Agile Zombies - N. D. Newman - E-Book

Agile Zombies E-Book

N. D. Newman

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Beschreibung

Agile Zombies – Error 404: Innovation Not Found Willkommen bei Innvidox, wo sinnlose Geschäftigkeit regiert und „Spaß bei der Arbeit” ein Euphemismus für unbezahlte Überstunden ist. Hinter bunten Scrum-Boards und digitalen Post-it-Wänden verbirgt sich ein System, das Idealismus gegen Profit eintauscht und echte Innovation unter einer Flut von Buzzwords begräbt. Leon träumt von einer Medizin-KI, findet sich aber in einem digitalen Gefängnis aus banalstem Code für einen HR-Chatbot wieder. Mia ist vom Unternehmenswahnsinn frustriert und sehnt sich nach ehrlicher Arbeit. Felix wiederum sammelt Beweise für die „fragwürdigen Geschäftspraktiken” des Managements. In seinem „Schwarzen Archiv” dokumentiert er diese. Als die Unternehmensabsurdität neue Höhen erreicht, erkennen Leon, Mia und Felix, dass passiver Widerstand nicht ausreicht. Sie erschaffen den „Bullshit-Bot”, der die hohlen Phrasen des Managements auf die Spitze treibt und die Kommunikation unterwandert. Mithilfe des Archivs decken sie Überwachung, gefälschte Arbeitszeiten, den Verkauf interner Tools an das Militär und die Ablehnung ethischer Projekte auf. Die Veröffentlichung der „Innvidox Files” löst ein Erdbeben aus, und das Management gerät in Panik. Innvidox bricht zusammen – ein „digitales Schlachtfeld“, auf dem die Botschaft „Error 404: Innovation not found“ auf allen Bildschirmen blinkt. Doch für Leon, Mia und Felix ist der Zusammenbruch nur der Anfang. Sie gründen nach Innvidox ein Start-up. Doch selbst dort sehen sie sich weiterhin mit Zombie-Unternehmen konfrontiert. „Agile Zombies – Error 404: Innovation Not Found” ist eine Geschichte über Widerstand, den Kampf um Integrität in einer korrupten Welt und die Hoffnung, dass echte Veränderung möglich ist – auch wenn sie im Kleinen beginnt. Der Roman ist eine satirische Abrechnung mit dem modernen Bürowahnsinn und eine leidenschaftliche Ode an die Macht des Codes sowie den unbeugsamen Geist der Menschen, die noch an seine ursprüngliche Bestimmung glauben. Ein Muss für alle, die schon einmal das Gefühl hatten, ihre Seele im Büro zu verkaufen. Wer wird die „Agile Zombies” besiegen? Finden Sie es heraus!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Agile Zombies

Error 404: Innovation Not Found
N. D. Newman

Agile Zombies - Error 404: Innovation Not Found

N. D. Newman

Copyright © 2025 by N. D. Newman

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch, veröffentlicht im Eigenverlag Nova Glow, ist das ausschließliche geistige Eigentum des Autors. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Urhebers in irgendeiner Form reproduziert, gespeichert, übertragen oder in irgendeiner Weise verwendet werden, auch nicht in digitalen oder elektronischen Medien.

Erstveröffentlichung 2025

Alle in diesem Werk erwähnten Namen, Orte und Bezeichnungen sind nach bestem Wissen und Gewissen gewählt und dienen ausschließlich illustrativen Zwecken.

Nova Glow – Eigenverlag

 

Impressum

Nico Heller

Färberstraße 16

04105 Leipzig

Deutschland

E-Mail: [email protected]

Verlag: Nova Glow – Eigenverlag

EU-Streitbeilegung Verbraucherstreitigkeiten: https://ec.europa.eu/odr

Inhaltsverzeichnis
1 Agile Agonie im Morgengrauen
2 Digitale Dämmerung
3 Rückblick der Resignation
4 Lego Labyrinth
5 Kindergarten des Chaos
6 Agile Bootcamp
7 Bullshit-Bot
8 Bullshit-Apokalypse
9 Phantomstunden
10 Hackathon der Enthüllungen
11 Aufstand der wandelnden Zombies
12 Untergang der Agile Zombies
13 Ctrl + Alt + Heal

1  Agile Agonie im Morgengrauen

Die weißen Neonröhren der Büroetage flackern wie müde Augen über den Köpfen der zweihundert Entwickler, die in symmetrischen Reihen an identischen weißen Schreibtischen sitzen. Jeder Quadratzentimeter ist klinisch, steril, als hätte man ein Labor mit IKEA-Möbeln eingerichtet. Das Klappern der Tastaturen klingt wie digitaler Regen auf einem Blechdach - eine Symphonie der Produktivität, die nichts hervorbringt.

Leon Bergmann tritt durch die Glastür und atmet den vertrauten Geruch von kaltem Kaffee und Verzweiflung ein. Sein Kapuzenpulli mit der Aufschrift »sudo make me a sandwich« hängt schlaff an seinem hageren Körper. In der einen Hand hält er einen leeren Kaffeebecher, in der anderen sein Smartphone mit siebzehn ungelesenen Nachrichten von Kevin.

Das Büro brummt vor sinnloser Geschäftigkeit. Rechts sitzt jemand mit stumm geschaltetem Mikrofon in einem Zoom-Meeting, links diskutieren drei Praktikanten über die richtige Farbe für das neue Dashboard. In der Ecke steht der kaputte Kicker - ein Relikt aus der Startup-Phase, als »Spaß bei der Arbeit« noch kein Euphemismus für unbezahlte Überstunden war. Einer der Stangen fehlt der Griff, eine andere ist verbogen wie eine krumme Metapher für die Innovationskraft von Innvidox.

Die Wände sind mit bunten Scrum-Boards tapeziert. Gelbe, grüne und vor allem rote Post-its kleben darauf wie digitale Hautausschläge. Vor einem Board bleibt Leon stehen und blickt auf ein vergilbtes rotes Post-it mit der Aufschrift »Tech-Debt: Database Refactoring. Priorität: Hoch. Due: Q2 2019«. Daneben klebt ein frisches grünes: »Emojis im HR Chatbot implementieren. Priorität: URGENT!«

Fast alle Mitarbeiter tragen Noise-Cancelling-Kopfhörer - die Überlebensstrategie in diesem Ökosystem aus Lärm und Belanglosigkeiten. Es ist nicht nur der akustische Schutz, den sie suchen, sondern auch die Illusion von Privatsphäre in diesem Aquarium aus Glas und weißem Plastik. Und natürlich die Möglichkeit, Kevins Stimme zu überhören, wenn er wieder einmal über »Agile Mindset« und »Scrum Spirit« schwadroniert.

»Hmm? Lass mich ...«, murmelt der Kollege im Halbschlaf. »Die Tech-Debt frisst mich ... sie frisst uns alle ...«

Leon öffnet unauffällig seine Tasche und schiebt ihm einen Energydrink zu. »Hier, Thomas. Das hält dich wach bis zum nächsten Sprint Planning.«

Thomas blinzelt, nimmt die Dose und nickt dankbar. »Du bist ein guter Mann, Leon. Zu gut für diesen Ort.«

Leon zuckt die Schultern und geht weiter. Mit 35 und einem Doktortitel in Informatik hatte er sich sein Leben anders vorgestellt. Vor fünf Jahren kam er zu Innvidox mit dem Versprechen, seine Forschung im Bereich der medizinischen KI voranzutreiben. »Hier verändert man die Welt«, hatte es in der Stellenanzeige geheißen. Die Welt, die er nun verändert, besteht vor allem aus Emojis und Buttonfarben.

An seinem Schreibtisch angekommen, fährt Leon seinen Computer hoch. Die Login-Maske begrüßt ihn mit dem Innvidox-Slogan: Innovation durch Agilität! Er tippt sein Passwort ein: »F1ckAg1l3!« - niemand würde es erraten, und die IT-Sicherheitsrichtlinien verlangen Sonderzeichen.

Sein aktuelles Projekt blinkt ihm entgegen: ein HR-Chatbot, der Fragen wie »Wie beantrage ich einen Kugelschreiber« oder »Wann ist die Weihnachtsfeier« beantworten soll. Daneben, versteckt in einem Unterordner mit dem Namen »Budget_Forecasts_2023_Q4«, liegen die Dateien seiner medizinischen KI - ein Algorithmus, der Krebszellen auf CT-Bildern früher erkennen soll als jeder Arzt.

Leon reibt sich müde die Augen. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab, sein Dreitagebart ist eigentlich ein Fünftagebart, und unter seinen Augen liegen tiefere Schatten als die technischen Schulden von Innvidox.

»Ich hätte Betriebswirtschaft studieren sollen«, murmelt er und öffnet widerwillig die Dateien des Chatbots.

Um 10 Uhr vibriert sein Handy. Eine Nachricht von Kevin: »Daily in 5 Minuten! Bitte Kameras einschalten!« Die drei Ausrufezeichen sind wie kleine Messerstiche in Leons Seele.

Das Team versammelt sich im Besprechungsraum »Disruption« - ein Glaskasten mit ergonomisch unbequemen Stühlen und einem überdimensionalen Bildschirm. Kevin steht schon am digitalen Whiteboard, ein manisches Grinsen im Gesicht und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Scrum Warrior« am Körper. Zwei Kollegen sind aus dem Home-Office zugeschaltet.

»Guten Morgen, ihr Rockstars!« Kevin klatscht in die Hände. Seine Energie wirkt so authentisch wie das Plastikobst in der Betriebsküche. »Lasst uns kurz hören, woran ihr gerade arbeitet und wo es vielleicht Blockaden gibt!«

Die Runde beginnt. Felix, der älteste Entwickler im Team, murmelt etwas von »API-Integration« und »unzureichender Dokumentation«. Mia spricht von Performance-Optimierungen und rollt unmerklich mit den Augen.

