanker Junge von 16 Jahren mit braunen, kurzen Haaren und grünen Augen. Er hatte ein schmales Gesicht und seine Ohren standen leicht ab. Verschlafen öffnete er die Augen und richtete sich langsam auf. Vor seinem Bett stand Fias, der langjährige Diener seines Herrn Leharan. Es handelte sich um einen kleinen, kräftigen Mann mit grauen Locken, der bereits in die Jahre gekommen war, genau wie seine Kleidung. Das weiße Hemd, die schwarze Hose und der viel zu enge Frack waren bereits an einigen Stellen geflickt.

„Es ist noch so früh, was will er denn jetzt schon?“, fragte Afalis, der gerne länger geschlafen hätte.

„Ich weiß es nicht. Leharan hat nur gesagt ich soll dich zu ihm schicken“, erwiderte Fias und verließ den Raum. Da Afalis keine andere Wahl hatte, kroch er aus seinem großen Himmelbett, zog sich an und machte sich auf den Weg durch die Burg zum Speisesaal, wo er seinen Herrn beim Frühstück vermutete.

Sein Zimmer lag ganz oben im südlichen Eckturm der renovierungsbedürftigen Burg. Es gab vier dieser Türme, in jeder Ecke des quadratischen Hauptgebäudes einen. Vor dem Bau befand sich ein großer Burghof, umgeben von der inneren Mauer, deren Tor immer offen stand. Hier fand man den Zugang zur Waffenkammer und den Kampfübungsplatz. Davor lag ein weiterer Hof auf dem sich die Ställe, der Garten und ein Wohnhaus für die Bediensteten befanden. In diesem Haus wohnten drei Personen: Fias, Elsa die Köchin und Semi der Stallbursche, Afalis bester Freund. Umschlossen war alles von der hohen Außenmauer mit großem Gittertor. Burg Ehrenstein lag erhöht auf einem Hügel oberhalb des Ortes Seewies. Man hatte von der Festung einen wunderschönen Blick über das Städtchen und den Brynsee, an dessen Ostufer es lag. Durch den See im Süden Anteros an den Ausläufern des Domu-Morut-Gebirges zog sich die Grenze zum Reich der Sonnenelfen, Nysu-Tuos.

Als Afalis im Speisesaal ankam, sah er, dass noch jemand außer seinem Herrn an der großen hölzernen Tafel saß. Neben einem steinernen Kamin, in dem kein Feuer brannte, war sie der einzige Einrichtungsgegenstand. Auch die Wände waren fast kahl, nur das Familienwappen seines Herrn, Ritter Leharan von Ehrenstein, hing über dem Kamin. Das Wappen zeigte eine Burg auf rotem Grund in der oberen Hälfte und in der unteren weiße Wellen auf blau.

Der Gast war ein Mann mittleren Alters in der hellblauen Uniform der Boten des Rates der Weisen. Auf der Brust war eine dunkelblaue Pyramide eingestickt, das offizielle Symbol des Rates.

„Afalis, komm her und setz dich“, befahl Leharan. Dieser tat wie geheißen und nahm seinem Herrn gegenüber Platz.

Leharan wandte sich an den Boten: „Das ist er, Afalis, mein Knappe. Und wie ich bereits sagte, nehme ich den Auftrag nur an, wenn er mich begleiten darf. Auf dieser Reise kann er viel mehr lernen, als hier auf der Burg.“

„Das mag sein, aber der Rat hat mich geschickt, um Euch in die Halle der Weisen zu holen und sonst niemanden“, erwiderte der Bote.

„Ich habe viel Respekt vor der Weisheit des Rates und bisher jeden Auftrag ohne Widerrede angenommen, um dem Rat zu dienen. Diesmal aber werde ich mich weigern, sollte es mir nicht gestattet sein meinen Knappen mitzunehmen.“

Afalis hoffte, dass Leharans Worte Wirkung zeigten, da er seinen Herrn unbedingt auf diese Mission begleiten wollte, egal worum es ging. Das wäre endlich eine Gelegenheit für ihn, all das, was er bisher nur aus Büchern und Erzählungen kannte, selbst zu erleben.

Vor zwei Jahren, als der Krieg zu Ende gegangen war, konnten die Ritter der goldenen Schwinge, die mächtigsten Verteidiger des Reiches der Menschen nach Hause zurückkehren, so auch Leharan.

Kurz nach dessen Rückkehr war Afalis in die Bibliothek der Burg eingebrochen, weshalb man ihn zu Leharan brachte, der seine Strafe bestimmen sollte. Dieser fand Gefallen an dem aufgeweckten Jungen und nahm ihn als seinen Knappen auf. Von diesem Tag an lebte Afalis auf Burg Ehrenstein und wurde in allem unterrichtet, was er als Ritter beherrschen musste. Diese Ausbildung würde noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Um sie abzuschließen, würde Afalis eine Prüfung vor dem Großmeister des Ordens in Taloshaven ablegen müssen, der Hauptstadt des Menschenreichs Antero. Erst nach Bestehen dieser Prüfung würde Afalis zu den besten Kriegern der Menschen zählen, den Rittern der goldenen Schwinge.

Obwohl man sie als Krieger bezeichnete, bestand die Aufgabe des Ordens ausschließlich darin die Menschheit und ihre Verbündeten zu beschützen. Sie durften nur dann töten, wenn es zum Schutz anderer unausweichlich war.

Der Bote erhob sich und sagte zu Leharan: „Nehmt Euren Knappen mit zum Rat der Weisen, der wird dann entscheiden, ob er Euch bei dieser Aufgabe zur Seite stehen darf oder nicht.“

Leharan begleitete ihn bis zur Türe, bevor er zu Afalis an den Tisch zurückkehrte und sich wieder setzte.

„Herr, um was für einen Auftrag handelt es sich, bei dem ich dich begleiten soll?“, wollte Afalis wissen.

„Das kann ich dir nicht genau sagen. Der Rat hat mich und sieben weitere Personen für eine Mission ausgewählt. Welche Aufgabe unserer Gruppe bevorsteht, wusste der Bote nicht.“

Afalis wunderte sich, dass sein Herr mit fast 60 Jahren noch einmal für solch eine Mission ausgewählt wurde. Leharan hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf und sein langer Bart färbte sich mehr und mehr grau. Er sah zwar noch muskulös aus, aber wenn sie für den Kampf trainierten, musste er immer wieder kurze Pausen einlegen. Sein Alter und die vielen Kämpfe während des Krieges schienen ihn stärker geschwächt zu haben, als er zugeben wollte. Seine Kampferfahrung wird der Gruppe aber auf alle Fälle eine große Hilfe sein, dachte Afalis.

