Against all Odds - Michelle Wend - E-Book

Against all Odds E-Book

Michelle Wend

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Beschreibung

Matt Harris hat ein Problem. Obwohl dem Starspieler der Duke Blue Devils die Herzen weiblicher Fans nur so zufliegen, schlägt seins bloß für eine: June Wheeler, seine beste Freundin, die unsterblich in seinen Teamkameraden Caleb verliebt ist. Matt beschließt, sich June aus dem Kopf zu schlagen und ihr nur ein guter Freund zu sein, doch dann kommen sich die beiden eines Nachts überraschend näher ... June steckt in Schwierigkeiten. Nachdem sie monatelang geglaubt hat, Caleb Jensen sei der Richtige für sie, gerät ihre Welt völlig aus den Fugen, als sie ihren besten Freund Matt küsst. Was rein platonisch begonnen hat, fühlt sich mit einem Mal wie alles an, was June jemals wollte. Doch als sie endlich erkennt, dass Matt der Eine für sie ist, droht ein fataler Zwischenfall die beiden für immer zu trennen.

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Seitenzahl: 525

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AGAINSTall Odds

Michelle Wend

© 2023 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8700 Leoben, Austria

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: HayDmitriy (depositphotos)

Redaktion & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-96-7

ISBN-EPUB: 978-3-903278-97-4

www.romance-edition.com

Für Mama und Papa,

manchmal reichen Worte nicht aus, um auszudrücken, wie froh ich bin, euch zu haben. Nichts von alldem wäre ohne eure Unterstützung möglich gewesen. Danke, dass ihr jeden Weg gemeinsam mit mir geht ♥️

1. Kapitel

Meeting you was fate, becoming your friend was a choice, but falling in love with you was beyond my control.

Unknown

Durham, North Carolina

June

Normalerweise war ich gut darin, unglücklich verliebt zu sein. Ich trug mein Schicksal tapfer und mit Würde. Doch an diesem Abend hatte ich mein Limit erreicht.

Meinen Becher mit beiden Händen umklammernd, stand ich am Rand der Tanzfläche und beobachtete, wie der Typ, auf den ich stand, eng umschlungen mit seiner Freundin tanzte. Lächelnd vergrub Lauren ihre Hände in Calebs blonden Haaren und presste ihre Lippen für einen kurzen Augenblick auf seine.

Objektiv betrachtet waren sie ein schönes Paar, subjektiv mochte ich Caleb dadurch allerdings nicht weniger. Ich musste masochistisch veranlagt sein, anders konnte ich mir nicht erklären, dass ich weiterhin zu den beiden sah, anstatt mich zu meinen Freundinnen zu setzen und mit ihnen zu feiern. Wir hatten die Newcrest Patriots mit neunundvierzig zu dreizehn vernichtend geschlagen, unseren achten Sieg in Folge geholt und uns anschließend bei Caleb zuhause getroffen, der wie so oft sturmfrei hatte, um darauf anzustoßen. Den ersten Tabellenplatz in der Atlantic Coast Conference Women’s Basketball hatten wir schon lange sicher und manch einer sprach bereits jetzt von der erfolgreichsten Saison der Duke Blue Ravens seit ihrer Gründung. Ich konnte mich also nicht beschweren. Wäre da nicht das kleine Wörtchen eigentlich, denn mein neu gefasstes Vorhaben, Caleb und Lauren so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, war schon an diesem Abend missglückt. Da Caleb für das Basketballteam der Duke Blue Devils spielte, und Lauren der Cheerleadercaptain war, wodurch sich all unsere Trainingszeiten meist überschnitten, war mein Plan sowieso zum Scheitern verurteilt gewesen.

»Hier bist du.« Es war Carlys Stimme, die mich endlich den Blick von meinem persönlichen Kryptonit abwenden ließ. Sie stupste mich leicht mit ihrem Ellenbogen an und hielt mir einen vollen Becher hin. Mit einem angedeuteten Lächeln nahm ich ihr das Bier ab, setzte es an meine Lippen und trank einen großzügigen Schluck. Normalerweise gehörte es nicht zu den Top Five meiner Lieblingsgetränke, doch besondere Umstände erforderten besondere Maßnahmen. Für den Rest des Abends würde ich mich nicht über den schalen Geschmack beschweren.

»Ist alles okay?«

»Klar.«

Ihr skeptischer Blick zeigte, dass sie mir kein Wort glaubte. Was mich nicht sonderlich überraschte. Carly und ich waren zusammen groß geworden, es gab niemanden, der mich besser kannte als sie. »Und jetzt die Wahrheit?«

Anstatt ihrer Aufforderung nachzukommen, deutete ich mit dem Kopf auf die Tanzfläche. Caleb und Lauren standen etwa zwei Meter von uns entfernt und küssten sich leidenschaftlich. Mehr musste ich dazu nicht sagen. Carly wusste über meine Schwärmerei für Caleb inzwischen Bescheid, nachdem sie mir kurz nach seiner Geburtstagsparty vor sieben Monaten auf die Schliche gekommen war. Noch am selben Abend hatte sie mich darauf angesprochen, ob ich mich in den Power Forward der Blue Devils verliebt hatte und weil ich ihr sowieso nichts hätte vormachen können, hatte ich ihr von meinen Gefühlen für Caleb erzählt.

»Verstehe.«

Seufzend sah ich auf meine Uhr. Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Um möglichst unauffällig zu verschwinden, war es definitiv zu früh. Eine halbe Stunde musste ich noch durchhalten, dann konnte ich mein Gehen mit Erschöpfung rechtfertigen.

»Hey, ihr zwei.« Lächelnd umschlang Carlys Freund Logan von hinten ihre Taille und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Jedes Mal, wenn ich die beiden so sah, musste ich daran denken, wie alles zwischen ihnen begonnen hatte. Trotz gegenseitiger Anziehung hatte es lange gedauert, bis sie ihre Startschwierigkeiten überwunden hatten und im Herbst vergangenen Jahres ein Paar geworden waren. Seitdem waren sie unzertrennlich. Ich gönnte ihnen ihr Glück und freute mich von ganzem Herzen für sie.

»Na du.« Carly kuschelte sich enger in Logans Arme, drehte den Kopf und hauchte ihm einen Kuss auf seine Wange.

Ich wandte mich ein Stück ab, um ihnen ein wenig Privatsphäre zu geben, und entdeckte Mason, Brian und Matt, die schräg gegenüber von uns standen. Als Matt mich entdeckte, hob er grüßend die Hand und schenkte mir ein Lächeln, das meinen Abend für einen kurzen Augenblick besser machte. Ich versuchte mich ebenfalls an einem Lächeln und spürte, wie es verblasste, als Caleb und Lauren händchenhaltend an Matt vorbeiliefen.

Seufzend sah ich zurück zu Carly und Logan, die noch immer neben mir standen und mich nun zu zweit besorgt musterten. Doch ich wollte jetzt nicht über meine unerwiderten Gefühle sprechen oder ihnen den Abend damit verderben.

»Ich werde mir ein wenig die Beine vertreten, wir sehen uns später.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging ich in Richtung der Treppe, die in die obere Etage führte. Mit jedem Schritt wurde die Musik ein bisschen leiser und meine Gedanken klarer.

Die kleine Bibliothek von Calebs Eltern hatte ich auf einer der letzten Partys durch Zufall entdeckt und sie zu meinem persönlichen Rückzugsort erklärt. Das Mondlicht drang durch die bodentiefen Fenster hinein und erhellte den Raum gerade genug, sodass ich die Titel auf den Buchrücken entziffern konnte. Es war ein bunter Mix, von historischen Romanen, über Fachbücher und der Autobiografie von Calebs Dad, einem bekannten Politiker, war alles dabei. Vor der großen Glasfront mit Blick in den wunderschönen Garten standen ein cremefarbenes Sofa, das Platz für zwei Personen bot, sowie links und rechts zwei einander zugewandte gemütlich aussehende Sessel.

Ich ließ mich auf die Couch fallen und streifte mir die Schuhe ab. Leise seufzend vergrub ich den Kopf in meinen Händen und schloss für einen Moment die Augen. Das Dröhnen des Basses wurde durch den flauschigen Teppich unter meinen Füßen ein wenig gedämpft, und wenn ich mich etwas anstrengte, konnte ich das Geräusch nahezu komplett ausblenden. Die Euphorie, die ich dank unseres Siegs vorhin noch empfunden hatte, war nahezu verschwunden und hatte einem anderem Gefühl Platz gemacht: Trübsal. Wie so oft in letzter Zeit. Weil ich Gefühle für einen Mann entwickelt hatte, der absolut tabu war und es auch immer bleiben würde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto eher glaubte ich Teil eines tragischen Liebesromans zu sein, indem die Protagonistin kein Happy End erleben würde. Ich lachte tonlos auf und zuckte zusammen, als ich hörte, wie die Tür zur Bibliothek geöffnet wurde und kurz darauf wieder ins Schloss fiel. Mein Herz schlug schneller, beruhigte sich jedoch wieder, als ich mich umdrehte und erkannte, dass es Matt war.