Als Leon an der Reihe ist, setzt er sein Pokerface auf. »Ich arbeite am HR-Chatbot. Die Emoji-Integration geht gut voran.«

»Und was ist mit deinem ... anderen Projekt?« Kevin zieht die Augenbrauen hoch. »Diesem medizinischen ... Ding?«

»Die KI für die Krebsfrüherkennung?« Leon spürt, wie sich seine Fingernägel in die Handflächen bohren. »Das ist ein Nebenprojekt.«

Kevin lacht nervös. »Tja, vielleicht sollten wir uns auf die vorrangigen Aufgaben konzentrieren? Der Chatbot ist wirklich wichtiger für unser Quartalsziel. Dieses KI-Ding klingt nach einer netten Spielerei, aber ...«

Leon nickt mechanisch, während in seinem Kopf Bilder aus seiner Doktorandenzeit aufblitzen. Der Moment, als sein Algorithmus zum ersten Mal einen Tumor erkannte, den drei Ärzte übersehen hatten. Die Konferenz, auf der er seine Ergebnisse vorstellte. Der Preis für innovative Medizintechnik. Die Hoffnung in den Augen seines Professors: »Leon, du kannst mit dieser Technologie Leben retten.«

Damals dachte er, Code könne die Welt retten. Heute optimiert er Emojis.

»Deshalb brauchen wir wirklich alle für den HR-Chatbot«, schließt Kevin seinen Monolog. »Der Chief Human Resources Officer will nächste Woche eine Demo sehen. Mit Emojis, sonst streichen sie unser Club-Mate-Budget.«

Das Meeting zieht sich wie Kaugummi. Als es endlich zu Ende ist, flüchtet Leon zurück an seinen Platz und steckt sich die Kopfhörer in die Ohren. Synthwave-Beats übertönen den Bürolärm, während er mechanisch Code tippt.

Zwei Stunden später. Leon sitzt in einem weiteren Meeting, diesmal mit dem Marketing-Team. Mia präsentiert gerade eine komplexe API-Architektur, als ein Manager sie unterbricht.

»Kannst du das mal für normale Menschen erklären, Süße?« Der Mann lächelt süffisant. »Wir können nicht alle Nerd sprechen.«

Die Temperatur im Raum scheint um einige Grad zu sinken. Mias Gesicht bleibt völlig ruhig, aber Leon kennt diesen Blick - die perfekte Mischung aus Verachtung und professioneller Höflichkeit.

»Natürlich, Herr Wagner.« Mias Stimme ist ruhig, präzise. »Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Kind und wollen ein Eis kaufen. Die API ist wie ein Eisverkäufer, der Ihnen verschiedene Sorten anbietet. Man muss nur sagen, welche Sorte man möchte, und schon bekommt man sie. Sie müssen nicht wissen, wie das Eis hergestellt wird oder woher die Milch kommt. Man muss nur die richtigen Worte kennen, um zu bekommen, was man will. Verstanden?«

Stille erfüllt den Raum. Der Manager lächelt unsicher, unsicher, ob er gerade subtil beleidigt wurde. Die anderen Anwesenden starren auf ihre Notizen.

Nach dem Meeting gesellt sich Leon zu Mia, die schon auf dem Weg zurück an ihren Schreibtisch ist.

»Jedes Mal, wenn sie dich unterschätzen, wirst du besser im Lügen«, flüstert er.

Mia lächelt dünn. »Ich lüge nicht. Ich vereinfache nur bis zur Beleidigung.«

Der Rest des Tages vergeht in einem Nebel aus Meetings, E-Mails und sinnlosem Code. Als die Uhr fünf anzeigt, hat Leon das Gefühl, nichts getan zu haben - nichts, was zählt. Er packt seinen Laptop ein, nickt den wenigen Kollegen zu, die noch da sind, und macht sich auf den Weg zur Tür.

Draußen ist es schon dunkel. Ein weiterer Tag im Dienst der Innovation, die keine ist. Ein weiterer Tag, an dem seine eigentliche Arbeit - die Arbeit, die Leben retten könnte - in einem versteckten Ordner versauert, während er Emojis programmiert.

∗ ∗ ∗

Leons Wohnung im fünften Stock eines Berliner Altbaus ist in das bläuliche Licht seines Bildschirms getaucht. Die spärliche Beleuchtung kämpft gegen die Dunkelheit wie ein einsamer Widerstandskämpfer gegen ein übermächtiges Imperium. An den Wänden: verblichene Star-Trek-Poster, technische Diagramme und ein gerahmtes Foto seines Doktorandenteams - alle lächelnd, hoffnungsvoll, ahnungslos.

Der Raum ist ein Gegenentwurf zur sterilen Bürolandschaft von Innvidox. Hier gibt es keine weißen Flächen, keine Motivationssprüche, keine agilen Manifeste. Stattdessen: organisiertes Chaos. Kabelgewirr, das wie elektronische Schlingpflanzen über den Boden kriecht. Ein altes Sofa, durchgesessen und mit einem Überwurf aus einem Vintage-Computerladen bedeckt, steht vor einem niedrigen Couchtisch, auf dem Elektronikteile in verschiedenen Stadien der Demontage liegen.

In der Ecke neben dem Fenster steht sein selbstgebauter Schreibtisch - zwei Böcke und eine massive Holzplatte, beladen mit drei Monitoren und einer mechanischen Tastatur, deren Klicken in der nächtlichen Stille wie Morsecode klingt. Die LEDs seines Raspberry Pi blinken in einem hypnotischen Rhythmus, rot und grün, wie der Herzschlag einer sterbenden Maschine.

Leon sitzt mit angezogenen Beinen auf seinem ergonomischen Stuhl, dem einzigen Stück Bürokultur, das er in seiner Wohnung gelassen hat. Seine Finger flitzen über die Tastatur. Über den Hauptbildschirm: Codezeilen für seinen selbstgebauten Arcade-Emulator. Auf dem zweiten: medizinische Bilddaten mit farbigen Markierungen - potenziell krebsartige Zellen, die sein Algorithmus identifiziert hat.

Die Schatten, die die blinkenden LEDs an die Wand werfen, tanzen wie Geister aus vergangenen Zeiten. Sie erinnern ihn an die Nachmittage in der Universitätsbibliothek, als er zum ersten Mal über neuronale Netze las. An die Nächte im Forschungslabor, als der erste Prototyp seiner KI lief. An die Gesichter der Professoren, als er seine Ergebnisse präsentierte.

»Verdammtes Memory Leak«, murmelt Leon und reibt sich die brennenden Augen. Er greift nach einer der vielen Energydrink-Dosen, die auf seinem Schreibtisch stehen, findet sie leer und stellt sie zu den anderen in den improvisierten Dosenturm. Ein Denkmal der nächtlichen Codingsessions.

Zwischen den technischen Geräten entdeckt er eine vergilbte Mappe. Er zieht sie hervor und öffnet sie. Handgeschriebene Notizen seiner Doktorarbeit. Skizzen von Algorithmen. Eine primitive Version dessen, was heute seine medizinische KI ist. In die Ecke eines Blattes hat er damals geschrieben: »Ziel: 1000 Leben retten.«

Leon schnaubt. »Toll, Bergmann. Und jetzt programmierst du Emojis für HR-Chatbots.«

Er schiebt den Ordner beiseite und wendet sich wieder seinem Code zu. Der Raspberry Pi soll ein altes Arcade-Spiel emulieren - »Defender«, ein Spiel, in dem man die Welt vor außerirdischen Invasoren beschützen muss. Einfacher als die reale Welt vor Manager-Invasoren zu schützen.

Neben ihm steht ein zerknitterter Kaffeebecher mit dem verblassten Logo seiner ersten Coding Challenge - »HackBerlin 2014«. Damals gewann er den ersten Preis mit einer App, die Blinden den Weg durch die Stadt weist. Die Jury nannte sie »wegweisend«. Innvidox würde es heute wohl »nicht marktrelevant« nennen.

Leon starrt auf den Becher, dreht ihn langsam in den Händen. Seine Finger sind taub vom stundenlangen Tippen, aber in seiner Brust spürt er eine Wärme, eine unangenehme Wärme, die er als Schuld erkennt. Schuld, weil er aufgegeben hat. Weil er Teil des Systems geworden ist, das er einst verändern wollte.

Er schüttelt den Kopf und stellt die Tasse ab. Per Sprachbefehl aktiviert er seine Musikanlage. Synthwave-Klänge füllen den Raum - tiefe Bässe und synthetische Melodien, die klingen, als kämen sie aus einer alternativen Zukunft. Einer Zukunft, in der die Technik noch dem Menschen dient und nicht umgekehrt.

Die bunten LED-Streifen, die er unter seinem Schreibtisch und an der Decke angebracht hat, reagieren auf die Musik, pulsieren im Takt. Sie tauchen die Wohnung in ein futuristisches Licht - Magenta, Cyan, Electric Blue. Farben, die im Innvidox-Büro verboten wären, weil sie nicht zum Corporate Design passen.

In die elektronischen Klänge mischt sich das monotone Piepen seines alten Weckers - 23 Uhr, Zeit für seine Medikamente. Den analogen Wecker hat er sich gekauft, weil er seinem Smartphone nicht mehr traut. Zu viele Apps, zu viele Verbindungen zur Außenwelt, zu viele Möglichkeiten, überwacht zu werden.

Leon öffnet eine Schublade und holt eine Tablettenschachtel heraus. Ein Medikament gegen Bluthochdruck. Die offizielle Diagnose lautet Hypertonie. Inoffiziell nennt er es »eine gesunde Reaktion auf ein krankes Arbeitsumfeld«.

Während er die Pille mit einem Schluck abgestandenen Kaffee hinunterspült, wandert sein Blick zu seiner Sammlung von Actionfiguren und technischen Gadgets, die auf einem Regal an der Wand stehen. Yoda neben Spock. Ein Arduino-Board neben einem Modell des ersten iPhones. Ein 3D-gedruckter Prototyp eines medizinischen Scanners neben einer Figur von Marie Curie.

Leon steht auf und geht zum Regal. Seine Finger streichen über die Objekte, ordnen hier etwas um, richten dort etwas auf. Es ist ein Ritual, das ihn beruhigt. Eine kleine Kontrolle in einer Welt, die sich seiner Kontrolle entzieht.

Zwischen einer Captain-Picard-Figur und einem Mini-Raspberry-Pi entdeckt er einen zusammengefalteten Zettel. Er nimmt es heraus und entfaltet es vorsichtig. Es ist ein Auszug aus einer wissenschaftlichen Publikation - seiner eigenen aus der Zeit seiner Promotion. Eine Passage ist markiert: »Die vorgeschlagene Technologie könnte die Früherkennung von Tumoren revolutionieren und die Überlebensrate um bis zu 40 Prozent erhöhen. In einer Welt, in der jede Minute zählt, könnte dieser Algorithmus den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten«.

