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Affektivität und literarische Mehrsprachigkeit sind vielfach miteinander verknüpft, Mehrsprachigkeit ist ohne Affekt kaum denkbar. Die historisch wirkmächtige und bis heute verbreitete Norm der Einsprachigkeit weist vor allem der Muttersprache eine hohe affektive Bedeutung zu. Ihre sichere Beherrschung gilt vielfach als Voraussetzung für Autorschaft und literarisches Schreiben, gebrochenes Deutsch als Provokation des literarischen Betriebs. Die Infragestellung solcher Normen zeigt daher, wie eng Sprache und Affektivität verbunden sind. Dies gilt nicht nur für die soziale Praxis, sondern auch für die Theorie. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat diese Beziehung lange ignoriert und die Repräsentation von Affekten und Gefühlen in den Mittelpunkt gerückt. Dagegen stellt der Sammelband erstmals zur Diskussion, inwiefern sich gerade mehrsprachige Literatur durch die Darstellung, den Vollzug und die Reflexion sprachlicher Affektivität auszeichnet. Er verbindet die Einsichten und Befunde der Mehrsprachigkeitsphilologie mit unterschiedlichen Forschungsansätzen zur Affektivität des literarischen Textes, die von psychoanalytischen Theorien über das Feld der Erinnerungs- und Gedächtnistheorie bis zu den jüngeren affect studies reichen. Mit Hugo Ball, Paul Celan, Herta Müller, Feridun Zaimoglu, Yoko Tawada, Marica Bodroi, Katja Petrowskaja und Tomer Gardi sind nur einige der Autorinnen und Autoren genannt, deren Texte im Band untersucht werden.
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Seitenzahl: 526
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Anne Fleig / Matthias Lüthjohann / Marion Acker
Affektivität und Mehrsprachigkeit
Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-7720-8657-1 (Print)
ISBN 978-3-7720-0093-5 (ePub)
Affekt und Sprache sind eng miteinander verknüpft; Mehrsprachigkeit ist ohne Affekt kaum denkbar. Schon die alltägliche Rede vom ‚Sprachgefühl‘ bringt diese Verbindung deutlich zum Ausdruck, lässt aber auch Ambivalenzen und Spannungen anklingen. Das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit ist – so eine der Grundannahmen dieses Bandes – durch Verflechtungen charakterisiert, die sowohl die soziale Praxis als auch die Theorie betreffen. Sie sind gleichzeitig durch eine Spannung bestimmt, die einende und trennende Merkmale aufweist.
So scheint das Gefühl für die Sprache, insbesondere das der sogenannten Muttersprache, einerseits selbstverständlich gegeben zu sein, andererseits muss es erlernt werden: Ein Gefühl für eine Sprache zu entwickeln, schließt ein Nähe- und Vertrauensverhältnis ein; es meint, sich in einer Sprache ‚einzurichten‘ oder in ihr ‚anzukommen‘. Wird das Sprachgefühl dagegen irritiert, weil ‚falsche Töne‘ stören oder Distanz hervorrufen, kann gerade dadurch Reflexion angestoßen werden.
In jedem Fall bedeutet Mehrsprachigkeit eine Herausforderung für ‚das‘ Sprachgefühl. Stehen Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen in Austausch miteinander, erhält die Rede vom Sprachgefühl noch einmal andere Akzente: sei es als autoritäre Geste, die Anspruch auf Besitz und Deutungshoheit im Namen der ‚eigenen‘ Sprache oder gar der Muttersprache erhebt, sei es als neugieriges Gespür für Nuancen und Bedeutungsschichten, die ansonsten überhört werden. Schon die alltägliche Begriffsverwendung macht daher deutlich, dass das vermeintlich ‚eigene‘ Sprachgefühl so individuell nicht ist, sondern ein weitreichendes soziales Phänomen darstellt.1
Sprachkompetenz und Sprachgefühl bestimmen wesentlich über gesellschaftliche Teilhabe, sie regeln Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu Kultur und Öffentlichkeit, im Fall der Literatur auch den Zugang zum literarischen Feld und die Anerkennung als Autorin oder Autor. Die dem zugrunde liegenden Normen und Standards sind nicht nur selbst affektiv hoch besetzt, sie affizieren – in ästhetischer, politischer und sozialer Hinsicht – auch das Spiel oder den Bruch mit den Regeln, wie unlängst Tomer GardiGardi, Tomer in seinem Roman broken german vorgeführt hat.2
Doch sind Affektivität und Mehrsprachigkeit nicht nur über Fragen der Zugehörigkeit miteinander verbunden. Die in diesem Band versammelten Analysen zeigen anhand der Texte von Rose AusländerAusländer, Rose, Hugo BallBall, Hugo, Marica BodrožićBodrožić, Marica, Paul CelanCelan, Paul, Hélène CixousCixous, Hélène, Georges-Arthur GoldschmidtGoldschmidt, Georges-Arthur, Herta MüllerMüller, Herta, Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi, Katja PetrowskajaPetrowskaja, Katja, Rafik SchamiSchami, Rafik, Rike SchefflerScheffler, Rike, Yoko TawadaTawada, Yoko und Tristan TzaraTzara, Tristan, um nur einige zu nennen, dass literarische Sprache in hohem Maße affektiv geprägt ist und selbst affektive Wirkungen entfaltet. Dies gilt für ihre Beziehung zur jeweiligen Biographie der Autorinnen und Autoren, zur lebensweltlichen Umgebung und ihren kulturellen wie gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch bezogen auf literarische Traditionen, Formen und Öffentlichkeiten. Das Wechselverhältnis von affektivem Gehalt und affektiver Wirkung bestimmt einzelne Worte oder Sätze ebenso wie die Entscheidung für die jeweilige Literatursprache und Reflexionen über die Sprachmischung oder den vollzogenen Sprachwechsel.
Mit Affektivität und Mehrsprachigkeit rücken darüber hinaus zwei Forschungsfelder in den Blick, die in den letzten Jahren unabhängig voneinander vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben,3 obwohl – oder gerade weil – ihr jeweiliger Gegenstand keineswegs klar konturiert ist.
Mehrsprachigkeit, Vielsprachigkeit, Zweisprachigkeit, Multilingualismus, Plurilingualismus, Translingualismsus, Heteroglossie, Exophonie, Code-Switching – die Begriffsliste der Mehrsprachigkeitsforschung ist lang.4 Die Vielzahl der Begriffe samt ihrer verschiedenen Bedeutungskomponenten verweist auf große Unterschiede in der mehrsprachigen Produktion von Literatur, ihren Bedingungen und ihren Formen, aber ebenso auf Unterschiede in ihrer Rezeption. Die Uneindeutigkeit ist jedoch weniger ein Ergebnis der (vor allem in der Germanistik noch jungen) Forschung als vielmehr dem Gegenstand selbst geschuldet: Mehrsprachigkeit ist ein schwer zu fassendes Phänomen mit einer langen Geschichte und einer erkenntnistheoretischen Reichweite, die die Bedingungen ihrer Erforschung einbeziehen muss. Insbesondere die Herausbildung der Nationalphilologien hat wesentlich dazu beigetragen, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur in der europäischen Moderne an einem begrenzten Sprachraum und an einem einsprachigen Kanon orientiert war. Obwohl sich definitorisch kaum angeben lässt, was ein einsprachiger Text ist,5 blieb literarische Mehrsprachigkeit in den monolingualen Philologien ein Randphänomen oder gelangte erst gar nicht in den Blick.
Auch die Unterscheidung von Affekt, Affekten, Affektivität, Gefühl, Emotion und Emotionalität hat es in sich; die Liste der Begriffe ist zwar nicht ganz so lang, ihre Unterscheidung fällt aber umso schwerer und reicht gleichfalls an die Voraussetzungen ihrer Untersuchung heran. Konsens zumal der deutschsprachigen Forschung ist, dass die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Gefühle eng miteinander verwoben sind. Darüber hinaus wurde nicht nur das Sprachgefühl, sondern insbesondere die Sprache der Gefühle als Sprache des modernen Subjekts wesentlich durch Literatur geprägt.6
Während der enge Zusammenhang von literarischer Sprache und Gefühl also unbestritten ist, stellt sich das Verhältnis von literarischer Mehrsprachigkeit und Affektivität als sehr viel kontroverser dar. So trägt die Verbindung von Sprache und Gefühl um 1800 wesentlich zur Vorstellung von Einsprachigkeit als Normalfall der Moderne bei, der an die Naturalisierung der ‚Muttersprache‘ gebunden ist. Dieser Normalfall ist selbst affektiv aufgeladen: Die Muttersprache erscheint einerseits als abgeschlossener, vermeintlich natürlicher Ort ‚wahrer‘ Gefühle, auf der anderen Seite schließt die Einsprachigkeitsnorm Autorinnen und Autoren, deren sogenannte Muttersprache nicht Deutsch ist, aus dem traditionellen Gegenstandsbereich und dem Kanon der Deutschen Philologie aus.7
Um sprachliche Phänomene historischer, kultureller und sozialer Differenz überhaupt untersuchen zu können, musste die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung die Vorstellung unverstellter Gefühle, von Natürlichkeit und Unmittelbarkeit zunächst zurückweisen. Im Zuge des linguistic turn wurde die Vermitteltheit und diskursive Prägung literarischer Texte betont, die nicht zuletzt die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz in Frage stellt, die in der Norm der Muttersprache stets präsent ist. Im Anschluss daran nahm die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung seit den 1990er Jahren vor allem die Repräsentation von Emotionen und ihre sprachliche Codierung und Inszenierung in den Blick.