»Hier bist du.« Lächelnd setzte er sich neben mich und reichte mir einen der beiden roten Plastikbecher, die er in den Händen hielt. Dankbar nahm ich den Drink entgegen und begutachtete den Inhalt. »Keine Sorge, das ist Wein. Kein Bier.«

Dass er daran gedacht hatte, zeigte nur, wie gut er mich bereits kannte, obwohl wir uns erst vor einem knappen Jahr kennengelernt hatten. Matt war in den vergangenen Monaten zu einem großartigen Freund geworden. Vielleicht würde er eines Tages sogar zu meinem besten werden. »Wo hast du denn den aufgetrieben?«

»Im Kühlschrank. Eventuell habe ich den persönlichen Vorrat von Calebs Dad geplündert.«

»Sag mir, dass das ein Scherz ist.«

»Nope.« Matt zwinkerte und lehnte sich mit dem Rücken in die weichen Polster. Das konnte er unmöglich ernst meinen. Doch allem Anschein nach tat er es. Ob Calebs Dad auffallen würde, dass eine Flasche geöffnet worden war? Vermutlich nicht. Caleb hatte irgendwann mal erzählt, dass seine Eltern nur selten zuhause waren. Doch ich wollte in diesem Augenblick weder an den Power Forward der Blue Devils noch an seinen Vater denken.

Ich schüttelte den Kopf, roch an meinem Becher und ließ das fruchtige Aroma auf mich wirken. Im Gegensatz zu meinem Dad, der ein echter Experte auf diesem Gebiet war, hatte ich nicht den blassesten Schimmer von Wein. Für mich gab es nur zwei Kategorien, in die er sich einteilen ließ: Schmeckt oder schmeckt nicht. Behutsam trank ich einen Schluck. Auch wenn ich keine einzelnen Kopfnoten identifizieren konnte, gehörte dieser Weißwein definitiv zur ersten Kategorie.

»Und? Ist er akzeptabel, oder muss ich den Weinkeller suchen?« Matts Mundwinkel zuckten, und ich erwischte mich, wie auch ich anfing zu lächeln.

»Musst du nicht, der Wein ist wirklich gut. Oder magst du ihn nicht?«

Matt schüttelte den Kopf und deutete auf seinen Becher. »Das ist Wasser.«

Verwundert setzte ich mich etwas aufrechter hin und stützte mich mit einem Arm auf der Couchlehne ab. »Du weißt schon, dass das hier eine Party ist?«

Matt ließ den Blick einmal durch den leeren Raum schweifen, dann sah er wieder zu mir. »Wie nett, dass du mich darauf hinweist.«

Ich verdrehte die Augen und schlug ihm leicht gegen seinen Oberarm, den er sich sofort mit vor Schmerz verzogener Miene hielt. Dass es ihm nicht wehgetan hatte, wussten wir beide. Dafür war Matt als Shooting Guard der Blue Devils viel zu durchtrainiert. Vermutlich hatte er die Berührung kaum gespürt.

»Autsch. Wofür war das denn?«, wollte er gespielt empört wissen. Anstatt ihm zu antworten, legte ich bloß den Kopf schief und musterte ihn. »Okay, okay.« Abwehrend hob er die Hände, bevor er sie wieder sinken ließ. »Wem gehen wir eigentlich aus dem Weg?«

Seine Frage traf mich absolut unvorbereitet und brachte mich für einen kurzen Augenblick aus dem Konzept. »Ist das so offensichtlich?«

»Für jemanden, der dich kennt, schon.« Auf seinem Gesicht lag ein leichtes Lächeln. Seine braunen, leicht gelockten Haare waren ein wenig verwuschelt und sahen so aus, als wäre er unzählige Male mit seinen Händen hindurchgefahren. Sein Kinn zierte ein leichter Dreitagebart, der ihm viel zu gut stand. Die obersten beiden Knöpfe seines blau-schwarzen Karohemds waren geöffnet, die Ärmel hatte er leicht hochgekrempelt, sodass ich für einen Augenblick auf seine durchtrainierten Arme sah. Matt ohne ein solches Hemd anzutreffen, war nahezu unmöglich. Es gehörte einfach zu ihm, wie meine Sneaker zu mir. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich nicht leugnen können, dass Matt unglaublich attraktiv war. Seine zahlreichen weiblichen Fans hätten mir an dieser Stelle vermutlich jubelnd zugestimmt.

»June?« Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken, die in eine völlig verkehrte Richtung gewandert waren.

Ich räusperte mich leise, um sie vollends zu vertreiben. »Hm?«

»Vor wem verstecken wir uns?« Wieder sah er zu mir und seine braunen Augen strahlten dabei solch eine Wärme aus, dass ich erschauerte. Ohne darüber nachzudenken, sagte ich ihm, was mich verletzlich machte.

»Caleb.« Fünf Buchstaben, die für meine verkorkste Situation standen. Auch wenn man seine Gefühle nicht steuern konnte, wünschte ich mir, dass es nur ein einziges Mal anders wäre. Dass man sie auf Knopfdruck abstellen oder meinetwegen auch umprogrammieren konnte. Reines Wunschdenken, dessen war ich mir bewusst. Schließlich würde ich mich niemals an einen Kerl ranmachen, der bereits vergeben war. Sowas tat man einfach nicht.

Ich strich mir eine braune Strähne aus dem Gesicht, die sich bereits vor einer halben Ewigkeit aus meinem Zopf gelöst hatte, und trank einen Schluck Wein, in der Hoffnung, er würde alles besser machen und meine Zuneigung für Caleb wie durch ein Wunder verschwinden lassen. Wenn ich nur genug davon trank, standen die Chancen zumindest nicht schlecht. Auch wenn es bloß eine Lösung für ein paar Stunden und keine dauerhafte war.

»Was hat der Idiot getan?« Dass Matt instinktiv die Schuld bei Caleb suchte, war süß, auch wenn er damit völlig falsch lag.

»Gar nichts.«

Mit fragender Miene lehnte er sich vor. »Gar nichts?« Er ließ mich nicht aus den Augen, als er seinen Becher ansetzte und einen Schluck daraus trank.

»Nein.« Ich senkte den Blick und sah auf meine High Heels, die links neben dem Teppich standen und die ich nur auf Partys trug. Noch immer war ich kein Freund davon und ich würde es auch niemals werden. Aber zu einem Kleid passten sie nun mal besser als Sneaker. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Matt mich nachdenklich musterte. Auch wenn ich ihm gerne erzählt hätte, warum ich Caleb aus dem Weg ging, obwohl er nichts verbrochen hatte, wusste ich einfach nicht, wie. Selbst in meinen Gedanken war es lächerlich, dass ich mich in Selbstmitleid suhlte. Wie würde es also erst klingen, wenn ich es aussprach? Also sagte ich nichts. Und vielleicht war das auch schon genug.

»Du magst ihn.« Es war eine Aussage, keine Frage. Ich nickte. »Verstehe.«

Eine Weile schwiegen wir, lediglich das Dröhnen der Musik aus der unteren Etage war zu hören. Wir mussten aber auch nicht sprechen, so weit war alles gesagt. Möglichst unauffällig sah ich in Matts Richtung und erkannte, dass er den Blick auf den weitläufigen Garten vor uns gerichtet hatte. Ich tat es ihm gleich und beobachtete, wie sich einige der Partygäste wild gestikulierend miteinander unterhielten und vermutlich den Spaß ihres Lebens hatten. Ich seufzte leise, weil ich viel lieber zu ihnen gehört hätte, als mich hier oben zu verstecken und darauf zu hoffen, Caleb und Lauren nicht erneut über den Weg zu laufen.

Anstatt etwas zu sagen, rückte Matt ein Stück näher. Er musste es nicht aussprechen, ich wusste auch so, was er mir damit ausdrücken wollte. Ich bin für dich da. Seufzend lehnte ich mich gegen ihn. »Danke.«

»Jederzeit.«

Ich konzentrierte mich auf das gleichmäßige Heben und Senken seiner Schulter und merkte, wie ich ganz allmählich zur Ruhe kam. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, der Abend beschissen. Insgeheim sehnte ich mich nur noch nach einem Becher Eiscreme, meinem Bett und einer Folge Bull. Zum Glück hatten wir morgen trainingsfrei, was bedeutete, dass ich ausschlafen konnte und vor zwölf Uhr garantiert nicht aufstehen würde. Hinter vorgehaltener Hand versuchte ich, ein Gähnen zu verstecken, doch Matt bemerkte es.

»Komm, ich fahre dich nach Hause.« Lachend erhob er sich und deutete in Richtung Tür. Er war in diesem Moment mein Ritter in schimmernder Rüstung, mein Superheld ohne Cape. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich meine High Heels angezogen und stand auf.

Ich zögerte kurz, dann nahm ich seine Hand, die er mir mit einem unsicheren Lächeln anbot. Vermutlich war er einfach besorgt, dass ich von der Treppe fallen würde. Was süß, aber nicht notwendig war, weil ich nicht ansatzweise betrunken war. Doch das Gefühl seiner Finger, die sich mit meinen verschränkten, war nicht unangenehm, lediglich ungewohnt.