Darunter schrieb er selbst: »Erinnerung an mich selbst: Es geht nicht um Profit. Es geht um Menschen.«

Leon starrt auf den vergilbten Zettel. Staub hat sich in den Falten des Papiers gesammelt, ein stummer Zeuge der vergangenen Zeit und der vernachlässigten Ideale.

Die Synthwave-Musik erreicht ihren Höhepunkt, ein digitales Crescendo, das den Raum mit Energie füllt. Die LED-Leuchten pulsieren schneller und verwandeln die Wohnung in eine futuristische Kommandozentrale. Für einen Moment fühlt sich Leon wieder als der idealistische Hacker, der er einmal war. Der Revolutionär, der Code als Werkzeug zur Veränderung sah, nicht als Mittel zum Geldverdienen.

Sorgfältig faltet er den Zettel zusammen und steckt ihn in die Brusttasche seines T-Shirts. Dann kehrt er zu seinem Computer zurück, schließt den Arcade-Emulator und öffnet einen verschlüsselten Ordner auf seiner externen Festplatte.

»Projekt Phoenix« steht in der Titelzeile des Dokuments, das sich öffnet. Darunter eine Projektbeschreibung: »Open-Source-Medizin-KI zur Krebsfrüherkennung. Frei verfügbar für alle Krankenhäuser weltweit.«

Leon knackt die Fingerknöchel und beginnt zu tippen. Die mechanische Tastatur klappert rhythmisch, ein Gegentakt zum Synthwave-Beat. In seinem Gesicht spiegelt sich das bunte Licht der LEDs, doch in seinen Augen brennt etwas anderes - ein Feuer, das im fluoreszierenden Licht des Innvidox-Büros zu erlöschen scheint.

Hier, in seinem selbst geschaffenen Reich aus Nostalgie und Zukunftsvision, arbeitet Leon an dem, was wirklich zählt. Nicht an Emojis für belanglose Chatbots, sondern an Algorithmen, die Leben retten könnten. Es ist sein stiller Widerstand gegen die Absurdität des Arbeitsalltags, seine persönliche Revolution gegen die Banalität des Bösen im Gewand der Unternehmenskultur.

Die Nacht schreitet voran. Draußen schlafen die Menschen und träumen von einem besseren Morgen. Drinnen, im Licht pulsierender LEDs, erschafft ein müder Programmierer die Zukunft, die ihm einst versprochen wurde.

∗ ∗ ∗

Der Morgen kriecht über Berlin wie ein schlecht programmierter Algorithmus - ineffizient und voller Fehler. Leon schleppt sich durch die Eingangstür von Innvidox, die Schultern bereits gebeugt von der Last eines Tages, der noch nicht einmal richtig begonnen hat. Es ist 8:30 Uhr und die Büroetage brummt bereits mit der künstlichen Energie eines übertakteten Servers. In der Ecke sitzt Mia, die Kopfhörer tief in die Ohren gesteckt, die Finger tanzen über die Tastatur. Sie ist seit 7 Uhr hier - nicht aus Loyalität zur Firma, sondern als strategischer Schachzug, um den morgendlichen Meetings zu entgehen.

»Guten Morgen, Rebellin«, grüßt Leon und stellt seinen Rucksack neben den Schreibtisch.

Mia nimmt ihre Kopfhörer ab. »Der frühe Vogel fängt den Wurm. Und vermeidet Kevins Morning Energizer.« Heute trägt sie ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck »I’m not anti-social, I’m anti-bullshit«. Ihre Augenringe wetteifern mit Leons um den Titel des dunkelsten Schattens im Büro.

Leon lässt seinen Blick durch den Raum schweifen und bleibt an Kevins Reich hängen - einem pinkfarbenen Kanban-Board, das wie ein schriller Fremdkörper in der sonst so grauen Bürolandschaft steht. »Team Awesome« prangt in glitzernden Lettern darüber. Darunter stehen Aufgaben wie »Team-Moods aufhellen (Dringend!)«, »Retro-Spiele finden (Fun!)« und »Einhorn-Kekse für die Freitags-Demo backen (SUPER-DRINGEND!)«. In der Spalte »Erledigt« klebt ein einziges Post-it: »Wöchentliches Motivations-GIF an alle verschickt«.

»Der Mann ist ein wandelndes LinkedIn-Motivationsmeme«, murmelt Leon und fährt seinen Computer hoch.

»Mit dem Unterschied, dass LinkedIn-Memes manchmal tatsächlich motivieren«, antwortet Mia trocken und wendet sich wieder ihrem Code zu.

Um 8:55 Uhr hallt ein schrilles Klingeln durch den Raum - Kevin läutet seine zeremonielle Stand-up-Glocke. Es klingt wie der Weckruf in einer Irrenanstalt.

»Goooooooden Morgen, Code-Ninjas!« Kevin Müller trägt ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift »Sprint Pirate« und eine Augenklappe, die er sich offenbar aus schwarzem Isolierband gebastelt hat. In der einen Hand hält er die Glocke, in der anderen ein Plüschhuhn mit der Aufschrift »Pointing Poker Champion«.

»Ist das ein Kindergeschenk?«, flüstert Leon Felix zu, der gerade seinen Kaffee gefährlich nah vor die Tastatur stellt.

»Nein, das hat er bei Amazon bestellt. Mit der Firmenkreditkarte.« Die Stimme von Felix klingt, als hätte er zu viel Sand geschluckt. »65 Euro. Ich hab die Rechnung gesehen.«

»Kommt mal alle her!« Kevin schwenkt das Plüschhuhn über seinem Kopf wie ein Dompteur, der störrische Zirkustiere zusammentreibt. »Zeit für unser Daily! Heute haben wir Besuch vom C-Level, also volle Power, ja?«

Widerwillig schleppt sich das Team zum Standup-Bereich - ein mit Klebeband markierter Kreis auf dem Boden, in dem fünfzehn erwachsene Menschen gezwungen sind, eng beieinander zu stehen wie Pinguine in einer Kältewelle.

Kevin nimmt seinen Platz in der Mitte ein, unter einer von der Decke hängenden Stoppuhr, die die 15 Minuten herunterzählt. Neben sich hat er einen Laptop aufgebaut, aus dem eine Excel-Tabelle mit dem Titel »Sprint Blockaden SMASH!« leuchtet.

»So, wer hat heute gute Energie für uns?« Kevin strahlt in die Runde, seine Stimme eine Oktave zu hoch für einen Mittvierziger.

Stille. Das einzige Geräusch ist das leise Summen der Klimaanlage und das unterdrückte Gähnen von mindestens drei Teammitgliedern.

»Okaaay«, dehnt Kevin das Wort, als könne er damit die fehlende Begeisterung kompensieren. »Dann legen wir mal los! Leon, was hast du gestern gemacht, was machst du heute und gibt es Blockaden?«

Leon räuspert sich. »Ich arbeite am Chatbot. Die Emoji-Integration geht voran.« Was er nicht erwähnt: Dass er die letzten zwei Stunden im Hintergrund an seinem medizinischen Algorithmus gearbeitet hat, während der Chatbot-Code wie ein Alibi auf seinem zweiten Bildschirm lief.

»Großartig!« Kevin klatscht in die Hände. »Und was ist mit den anderen Funktionen? Die dynamischen Antworten? Dem Sentiment-Analyser?«

»Kommt als Nächstes.« Leon zuckt mit den Schultern.

»Fantastisch!« Kevin greift zum Laptop.

Felix, der neben Leon steht, schnaubt leise. »Früher haben wir Compiler gebaut. Heute bauen wir PowerPoints.« Seine Stimme ist leise, aber deutlich genug, dass mehrere Teammitglieder verstohlen grinsen.

Kevin scheint das nicht gehört zu haben und wendet sich mit übertriebener Begeisterung dem nächsten Teammitglied zu: »Mia! Was machst du gerade?«

»Datenbank-Refactoring. Läuft«, sagt Mia knapp. Ihr Blick fixiert einen Punkt jenseits von Kevins Schulter, als könnte sie dort ein Paralleluniversum erkennen, in dem es solche Meetings nicht gibt.

»Fantastisch!« Kevin macht sich Notizen in seiner Excel-Tabelle. »Irgendwelche Blockaden?«

»Nur die üblichen. Fehlende Dokumentation. Veraltete APIs. Existentielle Verzweiflung.«

»Ha! Du bist so witzig, Mia.« Kevin lacht gekünstelt. »Aber im Ernst, brauchen wir vielleicht ein kleines Tech-Alignment zu dem Thema? Oder, oh!« Seine Augen leuchten auf. »Vielleicht könnte die Blockchain hier was bringen? Das ist doch gerade hip!«

Leon tauscht einen Blick mit Mia aus. Sie verdreht die Augen und flüstert ihm zu: »Der hält Bitcoin für ein Haustier.«

Das Daily geht weiter. Jedes Teammitglied berichtet kurz von seiner Arbeit, während Kevin begeistert nickt und auf seinem Laptop tippt. Seine Excel-Tabelle füllt sich mit bunten Markierungen, deren Bedeutung wahrscheinlich nur er selbst versteht - wenn überhaupt.

Als Felix an der Reihe ist, berichtet er von einer API-Integration und wird von Kevin unterbrochen.

»Super! Aber warum ist Task #42 noch nicht erledigt? Der hatte doch Priorität!«

Felix’ Miene verfinstert sich. Mit seinen 50 Jahren und der randlosen Brille sieht er aus wie ein Professor, der gerade einen besonders begriffsstutzigen Studenten korrigieren will.

»Task #42 ist nicht ’done’, weil ich drei Tage damit verbracht habe, deine PowerPoint-Präsentation für das Management-Meeting zu aktualisieren.« Seine Stimme ist ruhig, aber mit einem unterschwelligen Beben, das die seismischen Messgeräte in Tokio ausschlagen lassen könnte.

»Aber vielleicht«, grinst Kevin hoffnungsvoll, »brauchen wir ein kleines Eisbrecherspiel, um die Stimmung aufzulockern? Wenn ich noch einen verdammten Marshmallow-Turm sehe«, unterbricht ihn Felix, »kündige ich und werde Open-Source-Ghostwriter!«

Nervöses Gekicher breitet sich in der Gruppe aus. Kevin lacht mit, aber sein Blick wandert unsicher zwischen Felix und seiner Excel-Tabelle hin und her.