Gegenüber diesen Ansätzen ist der Begriff der Affektivität – wie ihn die angloamerikanischen affect studies in den letzten Jahren eingeführt haben – anders konturiert: Er zielt in kritischer Absetzung von diskursanalytischen Ansätzen im Zeichen des Kultur-als-Text-Paradigmas auf die Materialität, den Vollzugscharakter und die „Sinnlichkeit des Sozialen“8. Wahrnehmung und gesellschaftliche Ordnung stehen demnach in einem Wechselverhältnis, das sowohl diskursiv vermittelt als auch an das sinnlich-affektive Erleben rückgebunden ist. Dabei liegt die Betonung auf ‚Wechselverhältnis‘: Erkenntnisleitend ist die Annahme, Sprache und literarische Texte als Ausdruck, Vollzug und Reflexion dieser Sinnlichkeit des Sozialen zu begreifen. Die Unterscheidung von Affekten und Emotionen, die auch in den folgenden Beiträgen keineswegs immer trennscharf und auch nicht einheitlich ist, ist so gesehen weniger eine Frage des Untersuchungsgegenstands als vielmehr der Herangehensweise und der theoretischen Perspektivierung.
„Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben, aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit […].“1 Mit dieser Aussage reflektiert Herta MüllerMüller, Herta eine Form der Mehrsprachigkeit, die auf den Entstehungskontext bezogen ist, im literarischen Text selbst aber nicht unmittelbar hervortritt. Im Anschluss an die Studie von Guilia RadaelliRadaelli, Giulia zum Sprachwechsel bei Elias CanettiCanetti, Elias und Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg lässt sich hier von einer „latenten“ Form der Mehrsprachigkeit sprechen, die im Gegensatz zu „manifester“ Mehrsprachigkeit dadurch charakterisiert ist, dass „andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind“2. Um diese auf den ersten Blick „einsprachige Oberfläche“3 untersuchen zu können, hat Radaelli ein differenziertes begriffliches Instrumentarium zur Beschreibung von manifesten sowie latenten Formen von Mehrsprachigkeit entwickelt. Ihr zufolge besteht manifeste Mehrsprachigkeit entweder aus einem Sprachwechsel oder einer Sprachmischung, die unterschiedliche Qualitäten und Markierungen aufweist und auf unterschiedlichen Ebenen (syntaktischer, lexikalischer usw.) wirksam ist, sodass „an der Oberfläche des Textes mehrere Sprachen auftauchen“4. Dagegen sei ein Text latent mehrsprachig, wenn wie im Falle Müllers andere Sprachen zwar ‚mitschreiben‘, diese aber an der Oberfläche nicht wahrnehmbar werden. Eine solche Form der Mehrsprachigkeit meint beispielsweise auch Marica BodrožićBodrožić, Marica, wenn sie ihre Erst- bzw. Muttersprache als ein aus der Tiefe herauftönendes „Unterpfand“5 bezeichnet. Weitere latente Formen von Mehrsprachigkeit bilden Verweise auf andere Sprachen, die Eingliederung von einer oder mehreren Sprachen in die Literatursprache6 sowie Sprachreflexionen. Die jeweilige Bedeutung von manifester oder latenter Mehrsprachigkeit, zu der Radaelli auch das Auftreten von Sprachvarietäten und erfundenen Sprachen zählt, lässt sich jedenfalls nicht von vorneherein bestimmen, sondern ist vielmehr das Ergebnis der konkreten Interpretation, die immer den Entstehungskontext des Textes und den historischen Status der jeweiligen Sprachen einbeziehen muss.7
Wie die jeweilige Sprachwahl letztlich zustande kommt und welche Folgen sie für den jeweiligen literarischen Text hat,8 ist zweifellos eine Frage, die auch bezogen auf Affekte und Emotionen von Bedeutung ist und in auffällig vielen Poetik-Vorlesungen zum Gegenstand expliziter Reflexion wird. Die sprachbiographischen Erkundungen, die die mehrsprachige Textproduktion aus Sicht der Autoren und Autorinnen beleuchten, haben sich inzwischen als unentbehrliches, wenn auch nicht unproblematisches Arbeitsmittel der Mehrsprachigkeitsforschung etabliert.9 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit als soziales Phänomen eine Perspektive erfordert, die textanalytische und autorpoetische Fragestellungen aufeinander bezieht. Gerade in ihren vielfältigen Formen wird der spezifisch affektive Gehalt literarischer Mehrsprachigkeit kenntlich. Ziel dieses Bandes ist es daher, das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit erstmals zu konturieren, bislang disparate Forschungsfelder in produktiven Austausch miteinander zu bringen und neue theoretische Perspektiven zu entwickeln.
Mit dem Begriff der Mehrsprachigkeit ist – über die hier aufgeführte, analytische Unterscheidung von manifester und latenter Mehrsprachigkeit, von Sprachwechsel und Sprachmischung hinaus – vor allem eine grundlegende sprachtheoretische Perspektive aufgerufen. Sie hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Sprache und Literatur überhaupt und wird seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft unter dem Stichwort einer Philologie der Mehrsprachigkeit verhandelt.1
Mehrsprachigkeit beschreibt hier nicht mehr einen Sonderfall oder eine spezielle Konstellation, die es gegenüber dem vermeintlichen Normalfall der Einsprachigkeit zu erklären gelte. Vielmehr ist im Anschluss an Michail BachtinBachtin, Michail, der in gewissem Sinne als Vorläufer der Mehrsprachigkeitsphilologie erscheint, davon auszugehen, dass das „gesellschaftliche Leben des Wortes“2immer mehr als eine Sprache involviert. Ob in der Redevielfalt des Alltags, im vielfältigen Schriftverkehr oder in der Literatur: Mehrsprachigkeit ist der modus operandi des Sprechens und Schreibens und impliziert eine andauernde Bewegung, die sich linguistischen Normen durchaus entzieht und gerade im literarischen Text immer neue Formen ausprägt.3
Erst vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, dass es eine, und nur eine Sprache geben soll, als das spezifische sprach- und literaturpolitische Paradigma der europäischen Moderne erkennbar.4 Im Umkehrschluss stellt die Perspektive der Mehrsprachigkeit damit nicht nur die Abgrenzung einzelner Sprachen in Frage, sie hinterfragt auch die normative Zuschreibung von Gattungs- und Geschlechtergrenzen sowie von Autorschaftskonzepten, die die ‚Beherrschung der Muttersprache‘ zu einer Grundbedingung erklären.5
Die kritische Auseinandersetzung mit dem nationalen Monolingualismus bildet für die Philologie der Mehrsprachigkeit einen wichtigen Einsatzpunkt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die praktischen und sozialen Aspekte der sprachlichen Kommunikation, denn wie schon Benedict AndersonAnderson, Benedict in seiner Studie zur Entstehung von Nationalstaaten als Imagined Communities gezeigt hat, spielt gerade die Praxis einer geteilten Schrift- und Drucksprache eine herausragende Rolle für die Prozesse des nation building: Die Schriftsprache lässt einen geographisch umrissenen Vorstellungsraum der Gemeinschaft entstehen, der wiederum modellbildend für die moderne Idee der Nation wirkt.6 Bis in die Gegenwart ist der Nexus von Sprache und Politik in hohem Maße affektiv aufgeladen; über ihn können Gefühle der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft ebenso wie der Nicht-Zugehörigkeit bis hin zum Hass mobilisiert werden.
Dass sich auch die Entwicklung der Geisteswissenschaften in diesem Spannungsfeld vollzieht und vollzogen hat, liegt auf der Hand. Gerade die Geschichte der Germanistik zeigt, dass ihre Gegenstände und Traditionen stets im Zeichen der Nationalgeschichte systematisiert und gedeutet wurden, sodass sich in Analogie zu den Sozialwissenschaften von einem ‚methodologischen Nationalismus‘ sprechen lässt.7 Literaturen jenseits des Imaginären der Nation waren aus dem deutschsprachigen Kanon lange ausgeschlossen, während sich in den englischsprachigen humanities die Verbindung zur Geschichte des nationalen Imaginären durch die Formierung der postcolonial studies schon seit den 1980er Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt hat.8
Die Ausarbeitung eines differenzierten Verständnisses der Funktion und Bedeutung, die der Institution der Nationalliteratur in diesem Prozess zukommt, kann in diesem Zusammenhang als das Verdienst der noch jungen Mehrsprachigkeitsphilologie gelten. Zu einer maßgeblichen Referenz wurde Yasemin YildizYildiz, Yasemin’ (englischsprachige) Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur und ihre These einer postmonolingual condition.9 Yildiz arbeitet darin zunächst heraus, wie sich im poetologischen Diskurs um 1800 eine Konfiguration etabliert, die sie als monolinguales Paradigma beschreibt. Die Vorstellung von einer souveränen Verfügung über die ‚Muttersprache‘ wird innerhalb dieses Diskurses zur Bedingung literarischer Autorschaft: Gefühle und Emotionen, so hält etwa HerderHerder, Johann Gottfried fest, können in der Dichtung nur von einem Muttersprachler adäquat ausgedrückt werden.10 Vor dem historischen Hintergrund einer Norm der Einsprachigkeit untersucht Yildiz anhand der Lektüre mehrsprachiger Texte von Franz KafkaKafka, Franz über Yoko TawadaTawada, Yoko bis hin zu Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi und Feridun ZaimogluZaimoglu, Feridun, wie sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine postmonolinguale Tradition herausbildet, die Mehrsprachigkeit dezidiert ins Zentrum ihrer jeweiligen Poetik stellt – und damit ‚jenseits der Muttersprache‘ verortet werden kann, auch wenn das Präfix ‚post‘ darauf hinweist, dass die Norm der Einsprachigkeit ihr Bezugspunkt bleibt.
