8,99 €
Alexandria – eine Stadt der Wunder, ein Ort der Wissenschaft – und der Beginn eines mutigen Traums. Griechenland, 3. Jahrhundert v. Chr.: Agnodike ist klug, wissbegierig und will nur eines – Ärztin werden. Doch Frauen ist der Zugang zur medizinischen Ausbildung streng verboten. Als sie mit dem berühmten Gelehrten Eratosthenes nach Alexandria reist, hofft sie auf einen Neuanfang. Dort, am sagenumwobenen Museion, begegnet sie faszinierenden Persönlichkeiten, intriganten Höflingen und der Macht einer Stadt im Wandel. In einer Welt, in der Frauen nur als Ehefrauen und Mütter gelten, kämpft Agnodike gegen Vorurteile, gesellschaftliche Zwänge und für das Recht auf Wissen. Wird es ihr gelingen, ihren Traum zu verwirklichen? Ein fesselnder historischer Roman über eine mutige junge Frau, die sich über Grenzen hinwegsetzt – inspiriert von der legendären Agnodike, der ersten dokumentierten Ärztin der Antike.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dagmar Bulmann
Agnodike und das Museion von Alexandria
ISBN 978-3-68912-533-2 (E-Book)
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
Foto der Autorin: Reimond Weding
© 2025 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: https://www.edition-digital.de
Tiefschwarze Wolken jagten am Himmel entlang und die heranrollenden Wellen hoben und senkten das Schiff mit einer den Naturgewalten innewohnenden Leichtigkeit. Bisher hatten sie eine ruhige Überfahrt, aber jetzt zog in der Ferne ein Unwetter heran. Die Sonne war verschwunden und tauchte den Tag in ein graues Schummerlicht, wobei das Wasser bedrohlich smaragdgrün aussah. Agnodike stand an Deck und suchte den Horizont ab. Vom Festland war noch nichts zu sehen. Um sie herum war nichts als Wasser und unendliche Weite. Wie sehr sehnte sie sich danach, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Unauffällig betete sie zu den Göttern, dass sie dem Unwetter entgehen mögen. Denn der Kapitän hatte ihr versprochen, dass sie mit ein wenig Glück noch rechtzeitig den Hafen von Alexandria erreichen könnten. Und tatsächlich hörte sie die ersten Möwen kreischen.
Erleichtert hob sie die Arme, als wollte sie nach den Vögeln greifen. Lange konnte die Fahrt nun ohnehin nicht mehr dauern. Die junge Frau atmete die salzige Luft tief ein und versuchte, sich etwas zu entspannen. Außerdem durfte sie sich jetzt nicht beklagen, wenn ihr Magen zu rebellieren begann. Schließlich hatte sie diese Reise gewollt. Agnodike war dankbar, auf diesem Schiff zu sein. Ohne Eratosthenes, ihren Freund und Beschützer, hätte sie die Überfahrt nie antreten können. Es wäre ihr unmöglich gewesen, das Geld aufzubringen. Lange brauchte sie, ihn zu überreden, sie mitzunehmen. Er, der große Gelehrte, und sie, die Waise, ohne Eltern, ohne Vermögen.
Das Schiff wogte inzwischen kräftig auf und ab. Aber noch hielt sich der Sturm in angemessener Entfernung. Eratosthenes stampfte ihr behäbig mit seinem schweren Körper entgegen. Bei seinem Gewicht warf ihn so leicht nichts aus der Bahn. Mit einem verschmitzten Lächeln, welches sie so an ihm mochte, fragte er sie: „Na, mein liebes Kind, du wirst doch nicht noch am Ende unserer Reise seekrank werden. Ich finde, du siehst etwas blass aus.“
Agnodike schluckte. In der Tat wurde ihr immer übler, aber das war es nicht alleine. Ihre Gedanken wanderten nach Hause, zurück nach Athen. Sie antwortete nicht sofort, sondern wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Er hatte Geduld mit ihr, schließlich hatte das Mädchen in der letzten Zeit viel durchgemacht.
Nach einer Weile sagte sie: „Es war zwar in den letzten Monaten nicht mehr schön mit meinem Vater. Du weißt ja selbst, wie viel er zum Schluss getrunken hat. An manchen Tagen kam er gar nicht mehr aus dem Bett und ich schämte mich für ihn. Doch jetzt vermisse ich ihn sehr, denn früher ist er immer gut zu mir gewesen. Bis meine Mutter starb, war er der beste Vater, den ich mir wünschen konnte. Außerdem bin ich ihm so dankbar, dass er mir Lesen und Schreiben beigebracht hat, das größte Geschenk, was er mir machen konnte.“
Eratosthenes nickte verständnisvoll.