Gemeinsam gingen wir nach unten zu den anderen, die uns erstaunte Blicke schenkten. Etwas verlegen räusperte ich mich, griff mir meine Jacke und sah zu Carly, die zwischen Sarah und Logan saß. Während Letzterer sich mit Mason unterhielt, grinsten meine beste Freundin und Sarah mich an. Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich weiter zu Carly, damit sie mich trotz der Lautstärke einigermaßen verstehen konnte. »Matt bringt mich nach Hause. Sehen wir uns später oder schläfst du bei Logan?«

Abwechselnd sah sie zwischen uns hin und her. »Ich denke, ich werde bei Logan übernachten.« Sie lächelte zufrieden und kuschelte sich an ihren Freund, der sofort den Arm um sie schlang und sie festhielt.

»Dann bis morgen.«

»Schlaf gut. Und Matt?« Sie winkte ihn näher zu sich, sodass er sich ihr entgegen lehnte.

»Ja?«

»Pass gefälligst auf sie auf, verstanden?«

Lachend nickte er und ging einen Schritt zur Seite, um mir den Vortritt zu lassen. »Werde ich, keine Sorge.«

Sprachlos sah ich zwischen meiner besten Freundin und Matt hin und her. Dann schüttelte ich den Kopf. Ich brauchte keinen persönlichen Bodyguard, auch wenn meine beste Freundin das scheinbar anders sah. »Ihr seid doch einfach unglaublich.«

»Schon möglich.« Erneut nahm Matt meine Hand und führte mich nach draußen. Die Abendluft war kühler als gedacht. Obwohl wir bereits Anfang März hatten, lagen die Temperaturen nur knapp über zehn Grad. Ich schob meine freie Hand in meine Jackentasche, in der Hoffnung, dass mir dadurch etwas wärmer werden würde. Matt bemerkte es, ließ meine Hand los und zog mich stattdessen an seine Seite. Etwas überrumpelt ließ ich es zu und spürte augenblicklich seine Wärme sowie einen angenehmen Schauer, der über meinen Rücken fuhr. Matt roch nach frisch gewaschener Wäsche, seinem Aftershave und etwas, das nur er selbst sein konnte. Möglichst unauffällig atmete ich tief ein. Wenn er es bemerkt hatte, sagte er jedenfalls nichts dazu.

Jetzt, da ich sicher sein konnte, Caleb an diesem Abend nicht mehr über den Weg zu laufen, ließ meine innere Anspannung endlich nach. Nur allzu deutlich wurde mir bewusst, wie kindisch mein Verhalten gewesen war. Mit einundzwanzig Jahren war ich schon lange aus dem Alter raus, in dem man sich vor jemandem versteckte, um dadurch seinen Problemen aus dem Weg zu gehen. Das war definitiv keine Dauerlösung. Caleb war der beste Freund von Logan, und da ich mir sicher war, dass Logan und Carly miteinander alt werden würden, konnte ich mich nicht den Rest meines Lebens vor Caleb verstecken. So gern ich es auch getan hätte.

»Worüber denkst du so angestrengt nach?« Zum zweiten Mal an diesem Abend riss Matt mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte leicht zusammen, was ihn den Druck an meiner Hüfte für einen Moment verstärken ließ. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Schon gut. Es war nichts Wichtiges.«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Musst du wohl.« Ich zuckte mit den Schultern und schenkte ihm ein ehrliches Lächeln. Matt konnte nichts für meine unglückliche Situation und er verdiente es nicht, meinen Frust abzubekommen. Immerhin war er derjenige, der es immer wieder schaffte, mich von all dem abzulenken.

»Sie sind eine mysteriöse Frau, Miss Wheeler.«

»Wenn ich eines nicht bin, dann das, Mr Harris.«

Abrupt blieb er stehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, weshalb ich leicht ins Straucheln geriet, doch Matt hielt mich fest.

Leicht atemlos sah ich zu ihm hoch. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in seinen Augen und verlieh ihm etwas Verbotenes. Es war mir unmöglich, auch nur eine Sekunde wegzusehen.

»Du hast ein völlig verkehrtes Bild von dir selbst.«

»Ich glaube nicht.«

»Ich glaube schon.«

2. Kapitel

Matt

»June? Was machst du denn hier?« Wir hatten in den letzten Tagen nur miteinander geschrieben und uns nicht gesehen, weil sie für eine wichtige Klausur hatte lernen müssen, während ich mich um meine Hausarbeit in Konstruktionslehre gekümmert hatte. Auch beim Training waren wir uns nicht über den Weg gelaufen. Was ungewöhnlich, doch nicht zu ändern gewesen war. Umso mehr freute ich mich, dass sie nun vor meiner Tür stand.

June sah gut aus, aber das tat sie immer. Selbst in Trainingsklamotten war sie das schönste Mädchen, das mir jemals begegnet war. Doch wenn sie sich wie heute ein Kleid angezogen und die Haare zu einem Zopf gebunden hatte, stockte mir kurz der Atem. An normalen Tagen war es schwer, mir meine Gefühle für sie nicht anmerken zu lassen, aber wenn sie mich mit diesem Funkeln in ihren braunen Augen anstrahlte, wie in diesem Moment, musste ich mich noch mehr zusammenreißen als üblich. Manchmal glaubte ich, die ganze Welt konnte mir ansehen, dass ich in sie verliebt war. Nur June war blind dafür.

»Ich habe eine Kleinigkeit für dich. Als Dankeschön für die Rettung neulich.« Sie hielt mir einen kleinen roten Briefumschlag hin, den ich erst jetzt bemerkte.

Ich sah sie einen Augenblick lang an, weil ich nichts dergleichen erwartete hatte, dann nahm ich ihr den Umschlag ab und bat sie rein. »Möchtest du etwas trinken?«

»Nein danke.« Unruhig wippte sie von einem Bein aufs andere und warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Na los, jetzt mach ihn schon auf.«

Um sie ein wenig zu ärgern, ließ ich mir Zeit mit dem Öffnen des Briefumschlags und stockte, als ich sah, was sich darin verbarg. »Du schenkst mir einen Kochkurs?« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder auf schnellstem Weg flüchten sollte. Kochen und ich, das waren zwei Dinge, die nicht zusammenpassten und auch nie zusammenpassen würden. Als ich es das letzte Mal versucht hatte, war zunächst der Rauchmelder und anschließend die Sprinkleranlage angegangen. Jeher mied ich die Küche und ernährte mich von Mensaessen und dem, was die Lieferdienste hier in der Gegend zu bieten hatten. Das höchste aller Gefühle war das Aufbacken einer Tiefkühlpizza, aber auch das machte ich meistens nicht selbst, sondern mein Mitbewohner Ryan. Seit er mein nicht vorhandenes Talent in der Küche mitangesehen hatte, hatte er sie als Sperrgebiet erklärt. Zu seiner und meiner Sicherheit, wohlgemerkt.

»Na ja ...« June druckste rum und senkte ihren Blick auf ihre schwarzen Sneaker. Das tat sie häufiger, wenn sie nicht wusste, wie sie etwas sagen sollte, ohne den anderen blöd dastehen zu lassen.

»Echt jetzt?«

Sie überlegte einen Moment, ehe sie mit den Schultern zuckte. Auf ihrem Gesicht lag ein entschuldigendes Lächeln, das es mir unmöglich machte, ihr etwas übel zu nehmen. »Es ist kein Geheimnis, dass du nicht unbedingt das größte Talent am Herd bist ...« Dass das eine absolute Untertreibung war, wussten wir beide. »... und deshalb dachte ich mir, dass wir zusammen einen Kochkurs machen könnten. Das wird sicherlich lustig.« Sie hob den Blick und sah mich derart hoffnungsvoll an, dass ich es ihr unmöglich hätte abschlagen können, auch wenn ich nicht die geringste Lust dazu hatte. Vielmehr ging ich in Gedanken sämtliche Notaufnahmen im Umkreis von zwanzig Meilen durch. Nur für den Fall der Fälle.

»Ich nehme an, die haben dort auch ein Erste-Hilfe-Set?«

June sah mich einen Augenblick lang fragend an, dann nickte sie. Ihr Blick war weiterhin verwirrt. »Ich denke schon. Warum?«

»Sehr gut. Wir werden es sicherlich brauchen.« Den letzten Teil sagte ich so leise, dass ich dachte, sie hätte es nicht gehört. Doch ihr Lachen bewies mir das Gegenteil.

»Jetzt stell dich mal nicht so an, Matt Harris.«

»Du hast mich noch nie live kochen gesehen und bisher nur von den Unfällen gehört. Willst du dir das wirklich antun?«

Einen Moment lang sah sie mich geschockt an, dann straffte sie die Schultern und strich sich eine verirrte braune Strähne aus dem Gesicht. June war nicht kleinzubekommen. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, hatte man keine Chance.