„Herr, wann müssen wir zur Halle der Weisen aufbrechen?“, erkundigte er sich.

„Man erwartet uns in 14 Tagen am 16. Sommertag1. Da wir mindestens zehn Tage unterwegs sein werden, brechen wir Übermorgen auf, um rechtzeitig anzukommen. Wir brauchen die zwei Tage, um alle Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Mit dem Schiff wären wir zwar schneller, aber ich betrete diese Dinger nur, wenn ich keine andere Wahl habe. Als Kind wäre ich fast im Brynsee ertrunken und seitdem traue ich Itema2nicht mehr.

Außerdem werden wir noch Halt in Sandogan bei meinem Freund Ifilias Eisenbrand machen. Er ist einer der besten Schmiede Jotomias und ich möchte ihn bitten etwas für uns anzufertigen.“

Afalis wusste nicht viel über Sandogan, aber was er gelesen hatte, machte den Stadtstaat interessant genug. Es war der einzige Ort, in dem Sonnenelfen und Menschen seit Jahrhunderten zusammen lebten. Sandogan wurde „Stadt der Türme“ genannt und lag auf einer Halbinsel am Südufer des Brynsees. Er war gespannt darauf diese Stadt mit eigenen Augen zu sehen.

An diesem und am kommenden Tag waren alle auf der Burg schwer beschäftigt. Afalis, Leharan und die drei Bediensteten bereiteten alles für die Reise vor. Am Morgen des zweiten Tages fragte Afalis seinen Herrn, ob er noch einmal in die Stadt dürfe, um sich von Batos zu verabschieden, was Leharan natürlich erlaubte. Batos Freidank war ein Radakos-Priester3, bei dem Afalis zwei Jahre gelebt hatte.

Afalis wuchs in einem kleinen Dorf namens Grünbach auf, in das seine Eltern kurz nach seiner Geburt gezogen waren. Als er ein Jahr alt war, starb seine Mutter Mira bei der Geburt seiner Schwester. Auch das Baby überlebte nicht. Sein Vater Fedor, der Jäger gewesen war, gab seinen Beruf auf, weil er sich nun um Afalis kümmern musste. Von da an schnitzte er kleine Tierfiguren, die er auf dem Markt verkaufte. Damit verdiente er nicht viel, konnte aber zu Hause bei seinem Kind arbeiten. Als Afalis sechs Jahre alt war, entschied sein Vater in die nächste Stadt, Seewies, zu ziehen, weil er dort mit mehr Kundschaft rechnete. Außerdem kam der Krieg ihrer Heimat gefährlich nahe. Unterwegs verletzte sich der Vater an seinem Schnitzmesser und kurz nachdem sie die Stadt erreicht hatten, starb er an einer Blutvergiftung. Das Messer war das Einzige, das er seinem Sohn hinterließ.

Die nächsten Jahre lebte Afalis zusammen mit anderen Straßenkindern vom Betteln und Stehlen in Seewies, wohin der Krieg zum Glück nie kam. Eines Tages tauchte Batos, der Priester, bei den Straßenkindern auf, kümmerte sich um sie und las ihnen Geschichten vor. Afalis war vor allem von den Abenteuergeschichten begeistert und bat den Priester, ihm Lesen und Schreiben beizubringen, wozu dieser sich bereiterklärte. Batos war nicht nur Priester, sondern vielseitig interessierter Gelehrter. Er unterrichtete Afalis auch in Mathematik und anderen Wissenschaften, obwohl dessen Interesse mehr der Literatur galt. Während des Unterrichts wurden die beiden gute Freunde und schließlich durfte Afalis bei Batos wohnen. Dafür musste er im Haushalt helfen.

Schon bald kannte Afalis alle Bücher des Priesters fast auswendig. Als er dann von der Bibliothek auf Burg Ehrenstein erfahren hatte, entschied er sich, dort neuen Lesestoff zu besorgen und wurde schließlich Leharans Knappe.

Gemeinsam mit seinem besten Freund Semi, dem Stallburschen, machte sich Afalis auf den Weg zu Batos. Semi war zwar zwei Jahre älter als sein Freund, aber fast zwei Köpfe kleiner. Er hatte strohblondes Haar, das ihm in alle Richtungen vom Kopf stand und eine freche Stupsnase. Um seinem kindlichen Aussehen entgegenzuwirken, ließ er sich einen Bart wachsen, der bisher jedoch nicht mehr als ein Flaum war.

Sie verließen die Burg und folgten der gepflasterten Straße den Hügel hinunter in die kleine Stadt Seewies am Brynsee. Es wohnten ungefähr 3.000 Menschen in dem Ort, dessen Stadtbild von Fachwerkhäusern geprägt war. Es gab einen kleinen Hafen, der aus drei Holzstegen bestand, an denen Fischerboote lagen. Im Zentrum befand sich der Marktplatz mit dem Tempel des Radakos, einem runden Gebäude mit gläsernem Dach. Daneben stand das Haus von Batos. Rund um den Platz hatten verschiedene Handwerker ihre Werkstätten und am Westende fand man das einzige Gasthaus des Städtchens „Zum schlängelnden Aal“.

Kaum näherten sich die beiden Jungen der Stadt, kam ein rotblondes Mädchen mit Sommersprossen auf sie zugelaufen und rief schon von weitem: „Hallo Afalis!“

Nicht die schon wieder, dachte dieser. Als sie ihn erreichte, sagte sie sofort: „Ich hab dich ja ewig nicht gesehen. Hast du keine Zeit mehr für mich?“

„Hallo Amira, ich war eben beschäftigt“, antwortete Afalis und lächelte gequält.

„Wir müssen auch gleich weit…“

Da fiel ihm Semi ins Wort: „Afalis geht morgen auf große Reise. Er darf Leharan zur Halle der Weisen begleiten und dort bekommen sie einen Auftrag.“

Afalis warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu, denn Amira brach in Begeisterung aus.

„Das ist ja der Wahnsinn. Mein Afalis wird ein Held“, jubelte sie. Nachdem sie ein besticktes Stofftaschentuch aus ihrer Tasche geholt hatte, sprach sie weiter: „Das schenke ich dir als Glücksbringer. Du kannst es an dein Schwert binden. Es wird dich beschützen und du wirst mich nicht vergessen.“

Afalis erwiderte: „Ich weiß nicht, wie mich so ein Stück Stoff beschützen soll. Ein Schild wäre sicher hilfreicher. Außerdem habe ich dir doch gesagt, dass wir nicht füreinander bestimmt sind. Gib dein Taschentuch lieber jemandem, der es zu schätzen weiß.“

Amiras blaue Augen füllten sich mit Tränen und sie warf ihr Taschentuch auf den Boden. Dann wandte sie sich um und rannte enttäuscht davon.