Agnodikes Vater, Polikrates, unterrichtete früher die Kinder reicher Leute, und die Familie hatte ihr Auskommen. Oft war sein Freund Eratosthenes zu Gast in ihrem Haus und die beiden Männer philosophierten stundenlang und tauschten ihr Wissen aus. Die beiden Freunde waren Schüler am Lykeion gewesen, der von Aristoteles gegründeten Akademie. Dennoch waren sie häufig unterschiedlicher Meinung, besonders dann, wenn es um die Stellung der Frauen ging. Während Agnodikes Vater die landläufige Gelehrtenmeinung vertrat, dass nur Männer über genügend Hitze und damit über Geist verfügten und die Frauen unvollendete Wesen mit einem verkümmerten Hirn seien, stand Eratosthenes auf dem Standpunkt, dass auch Frauen zu intellektuellen Leistungen fähig wären. Oft schlug er Polikrates mit seinen eigenen Argumenten: „Sieh dir nur deine Tochter Agnodike an! Du willst doch nicht leugnen, dass sie genau so gebildet ist wie Jungen ihres Alters, die eine gute Schule besuchen. Außerdem, warum hast du sie überhaupt unterrichtet, wenn du nicht an den Erfolg geglaubt hast?“
„Agnodike ist eine Ausnahme, sie ist schließlich meine Tochter. Sie ist wie Athene, jungfräulich, kämpferisch und intelligent.“
„So, so, sie ist also eine Ausnahme und was ist mit den ägyptischen Herrscherinnen, wie Hatschepsut oder Arsinoe II, die werden verehrt wie Göttinnen.“
Wenn die Gespräche solche Wendung nahmen und Polikrates sich unterlegen fühlte, dann lenkte er schnell vom Thema ab, schlug vor, doch noch einen Schluck Wein zu trinken und zufällig hatte er dann immer gerade einen besonders guten Tropfen im Keller. In Wirklichkeit war er so stolz auf seine Tochter, wie ein Vater sonst nur auf einen Sohn sein konnte. Als Agnodike älter wurde, erlaubten ihr die beiden Männer, an ihren Disputen teilzunehmen. So erfuhr sie viele Dinge, die ihr später noch zugute kommen sollten. In dieser Zeit war Agnodike glücklich und sie konnte sich nicht vorstellen, dass es je anders sein könnte. Aber dann wurde ihre Mutter Anteia erneut schwanger. Die Geburt wollte nicht enden. Unzählige Stunden dauerte dieses Martyrium, doch das kleine Mädchen wich nicht von ihrer Seite. Obwohl sich Agnodike mit den Händen die Ohren zuhielt, hörte sie ihre Mutter stöhnen, ja sogar schreien. Es war eine Entbindung, bei der der Tod der Sieger sein sollte. Als die Hebamme feststellte, dass sie Anteia nicht mehr helfen konnte, legte sie ihr Kräuter und Amulette auf den Bauch. Da lag ihre Mutter, das Gesicht verzerrt vom langen Leiden, die roten Haare klebten schweißnass am Kopf. Derweil kniete ihr Vater hilflos im Hof vor einem Standbild der Göttin Artemis, der Beschützerin der Gebärenden. Das war alles, was er für seine Frau tun konnte, denn Männer durften bei der Geburt nicht anwesend sein.
Als Anteia ihre verängstigte Tochter entdeckte, die sich hinter einem Vorhang im Schlafzimmer versteckt hatte, rief sie Agnodike zu sich. Ihre Stimme war nicht mehr als der Windhauch, der durchs Zimmer zog. Sie ließ sich eine kleine Holzschatulle reichen, in der sie ihr einziges Schmuckstück aufbewahrte. Behutsam nahm sie die Perlenkette heraus, legte sie in die Hand ihrer Tochter und umschloss sie mit der letzten ihr verbleibenden Kraft. Agnodike hielt die Kette so fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen. Obwohl sie erst zwölf Jahre alt war, begriff sie doch, was dort passierte. Ihre Mutter würde sie bald für immer alleine lassen und dieses letzte Geschenk war ihr Abschiedsgruß, sollte auf immer ein Bindeglied zur Vergangenheit für Agnodike sein. Durch einen Tränenschleier sah sie die ausdruckslosen Augen ihrer Mutter und den leicht geöffneten Mund, der ihr nie wieder einen Kuss auf die Wange geben konnte und der sie nie mehr anlächeln würde. Agnodike ergriff die schlaff gewordene Hand ihrer Mutter und krallte sich daran fest, an dieser Hand, die sie so oft gestreichelt hatte. Vermutlich hätte das Mädchen noch stundenlang bei ihrer Mutter ausgeharrt, wenn ihr Vater sie nicht fortgeführt hätte.