»Ach komm, Felix! Agile ist kein Prozess, sondern ein Mindset!« Kevin tippt sich an die Schläfe, als hätte er gerade das Pendant zum Satz des Pythagoras für das Projektmanagement formuliert.

Nach fünfzehn quälenden Minuten ertönt endlich die Stoppuhr. Das Team stürmt auseinander wie Schulkinder nach dem Pausenklingeln, während Kevin noch »Denkt an den Sprint-Scope!« ruft.

Zurück an seinem Platz beobachtet Leon, wie Kevin allein im Standup-Bereich zurückbleibt. Der selbsternannte Scrum Master starrt auf seinen Laptop, auf dem ein minimiertes Fenster mit dem Titel »Rockstar Dream 2015« zu sehen ist - offensichtlich ein altes Musikprojekt. Kevin klickt es schnell weg, als CFO Claudia Fischer durch die Glastür den Raum betritt.

Claudia ist das personifizierte Corporate Evil im perfekt sitzenden Hosenanzug. Ihre blonden Haare sind so akkurat gestylt wie ihre PowerPoint-Präsentationen, ihr Lächeln so authentisch wie die »Wir sind eine Familie«-Rhetorik in der letzten Firmen-E-Mail. An ihrem Handgelenk blinkt ein goldenes Fitbit - ein ständiger Begleiter, der nicht nur ihre Schritte zählt, sondern vermutlich auch die Seelen, die sie auf dem Altar der Quartalszahlen geopfert hat.

Sie nickt Kevin kurz zu, der sofort in eine Mischung aus Dienstbeflissenheit und Panik verfällt. »Guten Morgen, Frau Fischer! Wir haben gerade ein sehr produktives Daily zu Ende gebracht. Die Velocity ist um 12 Prozent gestiegen und ich plane einen speziellen Workshop für ...«.

»Hm«, macht Claudia, während ihr Blick schon weiterwandert, ihr Interesse an Kevin ist so flüchtig wie die Loyalität des Unternehmens gegenüber langjährigen Mitarbeitern. Während sie geht, zählt sie ihre Schritte auf dem goldenen Fitbit, als wäre jeder Schritt ein weiterer Punkt in ihrem persönlichen Erfolgs-Highscore.

Kevin steht einen Moment verloren da, sein Sprint-Pirate-T-Shirt wirkt plötzlich lächerlich in der kalten Realität des Büroalltags. Als er glaubt, dass niemand zuschaut, öffnet er kurz ein Browserfenster und tippt »Stellenangebote Scrum Master Berlin« ein, bevor er es hastig wieder schließt.

Leon beobachtet das Geschehen mit einer Mischung aus Verachtung und widerwilligem Mitleid. In seinem Kopf formt sich ein giftiger Monolog: »Ich hasse dich, Kevin. Ich hasse mich dafür, dass ich hier bin. Und ich hasse Claudia, weil sie den Kicker nicht reparieren lässt.«

Er atmet tief durch und wendet sich wieder seinem Bildschirm zu, wo der Chatbot-Code auf ihn wartet - ein digitales Gefängnis aus banalem HTML und überflüssigen JavaScript.

Mia, die den kurzen Moment der Frustration in Leons Gesicht bemerkt hat, schlendert scheinbar zufällig an seinem Schreibtisch vorbei. Mit einer fließenden Bewegung, die sie in unzähligen Überwachungskamera-Umgehungsmanövern perfektioniert hat, schiebt sie ihm einen schwarzen USB-Stick zu.

»Neue Datensätze von der Charité«, flüstert sie, ohne den Blick von ihrem Tablet zu heben. »Anonymisiert. Perfekt für dein Projekt ’Budget-Forecast’.«

Leon nimmt den Stick entgegen und lässt ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Ein kurzes Nicken, ein flüchtiges Lächeln - in der Welt von Innvidox die Währung für echte Kollegialität.

Der Tag zieht sich hin, ein endloses Standup ohne Timer. Kevin schwirrt durch den Raum wie ein nervöser Kolibri, Felix brütet über komplexem Code wie ein Drache über seinem Schatz, und Mia wehrt beiläufig sexistische Kommentare eines Produktmanagers ab, ohne ihren Tipprhythmus zu unterbrechen.

Und über allem schwebt Claudia, die von Zeit zu Zeit durch die Glaswände blickt wie eine Gottheit, die ihre Schöpfung inspiziert und für mangelhaft befindet.

Leon tippt mechanisch weiter, seine Gedanken sind bereits bei dem USB-Stick in seiner Tasche und den Möglichkeiten, die er in sich birgt. In einer Ecke des Raumes hängt ein Plakat mit dem Innvidox-Slogan: »Hier verändern Sie die Welt!«

Jemand hat mit Bleistift darunter geschrieben: »In eine schlechtere Version ihrer selbst«.

∗ ∗ ∗

Die Kaffeemaschine in der Ecke starrt Leon mit ihrem roten Fehlerlicht an, wie ein zynischer Kommentar zu seinem Tag. »Error 404: Beans not found« blinkt auf dem Display, das vor einem Jahr noch als revolutionäre Benutzeroberfläche gefeiert wurde. Aus purem Trotz drückt Leon trotzdem auf den Knopf und lauscht dem asthmatischen Husten der Maschine, die vergeblich versucht, aus nicht vorhandenen Bohnen Kaffee zu pressen. Die bittere Ironie ist nicht zu überhören: Die Maschine ist ein Innvidox-Produkt - das Ergebnis eines sechsmonatigen »Innovationsprojekts« mit eigenem Budget und Projektleiter. Jetzt steht sie da als verchromtes Denkmal für alles, was bei Innvidox schiefläuft.

»Klassisches Problem der Ressourcenallokation«, kommt Kevins Stimme von hinten. Er schiebt sich neben Leon, ein fröhliches, künstliches Grinsen im Gesicht. »Aber keine Sorge, ich kümmere mich darum!«

Mit zeremonieller Geste zieht Kevin einen neonpinken Post-it-Block aus der Tasche, kritzelt etwas darauf und klebt es auf die Maschine. »Fix it in Sprint 42!« steht in seiner kindlichen Handschrift auf dem Zettel.

»Sprint 42 war vor einem halben Jahr«, bemerkt Leon trocken.

Kevin zuckt mit den Schultern. »Dann eben Sprint 84! Agiles Management heißt Flexibilität!« Er klopft Leon aufmunternd auf die Schulter und verschwindet in Richtung seines Schreibtisches, mit der Energie eines Mannes, der glaubt, ein Problem gelöst zu haben, indem er es auf ein buntes Stück Papier schreibt.

Leon starrt dem selbsternannten Scrum Master hinterher und schüttelt den Kopf. Ohne Kaffee fühlt sich sein Gehirn an wie ein Computer ohne Arbeitsspeicher - funktionsfähig, aber langsam. Er schlurft zu seinem Platz zurück und öffnet widerwillig den Chatbot-Code.

Nach zwanzig Minuten des mechanischen Tippens wirft er einen Blick über seine Schulter. Das Management-Meeting im Konferenzraum scheint noch in vollem Gange zu sein - Claudia präsentiert mit ausladenden Gesten etwas, während die anderen Manager mit geheucheltem Interesse nicken. Der perfekte Moment.

Leon minimiert das Chatbot-Fenster und öffnet stattdessen seinen verschlüsselten Ordner mit der medizinischen KI. Er muss die neuen Datensätze von Mia integrieren - anonymisierte Patientendaten, die seinem Algorithmus helfen könnten, Krebsmuster noch genauer zu erkennen. Er steckt den USB-Stick ein und beginnt mit dem Hochladen.

Plötzlich blinkt ein Pop-up auf seinem Bildschirm auf: »IT-Überwachung aktiv! Unerlaubte Datenverarbeitung wird protokolliert«. Leons Herzschlag wird schneller, seine Finger schweben kurz über der Tastatur. Dann klickt er das Pop-up weg und arbeitet weiter.

»Ich höre auf keinen Fall auf«, murmelt er vor sich hin. »Wenn die mich zum Clown machen, hack’ ich mir meinen eigenen Zirkus.« Seine Finger fliegen über die Tastatur, während er den Code anpasst, die neuen Datensätze integriert und die Parameter des Algorithmus optimiert. In seinem Kopf formt sich ein trotziger Monolog: Dieses Projekt könnte tausende Leben retten, während sich Claudia und ihre Managementkollegen mit Emoji-Designs und Quartalszahlen beschäftigen.

Die Glastür des Konferenzraums öffnet sich und Claudia Fischer tritt heraus. Neben ihr steht ein Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug, der so teuer aussieht, dass er wahrscheinlich fünfmal die kaputte Kaffeemaschine ersetzen könnte. Sein Namensschild weist ihn als »Dr. Weiss, Strategieberater« aus, aber seine Körpersprache schreit »Ich koste 2000 Euro die Stunde und halte alle für Idioten«.

Claudia führt den Berater durch den Open Space wie eine Königin, die einen fremden Würdenträger durch ihr Reich führt. Ihr Blick schweift über die Entwickler, die in ihrer Nähe sofort geschäftiger tippen.

»Hier sehen Sie unsere Entwicklungsabteilung in Aktion«, erklärt Claudia mit ihrer professionell modulierten Stimme. »Wir setzen auf Agilität und Innovation.«

Sie bleiben direkt hinter Leon stehen. Instinktiv wechselt er zurück zum Chatbot-Code, aber nicht schnell genug.

»Ach, Herr Bergmann, zeigen Sie Dr. Weiss doch mal, woran Sie gerade arbeiten.« Claudias Lächeln ist so kalt wie der Kühlschrank in der Büroküche, in dem noch Joghurts von längst gekündigten Mitarbeitern stehen.

Leon scrollt demonstrativ durch den Code des Chatbots, in dem gerade eine Funktion implementiert wird, die es dem virtuellen Assistenten erlaubt, Emojis in seine Antworten einzubauen.

»Faszinierend«, bemerkt Claudia und flüstert dem Berater zu: »Sehen Sie? So sieht Innovation aus!«

Der Berater nickt mit derselben Begeisterung, mit der man einem Kind zustimmt, das behauptet, einen Dinosaurier gefunden zu haben.

»Und was macht das genau, Herr Bergmann?«, fragt der Berater mit einer Stimme, die klingt, als spräche er mit jemandem, der gerade die menschliche Sprache erlernt hat.

