Agatha Christie - Barbara Sichtermann - E-Book

Agatha Christie E-Book

Barbara Sichtermann

0,0

Beschreibung

Es gibt bislang keine Biografie über Agatha Christie aus deutscher Feder, die umfassender, aktueller und anspruchsvoller wäre. Agatha Christie zählt wahrscheinlich zu den am meisten unterschätzten Persönlichkeiten der schreibenden Zunft im 20. Jahrhundert – was ihr selbst aber nicht viel ausmachte, denn sie war, am Umsatz gemessen, sogar die erfolgreichste Autorin aller Zeiten mit geschätzten zwei Milliarden verkauften Büchern. Und je mehr Zeit vergeht, seit die große Dame des Kriminalromans 1976 verstarb, umso bereitwilliger revidieren jene Kritiker, die Christie einst als Trivialautorin links liegen gelassen hatten, ihr Urteil. Denn die Schriftstellerin konnte nicht nur ausgezeichnet erzählen, sondern lieferte auch eine Art Psycho- und Sozialchronik des 20. Jahrhunderts. Agatha Christies Leben war schon deshalb spannend, weil sie durch ihren Erfolg Zugang zu den großen Bühnen der Öffentlichkeit erhielt, mehr als eine Weltreise unternahm und sich an der Seite ihres zweiten Mannes Max Mallowan zur Hobby-Archäologin entwickelte. Das Interessanteste aber ist ihre Kunst, die menschliche Wahrnehmung im Spiegel einer Krimihandlung in all ihrer naiven Leichtgläubigkeit, aber auch ihrer natürlichen Skepsis zu charakterisieren. In ihrem Habitus blieb Agatha die reservierte viktorianische Lady, die aber in ihrem Wirken weit über das zu ihrer Zeit gültige Frauenleitbild hinauswuchs. In ihren beiden Ehen errang und wahrte sie ihre persönliche Unabhängigkeit – auch in Lebenssphären, in denen Ruhm und Geld keine Rolle mehr spielten. Ihre Vita zu erzählen und dabei ihr Werk zu würdigen war ein großer Ansporn für eine so erfolgreiche feministische Autorin wie Barbara Sichtermann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 404

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Barbara Sichtermann

AGATHA CHRISTIE

Eine Biografie

Erste Auflage 2020© Osburg Verlag Hamburg 2020www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Bernd Henninger, HeidelbergKorrektorat: Mandy Kirchner, WeidaUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, HamburgSatz: Hans-Jürgen Paasch, OesteDruck und Bindung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-95510-215-9eISBN 978-3-95510-223-4

Für Ingo, meinen ersten Leser

Inhalt

Prolog

IAshfield

IIArchie

IIIUm die Welt

IVRuhm

VMax

VIEhrliche Arbeit

VIIKhatun

VIIITheater

IXQueen of Crime

Editorische Notiz

Auswahlbibliografie

Abbildungsnachweis

Prolog

Im Dezember des Jahres 1926 kannte die englische Boulevardpresse nur ein Thema: Die verschwundene Lady. Eine 36-jährige Dame ist von ihrem Haus in Sunningdale, südwestlich von London, mit dem Auto aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Die Familie gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei startet eine Suchaktion – vergebens. Man findet den Morris in einem Waldstück bei Guildford am Rande eines Steinbruchs, im Wagen eine Tasche und einen Ausweis, aber keine Spur der Fahrerin, nirgends. Die Zeitungen veröffentlichen Fotos, die Daily News setzt gar eine Belohnung für zielführende Hinweise aus, ohne Erfolg. Auch die Initiative der Evening News, die zu einer »großen Sonntagsjagd« bläst und die Anwohner nahe Guildford auffordert, Bluthunde mitzubringen, führt zu nichts. Die Lady blieb verschwunden. Elf Tage lang. Sie hieß Agatha Christie.

Liebhaber der Kriminalliteratur kannten ihren Namen, denn im selben Jahr war ein neues Buch von ihr erschienen, das Aufsehen erregt hatte, weil es eine ganz und gar ungewöhnliche Lösung bereithielt: The Murder of Roger Ackroyd – deutsch: Alibi. Und so war es nicht verwunderlich, dass sich ganz England für den Fall interessierte. Was war da los? Wo konnte Mrs Christie sich verborgen halten? Lebte sie noch? Wurde sie womöglich umgebracht? Wer hat sie zuletzt gesehen? Ein ganz eigener Agatha-Christie-Krimi schien sich da in der Wirklichkeit abzuspielen – mit der Autorin als Opfer.

Die Polizei verhörte die Familie. Es stellte sich heraus, dass der Ehemann Archie Christie vorwiegend in seinem Golfclub wohnte und nur selten heimkam. Eifrig mühte sich der smarte junge Banker, die Presse von Nachforschungen bei sich zu Hause abzuhalten, schon um seiner siebenjährigen Tochter Rosalind willen, die völlig durcheinander war und derzeit von der Sekretärin betreut wurde. Er gab ein paar gewundene Erklärungen ab, so etwa, dass sich seine Frau guter Gesundheit erfreue und er sich ihr Verschwinden nicht erklären könne. Aber in der Nachbarschaft wurde getuschelt. Man hatte davon gehört, dass eine andere Frau im Leben des Mr Christie aufgetaucht sei, seine Golfpartnerin, die sehr schön sein solle. Könnte am Ende der Ehemann schuldhaft verstrickt sein, etwa seine Gattin in den Selbstmord getrieben haben? Die Zeitungsleser stürzten sich allmorgendlich auf die Lektüre in der Hoffnung, Archie Christie sei des Mordes an seiner Frau überführt.

Was sich im Einzelnen ereignete, wird sich niemals klären lassen. Denn die Verschwundene ist die Einzige, die alles weiß. Sie ist zwar wieder aufgetaucht, hat aber ihr Lebtag über jene elf Tage geschwiegen. In ihrer Autobiografie vermerkt sie knapp: Wenn man den Blick zurückwendet auf die lange Reise, die unser Leben ist, hat man das Recht, die Erinnerungen, die einem zuwider sind, zu ignorieren. Oder ist das feige? Sie hat also gezweifelt, ob es richtig sei, nichts über jene elf Tage preiszugeben, hat sich aber dafür entschieden, das Stillschweigen zu bewahren. Es ist indes gar nicht schwer, sich auszumalen, was in ihr vorgegangen ist, wenn man weiß, in welcher Lebenskrise sie sich im Jahre 1926 befand. Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Was wir mit Gewissheit sagen können, ist, dass die Schriftstellerin einen Schock erlitten und tatsächlich den Wunsch gehabt hatte, von der Erdoberfläche zu verschwinden.

Einige Monate zuvor hatte Agathas Ehemann ihr mitgeteilt, dass er sich scheiden lassen wolle, weil er eine andere zu heiraten beabsichtige, eine junge Dame mit Namen Nancy Neele. Die gehörte zum Freundeskreis der Christies, Agatha kannte und mochte das Mädchen. Sie verstand auch, dass Archie sich verliebt hatte – aber seine Ehe deshalb aufzugeben, dass er dazu imstande sei, das erschien ihr undenkbar, abscheulich, gottlos. Sie konnte es nicht fassen und war nicht bereit, es hinzunehmen. Sie liebte ihren Mann, mit dem sie seit zwölf Jahren verheiratet war, aus tiefstem Herzen und sah ihre und der Tochter Zukunft durch eine Scheidung zerstört. Deshalb verweigerte sie die Auflösung ihrer Ehe, flüchtete sich in die Hoffnung, dass Archie es sich überlegen und zu ihr zurückkehren möge und war sich doch im Klaren, dass das nie passieren würde. Sie kannte ihren Mann und wusste, wie er aussah, wenn er fest entschlossen war. Sie hatte ihn verloren. Aber sie konnte und wollte das nicht wahrhaben. In dieser Situation tiefsten Kummers, flackernder Hoffnung und unerträglicher Herzenspein wünschte sie sich nichts so sehr, wie einfach weg zu sein. Nein, einfach würde es nicht sein, das wusste sie, aber sie wollte es versuchen. Und setzte sich ins Auto und fuhr los.