Plötzlich stieg ein unbändiger Hass in Agnodike auf, sie verfluchte die Hebamme, die ihrer Mutter nicht geholfen hatte. So etwas durfte doch nicht passieren. Warum ließ diese Frau ihre Mutter einfach sterben, sie ist doch immer so ein gütiger Mensch gewesen. In diesem Moment nahm in Agnodike ein Gedanke Gestalt an. Anfangs war es nur ein diffuses Durcheinander, der Wunsch, dass nie wieder eine Frau unter der Geburt sterben sollte. Sie, Agnodike, würde es verhindern, sie wollte alles lernen, was dazu nötig war. Zu jener Zeit hatte sie noch keine Vorstellung, wie sie es anstellen sollte. Aber sie würde schon eine Möglichkeit finden, auch wenn es Frauen in Athen nicht gestattet war, die Medizinschulen zu besuchen. Agnodike versprach ihrer Mutter, dass sie nicht eher Ruhe geben würde, bis sie ihr Ziel erreicht hätte.
Doch nach dem Tod der Mutter änderte sich ihr Leben auf fatale Weise. Ihr Vater Polikrates fing an zu trinken. Er gab sich die Schuld am Tod seiner Frau. Für kurze Zeit hatte er eine Geliebte gehabt. Diese Frau mit ihren üppigen Formen hatte ihn derart betört, sodass er ihr nicht widerstehen konnte. Nun glaubte er, dass die Götter ihn dafür bestrafen wollten und selbst Eratosthenes konnte ihm das nicht ausreden. Agnodike, die selbst sehr unter dem Tod ihrer Mutter litt, fand keinen Halt mehr bei ihrem Vater. Nach einer Weile konnte er nicht mehr unterrichten, weil er häufig schon tagsüber betrunken war. Er vernachlässigte sein Aussehen, der Bart nicht geschnitten, die Haare ungekämmt. Selbst den von Agnodike sauber ausgewaschenen Chiton legte er nicht an. Bald wollte ihn niemand mehr als Hauslehrer beschäftigen. Wenn Eratosthenes nicht gewesen wäre, der die Familie jahrelang finanziell unterstützte, hätte Agnodike nicht gewusst, wovon sie leben sollten. Sein ständiger Alkoholkonsum machte ihn krank und gebrechlich.
Im März erhielt Eratosthenes, der noch immer am Lykeion tätig war, eine Einladung vom König von Ägypten, Ptolemaios III Euergetes, nach Alexandria zu kommen. Er sollte am Museion lehren und forschen und Leiter der Bibliothek werden. Noch während seiner Reisevorbereitungen starb Polikratis und Agnodike mit ihren achtzehn Jahren war plötzlich ohne Eltern.
Ihre Tante, die ebenfalls in Athen lebte, wollte sie aufnehmen und ihr einen angemessenen Ehemann zu suchen. Sie hatte zwar nicht viel übrig für ein Mädchen, welches sich mehr mit Lesen und Philosophie beschäftigte, als sich auf eine vorteilhafte Ehe vorzubereiten. Die merkwürdigen Eskapaden ihrer Nichte bereiteten ihr Kopfzerbrechen, aber sie war nun einmal die Tochter ihrer Schwester und somit eine nahe Verwandte, für die sie sich verantwortlich fühlte. Oft hatte sie den Eindruck, dass Agnodike etwas hochnäsig auf ihre eigenen Töchter herabschaute, nur weil sie nicht so gebildet waren. Als wenn eine Frau mit solchem unnützen Kram etwas anfangen könnte. Eine Frau musste heiraten, Kinder bekommen und den Haushalt zusammenhalten. Aber Agnodike wollte nicht und wehrte sich verzweifelt. Das war nicht die Zukunft, die sie sich erträumte. Sie wollte Ärztin werden und das konnte sie in Griechenland auf gar keinen Fall. Nie würde man ihr, als Frau, den Zugang zu einer der Medizinschulen gewähren. In Alexandria, so hoffte sie, würde sie schon eine Möglichkeit finden. Das Museion war berühmt für seine Gelehrten und die hervorragende Ausbildung, die man dort genießen konnte. Also flehte sie Eratosthenes immer wieder an, sie mitzunehmen, bis er endlich einwilligte. Für ihn war es ein schwieriges Unterfangen, Agnodikes Tante davon zu überzeugen, in die Reise einzuwilligen. Doch nach gründlicher Überlegung war sie ganz froh, die Verantwortung für Agnodike los zu sein, denn es würde schwer werden, sie an den Mann zu bringen. Wer wollte schon so ein verschrobenes Mädchen heiraten. Sollte sich doch dieser schrullige Gelehrte um sie kümmern, wenn er es unbedingt wollte.