YildizYildiz, Yasemin’ Textauswahl und auch ihre theoretische Fragestellung sind dabei neben der jungen Mehrsprachigkeitsdiskussion in erster Linie eng mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Interkulturalität und Transkulturalität verbunden. Auch die Literatur, die im vorliegenden Band untersucht wird, lässt sich häufig beiden Begriffen zuordnen. Anstatt die Perspektive der Mehrsprachigkeit gegen ältere (und neuere) Bezeichnungen wie die der Migrationsliteratur, der interkulturellen oder der transkulturellen Literatur scharf abzugrenzen, bestehen hier vielmehr grundlegende Gemeinsamkeiten. So hat der Begriff der Migration in der theoretischen Debatte zu einer Infragestellung der Selbstverständlichkeit nationalstaatlicher Zugehörigkeit geführt: Migration in historischer Perspektive als ein grundlegendes Charakteristikum gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne zu begreifen, vollzieht dabei eine ähnliche Denkbewegung wie Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt der Analyse historischer Einsprachigkeit zu nehmen: In beiden Fällen wird die Vorstellung nationaler Homogenität als scheinbar unhintergehbare Norm historisch situiert und relativiert.
Auch in der kulturtheoretischen Debatte kann diese Bewegung erkannt werden. Besonders der Begriff der Transkulturalität macht kulturelle Praktiken als immer schon vielfach geteilte, verstrickte und verflochtene verständlich: Erst vor dem Hintergrund dieser kulturellen Hybridisierung werden Phänomene, wie etwa die deutsche Bühnenaussprache oder die britische Standardaussprache, die Perceived Pronunciation, zu spezifischen Konstellationen, deren Entstehung nicht selbstverständlich ist, sondern der historischen Untersuchung bedarf. Wie bereits angedeutet, ist auch für die Philologie der Mehrsprachigkeit eine solche Veränderung der Blickrichtung auf Sprache von zentraler Bedeutung. Anstatt von der Vorstellung einer in sich geschlossenen Sprache auszugehen, die sich erst später und auch nur eventuell mit anderen Sprachen verbindet und so rein additiv in der Summe Mehrsprachigkeit ergäbe, konzeptualisiert sie die soziale Praxis der Sprache notwendigerweise als plural und hybrid.
Besonders eindringlich hat Jacques DerridaDerrida, Jacques die Vorstellung einer einheitlichen Sprache zurückgewiesen und in seinem Essay Le monolingualisme de l’autre ou la prothèse d’origine (1996) die These vertreten, dass die Muttersprache niemals zum eigenen Besitz werden könne, weil sie immer eine Spur des Anderen, des Fremden in sich trage: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige / die gehört nicht mir.“1 DerridaDerrida, Jacques verbindet mit der Muttersprache divergierende affektive Qualitäten wie Geborgenheit und Vertrautheit, aber auch Kultiviertheit und guten Geschmack, die die Ambivalenz im Fremdwerden der Muttersprache hervorheben. Dass die Muttersprache gleichsam zur Sprache der Mutter wird,2 dass sie aus vielfachen Gründen zu einer fremden Sprache wird, kann für literarische Mehrsprachigkeit als charakteristisch gelten.3 Das individuelle Fremdwerden der Muttersprache aus historischen und politischen Gründen, wie es in den folgenden Beiträgen anhand verschiedener Beispiele analysiert wird, ist jedenfalls systematisch vom nationalen Diskurs über die Muttersprache um 1800 abzugrenzen; ihre jeweiligen affektiven Besetzungen wären noch weiter zu untersuchen.
An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, dass vom Diskurs über Sprache nicht umstandslos auf die soziale Praxis des Sprechens und Schreibens geschlossen werden kann.4 Umgekehrt gilt, dass einsprachige Praktiken die Konzeption von Mehrsprachigkeit bereichern können, indem sie das der Alltagswelt enthobene System der langue auf zweifache Weise neu perspektivieren. Weder Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit noch Diskurs und alltägliche Redevielfalt stehen einander einfach gegenüber; es kommt vielmehr darauf an, die ‚Anderssprachigkeit‘ (Arndt/Naguschewski/Stockhammer) der Mehrsprachigkeit hervorzuheben, die in der Differenz zur Einsprachigkeit nicht aufgeht, sondern in ihrer Pluralität gedacht werden muss.
Vor diesem Hintergrund erscheint es daher auch verfehlt, dem einheitlichen Sprachsystem und seinen Normen die Vorstellung einer anarchischen, regellosen und in jedem Falle subversiven Redevielfalt der Alltagswelt gegenüberzustellen. Damit würde die abstrakte Ebene der langue wieder nur mit der pragmatischen Ebene der parole kontrastiert und letztlich der Monolingualismus befördert: Das erkenntnistheoretische Privileg käme dann immer noch dem geschlossenen Systemcharakter der Sprache zu, während Mehrsprachigkeit als Abweichung von der Norm erschiene, wenn auch als eine Abweichung, die politisch oder ästhetisch prämiert wird. Eine solche Gegenüberstellung trägt zur Verklärung der Mehrsprachigkeit und einem einseitigen ‚Hype um Hybridität‘ bei, während sie soziale Differenzen weitgehend ausblendet.5 Dass beispielsweise die potentielle Erlernbarkeit einer allgemeinen, verbindlichen Norm eine Voraussetzung für demokratische Teilhabe ist und dass sprachliche Standardisierung Gleichheit ermöglichen kann, droht bei der bloßen Gegenüberstellung von Monolingualismus und Mehrsprachigkeit aus dem Blick zu geraten.
Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, ist es hilfreich, diejenigen Dimensionen der Sprache zum Ausgangspunkt zu machen, die quer zu Monolingualismus und Mehrsprachigkeit verlaufen. Die Betonung der Pragmatik in der Mehrsprachigkeitsphilologie geht in diese Richtung: Dass Sprache vollzogen wird, notwendig verkörpert und sozial ist, gilt nämlich sowohl für die monolinguale Norm als auch für Mehrsprachigkeit. Als soziale Praktiken können sie auf einer Ebene begriffen werden, ohne dass dabei Machteffekte nivelliert werden: Praktiken der Standardisierung, mit BachtinBachtin, Michail: die „zentripetalen Kräfte der Sprache“6, stehen mit mehrsprachigen Praktiken, den „zentrifugalen Kräften“7, in einem spannungsvollen, zuweilen hierarchischen Verhältnis – sprach- und sozialtheoretisch sind sie aber nicht auf zwei völlig verschiedenen Ebenen angesiedelt, wie der Gegensatz von langue und parole suggeriert.8 Eine ähnlich transversale Perspektive auf Sprache wird auch durch den Begriff der Affektivität befördert. Dass Sprache sinnlich und sozial ist und notwendigerweise auf irgendeine Weise verkörpert wird, kurz: dass sie eine eminent affektive Dimension hat, gilt für ihre mehrsprachige ebenso wie für einsprachige Artikulation. Der folgende Abschnitt ist dieser Dimension und ihrer theoretischen Konzeptualisierung gewidmet.