›Ich möchte, dass er mich suchen geht‹, so hat sie wohl zu sich gesprochen, ›und wenn er mich findet, wird er wissen, dass es ein Fehler war, mich aufzugeben. Er wird um mich fürchten, wird glauben, dass ich mich umgebracht habe und nur zu erleichtert sein, wenn er mich wieder in die Arme schließen kann. Mit der Erleichterung wird die Liebe in sein Herz zurückkehren und alles wird gut. Damit es so komme, muss ich ihm einen Hinweis liefern, den er sofort versteht. Aber ich muss einen Umweg wählen, ich kann es ihm nicht zu leicht machen. Wenn er mich zu schnell aufspürt, wird es womöglich nichts nützen. Die Angst um mich muss erst wachsen. Also werde ich einen Brief an seinen Bruder schicken, in dem ich mitteile, ich sei mit den Nerven am Ende und benötigte eine Auszeit. Und in dem ich die Gegend erwähne, in die ich mich zurückziehen werde. Campbell Christie wird seinen Bruder Archie umgehend informieren, man wird ein wenig herumsuchen und mich schließlich im schönsten und größten Resort in Harrogate auffinden. Ich habe ein Recht darauf, zu entfliehen. Er hat die Pflicht, mich zurückzuholen – in sein Herz.‹

Mit diesem vagen Plan im Kopf hat sich Agatha Christie an jenem 3. Dezember in ihren kleinen Wagen gesetzt und ist erst einmal zu jener Ortschaft gefahren, wo, wie sie wusste, Archie das Wochenende mit Freunden verbrachte – zu denen auch seine junge Golfpartnerin zählte. Sie fuhr auf das Haus zu, sah das Licht darin, fuhr weiter und in den Wald, hielt an, stieg aus und ließ den Wagen einen Hügel abwärts auf einen Steinbruch zurollen, bis er in einem Busch zum Stillstand kam. Sie kämpfte sich aus dem Wald heraus, erreichte die Landstraße und marschierte bis Chilworth, wo sie am Bahnhof auf den Zug nach London wartete. An der Station Waterloo warf sie den Brief an ihren Schwager Campbell ein. Danach setzte sie sich in aller Seelenruhe in den Zug und fuhr nordwärts in den Kurort Harrogate. Dort besorgte sie sich ein paar neue Kleider und mietete sich im Hydropathic Hotel ein unter dem Namen Mrs Teresa Neele aus Kapstadt.

Sie war vor sich selbst geflüchtet. Mrs Christie wollte sie für den Moment nicht mehr sein. Stattdessen hatte sie sich den Nachnamen ihrer Rivalin übergestreift – eine Tarnung und zugleich ein Appell: Archie, ich bin hier, und ich bin die Frau, die du liebst. Das Hotelpersonal war höflich, das Zimmermädchen freundlich, im Salon wurde des Abends soupiert und Karten gespielt, ein kleines Orchester machte Musik, und die Gäste tanzten. Die attraktive Mrs Neele wurde eingeladen, mitzutun, und sie zierte sich nicht, sondern sang sogar auf der Bühne. Derweil las sie in der Zeitung von der verschwundenen Agatha Christie und wunderte sich. Das hatte sie nicht vorausgesehen: dass man landesweit nach ihr suchen und die Presse den Fall derart aufbauschen würde. Der arme Archie! Er hasste alle Arten von Publicity und hatte wohl jetzt eine schwere Zeit. Warum auch erschien er nicht endlich in der Tür des Hydropathic Hotel?

Es war nicht so gekommen, wie Agatha es sich ausgemalt hatte. Schwager Campbell hatte den Brief achselzuckend weggeworfen und nicht mit Archie telefoniert. Ihre Familie stand schreckliche Ängste aus, denn sie wussten ja alle, dass die Trennung bevorstand, und so fürchtete man, dass die verzweifelte Agatha den Freitod gewählt habe. Auch der Polizeikommissar rechnete nicht damit, Agatha lebend aufzufinden – wobei er sich insgeheim darauf freute, den arroganten Ehemann wegen Mordverdachts zu verhaften. Aber die große Publizität, die das Verschwinden der beliebten Schriftstellerin inzwischen erlangt hatte, sorgte dafür, dass immer mehr Engländer ihr Bild vor Augen hatten. Das Zimmermädchen schöpfte Verdacht und besprach sich mit der Rezeptionistin. Die wiederum vertraute sich dem Orchester an. Zwei Musiker waren es schließlich, die die Polizei verständigten. Der Kommissar rief Archie an, und der fuhr schnurstracks nach Harrogate. Am 13. Dezember stand er Agatha in der Lounge gegenüber. Er hatte sie gefunden. Aber hatte er zu ihr gefunden? Wie in Trance gab sie ihm ihre Hand. Und er bestätigte gegenüber der Polizei und der Presse: Ja, sie ist es, meine Frau. Um die Fotografen und Journalisten abzuschütteln, verließen die zwei das Hotel durch den Hintereingang und fuhren, um ihre Spur zu verwischen, erstmal nach Abney Hall nahe Manchester, wo Madge Watts lebte, Agathas Schwester.

Die Öffentlichkeit war empört. Was hatte man nicht alles in die Wege geleitet, um die Vermisste zu finden, und jetzt stellte sich heraus, dass sie eine Art Spiel gespielt und alle, ihren Mann, die Ermittler, die Medien, an der Nase herumgeführt hatte. Die Zeitungsschreiber beschimpften sie und unterstellten ihr, sie habe durch ihr Untertauchen bloß auf sich und ihre Bücher aufmerksam machen wollen, das Ganze sei ein PR-Gag gewesen. Ihr Mann gab eine offizielle Erklärung ab: Seine Frau habe kurzzeitig ihr Gedächtnis verloren und könne für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden. Und Agatha selbst? Sie wusste nun, dass ihr Ehemann nicht zu ihr zurückkommen würde und willigte in die Scheidung ein. Sie vergaß nie die Schmerzen, die sie um Archies willen erleiden musste und erkannte an, dass sie, wenn sie auch ihr Gedächtnis nicht verloren, so doch sich in zwei Personen aufgespalten hatte: in Agatha Christie, die nicht mehr auf der Welt sein wollte und in Teresa Neele, die auf den Mann wartete, der sie liebte. Sie erkannte, dass die Menschen in sich widersprüchlich und nach außen hin mehrdeutig sind. Sie hatte ein neues Thema gefunden, das sie in ihren Büchern variieren wollte und das genauso bedeutsam für den Verlauf der Handlungen in ihren Krimis sein würde wie die Aufrechterhaltung der Spannung: Die menschliche Natur.