»Ja, denn es ist allerhöchste Zeit, dass du es lernst.«

Als June den Kopf schief legte und mich erwartungsvoll ansah, wusste ich, dass mein Schicksal besiegelt war. Ich seufzte und schenkte ihr ein ergebenes Lächeln, das sie umgehend strahlen ließ.

Manchmal war es so einfach, June glücklich zu machen. »Okay. Wann findet der Kurs denn statt?«

»In einer halben Stunde. Wir müssen also langsam los.«

»Das ist ein Scherz, oder?«

June schüttelte erneut den Kopf. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie mich direkt heute dorthin schleppen würde. Eigentlich hatte ich geplant, den Abend vor dem Fernseher zu verbringen und mir die Partie zwischen den L.A. Clippers und den Los Angeles Lakers anzusehen. Wann immer die rivalisierenden Mannschaften gegeneinander spielten, versprach es, spannend zu werden. Aus dem Fernsehabend würde wohl oder übel nichts werden.

»Gib mir zehn Minuten, okay? Ich muss mir eben etwas anderes anziehen.« Ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln. June war ab und an wie ein kleiner Wirbelwind, der durch mein Leben fegte und es gehörig auf den Kopf stellte. Heute war anscheinend so ein Tag.

»Klar. Du hast fünf Minuten.« Sie grinste zufrieden und ging den Flur entlang ins Wohnzimmer, während ich in mein Schlafzimmer abbog und mich umzog. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich Jogginghose und Hoodie gegen ein paar graue Jeans und ein schwarzes Karohemd getauscht. Als ich zu ihr ins Wohnzimmer ging, saß sie auf der Couch und blätterte lustlos durch eines der unzähligen Sportmagazine, die verteilt auf dem kleinen Tisch vor ihr lagen. Ich räusperte mich leise, um sie nicht zu erschrecken. »Wir können.«

Das Culinário de Matteo lag mitten in Durhams Innenstadt und war mit dem Auto nur knapp zehn Minuten von meinem Wohnheim entfernt. Wie durch ein Wunder fanden wir einen freien Parkplatz direkt vor dem Eingang des zehnstöckigen Gebäudes.

»Nach dir.« Lächelnd hielt ich June die gläserne Eingangstür auf und deutete auf den imposanten Eingangsbereich. Der Boden war aus hellem Marmor, die Wände waren weiß gehalten und mit einzelnen Holzakzenten gespickt. Links von uns stand eine schwarze Ledergarnitur, rechts eine abstrakte Skulptur, bei der ich keine Ahnung hatte, was sie darstellen sollte. Kunst war nicht meins, Bildhauerei erst recht nicht.

Ein Teil von mir fragte sich, ob wir tatsächlich im richtigen Gebäude waren. Das alles sah mehr nach einer Empfangslobby eines Fünf-Sterne-Hotels aus als nach dem Eingangsbereich einer Kochschule. Vielleicht täuschte der Eindruck jedoch auch und oben war es ganz anders eingerichtet.

Ich drückte den Knopf des Aufzugs und fuhr gemeinsam mit June in den achten Stock. Die Fahrt war kurz, viel kürzer als gedacht, und mir wurde bewusst, dass es nun kein Entkommen mehr gab. Ich konnte nur hoffen, den Abend heil zu überstehen und keine Gefahr für andere zu sein. Insbesondere für June, die mein nicht vorhandenes Talent eindeutig überschätzte.

Mit einem leisen Pling öffneten sich die Aufzugtüren und gaben den Blick auf ein großes hölzernes Schild frei, auf dem der Name der Kochschule prangte.

Im gesamten Raum waren in regelmäßigen Abständen kleinere anthrazitfarbene Küchenzeilen inklusive passenden Kücheninseln aufgebaut. Es mussten an die zwanzig sein. Bei dem Blick auf die Ausstattung der einzelnen Counter überlegte ich, ob meine Haftpflichtversicherung tatsächlich für alle potenziell anfallenden Schäden aufkommen würde. Ich war noch in meinen Gedanken vertieft, als wir von einem Mann Anfang dreißig begrüßt wurden, der June in eine herzliche Umarmung zog. Er war fast so groß wie ich, hatte eine ähnliche Statur und dunkle Haare. Dass er durchaus gutaussehend war, sorgte für ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend.

Ich setzte an und stoppte, ohne etwas zu sagen, als ich bemerkte, dass June seine Begrüßung genauso enthusiastisch erwiderte. Ihre Reaktion verwunderte mich, weil ich nicht wusste, woher sie sich kannten oder in welcher Beziehung sie zueinanderstanden.

»Es ist schon so lange her, June. Schön, dich zu sehen.«

»Ich weiß, tut mir leid. Danke, dass das so kurzfristig geklappt hat.«

»Für dich doch immer.« Er nahm ihre Hände in seine und hielt sie einen Moment lang fest. Als er sah, dass ich ihn beobachtete, zog er sich zurück und räusperte sich leicht. »Wo sind nur meine Manieren. Entschuldige, bitte. Herzlich willkommen im Culinário de Matteo. Ich bin Pablo und werde euch durch den heutigen Abend führen. Eure Jacken könnt ihr dort drüben aufhängen.« Er deutete lächelnd mit der Hand auf die große Garderobe zu unserer Linken, die mindestens Platz für fünfzig Jacken bot und bereits gut gefüllt war.

Ich war alles andere als in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und durchaus einen gewissen Standard gewöhnt, trotzdem konnte ich noch immer nicht glauben, dass wir uns tatsächlich in einer Kochschule befanden. Bei dem Gedanken, was June wohl für den Spaß bezahlt hatte, wurde mir übel. Das hier war zu viel. Viel zu viel.

»Und das hier ist euer Counter.« Pablo deutete lächelnd auf die letzte freie Nische, auf dessen Kücheninsel ein umgedrehter Zettel und zwei rote Tücher lagen. Skeptisch nahm ich mir eines, hielt es hoch und stellte fest, dass es sich um eine Küchenschürze handelte. June machte wirklich keine halben Sachen. Das musste man ihr lassen. Seufzend hängte ich mir die Schürze um den Hals und band sie hinten zu. Hiermit war es offiziell. Ich, Matt Harris, einundzwanzig Jahre alt, würde einen Kochkurs machen. Ich kam mir fehl am Platz vor, doch Junes zufriedenes Lächeln war Grund genug, all das mitzumachen.

»Sehr schön. Dann sind wir ja so weit.« Pablo klatschte sich begeistert in die Hände und deutete auf die vor ihm liegenden Zutaten. »Das Thema des heutigen Abends ist ... Trommelwirbel ... Disney. Wer von euch kennt Susi & Strolch? Hände hoch.« Fast augenblicklich schossen sämtliche Hände hoch. Nur meine blieb unten.

Pablo sah die Teilnehmer der Reihe nach aufmerksam an, ehe er bei mir kurz stockte, bevor er schlussendlich fortfuhr. »Okay, alles klar. Ihr dürft den Zettel, der auf euren Tresen liegt, nun umdrehen. Alle, die den Film gesehen haben«, er warf mir einen schnellen Blick zu, »dürften sich an die Szene erinnern, in der sich Susi und Strolch im Hinterhof des Restaurants die berühmten Spaghetti mit Fleischbällchen teilen.« Fast augenblicklich erntete er zustimmendes Nicken, leises Gemurmel und hier und da ein Seufzen.

»Ach, das war wirklich süß.« June war einen Schritt näher gekommen und sah leicht verträumt zu Pablo.

»Schon möglich. Kann ich nicht beurteilen.« Sie stoppte, drehte sich mit dem Oberkörper zu mir und sah mich fragend an.

»Du willst mir allen Ernstes erzählen, du hast den Film noch nie gesehen?«

Ich schüttelte nur den Kopf und lehnte mich an die Küchentheke in meinem Rücken. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund leicht geöffnet. Gut, dann hatte ich diesen Film nicht gesehen. Das war sicherlich kein Weltuntergang.

»Aber Cinderella, König der Löwen und so kennst du, oder?«

»Nope.«

»Die Eiskönigin?«

Ich zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust, nicht wissend, dass ich damit die Büchse der Pandora geöffnet hatte. War ihr Blick vorhin noch geschockt gewesen, war er nun vollkommen entsetzt. Sie sah mich derart fassungslos an, als hätte ich ihr soeben verkündet, Grey’s Anatomy, eine ihrer absolute Lieblingsserien, würde mit sofortiger Wirkung abgesetzt werden. Nach einer gefühlten Ewigkeit schüttelte sie mit dem Kopf und holte tief Luft, ehe sie mich wieder ansah. »Wow, anscheinend habe ich ein Einhorn gefunden.«

Mit einem Fabelwesen verglichen zu werden, war definitiv das, was man als Mann von der Frau hören wollte, die man mehr als alle anderen mochte. Der Abend lief wirklich großartig.

»Der Kochkurs geht bis circa zehn Uhr. Danach fahren wir zu dir und schauen uns Die Eiskönigin an.«

Ich wollte gerade protestieren, als June mahnend ihre Hand hob und mich damit augenblicklich verstummen ließ. »Keine Widerrede.«

Damit war mein Schicksal das zweite Mal am heutigen Tag besiegelt. Mir Die Eiskönigin anzusehen, stand nicht auf meiner Bucket-List. Aber da es June war und ich somit mehr Zeit mit ihr verbringen konnte, willigte ich ein, den Film später mit ihr zu gucken.