Während Semi ihr kopfschüttelnd nachschaute, sagte er zu seinem Freund: „Ich verstehe dich einfach nicht. Ständig erzählst du mir, dass du deine Traumfrau finden willst. Und dann behandelst du das hübscheste und netteste Mädchen der Stadt, das dich schon ewig anhimmelt, immer so abweisend.“

„Ich glaube an die wahre Liebe. Ich bin sicher, dass es für jeden den einen perfekten Partner gibt“, antwortete Afalis voller Überzeugung.

„Und wenn du dieser Person nie begegnest?“

„Caresa4wird dafür sorgen. Vielleicht wartet irgendwo eine wunderschöne Prinzessin darauf, von mir gerettet zu werden.“

„Dir ist schon bewusst, dass du in der Realität und nicht in einem deiner Bücher lebst?“

„Das Leben schreibt die besten Geschichten, sagt man doch. Komm jetzt, wir müssen weiter, Batos wartet.“

„Wenn du das Taschentuch nicht willst, nehme ich es eben“, verkündete Semi grinsend und Afalis gab mit genauso breitem Grinsen zurück: „Du kannst das Taschentuch und Amira haben.“

Die beiden Jungen gingen weiter. Sie überquerten den kleinen Wiesbach, der die Ortsgrenze markierte. An ihm wuschen Hausfrauen ihre Wäsche und ein Mühlrad drehte sich langsam. Kurz darauf standen die beiden inmitten der Stadt auf dem Marktplatz. Hier herrschte reges Treiben, denn wie jeden Tag fand bis zwölf Uhr mittags der Markt statt. Bauern aus der Umgebung verkauften ihre Erzeugnisse, wie Obst, Gemüse, Milch und Fleisch. Auch die Fischer boten ihren Fang vom frühen Morgen an.

Als die zwei Freunde über den Markt in Richtung Batos Haus schlenderten, kamen sie an einem rotgestrichenen Wohnwagen eines fahrenden Händlers vorbei, auf dem in großen goldenen Lettern geschrieben stand „Takazulus Wundersame Waren“. An dem Wagen war ein altes, dürres Pferd angebunden und davor stand ein Tisch, der mit Öllampen aus Messing, in Silber gerahmten, zerbrochenen Spiegeln, Hellseherkugeln und anderem vollgestellt war. Der Verkäufer war nirgends zu sehen, trotzdem traten die beiden wie in Trance näher, um die wundersamen Dinge genauer zu betrachten.

Sie stöberten in den Gegenständen und Semi wollte nach einem Amulett an einer silbernen Kette greifen, das auf dem Tisch lag. Es bestand aus einem ovalen dunkelblauen Stein, umrandet von einer schmalen, schlichten Silbereinfassung. Auf der matten blauen Oberfläche befanden sich fremdartige weiße Symbole, bei denen es sich wahrscheinlich um Schriftzeichen handelte. Plötzlich kam von Hinten eine fast schwarze Hand über Semis Schulter geschossen, packte sein Handgelenk und riss ihn herum. Auch Afalis wandte sich um. Dort stand ein ungefähr fünfzigjähriger Mann mit so dunkler Haut, wie er sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Der Fremde musste aus Zarkuta stammen. Afalis erinnerte sich, gelesen zu haben, dass nur auf diesem fernen Kontinent Menschen mit schwarzer Hautfarbe lebten.

Der Zarkutaner hatte langes graues Haar, das zu vielen dünnen Zöpfen geflochten war und ein glatt rasiertes Gesicht. Er war in farbenfrohe weite Gewänder gehüllt und lächelte breit, wobei seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen. Für einen kurzen Augenblick hatte Afalis das Gefühl dieses Lächeln schon einmal gesehen zu haben. Dieser Gefühlseindruck war bereits wieder verschwunden, als der Dunkelhäutige mit fremdländischem Akzent sagte: „Tut mir leid, Junge, aber dieses Artefakt ist nicht für dich bestimmt.“

„Was ist das denn?“, wollte Afalis wissen.

„Es ist ein magisches Amulett, das seinen Träger vor Schaden schützt“, antwortete der Mann.

Semi ließ seine Hand sinken und der Griff um sein Handgelenk wurde gelöst. Der Stallbursche, dem der Dunkelhäutige nicht geheuer zu sein schien, massierte sein Handgelenk und flüsterte: „Komm, wir gehen weiter, Afalis.“

Der Zarkutaner schüttelte den Kopf.

„Nein, noch nicht! Das Amulett ist zwar nicht für dich bestimmt, aber für deinen Freund.“

Er wandte sich an den verdutzten Afalis: „Mein Name ist Takazulu und ich weiß, dass du zu einer Reise aufbrechen wirst. Dir stehen Gefahren bevor, die du unbedingt überleben musst. Wir werden dich noch brauchen. Damit dir nichts geschieht, übergebe ich dir dieses Schutzamulett aus meiner Heimat.“

Afalis war völlig perplex. Woher wusste der seltsame Fremde, dass er morgen verreiste? Würde die Reise zum Rat der Weisen wirklich gefährlich werden? Und wer brauchte ihn noch und vor allem wofür? Trotz all dieser Fragen griff Afalis nach dem Amulett, als Takazulu es ihm reichte und nahm es in die Hand. Der Stein fühlte sich vollkommen glatt und leicht warm an. Während er die geschwungenen Schriftzeichen betrachtete, wollte Afalis den zarkutanischen Händler um weitere Erklärungen bitten: „Wofür werde…“

„Alles zu seiner Zeit. Es ist nur wichtig, dass du das Schutzamulett trägst“, unterbrach ihn Takazulu sofort. Afalis sah auf, um einen zweiten Versuch zu starten, aber der Dunkelhäutige war verschwunden. Auch Semi hatte nicht mitbekommen, wohin der Fremde gegangen war, weil er sich, genau wie sein Freund, auf das Amulett konzentriert hatte. Die beiden umkreisten den Wagen und blickten durch ein Fenster hinein, aber sie fanden den Händler nicht. Trotz Takazulus mysteriösem Verschwinden, entschied sich Afalis das Geschenk mitzunehmen. Die Gefahren, die der Zarkutaner ihm vorausgesagt hatte, beunruhigten ihn einfach zu sehr. Er würde auf dem Rückweg von Batos noch einmal nach dem seltsamen Mann suchen.