Sprache bringt Gefühle zum Ausdruck und ruft ebensolche hervor. Diese Feststellung ist keineswegs trivial, denn die „mitunter babylonisch anmutende diskursive Vielfalt“1 des historischen Affekt- und Emotionsdenkens stellt die Literaturwissenschaft vor erhebliche Herausforderungen, die die methodische und theoretische Heterogenität ihrer multidisziplinären Forschungsansätze noch verstärkt. Da sich der Emotionsbegriff Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch zufolge gegenüber dem historisch älteren Begriff des Affekts durchgesetzt hat,2 firmiert das seit den 1990er Jahren (wieder-)erwachte Interesse der Literaturwissenschaft an Gefühlen, ihrer sprachlichen Thematisierung und Präsentation, Produktion und Rezeption, unter dem Schlagwort eines emotionalturn.3
Gegenüber den älteren, autorzentrierten Verfahren der hermeneutischen Einfühlung war es Konsens der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung im Zeichen von Strukturalismus und Poststrukturalismus, dass sich Gefühle stets vermittelt artikulieren und historisch geprägt sind. So ist die Aufwertung des emotiven Gehalts der Literatur durch diskursanalytische Ansätze allererst ermöglicht worden, indem sie einen intersubjektiv nachvollziehbaren Zugang zu literarischen Konstruktionen von Gefühlen und Emotionen eröffnet haben. Gleichzeitig wurden in der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung zunehmend empirisch orientierte, psychologische und neurowissenschaftliche Ansätze relevant.1 Die wirkungsmächtigen Entwicklungen der neuro- und kognitionswissenschaftlichen Forschungen haben nicht nur in einer ganzen Reihe von Disziplinen, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der Emotionen beigetragen und eine Infragestellung der Dichotomie von Rationalität und Gefühl unterstützt.2 Als neue Leitdisziplinen der Emotionsforschung haben sie aber auch von verschiedenen Seiten Widerspruch hervorgerufen.3
Sigrid Weigel hat sich mit der „Renaissance der Gefühle in den gegenwärtigen Neurowissenschaften“ befasst und dabei aus kulturwissenschaftlicher Sicht bedenkenswerte Einwände formuliert, die insbesondere der Sprach- und Geschichtsvergessenheit der Neurowissenschaften gelten.4 Die Frage, um was es sich bei der „Entdeckung der Gefühle“ durch die Hirnforschung eigentlich handele, stellt sich ihr geradezu als ein Problem der Mehrsprachigkeit, sprich: „der Termini und ihrer Übersetzungen zwischen verschiedenen Registern (Fachsprachen und Nationalsprachen), als Problem der Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte dessen, was dabei mit dem Wort Gefühl benannt wird, aber auch als Frage nach der Rolle der Sprache für die Gefühle, genauer für die Übersetzung psycho-physischer Vorgänge in kulturell codierte und symbolische Bedeutungen, oder anders gesagt, der Schwelle zwischen soma und sema.“5
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist der Rekurs auf neurowissenschaftliche Ansätze auch deshalb problematisch, weil damit zumeist die Vorstellung verknüpft ist, Emotionen seien universale, kulturübergreifende, anthropologische Konstanten. Gerade mit Blick auf die mehrsprachige (Gegenwarts-)Literatur ist jedoch deren soziokulturelle Bedingtheit und historische Variabilität hervorzuheben. Exemplarisch für diese kulturwissenschaftliche Perspektive halten Daniela Hammer-Tugendhat und Christina Lutter grundlegend fest: „Emotionen sind immer nur über Sprache und andere Formen kultureller Repräsentationen ausdrückbar und vermittelbar […], wie sie ihrerseits durch Sprache und Repräsentationen (Codes) geformt werden. […] Emotionen sind immer nur näherungsweise bzw. ‚übersetzt‘ zugänglich und können nicht von ihrer kulturell geformten Vermittlung abgelöst werden.“6 Für die germanistische Literaturwissenschaft ist besonders die Studie von Simone Winko hervorzuheben, die Emotionen als einen „eigenständigen Kode“ begreift, der „zugleich selbst kulturell kodiert ist“7. Winko unterscheidet in ihrer Analyse lyrischer und poetologischer Texte um 1900 zwischen der Thematisierung von Emotionen und der Präsentation von impliziten Emotionen: Mit dem Begriff der Thematisierung werden Propositionen in einem Text bezeichnet, „die sich auf Emotionen beziehen und die meist explizit formuliert, oftmals aber auch nur umschrieben werden“8. Unter Präsentation hingegen versteht Winko die „sprachliche Gestaltung von Emotionen“, also sprachliche Bezugnahmen auf Emotionen, die „keine Propositionen über Emotionen, sondern die Emotionen selbst“9 vermitteln. Mit ihrer Ausarbeitung eines systematischen Beschreibungs- und Analyseinstrumentariums hat Winko für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung Ähnliches geleistet wie RadaelliRadaelli, Giulia für die Mehrsprachigkeitsforschung.10
Wie diese kurzen Schlaglichter deutlich machen sollten, hat sich die germanistische und kulturwissenschaftliche Forschung im deutschsprachigen Raum mit dem Thema Emotionen in den letzten Jahren intensiv befasst. Diese Auseinandersetzung stand – zusätzlich motiviert durch die neurowissenschaftliche Konjunktur des Themas – in einem zeichentheoretischen Rahmen: Sie zielt vornehmlich auf die historische Genese sowie die Vermitteltheit von Emotionen und ihre Kontingenz.
Der Begriff der Affektivität, wie er im Titel des vorliegenden Bands auftaucht, ist gegenüber dieser Forschungslinie durchaus anders konturiert: Inspiriert von den englischsprachigen affect studies, die in der Germanistik bislang kaum rezipiert wurden, soll mit ihm eine spezifische Perspektive auf Gefühle, Emotionen und Affekte zum Ausdruck gebracht werden, die über den kultursemiotischen Zugang hinausweist. Für die Unterscheidung von Emotions- und Affektforschung heißt das: Nicht der Text- und Zeichencharakter von Emotionen steht im Vordergrund der Analysen, sondern die Affektivität der Zeichen und Texte selbst, die sich in sprachlichen Bildern, im Klang, in der Schrift oder im Satzbau zeigen. In Abgrenzung zum heute geläufigen Begriff von Affekt als „Bezeichnung für starke Regungen“, mit einer „klare[n] Bedeutungstendenz in Richtung des emotional Negativen“1, geht diese Perspektive auf ein grundlegend relationales Verständnis von Affekten und Emotionen zurück.
Eingeleitet wurde diese neuere Diskussion des Affektbegriffs durch zwei programmatische Aufsätze aus dem Jahr 1995: Zum einen „Shame in the Cybernetic Fold“2 von Eve Kosofsky SedgwickSedgwick, Eve Kosofsky und Adam FrankFrank, Adam sowie zum anderen „The Autonomy of Affect“3 von Brian MassumiMassumi, Brian. Während erstere das Anliegen verfolgen, die Affekttheorie des amerikanischen Psychologen Silvan TomkinsTomkins, Silvan in die humanities einzuführen und sich dabei dezidiert gegen deren habitualisierten Anti-Biologismus richten, greift letzterer auf eine durch SpinozaSpinoza, Baruch de und DeleuzeDeleuze, Gilles inspirierte Denktradition zurück, um ‚Affekt‘ von ‚Emotion‘ zu unterscheiden. In Massumis Vorstellung folgen Affekte und Emotionen „different logics and pertain to different orders“4. MassumiMassumi, Brian begreift den Affekt als präreflexive, vor- oder über-individuelle, nicht-sprachlich strukturierte („not semantically or semiotically ordered“5) Intensität, die eine gewisse Autonomie besitzt und nie restlos in kulturellen Codes und Bedeutungen aufgehen kann. Emotionen sind MassumiMassumi, Brian zufolge als „unvollständige[r] Ausdruck eines Affekts“6 zu verstehen. Das heißt, Emotionen sind Affekten stets nachgelagert. Die Emotion ist das Ergebnis einer Transformation: Sie ist gewissermaßen der Affekt im Aggregatzustand seiner Bändigung („capture“).
Als ein weiterer Schritt in der Formierung des Feldes kann TheAffect Theory Reader gelten, der 2010 von Gregory J. SeigworthSeigworth, Gregory J. und Melissa GreggGregg, Melissa herausgegeben wurde und wichtige Vertreterinnen und Vertreter dieser neuen Forschungsrichtung versammelt: Sara AhmedAhmed, Sara, Lauren BerlantBerlant, Lauren, Patricia T. CloughClough, Patricia T., Anna GibbsGibbs, Anna, Lawrence GrossbergGrossberg, Lawrence, Kathleen StewartStewart, Kathleen, Nigel ThriftThrift, Nigel – um nur einige zu nennen. Seigworth und Gregg versuchen in ihrer eher essayistischen Einleitung ihr Anliegen zu formulieren. In Form einer Aufzählung rekapitulieren sie die immense Bandbreite des schillernden Affekt-Begriffs und seiner verschiedenen Bestimmungen als „excess, as autonomous, as impersonal, as the ineffable, as the ongoingness of process, as pedagogic-aesthetic, as virtual, as shareable (mimetic), as sticky, as collective, as contingency, as threshold or conversion point, as immanence of potential (futurity), as the open, as a vibrant incoherence that circulates about zones of cliché and convention, as the gathering place of accumulative dispositions“7. Die Liste verdeutlicht, dass sich unter der Bezeichnung affect studies heterogene Konzepte versammeln, die kein kohärentes Gesamtbild erzeugen. Welches „Versprechen“8, um im emphatischen Duktus des Affect Theory Readers zu bleiben, hält der Affekt-Begriff also für die Literaturwissenschaft bereit?
Autorinnen wie Sara AhmedAhmed, Sara oder Lauren BerlantBerlant, Lauren unterziehen in ihren Studien die Idee des Glücks oder des sogenannten ‚guten Lebens‘ einer kulturwissenschaftlichen Analyse und erhellen ihre Verwobenheit mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und heteronormativen Strukturen.9 Ann CvetkovichCvetkovich, Ann befasst sich mit Emotionen wie Depression und „feeling bad“ und macht dabei das Politische im vermeintlich Privaten sichtbar.10 Dem transformativen Potenzial affektiver Dissonanz geht das Konzept der „affektiven Solidarität“ (affective solidarity) von Clare Hemmings nach.11 Das Konzept des belonging thematisiert die emotionale Dimension von Zugehörigkeiten im Kontext von transkultureller Mobilität und globalen Migrationsprozessen.12 Eine ganze Reihe von Untersuchungen widmet sich der Rolle von Emotionen und Affekten in der Arbeitswelt des gegenwärtigen Kapitalismus: angefangen vom Konzept der affective labour, wie es Michael HardtHardt, Michael und Antonio NegriNegri, Antonio entworfen haben, über Melissa GreggsGregg, Melissa Buch Work’s Intimacy (2011) und die Studie Affektives Kapital (2016) von Otto Penz und Birgit Sauer bis hin zu Rainer Mühlhoffs Dissertationsschrift Immersive Macht (2018).13 Diese Beispiele illustrieren die gesellschaftskritische Reichweite des Affekt-Begriffs und sie zeigen zudem, dass weite Teile der affect studies aus der feministischen Theoriebildung hervorgegangen sind.14 Vor dem Hintergrund der poststrukturalistisch dominierten Debatte um die primär diskursive Konstruktion von Geschlecht bietet der Affektbegriff eine neue Perspektive, die die soziale und historische Bedingtheit von Geschlecht (wieder) mit Fragen nach seiner Materialität und Körperlichkeit verbinden kann. Die von DeleuzeDeleuze, Gilles und MassumiMassumi, Brian geprägte Unterscheidung von unmittelbarem Affekt und diskursiven Emotionen wird in diesem Kontext daher häufig hinterfragt oder gänzlich zurückgewiesen. So unterscheidet Ahmed etwa bewusst nicht zwischen beiden Begriffen, sondern geht im Anschluss an postkoloniale Theorie und Phänomenologie von einem kontinuierlichen Verhältnis aus. Affekt versteht sie als eine Dynamik, die Körper auf bestimmte Weise orientiert und den historischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen entsprechend ungleich wirksam ist; stets werden „some bodies more than others“15 affiziert.