»Das ist ein KI-gestützter Chatbot, der lernt, menschliche Emotionen durch Emojis auszudrücken«, erklärt Leon mit einem Pokerface. »Ein bahnbrechendes Projekt, um die digitale Kommunikation zu verbessern.« In Gedanken fügt er hinzu: »Und eine absolute Verschwendung meiner Ausbildung und Ihrer Steuergelder.«

»Beeindruckend«, sagt der Berater, obwohl sein Gesicht das genaue Gegenteil ausdrückt. »Und gibt es ... weiterführende Projekte? Etwas mit mehr ... wirtschaftlichem Potenzial?«

Leon spürt Claudias warnenden Blick. »Der HR-Chatbot spart 0,3 Vollzeitstellen ein«, sagt er mechanisch. »Das entspricht einem ROI von 12 Prozent im ersten Jahr.«

Claudia nickt zufrieden und führt den Berater weiter. Leon atmet aus und dreht sich zu Mia um, die das Schauspiel mit einem sarkastischen Lächeln beobachtet. Sie trägt heute ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ctrl + Alt + Del My Job« und tippt in einem Tempo, das fast aggressiv wirkt.

Als sie merkt, dass Leon sie beobachtet, wirft sie ihm einen zusammengefalteten Zettel zu, der neben seiner Tastatur landet. Er entfaltet ihn diskret: »Meeting um 12? Nein. Wir debuggen. 😉

Ihr Code für: Lass uns heimlich an deiner medizinischen KI arbeiten, wenn alle beim Mittagessen sind.

Leon nickt kurz und steckt den Zettel ein. Er bemerkt, dass Felix, der älteste Entwickler im Team, an seinem Terminal sitzt und demonstrativ »sudo rm -rf /*« tippt - ein Befehl, der das gesamte System löschen würde. Doch Felix drückt nicht die Eingabetaste, sondern beobachtet nur, wer von den vorbeieilenden Kollegen zusammenzuckt. Es ist sein kleines Spiel, um die echten Entwickler von den Corporate-Darwinisten zu unterscheiden.

Als Felix Leons Blick bemerkt, winkt er ihm zu. Leon schlendert hinüber, schaut sich unauffällig um, ob Kevin oder Claudia in der Nähe sind.

»Schau dir das an«, flüstert Felix und öffnet einen verschlüsselten Ordner auf seinem Computer. Der Ordner heißt »Beweise« und enthält Dutzende von Screenshots - E-Mails von Claudia mit unangenehmen Fragen wie »Was ist eine API?« und »Können wir einen Excel-Export auf Blockchain-Basis machen?«. Daneben: Kevins Scrum-Zertifikate, offensichtlich bei Udemy für 9,99 Euro gekauft, mit deutlich sichtbarem Rabatt-Tag.

»Ich sammle seit Jahren«, erklärt Felix mit einem finsteren Lächeln. »Der Archivarius vergisst nichts.«

Er scrollt weiter und zeigt auf ein besonders interessantes Dokument - eine E-Mail-Kette zwischen Claudia und dem Vorstand:

»Betreff: Bergmanns Medical KI [...] Ich empfehle, das Projekt weiterhin zu blockieren. Eine erfolgreiche medizinische Anwendung würde zu viel Aufmerksamkeit erregen und könnte Fragen über unsere Prioritätensetzung aufwerfen. Außerdem besteht die Gefahr, dass es Open Source wird, was keinen direkten ROI generiert. Es ist besser, es bei den HR-Tools zu belassen. [...]«

Leon starrt auf den Bildschirm, seine Hände sind zu Fäusten geballt. »Sie blockieren es absichtlich?«

Felix nickt grimmig. »Claudia hat Angst, einen Fehler zu machen. Und in ihrer Welt ist es sicherer, nichts zu tun, als etwas zu riskieren.« Er zeigt auf einen anderen Absatz: »Außerdem weiß sie nicht, wie sie dem Vorstand erklären soll, warum ihr HR-Chatbot-Projekt weniger wichtig sein soll als eine ’experimentelle medizinische Anwendung’.«

Leon will gerade antworten, als Kevins Stimme durch den Raum hallt: »Achtung, Team! Nach dem Mittagessen haben wir unser Sprint Retrospektive Special! Heute bauen wir Marshmallow-Türme!«

∗ ∗ ∗

Kevin steht in der Mitte des Raumes, hält eine Packung Marshmallows wie eine olympische Fackel in die Höhe und grinst. »Jedes Team bekommt Marshmallows, Spaghetti und Klebeband! Wer den höchsten Turm baut, gewinnt eine extra Kaffeepause!«

Die Ansage wird mit einem kollektiven Stöhnen quittiert. Felix murmelt etwas, das verdächtig nach einem Fluch auf Kevins Nachkommen bis in die siebte Generation klingt.

In Leon bricht etwas zusammen. Er wirft sein Headset auf den Tisch, lauter, als er wollte. »Ich bin hier, um Code zu schreiben, nicht um Kindergartenspiele zu spielen!«

Die Worte hallen durch den plötzlich stillen Raum. Alle Köpfe wenden sich ihm zu. Kevin steht da, die Marshmallows noch in der Hand, aber sein Lächeln gefriert.

»Das ist Teil unseres agilen Prozesses, Leon«, sagt er mit einem nervösen Lachen. »Teambuilding ist wichtig für ...«

»Teambuilding?« Leon steht auf. »Weißt du, was richtiges Teambuilding wäre? Uns machen zu lassen, was wir können. Projekte unterstützen, die wirklich einen Unterschied machen. Nicht diese ... Spielchen.«

Aus den Augenwinkeln bemerkt Leon, dass Claudia, die gerade aus dem Konferenzraum zurückgekehrt ist, etwas in ihr Notizbuch schreibt. Er kann die Überschrift erkennen: »Culture-Fit-Problem«. Sein Name wird hinzugefügt - zu einer Liste, auf der bereits 23 weitere Namen stehen. Die meisten gehören zu Mitarbeitern, die nicht mehr bei Innvidox sind.

Im Büro herrscht eine unangenehme Stille. Kevin murmelt etwas von »später besprechen« und zieht sich mit seinen Marshmallows zurück. Felix nickt Leon anerkennend zu, Mia formt mit den Lippen ein leises »Gut gemacht«.

Die Stunden vergehen. Die Retrospektive findet ohne Leon statt, der demonstrativ an seinem Platz bleibt und arbeitet - diesmal tatsächlich am Chatbot, für den Fall, dass Claudia noch einmal vorbeischaut.

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Die meisten Mitarbeiter haben das Büro bereits verlassen, als Leon bemerkt, dass Kevin noch immer an seinem Platz sitzt. Der Scrum Master hat seinen Monitor so gedreht, dass niemand sehen kann, was er gerade macht. Trotzdem kann Leon sehen, dass er sich auf einer Jobsuchseite befindet - seine Finger tippen »Senior Scrum Master Berlin« in die Suchleiste.

Kevins Gesicht im bläulichen Licht des Bildschirms zeigt etwas, das Leon noch nie an ihm gesehen hat: echte Unsicherheit. Für einen kurzen Moment wirkt er nicht wie der nervige, übereifrige Scrum Master, sondern wie ein Mann, der langsam begreift, dass er in einem System gefangen ist, das ihn genauso benutzt wie alle anderen.

Kevin bemerkt Leons Blick, schließt hastig seinen Browser und steht auf. Er packt seine Sachen, nickt Leon kurz zu und geht zur Tür. Bevor er geht, dreht er sich noch einmal um, als wolle er etwas sagen, entscheidet sich dann aber dagegen und verschwindet im Aufzug.

Leon bleibt allein zurück. Die leere Büroetage wirkt jetzt noch steriler, die weißen Flächen wie leere Leinwände, auf die niemand zu malen wagt. Er denkt an den USB-Stick in seiner Tasche, an die E-Mails auf Felix’ Computer, an Mias stille Unterstützung.

Er öffnet seinen Ordner »Budget_Forecasts« und starrt auf den Code seiner medizinischen KI. Eine Wärme breitet sich in seiner Brust aus - ein unbehagliches Gefühl, das er als eine Mischung aus Wut und Entschlossenheit erkennt. Diese KI könnte Tausenden von Menschen helfen, aber sie sitzt in einem Firmengefängnis fest, während er gezwungen wird, Emojis zu programmieren.

»In der nächsten Retrospektive«, flüstert er sich zu, »werde ich etwas ganz anderes bauen als einen verdammten Marshmallow-Turm.«

Leon klappt den Laptop zu, packt ihn in seinen Rucksack und macht sich auf den Weg nach Hause. Morgen ist ein neuer Tag im Kampf gegen die Sinnlosigkeit. Und heute Abend wird er an etwas arbeiten, das wirklich zählt - mit oder ohne den Segen von Innvidox.

Als er an Kevins verlassenem Platz vorbeigeht, fällt ihm ein rosa Post-it auf, das an seinem Monitor klebt. »Sprint 43: Find Purpose?« steht darauf in Kevins krakeliger Handschrift. Leon lässt es hängen. Manche Fehler sitzen zu tief im System, um sie mit einem einfachen Fix zu beheben.

2  Digitale Dämmerung

Leons Finger gleiten über die Tastatur seines alten Uni-Laptops, ein rhythmisches Klicken durchbricht die Stille seiner Wohnung. Auf dem abgewetzten Gehäuse kleben Dutzende Aufkleber - »Code for Good«, »Hack the Planet«, »Free Software, Free Society« - vergilbte Relikte eines Idealismus, der langsam in Zynismus umschlägt. Neben ihm steht ein makelloser Innvidox-Laptop, dessen kühles Firmenlogo in der Dunkelheit zu pulsieren scheint wie ein elektronisches Auge, das jede Bewegung überwacht.

»Noch eine Stunde«, murmelt er und wirft einen Blick auf die Uhr. 3:47 Uhr, die Ziffern lachen ihn aus. Sein Blick gleitet zurück auf den Monitor, wo Codezeilen für seine medizinische KI in einer unvollendeten Symphonie digitaler Kreativität tanzen. Ein Algorithmus zur Krebsfrüherkennung - seine Vision, sein Traum. Nicht der bescheuerte HR-Chatbot, an dem er tagsüber für Innvidox arbeitet.