Afalis war in Gedanken versunken und hielt das Amulett in der linken Hand. Immer noch völlig irritiert, kratzte er sich alle paar Schritte am Hinterkopf. Plötzlich stand er vor Batos Haustür. Dies realisierte er erst, als Semi anklopfte.

Auf die Türe war ein stilisiertes Auge gemalt, das Zeichen von Radakos dem Allsehenden. Das Symbol und sein Namenszusatz verdeutlichten, dass er jedes Leben genau beobachtet. Nur wer nicht sündigt und gute Taten vollbringt, wird von ihm als würdig erachtet und darf nach dem Tod in das Reich ewiger Glückseligkeit aufsteigen. Alle die Böses tun stürzen in die Finsternis der Unterwelt. Afalis schwor sich bereits als Kind, ein möglichst guter Mensch zu sein, weil er seine Eltern im Jenseits wieder sehen wollte. Ritter der goldenen Schwinge zu werden und andere zu beschützen, war genau die richtige Aufgabe, um den Schwur zu erfüllen. Darum hatte er keine Sekunde gezögert, als Leharan ihm anbot dessen Knappe zu werden.

Hastig steckte Afalis das Amulett in seine Tasche und verdrängte die wirren Gedanken, die um die Begegnung mit Takazulu kreisten. Nach abermaligem Klopfen scharrte es hinter der Türe des kleinen einstöckigen Hauses. Afalis kannte die Prozedur und wusste, dass Batos schwer mit dem Riegel zu kämpfen hatte. Nach mehrfachem Ächzen von innen, wurde die Türe endlich geöffnet und Batos Kopf kam zum Vorschein. Als er die Jungen bemerkte, wich sein prüfender Blick einem breiten Lächeln.

„Afalis und Semi schön, dass ihr den alten Batos besuchen kommt. Herein mit euch“, hieß er sie willkommen. Beide grüßten ihn freundlich und schoben sich an ihm vorbei ins Innere des Hauses. Sie warteten im engen, dunklen Flur bis die Türe wieder verschlossen war und folgten ihm in die Küche. Vom Flur gingen noch zwei weitere Türen ab. Hinter der einen befand sich Batos Schlafzimmer und die andere führte in das Arbeitszimmer voller Bücher, in dem Afalis damals geschlafen hatte.

„Ihr kommt rechtzeitig zum Essen, ich koche gerade. Ich war vorhin auf dem Markt und habe Fisch gekauft“, erklärte der Priester. Afalis und Semi setzten sich an den Küchentisch, während Batos zu seinen Töpfen ging und dort herumwerkelte. Die Küche war nicht groß und nur mit dem Nötigsten eingerichtet. In einer Ecke befand sich der Herd, daneben hing ein Regal für die Kochutensilien und unter dem Fenster stand der Holztisch mit drei harten Stühlen.

Batos war ein großer Mann gewesen, aber das Alter war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Seine gebückte Haltung ließ ihn inzwischen kleiner erscheinen. Ihm wuchs nur noch ein weißer Haarkranz auf dem Kopf und er hatte einen kurzen Bart, den er jeden Morgen trimmte. Da er auf ein gepflegtes Äußeres Wert legte, achtete er auch darauf, dass seine gelbe Robe stets sauber war.

Beim Kochen stellte sich Batos nicht besonders geschickt an. Er war eben ein Gelehrter und weniger ein praktischer Mann. Immer wenn er den Deckel vom Fischtopf anhob um hineinzuschauen, schlug seine Halskette mit dem Zeichen von Radakos dagegen und er ärgerte sich jedes Mal darüber. Trotz seines hohen Alters konnte er sich über solche Kleinigkeiten energisch aufregen, aber immer ohne zu fluchen.

Über seinen Rücken hinweg fragte er die beiden: „Was führt euch zu mir?“

Der Essensgeruch riss Afalis endgültig aus seinen Gedanken und so antwortete er: „Ich wollte mich von dir verabschieden.“

Batos drehte sich verwundert zu ihm um.

„Warum verabschieden, wohin willst du denn gehen?“

Afalis begann zu erzählen: „Gestern kam ein Bote des Rates zu uns, um Leharan in die Halle der Weisen zu holen, wo ihm der Rat einen Auftrag erteilen wird. Er will mich unbedingt mitnehmen, weil ich auf der Reise viel lernen kann.“

„Um was geht es bei dem Auftrag?“, fragte Batos interessiert.

„Das konnte der Bote uns nicht sagen. Er wusste nur, dass der Rat eine Gruppe aus acht Personen bilden will und Leharan dafür auserwählt wurde.“

„Sehr ungewöhnlich. Normalerweise überbringen die Boten die Aufträge und man wird nicht erst zum Rat gerufen. Es muss eine bedeutende Mission sein, wenn man nicht einmal dem Boten traut. Ich hoffe, das wird nicht zu gefährlich für dich. Du bist erst zwei Jahre in der Ausbildung“, sagte Batos und klang besorgt.

„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich weiß, dass ich gut genug bin, um jede Bedrohung zu meistern und das werde ich allen beweisen. Warum traut mir immer keiner etwas zu?“, erwiderte Afalis mit lauter Stimme.

„Natürlich traue ich dir viel zu. Aber die Einstellung, allen beweisen zu müssen, dass du der Beste bist, könnte dich in Gefahr bringen. Ich bitte dich nur auf Leharan zu hören und keine Alleingänge zu machen. Ein wenig Bescheidenheit würde dir manchmal nicht schaden“, war der gut gemeinte Rat von Batos.

„Warum hältst du mir ständig Vorträge, wenn ich bei dir bin? Kannst du dich nicht einfach mit mir freuen, dass mein Wunsch nach Abenteuern endlich in Erfüllung geht.“

„Ich freue mich sogar sehr. Aber ich will nicht, dass dir etwas geschieht. Lasst uns nachher weiterreden. Jetzt wird gegessen. Die Suppe ist fertig“, sagte Batos und ging zum Herd, um drei Schalen mit Fischsuppe zu füllen.

Semi rief begeistert: „Na endlich, ich komm noch um vor Hunger.“

So etwas sagt man nur, wenn man Batos Kochkünste nicht kennt, dachte Afalis. Seine Befürchtungen trafen ein, die Suppe schmeckte wie immer nach nichts. Keiner der Jungen ließ es sich anmerken und sie aßen tapfer auf.