Die Schlaglichter auf die neuere Affektforschung verdeutlichen aber auch, dass nur wenige Arbeiten aus dem Bereich der affect studies explizit der Frage sprachlicher bzw. literarischer Affektivität nachgehen. Fokussiert wird vielmehr auf jene Dimensionen des Sozialen, die sich sprachlicher Repräsentation entziehen. Zumindest in ihren Anfängen haben die affect studies Sprache und Affekt als Gegensätze konzeptualisiert und sich damit gegen die dominante Vorstellung der rein diskursiven Konstruktion von Identität und Kultur gewandt. Affekte, so die Behauptung, „do not operate through the structures of language, discourse and meaning“16. Mit ihr ging allerdings eine erhebliche Vereinfachung einher, denn im ‚Jenseits der Sprache’ wurde affect nicht selten zu einem „magical term“17, der aus dem ‚postmodernen Zeichenwald‘ herausführen sollte und – maßgeblich an Gilles DeleuzeDeleuze, Gilles und Félix GuattariGuattari, Félix anschließend – die Produktivität von Intensitäten und forces of encounter betonte. Sprache läuft demgegenüber immer Gefahr, auf ihre zeichenhaften und semantisch bedeutenden Aspekte reduziert zu werden. Die problematische Annahme einer „Sprachunabhängigkeit der Affekte“18, deren historischer Genese Weigel nachgeht, wird damit von den affect studies teilweise selbst fortgeschrieben. Dies gilt auch für den performativ selbstwidersprüchlichen, rhetorischen Topos der Unsagbarkeit: Affektstudien kommunizieren (angeblich) Nicht-Kommunizierbares, versuchen aber im Medium der Sprache, Nicht-, Vor- oder Außersprachliches zu vermitteln.19
Affekttheoretische Ansätze und germanistische Emotionsforschung scheinen vor diesem Hintergrund zunächst schwer vereinbar zu sein: Ein erster Grund hierfür liegt in der Aufmerksamkeit der affect studies für Phänomene jenseits der Reichweite des linguistic turns. Die Betonung der Materialität und Körperlichkeit von Affektivität ist eine Herausforderung, für die die poststrukturalistisch-semiotisch geprägte Germanistik nicht gut ausgerüstet ist.
Ein zweiter Grund resultiert aus der Sprachskepsis seitens der affect studies, deren Entstehung vor dem Hintergrund des Überdrusses an „theories of signification“1 zu sehen ist und damit gewissermaßen selbst affektiv motiviert ist. Dass Sprache relational ist, dass sie auch in ihrer Repräsentationsfunktion affektive Bewegungen vollzieht und in Gestalt von Klang und Schrift2 über eine ihr eigene Materialität und Körperlichkeit verfügt, rückt damit aus dem theoretischen Horizont der Debatte. In diesem Kontext ist auch die Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion in den affect studies zu situieren. Auf der einen Seite wird mit dem Affekt die Dynamik, Intensität und Unvorhersehbarkeit des Augenblicks gefasst, der sich der Versprachlichung entzieht. Dem ist die Emotion entgegengesetzt, die eine Überführung dieser Intensität in geregelte, normierte diskursive Bahnen bedeutet. Dass eine solche Konzeptualisierung die Literaturwissenschaft vor methodologische Schwierigkeiten stellt und den Weg zu ihrem sprachlich konstituierten Gegenstand eher verstellt als ebnet, kann kaum verwundern. Es handelt sich um eine wechselseitige Rezeptionssperre, die dazu geführt hat, dass eine größere Auseinandersetzung mit den affect studies in der Germanistik bislang ausgeblieben ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Affektivität und Sprache bzw. Mehrsprachigkeit überhaupt zu stellen, bedeutet vor diesem Hintergrund eine zweifache Herausforderung: Weder soll Affektivität als vor-diskursives Geschehen, als ein, wie kritische Stimmen monieren, „homogenisierte[s] Auffanglager für alles Nicht-Sagbare begriffen werden“3, noch ist es wünschenswert, hinter die Einsichten in die kulturelle und soziale Prägung, Codierung und mediale Vermitteltheit von Emotionen und Gefühlen zurückzufallen.
Vielmehr soll zum einen der Impuls aufgenommen und nach der Affektivität und Materialität sprachlicher Vollzüge gefragt werden. In diesem Sinne meint der Begriff der Affektivität eine fundamentale Dimension der Sprache. Damit vollzieht er durchaus eine ähnliche Denkbewegung wie der oben skizzierte Mehrsprachigkeitsbegriff: Affektivität und Mehrsprachigkeit fokussieren nicht so sehr distinkte, isolierbare Affekte oder Sprachen, sondern das relationale und immer schon plurale Sprachgeschehen selbst. Zum anderen gilt es, für die historische Bedingtheit und Strukturiertheit dieser Vollzüge sensibel zu bleiben und das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Geschichte der Gefühle voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund können auch einzelne Affekte und Emotionen wie beispielsweise Hass oder Schmerz als Verdichtungen und Konkretisierungen eines notorisch diffusen Geschehens begriffen werden, die spezifische Formen der mehrsprachigen Artikulation involvieren.4
Im Sinne einer solchen Verbindung von affect studies und literaturgeschichtlich orientierter Emotionsforschung soll abschließend ein gemeinsamer Grundzug herausgestellt werden, der weitere Theorie- und Forschungsperspektiven eröffnen könnte: das Denken in Relationen, d.h. das Denken von dynamischen Wechselverhältnissen. Ihm zufolge werden Materialitäten und Zeichen durch ihre vielfachen Beziehungen allererst hervorgebracht, statt ihnen vorauszugehen.
So steht die Relationalität der Zeichen im Zentrum der diskurswissenschaftlichen Methode; ihr anti-essentialistischer Impetus erlaubt es, Gefühle und Emotionen jenseits der Einfühlungshermeneutik auf einer überindividuellen Ebene zu untersuchen. Auch die affect studies verorten Emotionen und Affekte nicht im Inneren eines Individuums. Sie begreifen Emotionen und Affekte weder als Zuständlichkeit oder Befindlichkeit noch als Besitz oder Eigenschaft eines Subjekts, sondern als ein Geschehen, das sich in sozialen Räumen zwischen „Körpern jeglicher Art“5 abspielt und sie mithervorbringt. Damit verlagert sich der Akzent von der Betonung der zeichentheoretischen Differenz zur Betonung von materiell-körperlichen Wechsel- und Wirkverhältnissen.
Sprache ist davon nicht ausgeschlossen, im Gegenteil: Im „gesellschaftlichen Leben des Wortes“, so lässt sich im Anschluss an BachtinsBachtin, Michail Überlegungen zur Redevielfalt und gegen die sprachskeptischen Teile der affect studies argumentieren, affizieren Wörter einander gegenseitig und bilden dabei Obertöne und Resonanzen. In diesem relationalen Kräftefeld gewinnen sie ihre Bedeutung und Kontur. Die Rede ebenso wie das einzelne Wort steht damit immer in einer Pluralität von Beziehungen; auch das einzelne Wort ist konstitutiv mehrstimmig.
Wie im Abschnitt zur Mehrsprachigkeit bereits angedeutet, präfiguriert BachtinBachtin, Michail damit einen Perspektivwechsel, der für die Philologie der Mehrsprachigkeit zentral ist: Mehrsprachigkeit und Mehrstimmigkeit werden nicht als Abweichung, sondern die einsprachige Norm als eine historisch besonders wirkmächtige Konfiguration begriffen; allerdings eine, die neben und im Widerstreit mit anderen steht und damit selbst Teil einer pluralen Sprachwirklichkeit ist. Im Lichte der affect studies lässt sich Bachtin als ein Theoretiker der affektiven Relationalität der Literatur neu lesen. Jenseits des Stichworts der Intertextualität rückt die agonale Beziehungsdynamik der Sprache, die seiner Theorie zugrunde liegt, in den Fokus – und damit auch die klangliche und sinnlich-materielle Dimension literarischer Sprache. Bachtin kann sich in diesem Sinne als ein Schlüssel unter anderen erweisen, um die vielfältigen Formen und Ausgestaltungen des Verhältnisses von Affektivität und Mehrsprachigkeit zu untersuchen.
Die Beiträge des Bandes nähern sich diesem Verhältnis aus unterschiedlichen Perspektiven, die ihnen zugrundeliegenden Texte umfassen verschiedene Genres, die von Lyrik über poetologische Essays und Sprachbiographien bis hin zu Romanen und Romanexperimenten reichen. Die Wahl der Gattung bedingt maßgeblich die jeweilige Gestaltung von literarischer Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Es haben sich drei Schwerpunkte herauskristallisiert, die mit den skizzierten theoretischen Fragen korrespondieren, und die dem Band seine Struktur geben: Affekt und Sprachkritik, Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit sowie der Zusammenhang von Emotion und Erinnerung.
Den Auftakt bildet ein am 2. November 2017 geführtes Gespräch mit der Autorin und Büchner-Preisträgerin Terézia MoraMora, Terézia, das sich auf Grundlage ihrer Salzburger Poetik-Vorlesung Der geheime Text (2016) und ihrem Roman Das Ungeheuer (2013) mit der Rolle der Mehrsprachigkeit für ihr eigenes Schreiben und dem Schreiben ihrer Protagonistin Flora auseinandersetzt. Wie der Strich in Das Ungeheuer deutlich markiert, führt ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit keineswegs zu mehr Verständnis; außerdem macht er sichtbar, dass mehrsprachiges Schreiben an gesellschaftliche Hierarchien gebunden ist.