I

Ashfield

»Das ist ja eine wunderbare Nachricht«, sagte Clara Miller und schloss ihre Tochter fest in die Arme. »Ich wusste es. Du hast die Gabe. Agatha, du hast die Gabe. Und du darfst Mr Philpotts vertrauen. Wenn er sagt, dass du schreiben kannst, dann ist das so. Sein Urteil ist absolut vertrauenswürdig. Hast du den Brief dabei? Lies mir daraus vor!«

Agatha küsste ihre Mutter auf die Wange, löste sich aus der Umarmung und fiel in einen Gartenstuhl. Sie genoss eine rare Empfindung von Stolz und Anerkennung, die sie sogar in den Fingerspitzen wahrnahm. »Hier, Mama«, sagte sie und zog ein Blatt Papier aus der Rocktasche, »er schreibt, ich hätte Talent für den Dialog! Er übt auch Kritik, er hält nicht hinterm Berg. Warte –«, sie faltete den Brief auseinander, »hier steht: ›Versuchen Sie, moralische Betrachtungen aus Ihren Romanen herauszuhalten. Sie haben viel zu viel dafür übrig, und nichts liest sich langweiliger.‹«

»Na, da hat er recht.«

»Aber dann kommen wieder Worte wie ›ausgezeichnet‹. Und er meint, ich solle de Quinceys ›Bekenntnisse eines englischen Opiumessers‹ lesen, die Lektüre würde mein Vokabular vergrößern.«

Clara ging auf der Terrasse hin und her. Sie strahlte. »Ich werde zu ihm rübergehen und mich bei ihm bedanken, dass er ihn gelesen hat, deinen Roman, und dann auch noch so sorgfältig. Und dass er dir geschrieben hat. Snow upon the Desert. Wenigstens einen Leser außer mir hat dein Buch gefunden. Ein wahrer Freund, Mr Philpotts.«

Agatha lächelte. »Das ist er. Und weißt du was, Mama? Den Zuspruch konnte ich gebrauchen. Du … äh … kannst es dir ja denken … Ich bin noch nicht ganz darüber weg.«

»Soll ich dir ehrlich die Meinung sagen, darling?«

»Das tust du doch immer, Mama.«

»Wenn ich zu wählen hätte, für mich selbst oder für meine Tochter, zwischen der Begabung für den Gesang oder die Poesie, für die Opernbühne oder die Literatur, ich würde immer die Literatur wählen. Was bedeutet es denn für eine Frau, wenn sie zur Oper geht? Jede Menge Kraftakte, sage ich dir, mein Herz. Die Abende gehören dem Publikum, die Tage den Proben, und trotz all deiner Mühen ziehen die Kritiker vom Leder und treiben dich zur Verzweiflung. Die Theaterdirektoren wollen mit ihren Primadonnen Geld verdienen, sie kommen ständig mit neuen Extravorstellungen, und statt Urlaub zu machen, muss die Sängerin auf Tournee gehen. Wie soll sie all das mit einer Ehe und einer Familie vereinbaren? Das ist so gut wie unmöglich. Aber auf Heirat und Kinder zu verzichten – das ist erst recht unmöglich. Das wäre ein Opfer, wie es von keiner Frau in der ganzen Welt erwartet werden kann.«

Agatha stimmte zu. Sie dachte kurz an den Papa, an den liebevollen Bonvivant, als der er bei jedermann in Erinnerung war und an das sanfte Glück, das sie verspürt hatte, wenn sie als Kind, je eines ihrer Händchen in den Händen von Mutter und Vater, mit beiden spazieren ging. Mama hatte recht wie stets. Dennoch schmerzte die Erinnerung an das Vorsingen neulich und das Urteil der Lady von der Metropolitan Opera.

»Vielleicht«, seufzte sie, »ist es wirklich besser für mich, wenn ich keine Sopranistin werde. Aber ich möchte offen sein. Hätte ich mir nicht sagen lassen müssen, dass meine Stimme zu schwach sei für die Oper – ich hätte es versucht, Mama. Ich hätte die Ausbildung zu Ende gemacht. Obwohl ich nie, wirklich niemals, daran gedacht habe, wegen einer Bühnenlaufbahn ledig zu bleiben. Ich weiß, das ist nicht konsequent und vielleicht sogar verrückt, aber ich hatte mir eingebildet, ich könnte beides haben: abends die Tosca singen und morgens mein Kind wiegen.«

»Bis der Ehemann die Abende mit einer anderen verbringt! Ja, was soll er denn sonst tun, der arme Kerl? Ich bin sehr froh, dass du eine gute Beratung hattest, dass schon dein Lehrer in Paris nicht den Fehler beging, dich zu ermutigen, obwohl es dann ja doch nicht gereicht hätte mit der Stimme. Und noch froher bin ich, dass du jetzt eine Alternative hast – was deinen künstlerischen Ehrgeiz betrifft. Schreiben kannst du am Küchentisch und wenn die Kinder schlafen. Schreiben ist nichts, was dich um die Welt treibt, das geht zu Hause. Ja, dein Ehrgeiz, Agatha Miller. Der ist nun mal da, mit dem muss sich auch dein zukünftiger Ehemann abfinden.«

Der Ehemann. Lange war er für Agatha ein Phantom gewesen – unwirklich, aber immer freundlich, ja verheißungsvoll. Jetzt, kurz vor ihrem 20. Geburtstag, nahm er allmählich Gestalt an – er könnte z. B. Reggie heißen. Genauer: Reggie Lucy. Die Lucys waren eine befreundete Familie, ziemlich unkonventionelle, lebenslustige Leute, die Töchter Blanche und Muriel machten viel mit Agatha zusammen, und dann war da Sohn Reggie. Wenn Agatha bei den Lucys vorbeikam und mit Blanche oder Muriel im Garten saß und einen Wochenendausflug plante oder die Mädchen miteinander für eine Laientheateraufführung probten, kam er immer dazu. Er übte sich in Wortwitzen, die manchmal nicht zündeten, wofür er sich dann schämte. »Er ist sonst nie so komisch«, flüsterte Blanche Agatha zu, »er redet so, um dir zu imponieren.« Aber er, der Ehemann, könnte auch ganz anders heißen, etwa Bolton Fletcher. Sie hatte den Oberst auf einem Kostümball kennengelernt, wo sie als schöne Helena in weißer Tunika Eindruck machte und er in seiner Jagduniform auftrat – ein gut aussehender Mann Mitte dreißig. Er schrieb ihr Liebesbriefe und schickte Pralinen, Blumen und Bücher. Er war so stattlich und weitgereist. Und offenbar sehr von ihr angetan. Ferner war da Wilfred Pirie, der sie geduldig umwarb. Ihrer beider Mütter waren befreundet, und Wilfred, Oberleutnant zur See, lief mit seinem U-Boot häufig Torquay an – das schöne Torquay, Agathas Heimat, in der sie zu bleiben hoffte, ein Leben lang. Mit Wilfred an ihrer Seite? Als Mrs Pirie? Oder Mrs Fletcher? Oder gar Mrs Lucy? Dann würden die abenteuerlustigen Lucy-Mädchen ihre Schwägerinnen sein. Aber das war kein Grund, eine Ehe einzugehen. Agatha war ein bisschen enttäuscht von sich selber – dass da keine Leidenschaft in ihr wuchs, kein Sehnen, kein Verlangen. Reggie? War wirklich sehr nett, aber zu jung. Fletcher? »Ich bin von ihm restlos bezaubert«, so beschrieb sie ihr Gefühl, »und dennoch, wenn er fort ist und ich in seiner Abwesenheit an ihn denke, bedeutet er mir – nichts.« Als der Oberst sie geradeheraus fragte, ob sie seine Frau werden wolle, gab sie ihm einen Korb. Also Wilfred. Für ihn sprach manches. War er doch tüchtig und zuverlässig und gewohnt, für eine Familie zu sorgen, denn sein Vater war lange schon tot. Während Agatha die Aussicht prüfte, als Mrs Pirie zu leben, entdeckte sie, dass es Lilian Pirie, die Mutter des Kandidaten und enge Freundin Claras war, auf deren Nähe sie sich gefreut hätte … ›Ich empfinde also Wilfred als Bruder‹, dachte sie, ›das ist keine Basis für eine Ehe‹. Also blieb ihr nichts übrig, als erst einmal ihren Platz im alten Schulzimmer wieder einzunehmen, wo sie Klavier spielte oder am Pult saß und Geschichten schrieb. Einige hatte sie an Zeitschriften mit der Bitte um Veröffentlichung gesandt – sie waren alle zurückgekommen. Jetzt aber, nach der Ermutigung durch Eden Philpotts, der nicht nur ein netter Nachbar der Millers war, sondern auch ein angesehener und erfolgreicher Schriftsteller, hatte Agatha neue Zuversicht gefasst. Snow upon the Desert, der Roman, den sie Mr Philpotts hatte zukommen lassen, spielte in Kairo, wo sie selbst eine ganze Saison lang gelebt hatte und sich auskannte. Es war eine Dreiecksgeschichte mit überraschenden Wendungen und einer gehörlosen Heldin. Jetzt wollte sie etwas weniger Ausgefallenes, etwas Schlichteres versuchen, und der Schauplatz sollte England sein, vielleicht London oder die Gegend um Torquay. Sie spitzte ihren Bleistift und notierte sich Namen für die Hauptpersonen. Bis der Gedanke an Mr X, den ebenso willkommenen wie einstweilen noch unbekannten Ehemann, sie wieder ablenkte. Sie schaute aus dem Fenster über den Garten und auf die Terrasse mit den Korbstühlen, sie legte eine Hand auf das Fensterbrett vor ihr. ›Vielleicht‹, dachte sie, ›verliebe ich mich deshalb nicht, weil mein Herz schon vergeben ist. An Ashfield. Ich könnte doch niemals von hier fortgehen. Wenn ich träume, dann immer von Ashfield, die Umgebung, in der mein Leben begann. Der ausgefranste rote Teppich, der die Küche vom Gang trennt, das kupferne Gitter mit den Sonnenblumen am Kamin in der Diele, der türkische Teppich auf der Treppe, das große schäbige Schulzimmer mit seiner reliefartigen blaugoldenen Tapete. Etwas in mir sträubt sich gegen den Ehemann und das Eheleben, weil ich ja dann nicht mehr in Ashfield leben könnte.‹ Und sie murmelte einen Vers vor sich hin, von dem sie nicht mehr genau wusste, woher sie ihn hatte: »Ô ma chère maison, mon nid, mon gîte, / Le passé t’habite …«, und während sie leise so sprach, stieg es in ihr hoch, das Gefühl, das sie so sehr vermisste, wenn sie an Reggie oder Bolton oder Wilfred dachte. Das Gefühl der Zugehörigkeit, der Nähe, der Liebe. Es galt ihrem Haus.