Nach dem Essen entschied sich Afalis Batos das Schutzamulett zu zeigen, um ihn zu beruhigen.

„Schau mal Batos was ich geschenkt bekommen habe. Ein Amulett, das mich vor Schaden schützen soll. Hast du so etwas schon einmal gesehen?“

Batos kniff die Augen zusammen und betrachtete das Artefakt sehr gründlich. Dann schüttelte er den Kopf.

„Nein, so etwas habe ich noch nie gesehen. Ich kann nicht einmal erkennen, woraus es gemacht ist. Wo hast du das her?“

„Ich habe es von dem fahrenden Händler auf dem Markt bekommen“, erklärte Afalis.

Batos wunderte sich: „Was für ein fahrender Händler? Ich habe keinen gesehen, als ich einkaufen war. Ich glaube, ich habe hier in Seewies noch nie einen fahrenden Händler gesehen.“

Afalis und Semi sahen sich überrascht an. Den roten Wagen konnte man nicht übersehen haben.

„Ein Zarkutaner namens Takazulu, der kuriose Gegenstände verkauft“, antwortete Afalis.

„Ein Mann aus Zarkuta in Seewies?“

„Ja, er wusste, dass ich morgen verreise und meinte ich würde dieses Amulett aus seiner Heimat brauchen“, ergänzte Afalis noch. Dass man ihm große Gefahren vorausgesagt hatte, verschwieg er Batos. Der machte sich schon genug Sorgen.

„Mehr hat er über dieses Amulett nicht gesagt?“, fragte der Priester weiter.

„Nein, als ich weitere Informationen haben wollte, würgte er mich ab und war plötzlich spurlos verschwunden.“

„Das klingt nicht sehr vertrauenswürdig. Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll. Du musst vorsichtig mit dem Amulett sein. Wer weiß, welche Macht es wirklich besitzt. Es könnte gefährlich sein. Ich habe zwar schon von Schutzamuletten gehört, die zum Beispiel vor Feuer schützen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass dieses hier das auch kann. An deiner Stelle würde ich es nicht tragen, solange du dir nicht sicher bist, was es tut.“

„Ich will auf dem Rückweg noch einmal mit dem Händler sprechen. Er wird seinen Stand nicht lange unbeaufsichtigt lassen. Wir müssen sowieso wieder los. Leharan hat bestimmt noch Aufgaben für mich. Die Reisevorbereitungen sind nicht ganz abgeschlossen“, sagte Afalis und Batos meinte sofort: „Ich komme mit. Ich will wissen, wer dieser geheimnisvolle Zarkutaner ist.“

Also steckte Afalis das Amulett ein und die drei gingen zurück auf den Marktplatz, wo keine Spur mehr von dem roten Wagen zu finden war. Die Bäuerin am Gemüsestand gegenüber berichtete ihnen, dass Takazulu seinen Stand zusammengepackt hatte und weggefahren war, kurz nachdem Afalis und Semi gegangen waren.

„Das gefällt mir ganz und gar nicht. Afalis, bitte noch einmal, gehe vorsichtig mit diesem Ding um“, wiederholte Batos seine Warnung.

„Ich verspreche dir aufzupassen, aber mitnehmen werde ich es auf jeden Fall. Sollte es so wirken, wie der Zarkutaner gesagt hat, kann ich nicht darauf verzichten. Ich werde es aber erst tragen, wenn ich mir sicher bin, dass es schützt. Danke für das Essen und die guten Ratschläge.“

Die beiden umarmten sich zum Abschied und der Priester wünschte alles Gute mit den Worten: „Möge der Allsehende über dich wachen.“

Afalis drehte sich am Ende des Marktplatzes noch einmal um und winkte Batos, der noch mitten auf dem Platz stand und ihm nachsah.

Zurück auf der Burg fragte Afalis seinen Freund: „Sehen wir uns heute Abend noch?“

„Nein, das wird leider nichts. Ich muss noch was für Leharan erledigen“, erwiderte Semi und weckte damit Afalis Neugier.

„Was musst du abends für ihn erledigen?“

„Etwas abholen“, war die unbefriedigende Antwort, woraufhin Afalis noch einmal nachhakte: „Was abholen? Kannst du mich nicht mitnehmen?“

„Nein, du kannst nicht mitkommen und hör auf mich zu löchern“, versuchte Semi das Gespräch zu beenden, aber Afalis gab nicht auf.

„Warum?“

„Weil es eine Überraschung sein soll“, entschlüpfte es dem Stallburschen, was er sofort sichtlich bereute, da er sich auf die Lippe biss. Afalis wusste, jetzt durfte er nicht aufgeben und fragte noch: „Für mich?“

„Vergiss es, ich hab schon zu viel gesagt. Ich muss los. Wir sehen uns morgen früh vor deiner Abreise“, sagte Semi, bevor er in Richtung Ställe verschwand. Afalis überlegte noch kurz, was für eine Überraschung es sein könnte, kam aber auf die Schnelle zu keinem Ergebnis. Er sollte sich besser auf den Weg zu Leharan machen.

Afalis durchquerte das zweite Tor, das zum inneren Ring der Burg führte, lief über den Schwertkampfübungsplatz und betrat das Hauptgebäude. Während er die Stufen des Nordturms zur Bibliothek hinaufstieg, wo sich Leharan befand, dachte er an Takazulus Worte und es überkamen ihn auf einmal Zweifel, ob er wirklich bereit für sein erstes Abenteuer war. Noch hatte er die Möglichkeit einfach wegzulaufen. Er hatte schon einmal auf der Straße gelebt und würde es wieder können. Als er oben vor der Türe stand, verbannte er diese feigen Gedanken. Leharan brauchte ihn und er wollte doch ein Held werden, wie die Hauptpersonen seiner Lieblingsgeschichten. Er öffnete die Türe und leistete damit den inneren Schwur, dass er zu dieser gefährlichen Reise aufbrechen würde.

Leharan lief hektisch im Raum umher, zog ein Buch aus dem Regal, blätterte es durch, murmelte „wo habe ich es nur“ und stellte es zurück. Das nächste Buch öffnete er, drehte es um und schüttelte es. Als nichts herausfiel, legte er es auf einen Stapel am Boden. Er hastete quer durch den Raum, holte ein weiteres Buch aus dem Regal, las den Titel, rief „das ist es“ und nachdem er es wieder geschüttelt hatte „Mist, doch nicht!“.