Eine ganze Weile standen die beiden schweigend nebeneinander an der Reling, während der stärker gewordene Wind an den Segeln zerrte und ihnen die Haare zerzauste. Versonnen betrachtete Eratosthenes die zierliche junge Frau vor ihm, die die roten Locken ihrer Mutter geerbt hatte und die sich abmühte, ihren Reiseumhang festzuhalten. Ihm war aufgefallen, wie weit sich Agnodikes Gedanken von ihm entfernt hatten, deshalb sagte er:
„Wir sollten der Vergangenheit zwar gestatten, einen Platz in unserem Herzen zu finden, doch darf er nicht so groß sein, dass die Zukunft nicht mehr hineinpasst.“
„Du hast Recht, ich habe in den Wochen unserer Überfahrt zu viel gegrübelt. Aber obwohl es mein größter Wunsch war, dich nach Alexandria zu begleiten, ist es doch nicht so leicht, alles hinter sich zu lassen. Fast fürchte ich mich ein wenig vor dem, was kommt.“ Den letzten Satz hatte sie nur noch geflüstert. Was war nur los mit ihr, sie war doch sonst nicht so sentimental. Und sie hatte wahrhaftig keinen Grund, Athen nachzutrauern. Viele geliebte Menschen hatte sie nicht zurückgelassen. Ihre Tante hatte immer etwas an ihr auszusetzen gehabt, der konnte sie ohnehin nichts recht machen. Mit ihren Cousinen konnte sie nie viel anfangen, die interessierten sich nur für Mode und Schmuck, und lesen konnten sie auch nicht. Der einzige, den sie vermissen würde, war Meletos, ihr Freund aus Kindertagen. Er ist der Sohn ihrer Nachbarn, mit dem sie zusammen aufgewachsen war. Als er erfuhr, dass Agnodike fortgehen würde, sah sie ihn zum ersten Mal weinen. Sie wusste, seine Tränen würden sie nicht davon abhalten ihre Heimat zu verlassen, aber sie machten es ihr um vieles schwerer. Beim Abschied empfand sie fast die gleiche Endgültigkeit wie beim Tod ihrer Mutter, deshalb versprach sie ihm zurückzukehren, wenn sie ihre Studien beendet hatte. Mit ihm konnte sie darüber reden, er verstand sie.
„Ich kann gut verstehen, was du meinst“, unterbrach Eratosthenes erneut ihre Gedanken. „Als ich etwa so alt war wie du jetzt, da habe ich ähnlich empfunden. Du warst noch nicht geboren, da habe ich die gleiche Reise unternommen, denn ich habe schon einmal für mehrere Jahre in Alexandria gelebt und dort studiert.“
Agnodike konnte sich erinnern, davon gehört zu haben. Früher interessierte sie sich wenig für diese ferne Stadt. Jetzt erwachte die Neugierde auf ihre neue Heimat und sie bat Eratosthenes:
„Bitte erzähle mir etwas über Alexandria, das Museion und über die berühmte Bibliothek, die sich darin befindet.“
„Mein liebes Kind, du willst wie immer alles auf einmal wissen.“
„Nenn mich nicht immer ‚mein liebes Kind‘, ich bin schon fast erwachsen, andere Mädchen in meinem Alter sind schon längst verheiratet“, protestierte Agnodike schmollend.