Die Beiträge der ersten Sektion beschäftigen sich mit der Frage, wie und auf welche Weise mehrsprachige Literatur selbst Sprache verhandelt. Sprachreflexion und Sprachkritik können nicht nur generell als prominente Merkmale moderner Literatur gelten, sie spielen insbesondere in mehrsprachigen Texten eine zentrale Rolle. Ob und wie sprachkritische Verfahren dabei von mehrsprachigen Verfahren abzugrenzen sind oder ob mehrsprachige Literatur per se sprachreflexiv oder gar sprachkritisch verfährt, wird in diesem Abschnitt diskutiert. Mit Blick auf die Einsprachigkeitsnorm und die Muttersprachensemantik im Diskurs moderner Autorschaft geht es darüber hinaus um die Frage, ob es spezifische Sprachpolitiken der Mehrsprachigkeit gibt und wie diese gegenüber dem affektiv hochbesetzten Monolingualismus positioniert sind. Diese nicht zuletzt politische Dimension literarischer Arbeit an der Sprache analysiert Till Dembeck am Beispiel des Zürcher Dada. In historischer Perspektive stellt er die künstlerische Auseinandersetzung mit der Muttersprachensemantik in den Gedichten von Richard HuelsenbeckHuelsenbeck, Richard, Marcel JancoJanco, Marcel und Tristan TzaraTzara, Tristan sowie Hugo BallBall, Hugo in Beziehung zu den epochemachenden linguistischen Theoremen Ferdinand de SaussuresSaussure, Ferdinand de. Dembeck arbeitet minutiös heraus, dass zwischen den Sprachpolitiken der Dadaisten ebenso zu unterscheiden ist wie zwischen Saussures originalen Überlegungen und der späteren, monolingual ausgerichteten langue-Linguistik. Er weist damit nicht nur auf unbekannte und unerwartete Berührungspunkte zwischen diesen beiden wirkmächtigen Sprachexperimenten hin, sondern zeigt auch, was eine Kulturpolitik des Affekts auszeichnen könnte.
Anhand lyrischer Texte der sogenannten Bukowiner Literatur untersucht Jürgen Brokoff die Bedeutung historisch-politischer und kultureller Konstellationen für eine Poetik der Mehrsprachigkeit. Im Zentrum seines Beitrags stehen Gedichte von Paul CelanCelan, Paul und Rose AusländerAusländer, Rose, deren affektive Dimensionen angesichts der Erfahrung der Shoah im Spannungsfeld von Verständigung und Entzweiung, Zweisprachigkeit und Einmaligkeit der Dichtung verortet werden. Mit vergleichenden Seitenblicken auf den Sprachkritiker Fritz MauthnerMauthner, Fritz, den Lyriker Oskar PastiorPastior, Oskar und die Autorin Herta MüllerMüller, Herta zeigt Brokoff, dass Überlagerungen, Konkurrenzen und Verflechtungen mehrerer Sprachen ein ebenso konflikthaftes wie produktives Potential zu entfalten vermögen. Die Ambivalenzen der Mehrsprachigkeit im Werk Herta Müllers arbeitet Marion Acker heraus. Die Sprachkritik und das fundamentale Misstrauen gegenüber der Repräsentationsfunktion der Sprache, das sich in Müllers Texten artikuliert, verbindet sie mit den Ansätzen der affect studies. Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Müller spezifische autofiktionale Versatzstücke, Szenen und dicht beschriebene zeit-räumliche Arrangements textübergreifend ihr gesamtes Werk charakterisieren, untersucht Ackers Beitrag die affektive Wirkung dieser sich wiederholenden Re-Präsentation und die Rolle, die sie in MüllersMüller, Herta literarischer Verhandlung von Zugehörigkeit und insbesondere Nicht-Zugehörigkeit spielt. Demgegenüber setzt Claudia Hillebrandt mit ihrer emotionswissenschaftlichen Analyse eines Loop-Gedichts Rike SchefflersScheffler, Rike, dessen Performance die elektronische Bearbeitung der Stimme involviert, einen anderen Akzent: Zwischen Sprache und Emotionen analytisch zu trennen, sei für die emotionswissenschaftliche Erforschung von Literatur unerlässlich. Entsprechend schlüsselt Hillebrandt Schefflers Gedicht in ihrer Interpretation exemplarisch nach verschiedenen Verfahren der literarischen Präsentation von Emotionen auf. Damit formuliert sie nicht nur wichtige Rückfragen an die Mehrsprachigkeitsphilologie, sondern schlägt auch ein differenziertes Modell für die emotionswissenschaftliche Untersuchung von Lyrik vor.
Wenn gerade anhand literarischer Mehrsprachigkeit besonders deutlich wird, dass Affekt und Sprache nicht voneinander getrennt werden können, dass sie sich vielmehr auf komplexe Weise bedingen und ineinandergreifen, wie die Beiträge der ersten Sektion unter Beweis stellen, hat das wichtige Implikationen für die Theoretisierung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Ob sich die literarische Artikulation von Zugehörigkeit dabei über kulturelle Schreibpraktiken oder Schriftbildtraditionen, in der literarischen Gestaltung urbaner Räume oder in der Verwendung einer um Drastik bemühten Sprache ausdrückt – die literarische Artikulation von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit vollzieht sich notwendigerweise in der Verbindung von Affekt und Sprache.
Den auf diese Dynamiken der Zugehörigkeit bezogenen, zweiten Themenschwerpunkt unseres Bandes eröffnet Robert Walter-Jochum. Sein Beitrag analysiert eine markante affektive Form des Sprechens, nämlich die Hassrede. In Feridun ZaimoglusZaimoglu, Feridun frühen Texten erkennt Walter-Jochum nicht nur eine produktive Form der Aneignung von fremdenfeindlichem und rassistischem hate speech, sondern auch eine Form der Subjektbildung, für die der Affekt des Hasses geradezu konstitutiv ist. Indem er Zaimoglus Texte in den Kontext der Debatten um den Begriff der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ rückt, leistet er auch einen theoretischen Beitrag zur sozialen Dimension der Affektivität der Literatur.
Sandra Vlasta untersucht in ihrem Beitrag über Tomer GardisGardi, Tomer Roman broken german, der jüngsten Publikation, die in diesem Band behandelt wird, eine Form der literarischen Mehrsprachigkeit, die in ihrem bereits titelgebenden Bruch mit dem Standarddeutsch einige Ähnlichkeiten zu ZaimoglusZaimoglu, Feridun frühen Texten aufweist. Vlasta zeigt, wie die auf mehreren Ebenen thematisierte Mehrsprachigkeit in Gardis Text emotionale Verbindungen schafft. Sie arbeitet damit einen Aspekt des Romans heraus, der Zaimoglus’ Sprachexperimenten durchaus entgegensteht: Denn bei Gardi werden urbane Nicht-Orte, wie Call Shops oder Internetcafés, in ihrer Mehrsprachigkeit zu Orten empathischer Begegnung. Im Unterschied zu individualistischen Ansätzen der Emotionsforschung hält Vlasta fest, dass broken german damit die Möglichkeit eröffnet, Gefühle der Zugehörigkeit über kulturelle und sprachliche Differenzen hinweg zu teilen.
Am Beispiel von Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi, Rafik SchamiSchami, Rafik und Yoko TawadaTawada, Yoko geht Monika Schmitz-Emans der Frage nach dem Zusammenhang von Affektivität und (Fremd-)Schriftlichkeit nach und rückt somit eine spezifische Dimension von Sprache in den Blick, der mehrsprachige Literatur auffällig viel Aufmerksamkeit widmet: ihre sinnliche Materialität. Diese kann – wie schon die Doppeldeutigkeit des titelgebenden Terminus der „Schrift-Passionen“ hervorhebt – sowohl innerfiktional als auch hinsichtlich ihrer rezeptionsästhetischen Wirkung widersprüchliche, zwischen Faszination, Irritation oder auch Aversion changierende Gefühle hervorrufen. Schmitz-Emans führt verschiedene direkte und indirekte „Formen des literarischen Kalküls mit fremder Schrift“ vor Augen und erörtert deren affektiv-emotionale Potenziale im Zusammenhang mit dem Leit-/Leid-Thema der Texte, Liebe und Passion. Als „eine Art Liebeserklärung an die Möglichkeiten der deutschen Sprache“ bezeichnet die Autorin Marica BodrožićBodrožić, Marica ihren Essay „Sterne erben, Sterbe färben. Meine Ankunft in Wörtern“, welcher im Zentrum von Monika Behraveshs Beitrag steht. In ihrer Textanalyse kann sie, hierin an Schmitz-Emans anschließend, die Verortung affektiver Wirkungspotenziale in der Materialität von Sprache nachweisen. Einen wichtigen Aspekt bildet dabei die Verschränkung von autobiographischer Rückschau und poetologischer Reflexion in Bodrožićs Auseinandersetzung mit ihrem Erwerb der deutschen Sprache. In diesem Zusammenhang gelingt es Behravesh, linguistische Ansätze wie das Konzept der linguaculture oder den Begriff des Spracherlebens, insbesondere die ihm inhärente affektiv-emotionale Komponente, für die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit produktiv zu machen.
Mit BodrožićsBodrožić, Marica Prosa befasst sich auch der Beitrag von Esther Kilchmann, nun jedoch in einer anderen, den dritten Themenkomplex eröffnenden Blickrichtung. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung von Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel im Kontext von Erinnerungsprozessen, die zunächst unter theoretischem Gesichtspunkt erörtert wird. Der Beitrag zeichnet erstmalig die Geschichte dieser Frage in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts nach. Auf dieser Grundlage analysiert er die mehrsprachige Erinnerungspoetik im Werk von BodrožićBodrožić, Marica und zeigt dabei auf, dass Sprachwechsel einerseits als Medium der Verdrängung fungiert, andererseits aber auch therapeutische Funktion besitzt, die zugleich zum produktiven Antrieb des Schreibens wird.