Müdigkeit überkommt ihn. Seine Augenlider werden schwer. Der Code verschwimmt vor seinen Augen, Zeichen verwandeln sich in tanzende Pixel. Als er den Kopf auf die Tischplatte sinken lässt, dämmert er in einen unruhigen Schlaf.

Kevin steht vor ihm, eine Peitsche in der Hand, die Augen fiebrig wie die eines Wahnsinnigen. Seine Stimme hallt durch den endlosen weißen Raum des Daily-Stand-ups.

»Sprinte, sprinte, sprinte!«, schreit er und schwingt die Peitsche. Am Ende der Lederschnur hängt eine Karotte, die sich mit jedem Schlag unmerklich weiter entfernt.

»Wir müssen die Story Point Velocity erhöhen! Mehr Business Value! Mehr Output!« Kevins Gesicht verzerrt sich zu einer grotesken Maske zwischen Begeisterung und Wut.

Leon rennt los, seine Beine werden schwer wie Blei. Er schaut auf seine Hände - sie sind grau und haarig geworden. In einer spiegelnden Wand neben sich sieht er sein Spiegelbild: einen Esel in einem Innvidox-Hoodie, der verzweifelt nach einer unerreichbaren Karotte jagt.

»Was ist aus mir geworden?«, flüstert Leon der Esel.

Das Spiegelbild antwortet mit Kevins Stimme: »Du bist nur ein Code-Monkey. Eine Ressource. Eine Humankapital-Einheit mit suboptimaler Leistung.«

Der Spiegel beginnt zu zerbrechen, tausend Risse durchziehen das Glas, in jedem Bruchstück ein anderes verzerrtes Bild von Leon - mal als Mensch, mal als Tier, immer gefangen.

Leon streckt die Hand aus, versucht, sein zersplittertes Ich zu fassen. Seine Finger berühren das kalte Glas, das unter seiner Berührung zu Staub zerfällt.

Mit einem unterdrückten Schrei schreckt er auf, sein Körper ist plötzlich angespannt, schweißgebadet. Sein Herz rast, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Leons Blick springt auf die Uhr: 6:15 Uhr. Neben seinem Bett steht die leere Kaffeetasse vom Vorabend, ein brauner Ring zeugt vom letzten Schluck, den er nie getrunken hat.

»Super«, murmelt er und schwingt die Beine aus dem Bett. Der verschwitzte Kapuzenpullover klebt ihm am Rücken. Mit steifen Bewegungen schleppt er sich in die Küche, wo die Kaffeemaschine wartet, das einzige technische Gerät, dem er im Moment vertraut.

Er drückt den Startknopf. Nichts passiert. Drückt noch einmal, fester. Ein klägliches Brummen, dann ein Quietschen. Aus der Maschine strömt der Geruch von verbranntem Plastik.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, schimpft Leon und schlägt mit der flachen Hand gegen das Gerät. »Nicht heute!«

Er greift nach der Tasse vom Vortag, schwenkt den letzten kalten Rest und kippt ihn in einem Zug hinunter. Der Geschmack ist bitter, metallisch - wie die Zukunft, denkt er und verzieht das Gesicht.

Im Badezimmer trifft ihn sein Spiegelbild wie ein Schlag: dunkle Ringe unter den Augen, blasse Haut, Bartstoppeln. Über seinem »Hello World!«-Hoodie erscheint sein Gesicht wie ein Glitch in der ansonsten makellosen Simulation. Er ist 35, fühlt sich wie 50, programmiert wie 20 und wird bezahlt wie 25. Die Dusche wäscht den Schweiß weg, nicht die Müdigkeit. Mit automatisierten Bewegungen zieht er sich an, packt den alten Laptop ein, den er nie im Büro liegen lassen würde, und verlässt die Wohnung.

Draußen empfängt ihn das graue Rauschen Berlins. Leon setzt seine Kopfhörer auf, dreht Synthwave auf volle Lautstärke. Die Musik schirmt ihn ab, schafft einen Kokon aus elektronischer Musik, während er zur U-Bahn läuft.

Seine Finger wischen über das Smartphone-Display, er tippt Codeschnipsel für die Medizin-KI. Jede freie Minute zählt. Niemand im Innvidox-Management weiß, dass er das Projekt privat vorantreibt - niemand soll es wissen. Es ist das letzte Stück von ihm, das nicht der Firma gehört.

In der U-Bahn stehen die Pendler dicht an dicht. Identische Anzüge, identische Gesichter, identische Leere in den Augen. Leon steht dazwischen wie ein defektes Puzzleteil, das nicht ins Gesamtbild passt. Der Zug hält, Menschen strömen heraus, drängen sich hinein, ein mechanischer Kreislauf in endloser Wiederholung.

Auf dem Weg zum Bürogebäude weicht Leon einem heranstürmenden Manager aus, der unbemerkt in ein wartendes Taxi springt. Die Aktentasche des Mannes wirkt wie ein glänzender Sarg für kreative Ideen. Leon stolpert, fängt sich an einem Laternenpfahl.

Vor ihm an der Bushaltestelle prangt ein Innvidox-Werbeplakat: ’Innovate or Die’ steht in kühnen Lettern über einem lächelnden Kevin, der stolz eine Lego-Brücke präsentiert. Darunter hat ein Mann in zerrissener Kleidung sein Lager aufgeschlagen, eingehüllt in einen Schlafsack.

»Hätte ich doch Betriebswirtschaft studiert ...«, murmelt der Obdachlose, als Leons Blick seinen trifft. Leon nickt stumm. Ein Moment stiller Solidarität zwischen zwei Systemverlierern.

Vor ihm erhebt sich das Innvidox-Gebäude, eine Kathedrale aus Glas und Stahl. An der Sicherheitsschleuse steht ein neuer Apparat - groteske Kameras und Sensoren, die in Gesichter starren.

»Bitte lächeln für den Agile-Mindset-Check«, sagt der Sicherheitsmann monoton, ohne von seinem Tablet aufzusehen.

Leon reibt sich die Wangen, bis sie kribbelt, und zwingt sich ein Lächeln aus den Mundwinkeln. Die Maschine surrt, scannt sein Gesicht. Grünes Licht. Zugang gewährt. Seine Seele für ein Lächeln verkauft, denkt er und betritt die Lobby.

Der Aufzug ist offen. Leon steigt ein, drückt den Elfer. Als sich die Türen schließen wollen, schiebt sich eine Hand dazwischen. Mia betritt den Aufzug, auf ihrem T-Shirt steht in pixeliger Schrift: »Error 404: Motivation Not Found«. Ihre Augenbraue zuckt nach oben, als sie Leon erblickt.

»Du siehst aus, als wärst du gerade überfahren worden«, bemerkt sie trocken.

»Fühle mich auch so«, antwortet Leon.

»Ich habe etwas für dich.« Sie hält ihm einen zerknitterten Zettel hin. »Felix sagt, die Sicherheitslücke ist unser Ticket hier raus.«

Leon faltet den Zettel auf. Verschlüsselte Zeilen Code, darunter in Felix’ sauberer Handschrift: »Hintertür im HR-System. M. weiß Bescheid.«

Die Fahrstuhltüren öffnen sich mit einem Ping, das wie ein Warnsignal klingt. Leon und Mia betreten die Büroetage - ein großer, offener Raum, in dem Dutzende Entwickler an identischen weißen Tischen sitzen. Am Ende des Raumes hängt ein riesiges Scrum-Board, übersät mit Post-its in verschiedenen Farben. Die roten sind verblasst, manche hängen nur noch in einer Ecke, als wollten sie fliehen.

»Wer hat heute gute Energie?« Kevins Stimme dröhnt durch den Raum, unangenehm laut und enthusiastisch. Er steht vor dem Scrum-Board, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Agile AF« und hält eine Nerfgun wie eine Trophäe in die Höhe.

Felix steht an der Kaffeemaschine und stapelt planvoll leere Tassen. Als er Leon und Mia sieht, nickt er ihnen zu. »Ready to rock the Sprint?«, fragt er mechanisch, während seine Augen eine ganz andere Geschichte erzählen.

»Always agile«, antwortet Leon automatisch. Die Worte fühlen sich in seinem Mund an wie abgestandener Kaugummi. Er spürt, wie sein Körper in den Arbeitsmodus schaltet - ein Überlebensmechanismus, der ihn durch den Tag bringen wird.

Felix deutet unauffällig auf das Scrum-Board. »Ich habe gestern Abend etwas Interessantes gefunden«, murmelt er. »Die neue HR-Plattform hat eine massive SQL-Injection-Lücke. Jeder könnte auf die Personaldaten zugreifen.«

»Hast du das gemeldet?«, fragt Mia und fährt ihren Laptop hoch.

Felix’ Lachen ist kurz und bitter. »Natürlich. Claudia hat gesagt, das hat keine Priorität. Die Plattform geht heute live.«

Leon spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht. »Klassiker. Profit vor Sicherheit.«

»Wisst ihr, warum die ganze Etage ein einziges Büro ist?«, fragt Felix plötzlich leiser. »Nicht, weil man uns für Call-Center-Agents hält! Ich sage nur: Big Claudia is watching you!«

Kaum merklich deutet er zur Decke, wo kleine, unauffällige Kameras montiert sind. Sie blinken rot, wie die elektronischen Augen eines unsichtbaren Überwachungsapparates.

Mia schüttelt den Kopf. »Wie bei ’Black Mirror’, nur ohne das gute Drehbuch.«

Leon starrt auf seinen Bildschirm, der mit dem Innvidox-Logo hochfährt. Für einen kurzen Moment sieht er wieder sein Spiegelbild aus dem Traum - ein Code-Monkey im Hamsterrad einer endlosen Sprintsimulation. Er atmet tief durch und beginnt zu tippen, während im Hintergrund Kevins Stimme das tägliche Stand-up ankündigt. Ein neuer Tag im Paradies der Agilität beginnt.

∗ ∗ ∗

Ein leises Gähnen entfährt Mia, als sie den Kopf auf die Tastatur sinken lässt. Draußen steht die Sonne bereits am Mittagshimmel - es ist kurz vor zwölf, doch hier im Open Space scheint die Zeit stillzustehen.