»Können wir unterwegs noch Popcorn besorgen?« Das Lächeln auf meinem Gesicht fühlte sich furchtbar gequält an und glich wahrscheinlich eher einer Grimasse. Doch June sagte nichts dazu, sondern nickte lediglich mit funkelnden Augen.

»Im linken Schrank unter der Kücheninsel findet ihr einen Korb mit sämtlichen Zutaten, die ihr für das Gericht benötigt. Zudem liegt eine Anleitung bei, auf die ihr gerne schauen könnt. Falls ihr Fragen habt, immer raus damit. Ansonsten würde ich nun mit dem ersten Schritt beginnen.« Pablo fuhr mit seiner Instruktion fort und ließ mich meine Gedanken an die weitere Abendplanung vergessen.

»Okay, als Erstes benötigen wir die beiden Scheiben Weißbrot.« Dass June bereits sämtliche Zutaten vor uns ausgebreitet hatte, hatte ich überhaupt nicht mitbekommen. Umso überraschter war ich bei ihrer Anmerkung. »Brot? Echt jetzt? Ich dachte, wir machen Pasta. Oder ist das die Vorspeise?« Ich sah sie fragend an, doch June grinste nur und schüttelte den Kopf.

»Das Weißbrot brauchen wir für die Hackbällchen.«

»Wenn du das sagst.«

»Hast du überhaupt schon mal welche gemacht?« June hatte sich mit einem Ellenbogen auf der Kücheninsel abgestützt und drehte ihren Kopf, sodass sie mich ansehen konnte.

»Du kennst die Antwort.« Ich stieß mich vom Tresen ab und warf einen Blick auf das Rezept. Theoretisch klang es nicht kompliziert. Praktisch würde sich das erst noch zeigen.

»Oh Mann. Okay, dann fangen wir also bei null an.«

»So sieht es aus. Aber bevor du jetzt etwas sagst, der Kurs war deine Idee, nicht meine.« Ich hob abwehrend die Hände und versuchte, keine Miene zu verziehen. Dass mir das nicht sonderlich gut gelang, spürte ich einen Moment später. »Nebenbei bemerkt ist das echt viel zu viel, June. Ich will gar nicht wissen, was du dafür bezahlt hast.«

»Wenn du dich weiterhin so anstellst, besuchen wir ab sofort einmal die Woche einen Kochkurs.« Ihre Worte klangen halb nach einem gut gemeinten Vorschlag, halb nach einer Drohung. »Aber davon abgesehen machst du dir zu viele Gedanken. Pablo ist der Mann meines Onkels.« Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, ehe sie die passenden Utensilien zusammentrug und mir das Brot in die Hand drückte.

»Danke. Das meine ich ernst, June.«

»Gerne. Und nun weichst du bitte das Brot ein, wringst es aus und gibst es in die grüne Schale.«

Damit war das Thema für June erledigt und sie in ihre Mentorenrolle geschlüpft. Sie war ein Mädchen auf einer Mission und unter keinen Umständen davon abzubringen. Komme, was wolle.

Hochkonzentriert studierte sie das Rezept, während ich mir die Hände wusch und Pablo zusah, wie er den ersten Schritt vormachte. Okay, das würde ich definitiv hinbekommen.

»Und nun?« Ich stellte mich hinter June, um ebenfalls auf das Rezept schauen zu können.

»Als Nächstes gibst du das Hackfleisch und die Gewürze dazu und verknetest es dann.« Sie richtete sich ein Stück auf, sodass sie mit dem Rücken gegen meine Brust stieß. Auch wenn es eine unschuldige Berührung war, hielt ich einen Moment inne und atmete tief durch. Augenblicklich stieg mir der Duft ihres Shampoos in die Nase. Es roch unglaublich gut, ein wenig nach Kokos und Vanille.

Sie drehte ihren Kopf ein wenig nach rechts, sodass sie mich über ihre Schulter hinweg ansehen konnte. Wir waren uns so nahe, ich hätte mich nur ein kleines bisschen runterbeugen müssen, um meine Lippen auf ihre zu legen. Ich konnte nicht anders, als einen Moment lang in der Vorstellung zu verweilen.

»Matt?«

»Hm?«

»Das Hackfleisch würzt sich nicht von selbst.«

Das war der Moment, in dem sich sämtliche Tagträume in Luft auflösten. Wenn June eins konnte, dann war es, andere auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Das funktionierte besser als eine kalte Dusche.

»Bin schon dabei.« Wie auf Autopilot krempelte ich meine Ärmel hoch, ehe ich den Anweisungen folgte, die in gedruckter Form vor mir lagen. Gleichzeitig versuchte ich, June einen Moment lang auszublenden. Unmöglich, wenn sie so dicht neben mir stand, dass sich unsere Arme immer wieder berührten. Sie war so nah und doch so fern.

»Wie lautet der dritte Schritt?« Ich bemühte mich, ein wenig Abstand zwischen uns zu lassen, doch June durchkreuzte meine Pläne ein weiteres Mal, in dem sie sich an mir vorbeischob, um eine Pfanne und einen Topf zu holen.

»Jetzt formen wir das Hackfleisch zu kleinen Bällchen, sodass wir sie anschließend anbraten können.«

Während sie sich die Hände wusch, machte ich mich daran, die erste Kugel zu kneten und auf den vorbereiteten Teller zu legen. Kurz darauf kam June wieder zu mir und nahm sich ebenfalls etwas von dem Hack. Gemeinsam erledigten wir die unliebsame Aufgabe, sodass wir kurz darauf die Pfanne erhitzen konnten. Misstrauisch trat ich einen Schritt zur Seite, was mir einen belustigten Blick von June einbrachte.

»Ich vertraue dem ganzen nicht.« Öl stand auf der Liste mit gefährlichen Dingen, um die ich einen großen Bogen machte, denn Öl konnte brennen. Das wusste ich leider aus eigener Erfahrung.

»Die Pfanne wird dich nicht beißen.« Grinsend stellte sie die Kochzone eine Stufe höher, was ihr einen weiteren misstrauischen Blick meinerseits einbrachte.

»Sehr witzig, Miss Wheeler.«

June sagte nichts weiter dazu, sondern gab vorsichtig unsere geformten Bällchen ins heiße Öl und briet sie leicht an. Nachdem das erledigt war, deutete sie mit dem Kopf auf das Glas, das unmittelbar in meiner Reichweite stand. »Würdest du bitte die passierten Tomaten dazugeben?«

»Das bekomme ich hin.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich June mühsam ein Lachen zu verkneifen versuchte und genauso kläglich daran scheiterte, wie ich einige Minuten zuvor. Gespielt entsetzt überbrückte ich die kurze Distanz und stellte mich seitlich neben sie. Das heiße Öl behielt ich vorsichtshalber im Blick. Dann gab ich wie in Zeitlupe die Grundzutat für unsere Soße hinzu. »Siehst du, kein Problem.«

»Sehr gut, ich bin stolz auf dich.«

Ich kniff die Augen zusammen und überlegte, was ich als Nächstes tun konnte, um June zu zeigen, dass ich doch kein so hoffnungsloser Fall war, wie sie anscheinend dachte.

Laut Rezept sollten im nächsten Schritt Basilikum, Petersilie und Knoblauch hinzugegeben werden. Ich überlegte kurz, dann trug ich die benötigten Zutaten für meine anstehende Mission zusammen. So weit, so gut.

»Bist du dir sicher, dass du das so tun willst?« June warf einen skeptischen Blick auf das Schneidebrett, meine herausgesuchten Zutaten, sowie das kleine Messer, das ich mir aus dem Messerblock gezogen hatte.

»Was soll das denn heißen?«

»Ich würde an deiner Stelle ein langes Messer nehmen. Damit kannst du es einfacher klein schneiden und dann auch den Knoblauch reiben.« Statt zu mir zu schauen, sah sie weiterhin höchst konzentriert zu unseren Fleischbällchen, die inzwischen leicht angebraten waren.

»Traust du mir das etwa nicht zu?« Ich stemmte einen Arm in die Hüfte und blickte von meinem vorbereiteten Arbeitsplatz zu ihr und zurück. Ich würde nicht eher aufhören, bis ich die benötigten Zutaten klein gehäckselt hatte.

»Doch, natürlich. Pass nur bitte auf deine Finger auf.« Sie sah mich für einen kurzen Moment besorgt an, dann drehte sie die Temperatur niedriger und schnappte sich den Deckel, der auf unsere Pfanne passte.

»Kann da etwa jemand kein Blut sehen?«

»Doch schon, ich möchte den restlichen Abend nur nicht in der Notaufnahme verbringen. Wir haben immerhin noch etwas vor.« Das Funkeln in ihren Augen verriet mir, wie sehr sie sich auf den Film später freute. Dass sie mit solch kleinen Dingen glücklich zu machen war, hatte ich noch nicht gewusst. Wieder ein Grund mehr, weshalb ich sie so gerne hatte.