Afalis ging auf seinen Herrn zu.

„Ich bin aus der Stadt zurück, wobei kann ich helfen?“

Leharan hatte Afalis bisher nicht bemerkt und zuckte erschrocken zusammen, bevor er den Jungen über seine Schulter hinweg ansah.

„Ja, helfen, gut, dass du... Du könntest… Moment, ich muss mich erst sammeln.“

Leharan schloss die Augen und beruhigte seinen Atem, dann wandte er sich wieder an Afalis: „Wie war es in der Stadt? Gab es etwas Interessantes? Wie geht es Batos?“

Afalis plauderte vom Markt, erzählte von der Begegnung mit Amira und schließlich, dass Batos wohlauf sei, aber immer noch ein miserabler Koch. Das Amulett erwähnte er nicht, weil er keine Lust hatte, sich noch einmal anhören zu müssen, es könnte gefährlich sein. Das wusste er selbst. Leharan lauschte den Erzählungen und vergaß dabei seine Aufregung. Über die geschmacklose Fischsuppe lachte er ausgiebig.

Dann schien er zu überlegen, was noch zu erledigen war, bevor er sagte: „Ich habe weiter in der Bibliothek zu tun. Ich muss etwas suchen.“

Leharan strich sich durch den Bart.

„Geh in den Garten und sammle die Heilkräuter, die ich in diesem Buch markiert habe.“

Er drückte Afalis ein Buch in die Hand mit dem Titel „Pflanzen Anteros und ihre Wirkung“. Dieser stand ungläubig da. Er hatte mit einer anspruchsvolleren Aufgabe gerechnet.

„Glaube mir, die Kräuter werden uns nützlich sein. Los, ans Werk. Bis zum Abendessen hast du Zeit.“

Afalis machte sich auf den Weg in den Garten. Er ging die Treppe hinunter, über den Hof und durch das innere Tor. Dahinter wandte er sich nach rechts und folgte der Mauer, bis er den umzäunten Garten erreichte. Er betrat ihn durch das kleine Gartentor und sah sich erst einmal um. Bisher hatte er sich nicht für die Pflanzen hier interessiert, daher wusste er auch nicht, wo die Kräuter angepflanzt waren. Auf der Suche kam er an Gemüsebeeten und Beerensträuchern vorbei und fand schließlich ganz hinten ein Beet, in dem verschiedene Kräuter wuchsen. Afalis öffnete das Buch und schaute sich die markierten Pflanzen genau an. Als er die Bilder im Buch mit den Kräutern vor sich verglich, stellte er fest, dass sich viele ähnlich sahen. Er sammelte hoffentlich die richtigen Blüten und Blätter ein und steckte sie in einen Beutel.

Afalis war schneller fertig geworden als gedacht und hatte noch ein wenig Zeit bis zum Abendessen. Also ging er in sein Zimmer, um zu packen. Hier herrschte vollkommenes Chaos. Überall lagen Kleidungsstücke, Bücher und anderer Krimskrams, wie selbst geschnitzte Tierfiguren, herum. Ich muss wirklich öfter aufräumen, dachte er sich.

Zuerst suchte er seinen Lederrucksack, in den er alles packen wollte. Eigentlich sollte dieser am Haken neben der Türe hängen, aber da war er nicht. Auch auf seiner Kommode und im Schrank fand er ihn nicht. Er sah unter dem Bett nach und dort lag der leicht verstaubte Rucksack. Afalis hatte keine Ahnung, wie er dort hingekommen war, aber so ging es ihm oft. Ordnung halten war keine seiner Stärken. Er stellte den Rucksack aufs Bett. Dann suchte er Kleidung für alle Wetterlagen zusammen und stopfte sie hinein. Aus einer Kommodenschublade holte er ein kleines Messer in einer Scheide heraus. Es war das Schnitzmesser seines Vaters, das einzige Andenken an ihn. Da Afalis selbst gerne zur Entspannung schnitzte, wollte er es auf alle Fälle mitnehmen. Er steckte es in eine der Seitentaschen des Rucksacks. Jetzt fehlte nur noch sein Schwert. Es lag in der Waffenkammer und er würde es erst morgen früh vor der Abreise holen.

Die verbleibende Zeit nutzte er, um das Schutzamulett weiter zu untersuchen. Nachdem er es aus seiner Hosentasche geholt hatte, betrachtete er das blaue Material mit den weißen Schriftzeichen darauf, die für ihn keinen Sinn ergaben. Mit einem Finger fuhr er die geschwungene Schrift auf der glatten Oberfläche entlang.

Plötzlich wurde das Amulett warm, wie in dem Moment, als er es das erste Mal berührt hatte. Dann leuchtete die Schrift kurz auf und zu Afalis Überraschung sprang ein Deckel auf, obwohl er vorher weder ein Scharnier, noch einen Spalt am silbernen Rand ertastet hatte. Im Inneren des Amuletts fand er einige längliche dunkelrote Blütenblätter, die von einem schmalen gelben Streifen umrandet waren. Er nahm sie heraus, um sie sich genauer anzusehen. Kaum hatte er das getan, schnappte die Öffnung wieder zu und er ließ erschrocken die Blätter fallen. Auf dem Amulett blieb kein Anzeichen für den Deckel zurück und es ließ sich nicht wieder öffnen. Afalis hatte keine Erklärung, wie das sein konnte, aber er kannte sich auch nicht mit Magie aus.

Er sammelte die Blätter wieder ein und sah sie sich an. Eine Blume mit solchen Blüten kannte er nicht. Um herauszufinden, zu welcher Pflanze sie gehörten, nahm er sich das Kräuterbuch und suchte darin. Doch egal wie oft er es durchblätterte, er konnte keine passende Pflanze finden. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass die Blütenblätter wichtig sein könnten und entschied sie mitzunehmen. Da er sie aber nicht einfach zu den anderen Kräutern packen wollte, musste er sie anders verstauen. Er sah sich im Zimmer nach einer Lösung um und fand sein Lieblingsbuch „Die Legende von Antero und Talos“auf dem Boden. Es handelte von den beiden Brüdern, die vor fast 2.000 Jahren die ersten Menschen nach Jotomia geführt hatten. Die Blütenblätter steckte er zwischen die Seiten des Buches und packte es in den Rucksack. Dann stopfte er das Amulett in die zweite Seitentasche. Jetzt war Zeit fürs Abendessen. Er hängte den Rucksack an den Haken und ging in den Speisesaal.