Die prachtvolle viktorianische Villa mit Namen Ashfield, lag in Torquay, Grafschaft Devon, ein Städtchen, das im späten 19. Jahrhundert ein elegantes Seebad war. Vater Frederick Miller, der aus Amerika stammte, war sehr beeindruckt von der Schönheit des Ortes und der heiteren Gelassenheit seiner Menschen; Torquay half ihm dabei, ein Engländer zu werden. Eigentlich wollte er mit seiner jungen britischen Frau Clara in den Staaten leben, aber sie entschied sich für die englische Riviera, und da Frederick ein äußerst verträglicher Mitmensch und Ehemann war, stimmte er zu. Das Haus Ashfield mit dem großen Garten hatte Clara ebenfalls ausgesucht, und sie richtete es voller Hingabe im großbürgerlichen Stil der Zeit, mit Samtportieren, schweren Büfetts und schimmernden Kristalllüstern ein. Alle ihre drei Kinder kamen hier zur Welt: die älteste Tochter Margaret, genannt Madge, Sohn Louis Montant, genannt Monty, und schließlich, am 15. September des Jahres 1890, das Nesthäkchen Agatha Mary Clarissa. Die Kleine wuchs auf, wie es damals üblich war in der englischen Gentry: Wenn sie Zeit mit den Eltern verbrachte, so erschien es allen als etwas Besonderes wie ein Sonntag. Den Alltag brachte sie mit Nursie zu, ihrer Kinderfrau, der sie rückhaltlos zugetan war. Nursie war schon alt, dabei unendlich lieb und geduldig. Sie las Agatha aus der Bibel vor, ging mit ihr in den Garten und zum Einkauf in den Ort, Nursie fütterte sie und brachte sie zu Bett, tröstete und streichelte sie und erklärte freundlich alle Rätsel der seltsamen Welt. Und dann war da Jane, die Köchin, die wohlbeleibte Herrscherin über die Küche und die Vorratskammer, auf deren Schoß Agatha Cremetörtchen probieren und Sirup umrühren durfte. Auch der Gärtner hatte das Kind gern, aber da er öfter ziemlich brummig war, hatte Agatha vor ihm ein bisschen Angst. Schwester Madge war elf Jahre älter als Agatha und Bruder Monty zehn Jahre, somit fielen die Geschwister als Spielkameraden für die Jüngste aus. Gewiss, die beiden waren da, Madge las Agatha selbst verfasste Märchen vor und Monty spielte mit ihr Gespenst, aber so unverhofft die beiden sich ihr zuwandten, so schnell waren sie wieder auf und davon, wenn ihre gleichaltrigen Freunde sie riefen. Solche Freunde gab es für Agatha nicht. Das Mädchen war arg schüchtern, Versuche, sie mit Kindern aus der Nachbarschaft zusammenzubringen, fruchteten nicht, und Nursie hatte dazu auch wenig Neigung. Sie war am liebsten mit ihrem Schützling allein, und Agatha war gern allein mit ihr. Mit ihr und mit sich selbst und mit Hund Toni. Sie konnte stundenlang im Garten mit ausgedachten Spielgefährten, mit Kobolden und Feen und fiktiven gleichaltrigen Mädchen Spiele spielen und unter Büschen Geschichten ersinnen und aus bunten Steinen Figuren legen, manchmal waren Buchstaben dabei. Auch das Haus bot viel Abwechslung. Da war das Klavier, auf dem sie klimpern durfte so viel sie wollte, da waren die Zimmer, in die sie eigentlich nicht hineindurfte, das Herrenzimmer, die Ankleidezimmer, das Rauchzimmer, die Wäschekammer und die Abseiten, aber niemand schalt sie aus, wenn sie sich dort hineinschlich, alle lächelten nur. Und dann war da das Schulzimmer mit der Tafel und dem Globus. Und die Bibliothek! Als sie ein wenig größer war, setzte sie sich auf den Boden am Fuß eines mächtigen Regals, nahm einen Band heraus und blätterte vorsichtig – sie guckte nicht nur nach Bildern, sondern auch nach Wörtern. Madge las ihr hier Alice im Wunderland vor und zeigte auf Wörter, und Nursie erklärte ihr beim Einkauf die großen Zeichen auf Plakaten und über den Kaufläden, da stand »Heute neu« und »Äpfel« und »Bäckerei«. Jetzt entdeckte Agatha die Buchstabenfolgen in den Büchern wieder und war ganz aufgeregt. Manchmal spielte sie in der Bibliothek nur, dass sie ein Kätzchen sei und mit anderen Kätzchen eine Reise entlang der Stuhlbeine unternahm, aber dann kam sie wieder auf die Bücher zurück und träumte über den gedruckten Seiten.

Agatha Christie als Kind.