»Ich passe auf, okay?«

June nickte zufrieden und lehnte sich an den Tresen in ihrem Rücken, während ich anfing, die Kräuter und den Knoblauch klein zu hacken und in die Soße zu geben. Hin und wieder rührte ich um, damit sie nicht anbrannte.

Ich spürte Junes skeptischen Blick in meinem Rücken und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös sie mich damit machte. Messer und ich waren grundsätzlich so eine Sache. Seit ich mich als kleiner Junge mit einem derart tief geschnitten hatte, dass meine Grandma mit mir ins Krankenhaus hatte fahren müssen, war ich äußerst vorsichtig im Umgang mit ihnen und meine Grandma immer auf der Hut, wann immer ich eines in der Hand hielt. Das hatte sich bis heute nicht geändert, mit dem Unterschied, dass meine Grandma inzwischen sechseinhalb Stunden von mir entfernt wohnte und wir uns deshalb nicht mehr so oft sahen. Genauso wie meine Eltern, die nach ihrem kurzen Aufenthalt in Durham wieder zurück nach Charleston gezogen waren, was mich nicht sonderlich störte. Ganz im Gegenteil.

»Hier riecht es verbrannt.« Junes Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sofort sah ich zu unserer Soße, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen.

»Ich habe nichts gemacht, ich schwöre.« Abwehrend hob ich meine Hände und trat demonstrativ einen Schritt vom Herd zurück. June sah sich suchend um, ehe ihr Blick auf den Nachbarcounter fiel, an dem das Paar panisch versuchte, die angebrannte Soße zu retten. Ich konnte sehen, wie Junes Mundwinkel zu zucken begannen. Und nicht nur ihre.

»Siehst du, nicht unsere.« Zufrieden mit mir selbst, rückte ich meine rote Schürze zurecht und begann erneut, die Soße mit gleichmäßigen Bewegungen umzurühren.

»Ich glaube dir ja.« Lachend setzte sie sich auf den Tresen und schlug ein Bein über das andere.

»Sehr gut. Möchtest du vielleicht etwas trinken?«

»Mir wäre eher nach einem Wein, aber für den Anfang ist Wasser in Ordnung.«

Ich nickte und reichte ihr ein gefülltes Glas. Als sie es mir abnahm, berührten sich flüchtig unsere Fingerspitzen. Auf das Kribbeln, das unverzüglich durch mich hindurchschoss, war ich nicht vorbereitet gewesen. In Gedanken schrieb ich eine Flasche Wein auf die Liste mit Dingen, die ich auf dem Rückweg besorgen wollte.

June warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr, sprang von der Theke und schnappte sich einen mittleren Topf. Als Nächstes füllte sie ihn mit Wasser, setzte ihn auf den Herd und gab etwas Salz hinzu. Dann schaltete sie ihn an.

Während wir auf das Nudelwasser warteten, ließ ich meinen Blick durch den riesigen Raum wandern und bemerkte, dass Pablo bereits das fertige Gericht anrichtete.

Insgeheim hatte ich nicht damit gerechnet, dass der Abend so entspannt und unfallfrei verlaufen würde. Streng genommen war er jedoch noch nicht vorbei, also blieb nur zu hoffen, dass es nicht noch ein Unglück geben würde.

»Das Wasser ist so weit.« Ich nickte als Zeichen, dass ich verstanden hatte, und gab die Nudeln in den Topf. Dann startete ich den Timer und stellte mich zu June an den Counter.

»Wie läuft es bei euch?« Pablo trat an unseren Counter und sah uns fragend an. Ich hatte weder gesehen, wie er sich uns genähert hatte, noch gehört.

»So weit, so gut.« June nahm sich einen Löffel und rührte unsere Soße um. Dann schnappte sie sich einen kleineren, tunkte ihn in die Pfanne und ließ Pablo probieren. Anerkennend hob er die Augenbraue.

»Hervorragend. Das Talent liegt eindeutig in der Familie.« Auch wenn wir heute zum ersten Mal zusammen kochten, konnte ich seine Aussage bestätigen. All die Gerüchte über ihre hervorragenden Kochkünste waren wahr.

»Schon möglich.« Dass sie sich mal wieder kleiner und unscheinbarer machte, als sie eigentlich war, war so typisch für sie. Wie so oft wünschte ich mir, dass sie sich nur für einen Tag mit meinen Augen sehen könnte. Bescheidenheit war gut und schön, aber June besaß definitiv zu viel davon. Mit etwas Zeit und Glück würde ich ihr zeigen können, dass sie viel mehr war, als sie sich selbst zugestand.

»Pablo hat recht, du bist eine hervorragende Köchin.« Ich trat einen Schritt vor, lehnte mich mit den Ellenbogen auf die Arbeitsplatte und sah sie an. Fast augenblicklich zeichnete sich eine leichte Röte auf ihren Wangen ab, als Zeichen dafür, dass ihr mein Kompliment unangenehm war. Ob das allgemeiner Natur war oder ob es daran lag, dass es von mir kam, wusste ich nicht. Noch nicht.

»Ich wünsche euch einen guten Appetit.« Pablo verabschiedete sich mit einem Zwinkern und widmete sich dem Paar neben uns, dem vorhin die Soße angebrannt war. Sie würden seine Hilfe definitiv brauchen. Genauso wie ich, hätte ich June nicht gehabt. Mit neuer Motivation griff ich mir den Topf, goss das Wasser ab und nahm mir unsere beiden Teller, damit ich die Nudeln mit der Soße anrichten konnte. Zur Dekoration streute ich etwas Oregano auf den weißen Tellerrand, in die Mitte gab ich ein wenig gehobelten Parmesan. Doch irgendetwas fehlte. Allerdings wusste ich nicht, was. Im Fernsehen sah alles immer so leicht aus. Sowohl das Kochen als auch das Anrichten. In der Realität war nichts davon einfach – einer der Gründe, weshalb ich nicht gerne kochte.

»Was ist?«

Aus den Augenwinkeln sah ich Junes fragenden Blick und zuckte mit den Schultern. »Einen Michelin-Stern bekomme ich dafür sicherlich nicht.«

Anstatt meine Bemerkung zu kommentieren, lachte June bloß, also drehte ich mich zu ihr um und zog gespielt verärgert eine Augenbraue hoch. Dass ich noch immer die rote Schürze trug, ließ mich vermutlich nicht sonderlich furchterregend wirken. »Lachst du mich gerade aus?«

»Vielleicht ein kleines bisschen.«

»Das ist nicht nett.«

»Ich habe heute nur gefrühstückt. Und Hunger zu haben und gleichzeitig nett zu sein, geht schlichtweg nicht.« Sie grinste, schnappte sich ihren Teller und setzte sich an den kleinen weißen Tisch, der direkt vor der Kücheninsel stand.

3. Kapitel

June

Dass wir auch den restlichen Abend miteinander verbringen, hatte ich nicht geplant. Doch als Matt mir erzählt hatte, dass er die Geschichte von Anna und Elsa nicht kannte, war ich nicht nur entsetzt gewesen, sondern meine Entscheidung war gefallen. Es gab Filme, die musste man einfach gesehen haben. Die Eiskönigin gehörte dazu. »Ich liebe die Geschichte einfach.«

»Merkt man gar nicht«, sagte Matt ironisch. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sah mich grinsend an. Gemeinsam hatten wir es uns auf seiner Couch bequem gemacht. Auf meinen Beinen lag eine Packung Oreos, zwischen uns stand eine große Schale Popcorn. Ich drehte mich in seine Richtung, streckte ihm die Zunge raus und stibitzte mir eine Handvoll von dem Popcorn. Dann deutete ich in Richtung des Fernsehers. »Die Stelle ist wichtig.«

»Wenn du das sagst ...« Matt zuckte mit den Schultern und sah lächelnd zu mir, anstatt der Handlung auf dem Bildschirm Beachtung zu schenken.

»Wenn du jetzt nicht aufpasst, verstehst du den Film nicht.«

»Ich bin mir sicher, du erklärst es mir hinterher.« Er griff sich einen von meinen Lieblingskeksen und biss von ihm ab.

Entsetzt sah ich ihn an. »Sag mir, dass du die offizielle Oreo-Tradition nur nicht kennst und sie nicht einfach ignorierst?«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.« Matt rückte ein kleines Stück höher, griff sich seine Wasserflasche und trank einen Schluck. Sein Blick war verwirrt.

»Wie kannst du einfach davon abbeißen?«

»Wie soll ich den Keks denn sonst essen? Die beiden Hälften auseinandernehmen und zuerst die Milchcreme ablecken?« Das Lächeln auf seinem Gesicht zeigte, dass er seinen Vorschlag nicht wirklich ernst meinte. Im Grunde konnte ich es ihm nicht mal verübeln. Wer diskutierte schon um kurz vor Mitternacht darüber, wie man Oreos richtig aß.