Als er eintraf, saß Leharan bereits auf seinem Platz an der Stirnseite der gedeckten Tafel. Es standen zwei Teller und zwei Gläser auf dem Tisch, aber noch kein Essen. Im Speisesaal war es unerträglich heiß. Obwohl es ein sonniger Frühsommertag gewesen war, brannte Feuer im Kamin.

„Willst du, dass wir schmelzen?“, fragte Afalis und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Da müssen wir durch. Ich will die Kräuter so schnell wie möglich trocknen, damit wir sie einpacken können. Ich hoffe, du hast alle gefunden.“

„Ich denke schon“, antwortete Afalis und reichte ihm den Beutel.

„Einige Pflanzen sehen sich sehr ähnlich. Hoffentlich habe ich nichts verwechselt.“

Leharan stand auf und ging zum Kamin. Während er die Kräuter zum Trocknen ausbreitete, sprach er: „Soweit ich sehen kann, hast du alles richtig gemacht.“

Er kehrte zurück zum Tisch und setzte sich zu Afalis. Kaum saß er, ging die Türe auf und Elsa, die Köchin, kam herein. Sie trug ein Tablett, auf dem ein großer, knuspriger Schweinebraten, Kartoffeln und eine herrlich duftende Soße standen. Elsa war eine ältere, kräftige Frau mit roten Wangen, die immer fröhlich lächelte. Sie stellte das Tablett ab und mit ihrem breitesten Lächeln sagte sie: „Zum Abschied habe ich euch das Lieblingsessen von Afalis gekocht. Ich wollte, dass ihr vor eurer Abreise noch etwas richtig Gutes zu Essen bekommt. Lasst es euch schmecken. Und kommt mir bloß wohlbehalten zurück, für wen soll ich denn sonst kochen?“

Afalis, der sich seinen Teller schon gefüllt hatte, erwiderte lachend: „Keine Sorge, ich passe auf den Herrn auf und bringe ihn gesund zurück.“

„Der Junge hat recht, uns passiert schon nichts. Ihm tut sowieso keiner etwas, weil ihn jeder gleich ins Herz schließt. Sogar meine Köchin kocht seine Lieblingsspeise statt meiner“, fügte Leharan hinzu und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Es ist doch seine erste Reise. Ich muss zurück in die Küche, um den Proviant für euch einzupacken. Schlaft gut und bis morgen“, verabschiedete sich Elsa und verschwand. Die zwei langten kräftig zu und aßen so viel sie konnten. Es schmeckte köstlich. Nach dem Essen wünschten sich beide eine gute Nacht und gingen zu Bett, da sie im Morgengrauen aufbrechen wollten.

Afalis konnte nicht schlafen, er war viel zu aufgeregt. Morgen würde es endlich losgehen. Schließlich musste er doch eingeschlafen sein, denn er erwachte, als es an seine Türe klopfte. Er fühlte sich, als habe er höchstens fünf Minuten geschlafen, aber draußen ging bereits die Sonne auf. Die Türe wurde geöffnet und Fias kam herein. Der Diener trug ein kleines Tablett, auf dem ein Teller mit zwei Marmeladenbroten und ein Becher Milch standen.

„Du solltest längst auf sein. Leharan wartet bereits im Hof. Na los, steh auf und zieh dich an. Ich habe dir ein kleines Frühstück mitgebracht.“

Nachdem er das Tablett neben Afalis Bett abgestellt hatte, verließ Fias das Zimmer wieder.

Afalis sprang voller Elan aus dem Bett. Endlich ging es los. Er zog seine Reisekleidung an, die er vorbereitet hatte. Ein Paar braune Lederstiefel, eine schwarze Lederhose, ein weißes Leinenhemd und eine Lederweste, passend zur Hose, lagen am Fuße seines Bettes. Nach jedem einzelnen Kleidungsstück nahm er einen Bissen von seinem Frühstück und als er fertig angezogen war, stürzte er die Milch hinab. Dann schnappte er sich den Rucksack und rannte die Treppe hinunter und weiter bis zum Kampfübungsplatz, wo sich die Waffenkammer befand. In der Kammer nahm er sein Schwert, das zwar alt, aber gut gepflegt war, von der Wand und befestigte es mit der Scheide an seinem Gürtel.

Afalis war ein miserabler Reiter, daher ließ ihn Leharan bisher nur auf einem gutmütigen Kaltbluthengst namens Mücke reiten, mit dem jeder zurechtkam. Deshalb wunderte er sich, als er auf den Hof kam und sah, dass Mücke mit Leharans Rüstung und ihrem Proviant beladen war. Davor standen zwei gesattelte Pferde, zum einen Leharans weiße Stute Schneekönigin, auf der er bereits saß und zum anderen ein wunderschöner Rappe mit langer Mähne, den er noch nie gesehen hatte.

„Da kommt ja endlich die Schlafmütze“, begrüßte ihn Semi mit einem breiten Lächeln, der den Rappen am Zügel hielt. Auch sein Herr lächelte, als er Afalis einen guten Morgen wünschte, was dieser gut gelaunt erwiderte.

Leharan deutete auf das schwarze Pferd.

„Ich habe ein Geschenk für dich. Eigentlich wollte ich ihn dir erst zum Geburtstag schenken, aber du brauchst für unsere Reise ein richtiges Reitpferd. Dieser Hengst hier ist ein reinblütiger Brynländer. Die Rasse wird seit Jahrhunderten von den Sonnenelfen gezüchtet. Sie zählen zu den besten Pferden Jotomias.“

„Er hat einen guten Charakter und ist besonders folgsam. Sogar du solltest mit ihm zurechtkommen“, ergänzte Semi und konnte sich den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.

„Ich weiß gar nicht, wie ich mich bedanken soll. Er muss ein Vermögen gekostet haben“, rief Afalis begeistert und ging zu dem Hengst. Er streichelte den Hals und spürte, wie viel Kraft das Tier hatte.

„Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich werde mich gut um ihn kümmern“, gab er seiner Freude weiter Ausdruck. Leharan, der sich sichtlich mitfreute, entgegnete: „Schön, dass meine Überraschung so gut ankommt.“

Afalis umrundete sein Geschenk und konnte immer noch nicht fassen, dass er Leharan so viel bedeutete, dass dieser bereit war, solch eine Summe für ihn auszugeben. Plötzlich wurden seine Augen feucht und im Überschwang seiner Gefühle platzte es aus ihm heraus: „Du tust alles für mich. Danke, du bist wie ein Vater für mich.“

Er wischte sich eine Freudenträne aus dem Gesicht. Auch Leharan war gerührt und erwiderte: „Und du bist der Sohn, den ich nie hatte.“

Während Afalis seinen Herrn verwundert ansah, da er solche Gefühlsäußerungen von ihm nicht gewohnt war, erklärte dieser das Thema bereits für beendet: „Schluss mit der Gefühlsduselei, wir sind spät dran und müssen los.“

Afalis ging zu Semi, um sich zu verabschieden.