Bücher galten zu jener Zeit als Quellen wichtiger Erkenntnis und schöner Erbauung, aber auch von gefährlicher Reizung der Phantasie – weshalb Kinder nicht zu früh in die Kunst des Lesens eingeführt werden sollten. Für Töchter war ohnehin keine schulische Bildung vorgesehen. Was sie zu lernen hatten, konnte man ihnen daheim vermitteln, es sei denn, sie zeigten in irgendeiner Disziplin besondere Begabung – dafür wurde dann ein Hauslehrer engagiert oder eine Gouvernante. Bei Agatha galt es erstmal abzuwarten, das stille, in sich gekehrte Kind zeigte scheinbar keine besondere Wissbegier. Bis die Fünfjährige auf Nursies Schoß plötzlich bei der Bibellektüre Worte zu entziffern vermochte und Nursie das Buch zu und eine Hand vor den Mund schlug. »O-O«, sagte sie, »meine Kleine, was ist denn das?« Und gehorsam machte sie Meldung bei Mutter Clara: »Ich fürchte, Madam – Miss Agatha kann lesen.« Clara war durchaus ein wenig besorgt. »Aber«, sagte sie nach Rücksprache mit ihrem Mann, »da es nun so ist, soll sie lesen. Doch wir müssen auch an andere Fächer denken. Papa wird ihr Rechenstunden geben und ich sie schreiben lehren.« Ach, das Schreiben machte Agatha überhaupt keinen Spaß. Auf die Rechenstunden aber freute sie sich. Der Papa war überrascht. »Ihr Gehirn funktioniert mathematisch«, sagte er. Agatha war ziemlich stolz darauf, nun eine Schülerin zu sein. Zwar waren Madge und Monty als Internatszöglinge ihr weit voraus, aber auch sie ging jetzt die ersten Schritte in Richtung auf Erkenntnis und Wissen. Allerdings fürchtete sie sich stets vor den Rechtschreibstunden. Ihr Leben lang blieb Orthografie ihre schwache Seite. Sie hatte die Wörter durch Nursies Erklärungen nach der Ganzheitsmethode erlernt und schrieb nach Klang. O ja, sie war sehr musikalisch. Als ihre Hände ein bisschen größer geworden waren, kam eine Klavierlehrerin ins Haus, und die war bald richtig beeindruckt von Agathas flüssigem und ausdrucksstarkem Spiel.

Schon als Kind erlebte Agatha eine erste schmerzhafte Trennung vom Ashfieldschen Kosmos mit seinen Menschen, Tieren, Bäumen und Büchern. Ihr Vater schrieb, wenn er beim Ausfüllen eines Formulars oder beim Einzug in ein Hotel seinen Beruf angeben sollte, stets schlicht »Gentleman« hinein. Er arbeitete nicht, sondern lebte das angenehme und abwechslungsreiche Leben eines vermögenden Herrn zwischen Club, Cricketground, Kunst-Auktionen, Wochenend-Einladungen, Theatervorstellungen, Gardenpartys, Reisen und Ashfield. Er sammelte Antiquitäten, las interessante Autoren, kaufte antike Möbel, verwöhnte seine Frau und unterrichtete seine Kinder. Frederick Miller war ein äußerst beliebter Zeitgenosse, hatte viele enge Freunde und angeheiratete Verwandte. Finanzieren konnte er sein müßiges Leben durch den Besitz ausgedehnter Liegenschaften in den Vereinigten Staaten; seine Häuser in New York warfen seit vielen Jahren eine bedeutende Summe ab. Leider aber stellte sich eines Tages heraus, dass seine Verwalter drüben doch nicht die tüchtigsten und auch nicht die vertrauenswürdigsten waren. Sein Vermögen war zusammengeschmolzen, die finanzielle Lage angespannt, die Aussicht düster. Eine Weile besprach sich Frederick mit seinen Anwälten, Kabel und Briefe mit unerquicklichen Abrechnungen gingen hin und her – und am Ende stellte sich heraus, dass der Lebensstil der Millers so nicht zu halten war. Frederick redete mit Clara. Man würde sich einschränken müssen.

Um die Jahrhundertwende war es eine beliebte Methode der Geldersparnis für großbürgerliche Engländer, ihre herrschaftlichen Villen über den Sommer oder sogar das ganze Jahr zu vermieten und sich derweil im Süden Europas oder im Nahen Osten niederzulassen, wo die Lebenshaltungskosten nur einen Bruchteil der britischen betrugen und das Wetter obendrein besser war. Es gab genügend Touristen vom Kontinent, die sich während der Sommermonate in so reizenden Orten wie Torquay aufhalten wollten, auch Industriekapitäne aus dem Norden zog es sommers an die Küste. Das war nun vorerst die Lösung für die Familie Miller: Sie vermieteten Ashfield, schickten das Personal mit einer Abfindung vorübergehend nach Hause und fuhren nach Südfrankreich. Dem Papa, der seit den schlechten Nachrichten aus Amerika Gesundheitsprobleme hatte, würde das Klima guttun, und für die Jüngste wurde es Zeit, Französisch zu lernen. Solange die Eltern bei ihr waren, machte Agatha gern alles mit, aber sie war jedes Mal nur allzu froh, wenn sie zurück nach Ashfield kam, wenn sie Toni bellen und ihren Kanari piepsen hörte, wenn sie wieder in ihrem eigenen Bett schlafen durfte und es Jane war, die die Mahlzeiten zubereitete. Und wenn sie in der Bibliothek mit einem Buch im Schoß auf dem Boden saß und den schweren süßen Holzgeruch einatmete.

Der Vater war aber nun krank geworden vor lauter Sorgen um sein Vermögen. Erst suchte er Ärzte in Torquay und London auf, dann kamen die Ärzte nach Ashfield, es wurde viel ausprobiert mit Medizin und Diät, und es hieß, dass Luftveränderungen nun nicht mehr helfen würden. Als Agatha elf Jahre alt war, starb Frederick Miller an einem Herzleiden; das Töchterchen wurde vorübergehend zur Großmutter geschickt, die Mutter war untröstlich, und am Ende – Madge und Monty waren längst aus dem Haus – blieben im großen Anwesen Ashfield nur Clara und ihre Jüngste übrig. »Ashfield ist zu groß für uns beide«, sagte Clara, »und zu aufwendig dazu. Wir müssen es verkaufen.« Die Verzweiflung, die Agatha bei diesen Worten ergriff, war so tief, ihr Schluchzen so fürchterlich, dass Clara erschrak. »Vielleicht können wir es halten«, sagte sie und klopfte Agathas Scheitel, »wenn wir es zwischenzeitlich wieder vermieten.«