»Ganz genau.«

»Ich wusste nicht, dass es festgelegte Regeln dafür gibt.« Belustigt stellte er die Flasche zurück und griff sich ein wenig Popcorn. Ich tat es ihm gleich.

»Und ob es die gibt.«

»Schon klar. Und als Nächstes erzählst du mir, dass es einen landesweiten Oreo-Tag gibt.«

»Der ist am neunzehnten Juni.«

»Das hast du dir doch gerade ausgedacht.«

»Nope, ist die Wahrheit. Du kannst es sogar googeln.« Schulterzuckend nahm ich die leichte Decke von der Couchlehne und legte sie mir über den Oberkörper.

»Mache ich.« Augenblicklich griff er sich sein Handy und gab ein, was ich ihm gerade erzählt hatte. Als er tatsächlich fündig wurde, sah er fassungslos zu mir. »Warum weißt du sowas?«

»Keine Ahnung. Ich kann mir solche Sachen gut merken.« Ich zuckte mit den Schultern, nahm mir einen Keks und drehte ihn vorsichtig auseinander. Fasziniert sah er mir dabei zu. »Ich entdecke immer wieder neue Seiten an Ihnen, Miss Wheeler.«

»Das ist durchaus möglich, Mr Harris.« Gespannt sah ich zurück zum Fernseher. In diesem Augenblick gab Prinz Hans sein wahres Ich zu erkennen. Anna, die bis zu dem Zeitpunkt von wahrer Liebe ausgegangen war, begriff, dass er ihr bloß etwas vorgespielt hatte, um an das Königreich zu gelangen.

Obwohl ich den Film schon unzählige Male gesehen hatte, konnte ich mir auch jetzt ein leises Seufzen nicht verkneifen. Warum musste sich der Typ, auf den sie zu stehen glaubte, als hinterhältiger Mistkerl entpuppen? Es war unfair. Auch wenn es bloß fiktiv war und nicht der Realität entsprach.

»Das war doch irgendwie klar, oder?«

»Was meinst du?«

Matt deutete auf den Fernseher und zuckte mit den Schultern. »Na ja, dass er bloß das Königreich wollte und sie ihm egal ist.«

Einen Augenblick lang dachte ich über seine Worte nach, dann legte ich den Kopf schief und sah ihn an. »Wenn man verliebt ist, erkennt man Offensichtliches häufig erst im Nachhinein.«

»Das stimmt wohl.« Er räusperte sich und drehte den Kopf zurück in Richtung des Fernsehers. Ab und an griff er sich ein wenig Popcorn, doch sein Blick blieb nach vorn gerichtet.

Mich beschlich ein ungutes Gefühl, also sprach ich ihn darauf an. »Ist alles in Ordnung?«

»Klar.« Er zuckte bloß mit den Schultern, schaute für einen winzigen Augenblick zu mir und lächelte.

»Du kannst mir nichts vormachen, Matt. Raus mit der Sprache. Dafür sind Freunde doch da.«

»Ich bin nur müde, June. Es ist wirklich alles okay.« Wie um seine Aussage bestätigen zu wollen, griff er sich einen Oreo, drehte die beiden Hälften auseinander und hielt mir eine davon hin.

»Aber wenn es nicht so wäre ...«

»Dann wüsste ich, dass ich mit dir darüber reden kann.« Matt sah mich so aufrichtig an, dass ich keine andere Wahl hatte, als ihm zu glauben.

Mit einem zufriedenen Nicken nahm ich ihm den Keks ab, lehnte mich zurück und blickte nach vorn, nur um zu erkennen, dass der Film bereits zu Ende war. Ich hatte es nicht wirklich mitbekommen. »Demnächst gucken wir den zweiten Teil.«

»Davon gibt es eine Fortsetzung? Ernsthaft?«

»Jep. Keine Ausrede.« Mit neuer Energie schlug ich die Decke zurück, schnappte mir meine Schuhe, die ich vor die Couch gestellt hatte, und zog sie mir an.

Matt zögerte, dann seufzte er ergeben. »Überredet.«

»Sehr schön. Dann haben wir ein Date.« Lächelnd griff ich mir meine Jacke, die ich über einen der Barhocker gegenüber der Kücheninsel gehangen hatte, und zog sie mir an. Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass es kurz nach eins war.

»Haben wir.« Matt stand auf, griff sich ebenfalls seine Jacke und überbrückte die wenigen Schritte bis zu mir. »Wollen wir?«

»Wohin denn? Es ist schon ziemlich spät.« Wie gut, dass morgen Sonntag war und ich dementsprechend frei hatte. Gegen ein paar zusätzliche Stunden Schlaf hatte ich nichts einzuwenden.

»Ich weiß. Aber du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich dich alleine nach Hause gehen lasse?«

»Eigentlich schon ...«

»Du bist manchmal echt unglaublich, June. Los, ich fahre dich.« Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu, also nickte ich lediglich und folgte ihm zu seinem Wagen.

Die Fahrt von Matts Wohnung bis zu Carlys und meiner dauerte nur ein paar Minuten. Schweigend sah ich aus dem Fenster und betrachtete die einzelnen Häuser mit den dunklen Fassaden. Während die Ersten bereits schliefen, wachten andere gerade erst auf und machten die Nacht zum Tag. Auch wenn ich inzwischen ab und an gerne mit Freunden etwas trinken ging, gehörte dies nicht jedes Mal zu meinen Wochenendplänen. Wahrscheinlich würden sie das auch nie werden. Aber auch das war okay.

»Was geht dir durch den Kopf?«

Matts Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich zu ihm sehen. »Nichts Bestimmtes, ehrlich gesagt.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.« Nachdenklich betrachtete ich sein Seitenprofil. Von seinen warmen braunen Augen über die gerade Nase bis hin zu den leichten Bartstoppeln, die sein Gesicht zierten. Dass Matt attraktiv war, war nicht zu leugnen, und ein Teil von mir fragte sich, warum er bisher noch niemanden gefunden hatte. Oder wollte er sich nach seiner unglücklichen Begegnung mit der Ex-Freundin seines Bruders einfach noch Zeit lassen, bevor er jemand Neues kennenlernte?

Wir hatten gerade an einer roten Ampel gehalten, als Matt den Kopf drehte und mich fragend ansah. »Was ist?«

»Nichts.« Verlegen strich ich mir eine nervende Haarsträhne aus der Stirn und sah nach vorn. Dass ich ihn angestarrt hatte, war eine Sache. Dass er mich dabei auch noch erwischt hatte, eine andere. Zuzugeben, dass mir das unangenehm war, war keine Option.

»Hast du etwa Geheimnisse vor mir?« Wieder sah er kurz rüber, ehe er am Straßenrand vor unserer Wohnung parkte und den Motor abstellte.

»Eine Frau hat immer Geheimnisse, Mr Harris.«

»Verstehe.« Er lächelte, ehe er sich räusperte und mit dem Kopf nach vorn deutete. »Ist Carly zuhause?«

»Keine Ahnung. Schon möglich. Ich habe sie heute Morgen nicht gefragt.«

»Dann lass es uns herausfinden.« Mit einer geschmeidigen Bewegung schnallte er sich ab, stieg aus und umrundete das Auto. Einen Augenblick später öffnete er mir die Tür. Etwas überrascht brauchte ich ein paar Sekunden, ehe ich mir meine Tasche schnappte und mich zu ihm gesellte.

Wir schwiegen beide, als wir die wenigen Meter bis zur Haustür gingen und ich sie aufschloss. Doch es war nicht unangenehm. Im Gegenteil. Oftmals hatte ich das Gefühl, dass Matt mich auch ohne Worte verstand.

»Carly?« Ich rechnete eigentlich nicht mit einer Antwort, als ich sie doch erhielt.

»Im Wohnzimmer.«

Überrascht schaute ich zu Matt, der zufrieden nickte. »Ich wünsche euch einen schönen Abend. Bis morgen.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging die drei Treppenstufen unserer Veranda hinunter.

»Warte.« Meine Stimme ließ ihn innehalten und zu mir umdrehen. Schnell überbrückte ich die Distanz, stellte mich auf meine Zehenspitzen und umarmte ihn. Gleichzeitig wehte mir ein Hauch seines Aftershaves entgegen. Nur ein bisschen, aber gleichzeitig genug, um tief einzuatmen. »Danke für den schönen Abend.«

»Ich habe zu danken.« Etwas länger als notwendig hielt er mich an sich gedrückt, ehe er mich langsam wieder losließ. »Schlaf gut, June.«

»Gute Nacht, Matt.« Er schenkte mir ein letztes Lächeln, bevor er die wenigen Meter bis zu seinem Wagen lief, einstieg und losfuhr. Einen Moment lang sah ich ihm nach, dann ging ich zurück ins Warme.

Carly hatte es sich mit einer Tafel Schokolade und einem Glas Wein auf unserer Couch bequem gemacht. Im Hintergrund lief irgendeine Netflix-Serie, die ich nicht kannte. Als Carly mich kommen hörte, stellte sie den Ton leiser und drehte sich zu mir um.

»Na du.« Auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln, bei dem ich mir nicht sicher war, ob der Alkohol dafür verantwortlich war oder eine ganz bestimmte Person. Ich tippte auf Letzteres.