„Pass auf dich auf, du kleiner Angeber. Und bring‘ mir deine Prinzessin mit“, ergriff Semi zuerst das Wort und fing über beide Backen an zu grinsen.

„Das mach ich und du stellst ihr dann deine Freundin Amira vor“, konterte Afalis, bevor er ernst wurde: „Mach‘s gut Semi, ich werde dich vermissen.“

„Ich dich auch. Ohne dich wird es bestimmt langweilig hier auf der Burg.“

Die beiden Freunde umarmten sich und Afalis stieg auf sein neues Pferd.

„Dann mal los“, forderte Leharan und band die Zügel von Mücke, dem Lastpferd, bei sich an den Sattel. Er ritt voraus zum Tor und Afalis ließ sein Pferd folgen. Es gehorchte sofort. Da fiel ihm noch etwas Entscheidendes ein. Er wandte sich zu Semi um, neben dem jetzt auch Fias und Elsa standen: „Wie heißt mein Hengst eigentlich?“

„Phyrus, das bedeutet Schatten auf sonnenelfisch“, rief der Stallbursche zurück. Afalis winkte den Dreien, bevor Leharan und er durch das Tor ritten.

Das Abenteuer nahm seinen Anfang.

Die 360 Tage des Jahres wurden, entsprechend der Jahreszeiten, in Jahresviertel mit je 90 Tagen unterteilt. Jedes Jahresviertel bestand aus neun zehntägigen Wochen. Das Jahr begann am 1. Frühlingstag und endete mit dem 90. Wintertag.

Von den Menschen verehrte Göttin der See, des Wetters und der Reisenden

Radakos der Allsehende: Von den Menschen verehrter Göttervater und Totenrichter. Seine Priester leiteten Andachten und kümmerten sich um Beerdigungen.

Von den Menschen verehrte Göttin des Lebens und der Liebe

Kapitel 2

Andere Farbe, selber Ursprung

Hinter dem Burgtor zügelte Afalis Phyrus noch einmal und blickte den Hügel hinunter über Seewies, das er seit seiner Ankunft vor zehn Jahren nicht verlassen hatte. Auf dem See konnte er die Boote erkennen, auf denen die Fischer bereits ihrer Arbeit nachgingen. Ein wenig würde er die Stadt vermissen. Er ließ sein Pferd wieder antraben und hatte Leharan schnell eingeholt. Afalis atmete tief durch und hatte das Gefühl, dass die Luft heute angenehmer war als sonst, sie roch nach Freiheit.

Die zwei Reiter folgten der Straße den Hügel hinunter und wendeten sich dann nach Süden auf die Uferstraße. Da Sandogan auch am Brynsee lag, würden sie immer entlang des Ufers reiten.

Anfangs kamen ihnen immer wieder Bauern entgegen, die ihre Waren zum Markt in Seewies transportierten und sie freundlich grüßten. Nach einer Weile fragte Leharan: „Wie fühlst du dich? Bist du aufgeregt, jetzt da du die Stadt verlassen hast?“

„Ein wenig. Vor allem bin ich gespannt darauf, was wir alles erleben werden. Es fühlt sich übrigens gut an, ein Pferd zu haben, das mir gehorcht. Daran bin ich nicht gewöhnt“, antwortete Afalis.

„Freut mich, dass du zufrieden bist. Du wirst heute schon die ersten neuen Eindrücke sammeln können. Gegen Mittag werden wir die Grenze von Nysu-Tuos erreichen, dem Reich der Sonnenelfen“, erklärte Leharan. Afalis Augen begannen zu leuchten. Er wollte schon immer Sonnenelfen begegnen, aber in das kleine Seewies hatte sich nie ein Elf verirrt. Natürlich kannte er Beschreibungen und Bilder dieser schönen Wesen und wusste, dass sie dunklere Haut als Menschen und spitze Ohren hatten, aber gesehen hatte er noch keine.

Sie kamen gut voran und Afalis betrachtete die Landschaft mit neugierigen Augen. Rechts glitzerte der See und auf der anderen Seite zogen Wälder und Wiesen an ihnen vorbei. Die Luft wurde immer wärmer und machte das Reiten noch angenehmer. Da zwischen Seewies und der Grenze keine Dörfer lagen, sondern nur vereinzelte Höfe abseits der Straße, begegnete ihnen kaum noch jemand.

Leharan hatte ihre Reisegeschwindigkeit gut eingeschätzt, denn als die Sonne ihren Höchststand erreichte, konnte Afalis die Reste der Mauer erkennen, die hier die Grenze zwischen Antero im Norden und Nysu-Tuos im Süden markierten. Die weiße Steinmauer stammte noch aus der Zeit, als es immer wieder Krieg zwischen den beiden Völkern gegeben hatte. Einst reichte sie vom Brynsee bis an die Küste des Goldmeeres weiter im Osten. Da seit fast 500 Jahren Frieden und Freundschaft zwischen Menschen und Elfen herrschte, war die Mauer größtenteils verfallen oder abgerissen. Manche Abschnitte hatte man gezielt zur Erinnerung erhalten, dazu zählte das Tor, das über die Uferstraße gebaut war. Dieses strahlte weiß in der Sonne und hatte drei Rundbögen als Durchgänge. Der mittlere Durchgang maß ungefähr vier Schritt in der Höhe und drei Schritt in der Breite und die beiden rechts und links davon waren schmaler und auch niedriger. Oben endete das Tor in Zinnen, auf denen achtstrahlige goldene Sonnen abgebildet waren, die hell glänzten.

Im rechten und linken Bogen stand je ein Grenzposten. Die Wächter trugen schwarze, spitzzulaufende Stiefel, in denen weite rote Hosen steckten. Der obere Teil der Uniform bestand aus einer langen roten Weste unter der schwarze Ärmel hervorschauten. Geschlossen wurde sie von einem breiten schwarzen Stoffgürtel, an dem ein Krummschwert hing. Auf der Gürtelschnalle prangte das gleiche goldene Sonnensymbol wie oben an den Zinnen. Ein roter Turban vervollständigte die Uniform.