Wie sehr ihre Mama den Mann vermisste, erkannte die Tochter bald, und das Mitleid mit der Mutter mischte sich mit ihrem eigenen Schmerz um den Verlust des Vaters. Manchmal fürchtete Agatha, ihre Mutter könne vor Kummer sterben und schlich nachts an ihr Bett, um sie atmen zu hören. Schwester Madge stand kurz vor ihrer Verheiratung mit James Watts, dem Besitzer des weitläufigen Anwesens Abney Hall nahe Manchester, und Bruder Monty, der nach einer gescheiterten Ingenieursausbildung zum Militär ging, war in Indien stationiert, aber beide machten sich von ihren Verpflichtungen vorübergehend frei und kamen für ein paar Wochen nach Ashfield, um Clara beizustehen. Sie hatten ihrerseits heftig gegen einen Verkauf des Hauses protestiert und stifteten ein wenig Geld für den Erhalt von Ashfield. Zur Trauer um den Papa kam die Enttäuschung, was das Erbe betraf: Außer einer schmalen Pension für Clara und geringfügiger monatlicher Unterstützung für die drei Kinder war nichts geblieben. Jetzt gingen in Ashfield die Kristalllüster aus, Clara konnte es sich nicht mehr leisten, große Gesellschaften oder Bälle zu geben wie in besseren Zeiten. Manchmal ging sie mit ihrer Tochter abends ins Theater, meist aber saß sie einfach nur mit ihr in der Bibliothek, und sie lasen einander ihre Lieblingsautoren vor: Charles Dickens, William Thackeray, Walter Scott und Shakespeare. Clara hielt nichts von schulischer Mädchenbildung, aber um die verwaiste Agatha auf andere Gedanken zu bringen, meldete sie ihre Jüngste nun doch bei einem Institut mit gutem Ruf an, bei Miss Guyers Schule für Töchter höherer Stände. Agatha ging nach anfänglichem Fremdeln gern dorthin, und sie verblüffte alle – auch sich selbst – durch ihre glänzende Begabung fürs Rechnen, aber auch was englische und französische Literatur betraf, konnte sie mithalten. Bei der Orthografie allerdings haperte es weiterhin, und an ihren Aufsätzen bemängelte die Lehrerin ein Zuviel an Phantasie. Was Agatha gefiel, waren die Tanzstunden, auch in Musik war sie stark. Handarbeiten machten ihr großen Spaß, sie strickte gern und bestickte Kissenbezüge – nach Vorlagen oder eigenem Design. An den Nachmittagen kamen die Lucy-Mädchen und nahmen die Freundin mit zum Rollschuhlaufen auf dem Pier oder zum Tennis. Im Sommer ging Agatha für ihr Leben gern schwimmen. Bis ins hohe Alter hat sie an diesem Sport festgehalten und sich immer Gelegenheiten gesucht, ihn auszuüben.

Für die Sechzehnjährige hieß es dann: Jetzt musst du eine Dame werden. Agatha hatte auch gar nichts dagegen – außer dass ihr die Korsetts den Atem nahmen und die Fischbeinkragen den Hals wund scheuerten. Aber wie alle Mädchen jener Zeit nahm sie das hin. Schwerer wog schon der Abschied von Ashfield – denn für den »letzten Schliff«, wie das damals hieß, war ein Aufenthalt in Paris und ein intensives Studium der französischen Sprache sowie der Sitten, Musik und Küche Frankreichs unumgänglich. Clara verwendete ihre letzten Ersparnisse für Agathas Bildung, sie brachte die Tochter in einem angesehenen Internat unter. Paris war ein Traum, und die Internatsschülerinnen – viele Amerikanerinnen unter ihnen – erwiesen sich als lustige Truppe. Agatha konzentrierte sich vor allem auf die Klavier- und Gesangsstunden; eine tiefe Enttäuschung erlitt sie, als sie bei einem Schulkonzert versagte und sich eingestehen musste, dass es ihr nicht gegeben war, in der Öffentlichkeit Klavier zu spielen. Ihre Nervosität war einfach zu groß, und die wiederum war eine Folge ihrer Selbstzweifel. »Damals ermutigte man junge Mädchen nicht zu musikalischen Karrieren«, schrieb Agatha in ihren Lebenserinnerungen. »Ich bin ganz sicher, dass es im Leben keine größeren Seelenqualen geben kann, als wenn man um jeden Preis etwas erreichen will und doch weiß, dass es bestenfalls zur Mittelmäßigkeit reicht.« Aber singen konnte Agatha problemlos vor Publikum. Sie übte täglich hingebungsvoll. Ihr Lehrer fand, dass sie eine gute Kopfstimme habe und auch ihr Brustton überzeugend sei, aber die mittlere Lage habe nicht genug Kraft. »Das kann ja noch kommen«, sagte sich Agatha und intensivierte die Übungen für die mittlere Lage. Sie freundete sich mit einigen Schülerinnen an und ließ sich vom Reiz des französischen savoir vivre beeindrucken. Tief in ihrem Herzen aber blieb sie davon überzeugt, dass wahre Wohnkultur nirgendwo anders zu Hause sei als in Ashfield und dass die Kochkunst Janes letzten Endes unübertroffen blieb.

Ihre Pariser Zeit dauerte ein Jahr. Sie war siebzehn, als sie zurückkehrte und sehr froh, daheim zu sein. ›Meine Mutter‹, dachte sie, ›ist die, mit der ich zusammen sein will, alle anderen müssen warten.‹ Im Schulzimmer saß sie gern allein, las und schrieb Geschichten oder sang, sich selbst am Klavier begleitend. Und es gab auch immer mal wieder einen Kissenbezug, der darauf wartete, bestickt zu werden. Jane war noch im Hause, außerdem ein Stubenmädchen, aber der Gärtner kam nur noch zweimal die Woche, einen Butler, eine Nähmamsell sowie zusätzliche Küchenhilfen konnte Clara sich nicht mehr leisten. Das Leben in Ashfield war einfacher, frugaler und stiller geworden. Agatha focht das nicht an. Solange sie im Schulzimmer für sich sein, mit Clara auf der Terrasse plaudern und dabei Toni kraulen, solange sie Janes wunderbare Pasteten und Puddings verspeisen konnte, war sie zufrieden. Zumal sie inzwischen Emile Zola las, May Sinclair, Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe. Ihre Mutter aber hatte einen weitergehenden Erziehungsplan für die Jüngste. Agatha musste als Nächstes »in die Gesellschaft eingeführt werden«, und es gab in ganz Großbritannien innerhalb der Society wohl kein einziges Mädchen, das nicht auf diese ihre Rolle als Debütantin hinfieberte – mit allem was an Garderobe, Glanz und Geselligkeit damit zusammenhing. Allerdings kostete eine solche »Einführung« ziemlich viel Geld – das begann mit der Ausstattung und endete noch nicht bei den Mietkutschen, in denen eine Debütantin auf Bälle und zu Wochenendpartys gefahren werden musste. Clara fand eine Lösung: sie würde für Agathas »Saison« mit ihr nach Kairo gehen, wo man preisgünstig lebte. Es gab dort eine tonangebende britische Gesellschaftsschicht, die mit den lokalen Autoritäten zusammenwirkte, dorthin hatten Millers Kontakte. Kurzerhand ließ Clara für die Tochter drei elegante Abendkleider schneidern, Mutter und Tochter packten die Koffer und reisten im Herbst 1910 nach Ägypten. Ihre Lieblingsrobe, ein roséfarbenes Satinkleid mit Rosenknospen auf der Schulter, hat Agatha ihr Leben lang aufbewahrt.

Die junge Miss Miller war ein introvertiertes Mädchen, sie hatte, wie sie in ihren Memoiren bedauert, kein Talent für small talk und fühlte sich »in Gesellschaft« stets gehemmt. Das hat sich nie geändert. Als sie längst eine weltberühmte Schriftstellerin war, brauchte sie immer noch eine Art Autosuggestion oder auch ironische Anfeuerung, die sie sich vor Auftritten in der Öffentlichkeit selbst zuflüsterte: »Das ist Agatha, die so tut, als wäre sie eine erfolgreiche Autorin, die jetzt zu ihrer eigenen großen Party geht, die so aussehen muss, als wäre sie eine Persönlichkeit und eine Rede halten soll, die sie nicht halten kann und überhaupt etwas sein muss, was sie nicht ist.« Wahrscheinlich war es ihr überreiches Innenleben, ihre ausschweifende Phantasie, die ihr im Wege standen, wenn sie sich im wirklichen Leben inszenieren oder auf Herausforderungen reagieren sollte. Wurde ihr zum Beispiel ein junger Mann vorgestellt, so dachte sie sich sofort einen Lebenslauf und ein Schicksal für ihn aus, anstatt ihm in die Augen zu schauen und Fragen zu stellen. Sie wich aus in ihre Vorstellungswelt und verweigerte so die Realität. Einer ihrer Tanzpartner während der »Saison« sprach mit Clara über sie, er lobte ihr Aussehen und ihren Tanzstil und fügte hinzu: »Jetzt sollte sie auch noch reden lernen.« Dennoch hatte Agatha an den Kairoer Bällen und Geselligkeiten ihren Spaß. Sie erwartete nicht von sich, als Ballkönigin aufzutrumpfen. Sie stand gerne auch mal daneben und sah zu. Oft hatte sie das Gefühl, dass sie bei all diesen Vergnügungen, um die so viel Aufhebens gemacht wurde, nur eine Nebenrolle spielte. Zugleich hoffte sie insgeheim, dass ihre Stunde irgendwann schlagen würde. Zumal sie wusste, dass sie gut aussah: groß, schlank, mit einem ausdrucksvollen Gesicht, über dem eine Krone dichter blonder Locken glänzte. In Kairo hatte sie Gelegenheit, ein gutes Quantum an femininer Selbstsicherheit zu entwickeln – es gab einen Ball nach dem anderen, das rosa Satinkleid musste immer wieder aufgebügelt werden. Agathas Tanzkarte war meistens gut gefüllt, sie erhielt sogar zwei ernst gemeinte Heiratsanträge. Höflich lehnte sie ab. Am Ende ihrer Kairoer Saison konnte sie sich als eingeführte junge Dame fühlen, bereit und fähig, einem interessanten und gut situierten Ehemann das Haus zu führen. Möglichst in Torquay.