Annette Bühler-Dietrich beschäftigt sich ebenfalls mit psychoanalytischen Ansätzen; der theoretische Ertrag ihres Beitrags resultiert aus der gewinnbringenden Verknüpfung von Affektkonzeptionen unterschiedlicher Provenienz. An den Affektbegriffen der Psychoanalyse und der an SpinozaSpinoza, Baruch de und DeleuzeDeleuze, Gilles/GuattariGuattari, Félix anschließenden Traditionslinie der affect studies interessiert Bühler-Dietrich weniger ihr spezifisches Spannungsverhältnis, vielmehr stellt sie über den Schmerz als tertium comparationis ihr verbindendes Element heraus. Am Beispiel von Katja PetrowskajasPetrowskaja, KatjaVielleicht Esther (2014) analysiert sie den engen Zusammenhang von Sprache, Affekt und Erinnerung. Mehrsprachigkeit deutet sie als einen Weg, Verlustschmerz zu artikulieren und zu balancieren. Der Beitrag von Lena Wetenkamp schließlich untersucht den polyphonen Raum der Mehrsprachigkeit bei Ilma RakusaRakusa, Ilma. Entlang der Sprachbiographie der Autorin analysiert Wetenkamp den Zusammenhang von Sprach-, Affekt- und Erinnerungsräumen. Gleichzeitig reflektiert sie den literaturwissenschaftlichen Umgang mit poetologischen, an der Schnittstelle von Autobiographie, Sprachreflexion und Produktionsästhetik angesiedelten Texten, die sie als eine von verschiedenen möglichen Formen der Diskursivierung von Mehrsprachigkeit begreift. Während Wetenkamps Beitrag die Subjektivität affektiver Besetzungen verdeutlicht, fokussiert Susanne Zepp auch die überindividuelle Dimension autobiographischer Geschichtserfahrung. Am Beispiel von Georges-Arthur GoldschmidtGoldschmidt, Georges-Arthur und Hélène CixousCixous, Hélène geht sie der These nach, dass das Nachdenken über die Wahl der Sprache zum Modus der jeweiligen sprachlichen Reflexion von historischer Erfahrung wird. Beiden Beiträgen ist ein zentraler Befund gemeinsam: Die Affektivität von Sprache kann sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren, sie reicht bis in das einzelne Wort in all seine Schichten hinein. Spricht RakusaRakusa, Ilma von „aufgeladenen Teilchen“, die mit Erinnerungen und Assoziationen verknüpft sind, so stellt die Reflexion des einzelnen Wortes als „Trägermaterial von Affekten“ den zentralen Berührungspunkt zwischen Hélène CixousCixous, Hélène und George-Arthur Goldschmidt essayistischen Texten dar. Insgesamt verdeutlicht Zepps Beitrag eine Annahme, die für den gesamten Band leitend ist: nämlich die der Relationalität von Affektivität, „die im Kontext von Sprache und Geschichte wirksam wird“.
Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die vom 2. bis 4. November 2017 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat und vom Teilprojekt „Geteilte Gefühle. Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ des Sonderforschungsbereichs 1171 Affective Societies veranstaltet wurde. Wir möchten uns bei allen herzlich bedanken, die uns eine Diskussion unserer Arbeit und diesen Band ermöglicht haben: An erster Stelle danken wir den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Bereitschaft, sich auf die hier umrissenen Herausforderungen so engagiert eingelassen zu haben. Dem Sonderforschungsbereich gilt unser doppelter Dank: Zum einen für die organisatorische Hilfe, zum anderen für den intensiven interdisziplinären Austausch, dem wir viele theoretische Impulse verdanken. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sei für die Ermöglichung unserer Forschungsarbeit sowie die Finanzierung der Tagung und Publikation gedankt. Dem Francke-Verlag und insbesondere Tillmann Bub danken wir für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Dass wir mit diesem Band die neue Reihe „Literarische Mehrsprachigkeit“ eröffnen dürfen, ist uns eine besondere Freude. Unser Dank gilt daher auch Till Dembeck und Rolf Parr als Initiatoren und Herausgebern dieser Reihe. Schließlich möchten wir uns bei Larissa Hesse für ihre Hilfe und Sorgfalt beim Redigieren der Beiträge bedanken.
In ihrer Poetik-Vorlesung Der geheime Text (2016) reflektiert die zweisprachig aufgewachsene Autorin Terézia Mora ihren Weg von einer Sprache in die andere.1 Dieser Weg bildet nicht nur die Grundlage ihrer Autorschaft, sondern hat auch sichtbare und unsichtbare Spuren in ihren Texten hinterlassen. Anhand dieser Spuren verfolgt Der geheime Text verschiedene Formen und Funktionen der literarischen Mehrsprachigkeit, die Verfahren der Intertextualität und der Übersetzung einschließen. Das gegenwärtige Interesse der Literaturwissenschaften am Thema der Mehrsprachigkeit hat die Autorin in ihrer an der Universität Salzburg gehaltenen Vorlesung explizit begrüßt, da es die Möglichkeit biete, mit anderen Sprachen auch andere Geschichten in den hegemonialen Diskurs einzuspeisen und unbekannte Sätze ‚weiterzuverteilen‘.2
In Moras Roman Das Ungeheuer (2013) ist es Flora, die in ihren tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, ihrem ‚geheimen Text‘, die Sprache wechselt und Sätze weiterverteilt. Dabei wird deutlich, inwiefern verschiedene Sprachen Erinnerungen und Gefühle, aber auch literarische Formen prägen. Dass ‚teilen‘ immer auch ‚trennen‘ bedeutet, wird im Text durch den horizontalen Strich kenntlich, der jede Seite durchzieht. Er markiert die sichtbaren und unsichtbaren Spuren von Mehrsprachigkeit, die nicht nur Darius Kopp als Leser von Floras Dateien, sondern auch die Leser und Leserinnen von Moras Roman vor erhebliche Herausforderungen stellen.
Zur Eröffnung der Tagung haben wir diskutiert, welche Rolle der Sprachwechsel für das Schreiben von Terézia Mora spielt, worin der ‚geheime Text‘ besteht und wer oder was das ‚Ungeheuer‘ ist? Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus dem Gespräch, das am 2. November 2017 an der Freien Universität Berlin stattfand.
Anne Fleig: In ihrer Salzburger Poetik-Vorlesung sagen Sie: Schreiben beginnt mit der Beobachtung der Sprache. Ich denke, diese Beobachtung setzt einen bestimmten Abstand voraus. Wie hängt dieser Abstand mit Ihrer Zweisprachigkeit zusammen? Inwiefern entsteht daraus der ‚geheime Text‘?
Terézia Mora: Ich mache das nicht rituell: Ich bin Autorin und jetzt beobachte ich mal meine Sprache. Es ist vielmehr immer schon mein Hobby gewesen, auch, als ich noch keine Schriftstellerin war. Insofern entwickeln Sie dann eine gewisse Routine, bevor Sie anfangen zu schreiben.
Welche Rolle spielt die Zweisprachigkeit beim Schreiben?
Die Anwesenheit einer zweiten Sprache war insbesondere bei meinem ersten Buch Seltsame Materie (1999) für mich sehr spürbar. Das sind Erzählungen in einem einsprachig deutschsprachigen Buch, die ihren Ursprung aber in Ungarn haben, sie nähren sich aus Material, das ich aus Ungarn mitgebracht habe, und entweder deswegen, oder weil es mein erstes Buch war, haben sich beim Schreiben immer ungarische Wörter aufgedrängt. Und da musste ich zum Beispiel wahnsinnig aufmerksam sein, was ich da mache und das ist mir auch nicht überall gelungen, muss ich sagen. Manchmal habe ich auch danebengegriffen. Ich musste mich für ein deutsches Wort entscheiden und heute würde ich mich für ein anderes entscheiden. Aber beim zweiten Buch war das bereits, wie ich finde, überwunden, da konnte ich schon mehr so machen, wie ich es wollte.
Aber das ist eher eine Frage der Erfahrung als Autorin – oder würden Sie sagen, das ist eine Frage des Sprachwechsels oder der zwei Sprachen?
Ich würde durchaus sagen, das hat etwas mit der Erfahrung als Autorin zu tun. Bevor ich mein erstes Buch schrieb, habe ich schon ein wenig deutsche Literatur auf Deutsch gelesen, aber mitgebracht hatte ich hauptsächlich Literatur, die entweder Ungarisch im Original oder ins Ungarische übersetzt war. Ich kann mich deutlich an Momente des Sprachwechsels erinnern. Ganz einfaches Beispiel: Den „Panther“ von RilkeRilke, Rainer Maria habe ich zuerst auf Ungarisch übersetzt gelesen, und ich fand das ganz toll. Und dann habe ich das Original kennengelernt und das Interessanteste war, dass das Original jede Übersetzung, so schön sie auch war, sofort weggefegt hat. Und seitdem weiß ich nicht mehr, wie es auf Ungarisch war, ich weiß nur noch das Original.
Zwischen meinem ersten und dem zweiten Buch habe ich bewusst vieles, was ich vorher in der Übersetzung kannte, im deutschen Original nachgelesen oder ich habe deutsche Übersetzungen von durch mich hoch geschätzter internationaler Literatur, z.B. den Ulysses gelesen, um zu wissen, wie sich Literatur auf Deutsch überhaupt liest. Offenbar war ich der Meinung, dass das notwendig war, bevor ich selbst weiter deutschsprachige Literatur schrieb. In Wahrheit ist das natürlich überhaupt nicht notwendig. Aber ich fühlte mich so besser vorbereitet.