Die Bürolandschaft erstreckt sich ins Unendliche, ein digitales Fegefeuer in pulsierenden Neonfarben. Die Wände sind mit Scrum-Boards tapeziert, deren Post-its wie hungrige Parasiten mutieren und alle drei Sekunden neue Aufgaben ausspucken. Mia sitzt in diesem Algorithmus des Wahnsinns, ihre Finger kleben an der Tastatur, während Kevins Stimme wie ein defekter Soundloop von der Decke tropft: »Wer verteilt heute gute Vibes?«

Sie starrt auf die blinkenden Monitore vor sich. Fünf Stück. Nein, sechs. Sieben? Wie Bakterien in einer Petrischale vermehren sie sich. Ihre Agile-AF-Tasse füllt sich, der Kaffee ist schwarz wie Kevins Seele, aber deutlich weniger bitter. Als sie danach greift, verwandelt sich der Henkel in ein kleines Scrum-Board. Sie lässt die Tasse fallen. Nichts wird verschüttet. Die Naturgesetze sind hier freiwillig.

Bunte Emojis regnen wie digitales Konfetti von der Decke. 👍😂🔥💯. Beim Aufprall zerplatzen sie zu Fehlermeldungen. »Exception: Reality not found.« Mia wischt sich ein weinendes Lach-Emoji von der Schulter, das bei Berührung zu einer roten Warnung mutiert: »ACHTUNG: Kreativität ist Ressourcenverschwendung«.

»Hallo? Bist du eine echte Hackerin?«

Mia dreht sich um. Vor ihr steht ihre jüngere Version, vielleicht zwölf Jahre alt. Ein schlankes Mädchen mit wilden Locken, das ein T-Shirt trägt, auf dem handgelötete LED-Muster im Rhythmus eines C64-Startbildschirms pulsieren. In ihren Augen funkelt jene ungebrochene Neugier, die Mia längst gegen Zynismus eingetauscht hat.

»Hackerin?« Mia lacht trocken. »Ich bin eine ’Code-Sklavin’ für einen Chatbot, der Emojis ausspuckt und Personalanfragen beantwortet.«

Die junge Mia hüpft auf den Schreibtisch, schwingt die Beine und tippt auf einen der Bildschirme. Unter ihren Fingern erscheinen wie von Zauberhand elegante Codezeilen - komplexe Algorithmen, raffiniert verschachtelte Funktionen, mathematische Schönheit in Syntax gegossen.

»Das kannst du doch, oder? Solche Algorithmen will ich auch mal schreiben! Vielleicht eine KI, die Krankheiten erkennt, oder ein System, das Wissen für alle zugänglich macht!«

Mia greift nach dem glitzernden Code. Unter ihren Fingern zerfällt er in Marketing-Buzzwords: »Synergie«, »Agilität«, »Innovation«, »Disruption«. Leere Hülsen, die im Neonlicht flimmern und dann verblassen.

»Heute debugge ich PowerPoints und lösche kritische Kommentare aus dem Firmenchat«, sagt sie und spürt einen Stich in der Brust. »Ich optimiere Emojis für Menschen, die zu faul sind, ihre Gefühle in Worte zu fassen.«

»Aber warum?« Das Mädchen runzelt die Stirn. »Du könntest doch echte Innovationen schaffen! Dinge programmieren, die die Welt verbessern!«

Mia schweigt. Zwischen den Kabeln auf ihrem Schreibtisch ist ein kleines Foto versteckt. Eine schlanke Frau mit kurzgeschorenem Haar in einem Krankenhausbett, ein müdes Lächeln auf den blassen Lippen.

»Manchmal verkauft man seine Seele für die Menschen, die man liebt«, flüstert Mia und streicht sanft über das Bild.

Ein plüschiges Scrum-Huhn mit aufgenähten Sprints flattert plötzlich über ihren Kopf hinweg und krächzt mit Kevins Stimme: »Prioritäten, Schätzchen! Emojis first! Innovation später! Niemals! Never!«

Die jüngere Mia beobachtet, wie das Huhn gegen eine unsichtbare Glasdecke knallt und dann weiterfliegt, als wäre nichts geschehen.

»Weißt du, warum ich mein Genie verstecke?« Mia beugt sich zu ihrem jüngeren Ich. »Weil ’Kannst du das für Dummies erklären, Süße?’ weniger wehtut als Arbeitslosigkeit. Und Mama braucht ihre Medikamente.«

Die Lichter der LED-Muster auf dem T-Shirt des Mädchens beginnen zu flackern, werden schwächer.

»Ich will nicht so werden wie du ...« Die jüngere Mia verschwimmt, ihre Konturen werden durchscheinend wie ein schlechtes Hologramm.

Verzweifelt streckt Mia ihre Hand aus. »Dann rebelliere. Früher als ich. Bevor du zum Zombie wirst. Bevor sie dir einreden, dass Mittelmäßigkeit Sicherheit bedeutet.«

Ihre Finger berühren nur Luft. Die jüngere Version löst sich in Codezeilen auf, die wie Tränen zu Boden fallen und sich dort zu einem einzigen, leuchtend roten Post-it verdichten: »TECH-DEBT SINCE 2019«.

Mia zuckt zusammen, ihr Kopf hat sich unangenehm gegen die Tastatur gepresst. Ein Speichelfaden verbindet ihren Mundwinkel mit der Leertaste. Vor ihr: ein leeres PowerPoint-Dokument mit dem Titel »Why Emojis Matter: A Cultural Revolution«.

Auf ihrem zweiten Monitor läuft ein ChatGPT-Fenster, das bereits den ersten Absatz generiert hat: »In der heutigen digitalen Kommunikationslandschaft haben Emojis eine transformative Rolle eingenommen, die weit über einfache Bildzeichen hinausgeht ...«.

Mia streicht sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Früher wollte ich die Welt verändern. Jetzt optimiere ich PowerPoints für Zombies.

Ihr Handy vibriert. 23 Social-Media-Benachrichtigungen flimmern über das Display. Mit einem Seufzer aktiviert sie den »Fokus-Modus«, der sofort von einer Marketing-E-Mail von Innvidox überschrieben wird:

»Heute 14 Uhr: Teambuilding mit VR-Zombies! 💀 Zusammen sind wir untotbar! #innvidoxfamily«

Eine weitere Nachricht blinkt auf. Ihr WhatsApp-Gespräch mit ihrer Schwester:

[08:47] Ina: Mama hat wieder Schmerzen und braucht dringend die neuen Tabletten. 😢

Die Krankenkasse hat den Antrag schon wieder abgelehnt.

[08:49] Mia: Verdammt! 😭

Ich überweise dir das Geld morgen früh, versprochen. ❤️

[11:52] Ina: Vielleicht solltest du wirklich mal über einen Jobwechsel nachdenken. Dieser Job frisst dich auf.

[11:55] Mia: Ich weiß, aber was soll ich denn machen?

Mama braucht die Medikamente und ich kann sie nicht hängen lassen.

Mia starrt auf die Nachricht, dann auf die leere PowerPoint. Mit einem leisen Fluch schließt sie ChatGPT und beginnt selbst zu tippen. Ihre Hände fliegen über die Tastatur, während Kevins Stimme durch den Open Space hallt: »Leute, wer bringt heute gute Vibes in unser Teambuilding?«

∗ ∗ ∗

Leon verlässt das Bürogebäude mit mechanischen Schritten, als müsse sein Körper erst wieder lernen, ohne Überwachung zu existieren. Auf der Schwelle zum Ausgang lässt er seine Agile-AF-Tasse unauffällig in den Mülleimer gleiten - ein kleiner Akt der Rebellion, der sich wie ein stiller Sieg anfühlt. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages brechen sich im gläsernen Innvidox-Logo über dem Eingang, werfen prismatische Farben auf den Beton. Leon senkt den Blick und geht weiter, ignoriert das kalte Lichtspiel, das ihn zu verfolgen scheint wie ein letzter verzweifelter Appell an seine Loyalität.

Die U-Bahn ist überfüllt mit erschöpften Gesichtern - Pendler auf dem Heimweg, die aussehen, als hätten sie einen Teil ihrer Seele am Arbeitsplatz zurückgelassen. Dazwischen schiebt sich Leon, Kopfhörer auf den Ohren, den Blick auf sein Smartphone gerichtet, wo Codezeilen seiner medizinischen KI darauf warten, bearbeitet zu werden. Ein digitales Refugium in der analogen Hölle des Feierabendverkehrs.

Zwanzig Minuten später schließt er die Tür zu seiner Wohnung auf. Das Chaos empfängt ihn wie einen alten Freund. Laptopstapel türmen sich auf dem Couchtisch, leere Pizzaschachteln bilden eine archäologische Schicht auf dem Küchenboden. An der Wand hängt ein vergilbtes Star Trek: TNG-Poster, Picard mit erhobenem Zeigefinger: ’Make it so!’ - eine ironische Aufforderung angesichts der beruflichen Realität, in der nichts ’so gemacht’ wird.

Leon wirft seine Tasche in die Ecke, kickt die Schuhe von den Füßen und lässt sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Sein persönlicher Kommandosessel in einem Universum, das er zumindest teilweise kontrollieren kann. Mit einem Tastendruck erweckt er seinen Computer zum Leben. Auf dem zweiten Monitor läuft automatisch die nächste Folge von Mr. Robot - ein kleines Ritual, eine digitale Umarmung nach einem Tag der Entfremdung.

»Guten Abend, Commander«, flüstert er seinem Computer zu, öffnet ein Terminal und ruft den Code seiner Medizin-KI auf. Zeile für Zeile Algorithmen, die im Gegensatz zu den sinnentleerten HR-Chatbots von Innvidox tatsächlich Leben verändern könnten. Die KI soll Auffälligkeiten auf CT-Bildern erkennen, schneller und präziser als menschliche Ärzte. Ein Projekt, an dem er seit seiner Doktorarbeit arbeitet, ein digitaler Phönix aus der Asche seiner akademischen Karriere.

Der Fortschrittsbalken auf seinem Bildschirm zeigt 42 Prozent - die Antwort auf alles, denkt Leon mit einem schiefen Lächeln. Aber reicht das? Wird dieses Projekt jemals fertig, oder bleibt es ein ewiger Torso, zerquetscht zwischen Überstunden und Corporate Bullshit?

»Besser als HR-Chatbots ...«, murmelt er und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche neben seinem Rechner.