Zurück in England überdachte Agatha ihre Lage. Nein, lange wollte sie mit der Eheschließung nun nicht mehr warten. Ihre Schwester Madge hatte ein Jahr nach ihrer Heirat einen kleinen Jungen geboren, Clara und Agatha nahmen immer wieder die Gelegenheit wahr, die Familie Watts auf Abney Hall zu besuchen und sich um das Kind zu kümmern, während Madge einen ihrer geliebten London-Trips unternahm, und Agatha bekam eine Ahnung von den Freuden der Mutterschaft. Sie war ihrem Neffen Jack zärtlich zugetan und fand große Freude daran, Spiele, Lieder und Reime für ihn auszudenken. Sie hatte ja nun ihrerseits eine ganze Reihe treuer Verehrer, unter denen Reggie, der es zum Major bei den Kanonieren gebracht hatte, ihr am besten gefiel. Und es geschah in der Tat, dass der junge Mann kurz nach seiner Rückkehr aus Hongkong um ihre Hand anhielt. Agatha war gerührt und sagte Ja. Reggie vergalt es ihr mit einem scheuen Kuss und fügte hinzu, dass er die nächste Zeit im Ausland stationiert sein würde und sie deshalb mit der Hochzeit noch warten müssten. Zu Agathas Ideal leidenschaftlicher Liebe passte ein solcher Aufschub nicht. Sie bat ihren Zukünftigen, doch eine baldige Heirat ins Auge zu fassen. Aber der sprach von Verpflichtungen, die leider bindend seien. Agatha senkte den Kopf. Sie hatte Ja gesagt, und er fuhr erstmal weg. War das Liebe? Doch Reggie war fair. Er wollte sie nicht nötigen, herumzusitzen und nur auf ihn zu warten. »Geh nur aus und vergnüge dich«, sagte er, »und wenn du einen anderen findest, habe ich eben Pech gehabt.« Spätestens jetzt wuchs sich Agathas Enttäuschung zur Abwehr aus. Sie wahrte die Form, sie stimmte zu, aber sie dachte bei sich: ›Das kannst du haben!‹ Dennoch akzeptierte sie, dass das, was Reggie und sie zustande gebracht hatten, eine Verlobung war.

Clara mochte Reggie gern, sie beglückwünschte Agatha zu ihrer Wahl. Zwar hatte sie auf einen vermögenden Schwiegersohn gehofft, und Reggie hatte nur seinen Sold, aber wichtiger war ja doch, dass Herz zum Herzen fand. Was aber das Herz betraf, war Agatha sich nicht mehr sicher.

»Was ist mit dir, darling?«, fragte Clara und warf noch ein Scheit in den Kamin, »du hast Post von deinem Verlobten und machst den Brief nicht auf?«

»Was Briefe betrifft«, antwortete Agatha und putzte sich die Nase, »ist Reggie nicht gerade die Nr. 1. Wenn ich da an Boltons Briefe denke … Die reinste Dichtkunst dagegen.«

»Vielleicht hat er die Briefe von einem Schriftsteller schreiben lassen, so à la Cyrano de Bergerac?«, erwog Clara.

»Meinst du wirklich?«

»Aber ja, das ist sehr wahrscheinlich. Die Herren haben doch gar nicht Zeit dafür und oft auch nicht die Gabe, mit geschriebenem Wort das Herz eines Mädchens zu rühren. Vor allem nicht, wenn sie beim Militär sind. Bei einem unbeholfenen Brief bist du wenigstens sicher, dass der Junge ihn selbst geschrieben hat.«

»Du willst nur, dass ich gut von Reggie denke, Mami, ich verstehe. Aber ich zweifle wirklich, ob er der Richtige ist.«

»Zweifeln ist deine Lieblingsbeschäftigung, Herzchen. Irgendwann musst du damit aufhören.« Agatha starrte ins Kaminfeuer. Eine Weile sagte sie nichts. Dann: »Mama, ich fürchte, er würde nicht wollen, dass ich singe.«

»Darauf wollte ich dich ansprechen, Tochter. Du erinnerst dich an die Fishers, Freunde von Papa aus New York –«

Es war sonst nicht ihre Art, der Mama ins Wort zu fallen, aber jetzt tat sie es.

»Wenn ich die Mimi singe oder die Margarete, dann bin ich in einer eigenen Welt. Und ganz anders als am Piano stört mich das Publikum nicht. Im Gegenteil, ich kann es anschauen, wenn ich eine Koloratur anstimme. Mama, in diese Welt müsste mein Ehemann mich gehen lassen, hörst du, und wenn er dazu nicht imstande wäre …«

»Davon will ich ja gerade reden«, sagte Clara, »von dieser eigenen Welt. Ich treffe mich morgen mit den Fishers. Sie sind hier in Begleitung einer sehr wichtigen Persönlichkeit, einer Dame mit besten Beziehungen zur Metropolitan Opera, sie unterrichtet dort den Nachwuchs. Ich habe die Fishers gebeten, sie zu fragen, ob du ihr vorsingen könntest. Ob sie bereit wäre, dich anzuhören und ein Urteil abzugeben. Sie hat Ja gesagt, und das ist ein großes Entgegenkommen. Na, was sagst du? Wenn du schon immer so viel zweifelst – vielleicht kann diese Gesangslehrerin deine Zweifel zerstreuen?«

Es kam anders. Die Gesangslehrerin zerstreute nicht Agathas Zweifel an ihrem Talent, sondern ihre Gewissheit, zur Sängerin geboren zu sein. Sie habe eine gut gebildete, schöne Stimme, sagte die Amerikanerin, und zu einer passablen Konzertsängerin würde es reichen. Aber nicht für die Bühne. Dafür fehle Agatha das Volumen, vor allem in der mittleren Lage. Und darauf komme es an. Agatha weinte auf dem Heimweg, sie weinte im Schulzimmer und in der Küche bei Jane, und dann hörte sie unvermittelt damit auf. So war es nun. Es war die zweite arge Niederlage bei ihrem Versuch, in der Welt der Musik Fuß zu fassen, und es tat grausam weh. Aber so jung Agatha war, sie konnte verlieren. Zumal sie fest davon überzeugt war, dass ihr wahres Lebensziel woanders lag. Es hatte nichts mit Chopin zu tun und nichts mit Rossini und nichts mit der Opernbühne, sondern mit – nein, womöglich nicht mit Reggie. Aber auf jeden Fall mit einem, mit ihrem Ehemann. Sie wollte heiraten und glücklich werden. Das sei ihre Bestimmung, so sagten Clara und Madge und die Großmutter und die Großtante. So sagten alle, also auch sie selbst.