Ich fand Ihre Formulierung mit dem Sehen, dass Sie gesagt haben, „man beobachtet die Sprache“, auch deswegen interessant, weil Sehen dabei auf spezifische Weise eine Rolle spielt. Es gibt von Herta MüllerMüller, Herta eine berühmte Formulierung, dass in jeder Sprache andere Augen sitzen. Und ich dachte …
Interessant, dass es Augen sind und nicht Ohren, ja.
Genau darauf zielt meine Frage.
Das ist spontan jetzt schwierig – „andere Augen“ … nicht unbedingt, ich würde eher auf die Ohren gehen …
Herta MüllerMüller, Herta hat damit ja zum Ausdruck bringen wollen, dass man durch jede Sprache seine Umwelt mit anderen Augen wahrnimmt.
Und vom Sehen ist sie zurückgegangen auf Augen und schon haben wir ein außergewöhnliches Bild. Das ist etwas, was Zweisprachige häufig machen! Du untersuchst das einzelne Verb, gehst dann zurück auf das Hauptwort, vergleichst es wieder mit anderen Sprachen und dann sagst du, ah interessant.
Aber ich bin tatsächlich bei Ihnen auf das Hören gekommen, denn Sie bringen immer wieder Lyrik als Beispiel. Auch jetzt in dieser Situation haben Sie als Beispiel RilkeRilke, Rainer Marias „Panther“ gewählt. Würden Sie mir nicht zustimmen, dass Sie immer wieder auf Lyrik zu sprechen kommen?
Es ist so, wenn man in Ungarn zur Schule gegangen ist, zumindest bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, denn nur darüber kann ich mich verbindlich äußern, hat man gelernt, dass die Lyrik alles ist. Man lernt wahnsinnig viele Gedichte von ‚unseren Dichtern‘ in ungarischen Schulen, das ist ganz wichtig. Und sie werden tatsächlich damit sozialisiert, weniger mit Prosa. Die Prosa, die wir zu meiner Zeit in der Schule lesen mussten, war unglaublich öde. Historische Romane. Und nicht aus literarischen, sondern aus historischen Gründen. Solange ich in die Schule ging, haben wir es nicht bis zur Gegenwartsliteratur geschafft, also zu den spannenden Sachen. Dabei ist in den siebziger Jahren mit der ungarischen Prosa etwas Phänomenales passiert. Man nennt das auch das Péter-Paradigma, weil recht viele Autoren Péter mit Vornamen hießen: Péter EsterházyEsterházy, Péter, Péter NádasNádas, Péter, Péter LengyelLengyel, Péter, Péter HajnóczyHajnóczy, Péter. Die ganzen Péters, und noch andere, die nicht Péter hießen, haben da was Tolles gemacht, was es bis dahin nicht gab. Ich musste mir es dann selber erlesen, in der Schule gab es dazu keinen Zugang. Deswegen ist es wahrscheinlich auch so, dass ich, wenn ich beim Schreiben auf eine Schicht zugreife, was ganz spontan passiert, ich meist bei den länger und tiefer verankerten Dingen lande, also bei der Lyrik. Die später verinnerlichte Prosa liegt darüber, auf einer neueren, einer bewussteren, weniger spontanen Ebene.
Ich hatte für mich die Lyrik mit dem Hören und dem Klang verbunden. Und da stellt sich natürlich die Frage: Inwiefern geht es Ihnen um diesen Klang, diese Materialität der Sprache?
Ich muss sagen, die Prosa, die ich mag, ist auch sehr rhythmisch. Einen EsterházyEsterházy, Péter-Satz können sie gar nicht monoton vor sich hinsagen, weil der ganze Satz sehr musikalisch ist.
Eine Frage, die uns sehr beschäftigt, und die auch mit Klang und Materialität zu tun hat, ist, inwiefern Sprache das Vermögen hat, Dinge oder Welt fremd zu machen? Das hat auch mit Affekten zu tun und Empfindung. Was heißt es für Sie, eine Sprache zu spüren?
Wichtig ist vor allem: welche Art von Literatur spricht mich an. Ich würde das tatsächlich als sinnliches Erlebnis beschreiben. Es ist so, dass ich auf Sachen, die ich gut oder schlecht finde, körperlich reagiere. Es kann buchstäblich passieren, dass man einen Text zum Kotzen findet. Das ist kein Zufall, uns allen geht das so.
Ich kann mich erinnern, wie ich einmal versucht habe, einen Text auf Ungarisch zu machen. Mein allererster literarischer Text war eine Erzählung mit dem Titel Durst, ich war 26 Jahre alt, und er war auf Deutsch. Wenn man mehrsprachig ist, taucht ja immer wieder die Frage nach diesem Moment auf, wo man sich entschieden hat, in einer der beiden Sprachen zu schreiben. Und abgesehen davon, dass ich in Deutschland lebte, und dass es widersinnig gewesen wäre, für einen deutschen Literaturwettbewerb auf Ungarisch zu schreiben, stellt sich die Frage: Was passiert mit dem Material, wenn du anfängst auf Deutsch zu schreiben und hättest du es auch auf Ungarisch machen können? 15 Jahre später habe ich die Probe aufs Exempel gemacht und versucht, Durst auf Ungarisch zu schreiben, es wenigstens anzufangen. Wobei das natürlich keine gute experimentelle Situation war, denn 15 Jahre später ist man ja nicht mehr an demselben Punkt. Man kann also nicht mehr herausfinden, was wirklich passiert wäre, hätte man es damals auf Ungarisch geschrieben. Tatsache ist, dass es jetzt, später, überhaupt nicht ging. Schon beim zweiten Satz auf Ungarisch hatte ich das Gefühl, ganz unsicher zu sein, obwohl ich mittlerweile schon einige Erfahrungen als Autorin gesammelt hatte. Während ich damals, als blutige Anfängerin, mit dem Deutschen ein ganz anderes, ganz sicheres Gefühl hatte. Da dachte ich schon nach dem ersten Satz, „Großvater trinkt“, ja, das ist es, von hier aus sehe ich die ganze Erzählung vor mir. Während das Ungarische ebenso deutlich nirgendwo hinführte.
Wenn Sie jetzt am Schreibtisch sitzen oder wo immer Sie auch schreiben, klingt dann noch die ungarische Sprache im deutschen Schreiben mit?
Durchaus an manchen Stellen, also dort, wo das Deutsche sehr dünn wird.
Was heißt das?
Wo mein Deutsch dünn wird, kommt das Ungarische herein. Mitunter tut sich beim Schreiben eine Lücke im Satz auf, weil mir nur das ungarische Wort einfällt. Warum ist das eine Lücke? Weil an dieser Stelle das Deutsche fadenscheinig ist oder das Ungarische sehr stark ist. Warum ist es stark, kommt dann die Frage. Warum kommt an dieser Stelle das ungarische Wort herein? Überprüfe: Inwiefern unterscheidet es sich von dem nächstmöglichen deutschen Wort? Kannst du das dann nehmen, ja oder nein? Du musst natürlich ein deutsches Wort nehmen, aber welches nimmst du? Das Ungarische ist im Grunde genommen eine Störung, aber auch eine Hilfe, denn offensichtlich befindest du dich im Satz an einem Punkt, wo für dich eine Frage entsteht. Du kannst sie nicht spontan beantworten, du musst darüber nachdenken. Also mache ich das. Das Ungarische ist auch jedes Mal präsent, wenn es inhaltlich evoziert wird, wenn zum Beispiel die Figur Ungarin ist oder die Behauptung aufgestellt wird, sie würde auf Ungarisch scheiben.
Mein Roman Das Ungeheuer enthält beispielsweise zwei Texte: Einmal den Text eines trauernden Ehemannes, der Deutscher ist, und einmal die nachgelassenen Aufzeichnungen seiner verstorbenen ungarischen Ehefrau Flora, die diese Aufzeichnungen auf Ungarisch verfasst hat. Wir wissen nicht genau, weshalb, aber wir können es uns denken: Weil das ihre geheime Sprache ist. Für mich als Autorin stellte sich daraufhin die Frage: In welcher Sprache schreibst du jetzt Floras Texte? Es wird am Ende zwar ein deutschsprachiges Buch sein, aber es wäre schlau, die Texte zuerst auf Ungarisch zu schreiben. Das ist ein sehr spannender Moment, weil ich ein paar Monate vorher die Erfahrung gemacht habe, dass ich immer noch nicht auf Ungarisch schreiben kann.
Das hat mich dann dazu veranlasst, einen halben Roman auf Ungarisch zu schreiben. Ich wusste, dass Das Ungeheuer schwierig werden würde, aber ich wollte, dass sich die beiden Texte radikal voneinander unterscheiden. Floras Text sollte tatsächlich etwas komplett anderes sein und dazu habe ich meine nicht mehr so gut beherrschte Muttersprache benutzt. Es kostete mich Blut, Schweiß und Tränen. Häufig fing ich an, auf Ungarisch zu schreiben, merkte jedoch: Das ist nicht Ungarisch, du übersetzt gerade! Ich habe das Schreiben in solchen Momenten dann immer radikal unterbrochen. Es war furchtbar! Schließlich habe ich mich aber mit Floras Text durchgequält und das hat tatsächlich dazu geführt, dass der Text weniger literarisch wurde oder besser gesagt, dass der Text privater und inoffizieller wirkt. Als ich damit fertig war, kam die nächste Herausforderung: Der Text sollte einsprachig deutsch sein und das heißt, dass der ungarische Text ins Deutsche gebracht werden musste, darauf achtend, dass ich ihn nicht verbessere. Das war ein wahnsinnig spannender Prozess. Das Ungeheuer