Plötzlich poppt ein Fenster auf: »IT-Überwachung aktiv! Ihre Aktivitäten werden überwacht«. Leon erstarrt. Hat Innvidox Spyware auf seinen privaten Rechner geschmuggelt? Sein Herz rast, bis er begreift, dass es sich um einen Scherz handelt - ein Easter Egg aus dem laufenden Mr. Robot-Stream, perfekt getimt, um paranoide Programmierer zu erschrecken.

»Sehr witzig, Elliot«, brummt er der Figur auf dem Bildschirm zu.

Sein Handy vibriert. Eine WhatsApp-Nachricht von Mia: »Felix hat Beweise. Geek Lounge, 20 Uhr. Bring Bier mit für den Bring-your-own-Beer-Tag 🍺.«

Zum ersten Mal an diesem Tag huscht ein echtes Lächeln über Leons Gesicht. Die Geek Lounge - ein Zufluchtsort für digitale Rebellen, Programmierer und Nerds aller Couleur, versteckt in einem Hof in Kreuzberg. Kein Kevin, keine Claudia, keine rotierenden Post-its. Nur echte Menschen mit echten Leidenschaften.

Mit ein paar Fingertipps bestellt er eine Pizza für 21 Uhr in die Geek Lounge. Dann wirft er einen letzten Blick auf den Fortschrittsbalken seiner KI: »42 Prozent - wird das je was?«

»Bald«, verspricht er sich und klappt den Laptop zu. »Besser als HR-Chatbots ...«

Eine Stunde später betritt Leon mit einem Sixpack Vagabund Pale Ale unter dem Arm die Geek Lounge. Die Lounge ist ein Paradies für digitale Aussteiger - die Wände mit Pixelkunst und Retro-Gamecontrollern verziert, die Luft erfüllt vom leisen Summen übertakteter Gaming-PCs und dem Klicken mechanischer Tastaturen. In einer Ecke stehen echte Arcade-Automaten aus den 80er Jahren, in einer anderen diskutiert eine Gruppe über die philosophischen Implikationen künstlicher Intelligenz.

»Endlich, der Held mit dem flüssigen Gold!«

Mia stößt Felix an, als sie Leon mit den Bieren entdeckt. Sie sitzt an einem Tisch in der hinteren Ecke, umgeben von Laptops und blinkenden LED-Gadgets. Ein Raspberry Pi fungiert als improvisierte Lichtorgel und taucht den Tisch in wechselnde Farben.

Felix nickt Leon zu und schiebt einen Stuhl in seine Richtung. Sein T-Shirt zeigt das klassische »Hello World«-Programm in C++, darunter den Spruch »Es gibt 10 Arten von Menschen: Die, die Binärcode verstehen und die, die es nicht tun.«

»Alle auf Entzug?«, fragt Leon und stellt die Biere auf den Tisch.

»Hardcore-Entzug«, bestätigt Mia und greift nach einer Flasche. »Acht Stunden Kevin-Detox dringend nötig.«

Um sie herum haben sich weitere Innvidox-Kollegen und befreundete Nerds versammelt - eine bunte Mischung aus Programmierern, Hardware-Hackern und Digitalkünstlern. Anders als im klinisch weißen Open Space von Innvidox herrscht hier organisierte Anarchie, ein kreatives Chaos, das Innovation nicht predigt, sondern lebt.

»Habt ihr das neue Paper von OpenAI gesehen?«, fragt jemand, und sofort entbrennt eine leidenschaftliche Diskussion über die neuesten KI-Trends. Leon hört zu, nimmt zwischendurch einen Schluck Bier und spürt, wie die Anspannung des Tages langsam nachlässt. Hier muss niemand ein agiles Mindset vortäuschen. Hier kann man einfach sein.

Die Pizzen kommen, eine vegetarische für Mia, eine mit extra Peperoni für Felix, eine Quattro Stagioni für Leon. Die Gruppe teilt sich das Essen, reicht Stücke weiter, diskutiert weiter über Algorithmen, Quantencomputer und die Frage, ob die Sci-Fi-Serie, die in drei Wochen herauskommt, den Originalroman ruinieren wird.

Auf einem kleinen Podest im vorderen Teil der Lounge beginnt die ’Nerd Nite’ - ein informeller Vortrag über ein absurdes Thema. Heute: »Die Ursprünge von Katzen-Memes, dem Universum und allem«. Der Vortragende, ein bärtiger Typ im xkcd-T-Shirt, navigiert durch eine PowerPoint-Präsentation, die absichtlich so schlecht gestaltet ist, dass sie die Corporate-Templates von Innvidox parodiert.

»Das ist echte Unternehmenskultur«, flüstert Felix Leon zu. »Nicht dieser Teambuilding-Mist mit Marshmallow-Türmen.«

In einer Vortragspause holt Leon seinen Laptop hervor und zeigt Mia und Felix den aktuellen Stand seiner medizinischen KI. »42 Prozent - aber immerhin 100 Prozent ehrlich.«

Felix grinst und nimmt einen Schluck Bier. »Und 200 Prozent illegal - zumindest laut deinem Arbeitsvertrag.«

»Scheiß auf den Vertrag«, sagt Leon leise, aber bestimmt. »Das hier könnte Menschen helfen.«

»Apropos illegal ...« Felix senkt die Stimme und schaut sich kurz um. Dann zieht er einen USB-Stick aus der Tasche, mattschwarz, ohne Beschriftung. »Kennt ihr schon mein schwarzes Archiv?«

Mia beugt sich interessiert vor. »Deine Whistleblower-Sammlung?«

Felix nickt. »Seit fünf Jahren sammle ich jedes Dokument, jede E-Mail, jeden Beweis für ... sagen wir mal ... fragwürdigen Geschäftspraktiken unseres geliebten Arbeitgebers.« Sein Ton ist leicht, aber sein Blick ist ernst. »Claudias kreative Buchführung. Kevins gefälschte Agile-Zertifikate. Die systematische Überwachung der Mitarbeiter.«

Er steckt den Stick in Leons Laptop. Ein Verzeichnis öffnet sich, gefüllt mit Hunderten fein säuberlich kategorisierten Ordnern. »Ich nenne das meine Versicherung, falls sie mich mal feuern wollen.«

Das Nerd-Quiz beginnt - spontan bilden sich Teams, die um die Ehre kämpfen, das nutzloseste Wissen über Sci-Fi-Klassiker und Programmier-Trivia zu besitzen. Leons Team - bestehend aus ihm, Mia und Felix - nennt sich »The Compile Errors« und liegt nach der zweiten Runde in Führung.

Zwischen den Quizfragen scrollt Mia durch Felix’ Archiv, ihr Gesicht ist plötzlich angespannt. »Moment ...« Hektisch tippt sie, öffnet Dateien, vergleicht Dokumente. »Leon, schau dir das mal an.«

Sie dreht den Laptop zu ihm. Auf dem Bildschirm: Eine interne E-Mail von Claudia an einen unbekannten Empfänger mit .mil-Domain. Im Anhang: Leons Chatbot-Code - der Algorithmus, an dem er monatelang für Innvidox gearbeitet hat, angeblich zur »Optimierung der internen Kommunikation«.

»Die verkaufen deinen Code ans Militär«, sagt Mia leise. »Der ’Communication Chatbot’ wird für KI-gestützte Verhörtechniken eingesetzt.«

Leon starrt auf den Bildschirm. Seine Hände werden kalt, aber in ihm brennt etwas - ein Feuer aus Wut und Verrat, das seine Brust erfüllt. Er denkt an die endlosen Überstunden, an Kevins Motivationssprüche, an Claudias falsche Versprechungen über den »positiven Effekt« seiner Arbeit.

»Die haben mich verarscht.« Seine Stimme ist ruhig, zu ruhig. »Die ganze Zeit.«

»Uns alle«, korrigiert Felix. »Das ist nur die Spitze des Eisbergs.«

Er öffnet weitere Dateien - Beweise für systematischen Betrug, für Steuerhinterziehung, für illegale Datensammlungen. »Sie predigen Agilität und Transparenz, aber in Wirklichkeit ist Innvidox ein Haufen korrupter Lügner, die für Profit alles verkaufen würden.«

Leon spürt, wie der Rest seiner Loyalität zu Innvidox wie Sand zwischen seinen Fingern zerrinnt. Er denkt an seinen Traum, an das Spiegelbild des Esels, der einer Karotte nachjagt.

»Was können wir tun?«, fragt er schließlich.

Mia klappt den Laptop zu, ihre Augen funkeln entschlossen. »Wenn wir nichts unternehmen, werden wir zu Zombies. Ich habe es satt, jeden Tag ein Stück meiner Seele zu verkaufen.«

Sie hebt ihr Bier, ein stiller Toast. »Ich sage, wir nehmen Felix’ Archiv und jagen diesen korrupten Laden in die Luft.«

Felix zögert. »Das könnte unsere Karrieren ruinieren.«

»Welche Karrieren?«, fragt Leon verbittert. »Die als Code-Monkeys für eine Firma, die unsere Arbeit für die Kriegsführung verkauft?«

Die drei sehen sich an - ein Moment stillen Einverständnisses, ein unausgesprochener Pakt. Um sie herum geht die Nerd Nite weiter, lautes Gelächter über eine besonders absurde Quizfrage zu Star-Trek-Uniformfarben und Überlebenschancen.

»Also gut«, sagt Felix schließlich. »Wir haben genug Beweise. Die Frage ist nur: Wie gehen wir vor?«

Mia lächelt, ein scharfes, entschlossenes Lächeln, das nichts mit dem aufgesetzten Lächeln im Büro zu tun hat. »Ich habe ein paar Ideen. Und ich kenne jemanden in der Technikpresse, der sich für illegale Rüstungsaufträge interessieren könnte.«

Leon nickt langsam. In seinem Kopf formt sich ein Plan - nicht für einen Chatbot, nicht für eine KI, sondern für eine Revolution. Eine kleine digitale Revolution gegen das System, das ihn zum Code Monkey degradieren wollte.

»Bevor sie uns ganz brechen«, sagt er leise, »brechen wir sie.«

Die drei prosten sich zu, ihre Bierflaschen klirren leise. Um sie herum tobt die Nerd Nite in all ihrer chaotischen Pracht, aber in ihrer Ecke ist ein Funke übergesprungen - ein Funke, der bald ein Feuer entfachen könnte, das hell genug brennt, um selbst durch die verspiegelten Fenster der Innvidox-Führungsetage zu leuchten.

---ENDE DER LESEPROBE---