»Hey.« Erschöpft zog ich mir Jacke und Schuhe aus, ehe ich mich zu ihr setzte und den Kopf auf dem weichen Rückenpolster ablegte. Für einen Moment schloss ich die Augen. Jetzt, da ich zuhause war und zur Ruhe kam, merkte ich, wie müde ich war. Nicht wirklich verwunderlich, wenn man bedachte, dass ich heute Morgen erst arbeiten gewesen war und danach Training gehabt hatte.

»Wie kommt’s, dass du erst jetzt zuhause bist?« Carlys Frage ließ mich die Augen öffnen und zu ihr schauen. Sie hatte sich aufgesetzt, ihr Blick war verwundert. Nicht besonders überraschend, wenn man bedachte, dass ich und nicht sie in der Regel diejenige war, die den Abend zuhause auf der Couch verbrachte.

»Ich war noch bei Matt.« Allein die Erwähnung seines Namens ließ meine beste Freundin grinsen. Dass sie gleichzeitig nach ihrem Glas griff und einen Schluck trank, um es zu überspielen, half nur bedingt.

»Ach so.« Zwei Worte, in denen so viel Neugierde mitschwang, wie es bei ihr selten der Fall war.

Als ich nicht weitersprach, lehnte sie sich zurück, machte es sich bequem und sah mich so lange an, bis ich ihr die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage gab.

»Ich habe ihm als Dank für seine Rettung neulich einen Kochkurs bei Pablo geschenkt und wir sind sofort hin.«

»Bevor er es sich anders überlegen konnte? Clever.« Carly wusste über Matts wenig bis gar nicht vorhandenes Talent in der Küche mindestens genauso gut Bescheid wie ich. Erst durch sie war ich überhaupt auf die Idee gekommen, ihm den Gutschein zu schenken. »So ungefähr, genau.«

»Hätte ich mit Logan genauso gemacht.«

»Nur mit dem Unterschied, dass er kochen kann.« Ich beugte mich vor, klaute mir ein Stück ihrer Schokolade und steckte es mir in den Mund. Wenn es eines gab, dass ich mehr als alles andere liebte, dann war es diese süße Sünde. Vor allem die mit kleinen Karamellstückchen. Oder auch Spekulatius, wie ich vor einiger Zeit festgestellt hatte.

»Tóuche. Da habe ich mir wohl den richtigen Bruder ausgesucht. Aber keine Sorge, Matt lernt es bestimmt auch noch.« Sie griff sich ebenfalls ein Stück Schokolade und biss davon ab. Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. »Du weißt aber schon, dass Matt und ich nur befreundet sind, oder?«

»Aber natürlich.« Die Art und Weise, wie sie diese zwei unverfänglichen Worte aussprach, zeigte deutlich, dass sie mir nicht glaubte. Warum auch immer. Ich hatte ihr bisher keinerlei Anhaltspunkt gegeben, zu denken, dass mehr zwischen ihm und mir lief. Ich mochte Matt und ja, er war ziemlich attraktiv, aber er war lediglich ein guter Freund.

»Manchmal bist du echt unverbesserlich.«

»Und du genauso stur wie ich. Aber das kennen wir ja schon.« Sie grinste und ging in Deckung, als ich ein kleines Zierkissen in ihre Richtung warf. Lachend platzierte sie es zwischen uns, nahm sich die Flasche Wein und sah mich fragend an. »Möchtest du auch?«

»Nichts lieber als das.« Ich nickte, stand auf und holte mir ein Glas aus der Küche. Auf dem Rückweg nahm ich mir mein Ladekabel mit, steckte es ein und schloss mein Handy an. Dann setzte ich mich wieder zu ihr.

»War der Abend etwa so schlimm?«

»Nein, im Gegenteil. Wir haben Die Eiskönigin geguckt.« Ich machte es mir auf unserer Couch bequem und legte mir ein kleines Kissen auf die Beine.

»Ihr habt was? Das ist ein Scherz, oder?« Ihr Blick war sowohl fassungslos als auch belustigt.

Grinsend nahm ich mein Glas und trank einen großen Schluck. »Nope.«

Langsam stellte sie die Flasche weg, zog die Beine wieder an und stützte sich mit einem Arm auf der Couchlehne ab. »Okay, ich brauche hier definitiv mehr Informationen. Warum habt ihr Die Eiskönigin geschaut?«

»Matt hat bisher keinen einzigen Disneyfilm gesehen und mit irgendeinem mussten wir schließlich anfangen.«

Carly setzte an und stoppte wieder, ohne etwas zu sagen. »Noch nicht mal König der Löwen?«, fragte sie schließlich.

»Noch nicht mal König der Löwen.« Abwartend sah ich sie an, nur um denselben verständnislosen Blick wie gerade eben zu erhalten. »Du solltest wohl besser eine To-watch-Liste schreiben. Den Film muss man einfach kennen.«

»Steht bereits drauf.«

»Ich bin echt geschockt.«

»Weil er den Film nicht kennt?«

»Hm.«

»Na ja, ich habe ihn auch erst recht spät gesehen. Von daher ...« Ich ließ den Satz unbeendet, weil ich mir sicher war, dass meine beste Freundin wusste, worauf ich hinauswollte. Früher hatte ich mich kein bisschen für Filme interessiert, sondern die meiste Zeit in einem kleinen Tipi in meinem Kinderzimmer verbracht und gelesen. Auch wenn ich viele Märchen kannte, hatte ich die entsprechenden Filme erst viel später gesehen.

»Du hast ja auch lange Zeit unter einem Stein gelebt.« Carly grinste und biss sich auf die Lippe, um ein Lachen zu unterdrücken. Ich konnte es ihr noch nicht mal verübeln. Vor allem, weil ich wusste, dass sie das keinesfalls böse meinte.

»Was hätte ich ohne dich bloß gemacht?«

»Sicherlich keine Disneyfilme geguckt.«

4. Kapitel

June

Laut einer nicht repräsentativen Studie unter meinen Kommilitonen zählte Angewandte Statistik nicht nur zu den meistgehassten Studienfächern überhaupt, sondern auch zu denen mit der höchsten Durchfallquote. Auch wenn mir Mathematik bisher relativ leichtgefallen war, gab es definitiv nichts Schlimmeres, als an einem Montagmorgen mit dieser Vorlesung zu starten. Wer sich das ausgedacht hatte, musste masochistisch veranlagt sein. Doch es war Teil meines Psychologiestudiums, daran ließ sich nichts ändern.

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf meinen angestammten Platz in der dritten Reihe fallen, stellte meinen Laptop auf den kleinen Tisch vor mir und klappte ihn auf. Innerhalb weniger Sekunden wurde mir die selbst erstellte Collage aus Fotos von Carly, Sarah und mir angezeigt. Auf einem unten rechts in der Ecke war sogar Matt zu sehen, auf einem etwas weiter links die gesamte Truppe, die ins Lake Creek Camp gefahren war. Für einen Moment dachte ich an die Zeit zurück. Das gemeinsame Barbecue, das Lagerfeuer und der Strand waren nur einige der zahlreichen Erinnerungen, die mir im Gedächtnis geblieben waren. Dass all das schon Monate her war, war kaum zu begreifen.

»Miss Wheeler?« Die gepresste Stimme von Professor Andrews riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich zu ihm nach vorn sehen. Im selben Moment wurden mir die neugierigen Blicke meiner Kommilitonen bewusst, die mich von allen Seiten anstarrten.

Ich räusperte mich leise und strich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war allseits bekannt, dass unser Dozent großen Wert darauf legte, dass man seine Vorlesung aktiv verfolgte. »Entschuldigung, könnten Sie die Frage wiederholen?«

Professor Andrews sah mich einen langen Augenblick an, ohne ein einziges Wort zu sagen. Dann schüttelte er den Kopf und stieß sich von dem hölzernen Pult ab, gegen das er bis gerade eben gelehnt hatte. »Ich dulde keinerlei Unaufmerksamkeit, das müssten Sie inzwischen wissen, Miss Wheeler.«

»Natürlich. Es wird nicht wieder vorkommen.« Ich setzte mich instinktiv aufrechter hin, in der Hoffnung, dass ich die Antwort auf seine Frage wusste, damit er endlich mit der Vorlesung fortfahren und die Aufmerksamkeit von mir abfallen würde.

»Das will ich auch hoffen. Ich hatte gefragt, wie man am einfachsten den arithmetischen Mittelwert berechnet.«

»Indem man zuerst alle Werte addiert und die Summe anschließend durch die Anzahl der Werte teilt.« Meine Antwort ließ meinen Dozenten zufrieden nicken. Im selben Moment atmete ich erleichtert durch.

»Ist dies die einzige Methode, um den Mittelwert zu errechnen?« Dass er näher darauf eingehen würde, hatte ich nicht erwartet, doch glücklicherweise kannte ich auch die Antwort auf diese Frage.

»Nein, es gibt durchaus noch andere Optionen, aber die von mir beschriebene Variante ist die gängigste.«