Clara aber hatte schon eine Idee, wie sie ihren Liebling trösten konnte. Sie ging rauf ins Schulzimmer, nahm das Manuskript von Snow upon the Desert, von dem sie wusste, dass Agatha es kürzlich überarbeitet hatte, in die Hand und trug es über die Straße zu Eden Philpotts. Der Schriftsteller versprach, es zu lesen und eine Beurteilung zu schicken. Er hielt sein Wort.

Es war stets eine Freude für Agatha und Clara, wenn Madge zu Besuch kam. Sie zog in Ashfield ein als eine alte Bewohnerin, die sie ja war, mit allen Rechten und Pflichten und prüfte sehr genau, ob auch alles noch am rechten Platze stand. Madge galt immer als das große poetische Talent in der Familie. Sie hatte schon Gedichte veröffentlicht, als Agatha noch klein war, und ihre Kurzgeschichten stießen bei Lesungen in der Familie und im Freundeskreis auf große Resonanz. Einige verkaufte sie sogar an Zeitschriften. Agatha war stolz auf ihre Schwester, aber auch ein wenig neidisch, wobei dieser Neid durch den beträchtlichen Altersabstand, der zwischen der Erstgeborenen und ihr bestand, gemildert wurde. Aber seit Agatha erwachsen war, fühlte sie eine Verpflichtung, es der Schwester gleichzutun, und die positive Beurteilung ihres Erstlings durch Mr Philpotts war nun eine Trumpfkarte, die sie ausspielen konnte.

»Aber wie wird es jetzt weitergehen?«, fragte Madge, die sich nie auf ihren Erfolgen ausruhte. »Wirst du Snow upon the Desert an einen Verlag schicken?«

»Aber ja, das werde ich. Drück mir die Daumen, dass jemand anbeißt.«

»Du musst weiterschreiben. Nur keine größeren Pausen, sonst kommst du aus der Übung. Was machst du als Nächstes?«

»Ich sitze an einer Kurzgeschichte, genauer gesagt: an zweien. Ich möchte sie wieder Eden Philpotts vorlegen – mal sehen, ob er findet, ich sei weitergekommen.«

Natürlich sprachen die Schwestern auch über das Ende von Agathas musikalischer Karriere.

»Weißt du«, sinnierte Agatha, »ich habe etwas erkannt. Wenn das, was du dir mehr als alles andere wünschst, nicht möglich ist, ist es besser, es hinzunehmen, als sich mit Reue oder vergeblicher Hoffnung aufzuhalten. Man muss nach vorne blicken.«

Madge legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ich habe gerade den neuesten Kriminalroman von Gaston Le Roux gelesen«, sagte sie, »musst du auch lesen, unbedingt. Und überleg dir, ob das nicht was für dich wäre: einen Kriminalroman zu schreiben. Ich hab es schon versucht. Ist höllisch schwer. Na ja, womöglich schaffst du es nicht, man soll sich auch nicht überfordern.«

»Ich möchte es versuchen.«

»Wetten, du schaffst es nicht?«

»Es war keine richtige Wette«, so erzählt es Agatha im Rückblick, »aber mein Ehrgeiz war geweckt. Von diesem Augenblick an war ich wild entschlossen, einen Krimi zu schreiben. Ich fing nicht gleich damit an, legte mir auch keine Handlung zurecht, aber die Saat war im Boden.«

Das andere große Thema bei Madges Besuchen waren Agathas Eheaussichten.

»Reggie Lucy«, sagte Madge, »ist ein reizender Junge, und er ist von hier. Hat er vor, sich in Torquay niederzulassen?«

»Vermutlich.«

»Du klingst nicht gerade begeistert …«

»Er hält um meine Hand an und geht mit meinem Ja nach Indien. Ist das in Ordnung?«

»Längere Verlobungszeiten sind üblich. James und ich waren doch auch eine ganze Weile verlobt. Ein Paar hat dann Zeit, alles zu überdenken.«

»Das ist es ja. Wenn ich anfange, alles zu überdenken, möchte ich hier in unserem Ashfield bleiben.«

»Um dich dazu zu bringen, eine Ehe einzugehen, müsste man dich also entführen wie ein Raubritter, des Nachts und mit Gewalt. Ist es das, was du sagen willst?«

Agatha überlegte. Und nickte. »Ja, genauso ist es. Ich möchte überwältigt werden – aber natürlich nicht körperlich, sondern seelisch. Was meinst du: Ist das falsch?«

Es war im Oktober 1912, als Lord und Lady Clifford von Chudley in Exeter einen Ball gaben – für die Offiziere und die Truppe der dortigen Garnison. Selbstverständlich waren junge hübsche Damen hochwillkommen, und so erhielt auch Agatha diese unverhoffte Einladung. Alte Freunde von Frederick Miller hatten sie empfohlen, nahmen sie in ihrer Kutsche mit und stellten sie ein paar Bekannten vor. Ihre Tanzkarte war bald gefüllt, und als der erste Kavalier sich aufmachte, seine Dame abzuholen, kam ihm ein hochgewachsener junger Soldat zuvor. Er war Agatha schon aufgefallen, weil er so gut aussah. Er verbeugte sich vor ihr, sie schmiegte sich in seinen Arm, und er schwang sich mit ihr über das Parkett; ihr Gewissen pochte, weil ja ein anderer Kandidat auf ihrer Karte stand. Laut genug, um den Geräuschteppich aus Musik, Tanz und Gelächter zu übertönen, stellte sich ihr Tanzpartner vor: Leutnant Archibald Christie, Königliche Feldartillerie von der Brigade Exeter. Ob sie ihm auch den nächsten Tanz gönnen könne? »Sorry«, sagte Agatha, »der ist vergeben.« Archibald führte Agatha von der Tanzfläche zu den Stühlen am Rand des Saales, ließ sich ihre Karte zeigen, zog einen Stift aus seiner Uniformtasche und strich die nächsten drei Anwärter aus. »A-Aber –«, sagte Agatha, doch da war sie schon wieder am Arm ihres Kavaliers mitten unter den tanzenden Paaren. Der Leutnant hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen halb geschlossen, als könne er so besser auf die Musik und den Rhythmus achten, und lächelte.

Was der sich herausgenommen hat, dachte Agatha auf der Heimfahrt von Exeter nach Torquay, ganz schön unverschämt. Er war ein Hasardeur, dieser Leutnant Christie, ein Abenteurer offenbar, aber auch ein Mann mit viel Mut. Er war vierundzwanzig Jahre alt, in Indien geboren und bei der Mutter mit Bruder Campbell in Bristol aufgewachsen. Das Soldatenleben, hatte er ihr erzählt, bedeute ihm weiter nichts, aber beim Militär könne er etwas machen, was für ihn als Zivilisten unerschwinglich sein würde: fliegen. Er habe sich bereits für das Königliche Fliegerkorps qualifiziert und besäße ein entsprechendes Zertifikat. Wie stolz er darauf war! Agatha sagte, dass sie ihn sehr gut verstehe und dass sie auch schon mal in die Lüfte aufgestiegen sei, bei einer Flugschau mit ihrer Mutter. Da konnte man einmal kurz mit einer Maschine in die Wolken tauchen, es kostete die enorme Summe von fünf Pfund. Es habe ihr unwahrscheinlich gut gefallen. Archibald küsste ihr die Hand. Jetzt lächelte auch sie.