„Gut, meine Kleine, lass uns dort hinübergehen, da ist es etwas windgeschützter. Außerdem können wir uns auf den Kasten setzen, der sich unterhalb der Aufbauten für das Steuerrad befindet. In meinem Alter steht man nicht mehr so gern, da hat man es lieber ein wenig bequemer.“
Bevor Eratosthenes antworten konnte, schaltete sich der Mitreisende Herodas ein, der Agnodikes Frage mit angehört hatte. Er war an Deck gekommen, um ebenfalls Ausschau nach dem Festland zu halten, und verkündete in der blumigen Sprache eines Dichters mit weit ausladenden Gesten: „Dort aber ist der Göttin Haus, denn alles, was irgend auf Erden ist oder wird, ist in Ägypten: Reichtum, Macht, Frieden, Ruhm, Philosophen, Goldschmiede, Ringerschulen, der Geschwistergöttertempel, das Museion, Wein – kurz und gut, alles, was man wünschen mag, und Frauen erst, so viel, dass selbst der Himmel sich so vieler Sterne nicht rühmen kann, und hold von Ansehen sind sie, wie Göttinnen, die einst im Wettstreit um den Schönheitspreis zu Paris zogen.“ Gerührt von seinen eigenen Worten ließ er die Arme wieder sinken.
Eratosthenes sah ihn vorwurfsvoll an: „Du solltest vor einer jungen Dame nicht solche Sachen sagen, komm, lass uns einen Moment allein, wir werden in Alexandria sicher noch Gelegenheit haben, miteinander zu reden.“
Herodas zog beleidigt davon und Eratosthenes wandte sich Agnodike zu: „Wie dir bekannt ist, hat mich der König Ptolemaios III persönlich nach Alexandria berufen. Du kannst dir sicher vorstellen, welche Ehre das für mich bedeutet. Manch ein Gelehrter beneidet mich um diese Aufgabe, und ich muss eingestehen, dass ich darauf ein wenig stolz bin.“
Die Freude, die aus diesen Worten sprach, übertrug sich auf Agnodike. Er würde sich weiterhin um sie kümmern, was sollte ihr an der Seite eines solchen Mannes schon passieren. Allmählich kehrte ihre alte Zuversicht zu ihr zurück.
„Der König suchte einen Nachfolger für meinen ehemaligen Lehrer Kallimachos, den bisherigen Hüter der Bibliothek. Er ist tot und das ist ein schwerer Verlust, denn er war ein wirklich fähiger Mann, nicht nur Dichter, sondern auch Wissenschaftler. Ich habe ihn damals sehr bewundert. Als ich in Alexandria studierte, konnte man der ständig steigenden Zahl von Büchern und Schriftrollen kaum noch Herr werden. Er hat ein ausgeklügeltes System erfunden, die Schriftrollen zu sortieren, indem er das Wissen nach verschiedenen Sparten ordnete, Literatur, Mathematik, Medizin, Astronomie und Geometrie. In diesen Kategorien erscheinen die Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Außerdem wurde jedem Autor eine Kurzbiografie beigefügt. Ich glaube, er hat mit seinen Pinakes den ersten Bibliothekskatalog entworfen, den je eine Bibliothek besessen hat, und damit noch nicht genug, auch für die Aufbewahrung der Schriftrollen ließ er sich etwas einfallen. So wurde jede Rolle mit einem Etikett versehen, auf dem Verfasser und Titel vermerkt sind, und in die Armaria, die Regale, einsortiert.“
„Das klingt sehr einleuchtend und ich freue mich schon auf die vielen interessanten Schriften.“ Agnodike bemerkte, wie der Gelehrte anfing, vor Begeisterung zu strahlen. Für sie war er eine Art Universalgenie, es gab nichts, worauf er keine Antwort wusste.
„Ich habe von Kallimachos viel über die Dichtkunst erfahren und bei Aristachos von Samos habe ich Astronomie und Mathematik studiert.
In dieser Zeit habe ich auch Archimedes kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Leider weilte Archimedes immer nur kurz in Alexandria, er kehrte regelmäßig in seine Heimat nach Syrakus zurück. Es war fantastisch sich mit all diesen Gelehrten auszutauschen.“
„Aber warum bist du dann wieder nach Athen zurückgekehrt.“
„Es ging am Museion nicht immer nur harmonisch zu. Oft gab es auch Streit zwischen den einzelnen Gelehrten oder gar mit der Obrigkeit. Aristachos stellte eine atemberaubende Hypothese auf, mit der er den Zorn des mächtigsten Serapis-Priesters auf sich zog.“
„Was war das für eine Hypothese?“, erkundigte sich Agnodike, die allmählich ebenfalls von der Begeisterung ihres alten Freundes ergriffen wurde.
„Das ist eine komplizierte Geschichte, im Moment will ich dir nur so viel sagen, dass er damit die gesamte bisherige Weltordnung in Zweifel zog. Er verkündete nämlich, dass es auf Grund seiner Beobachtungen und Berechnungen nicht sein könne, dass sich die Sonne um die Erde dreht, sondern dass es genau umgekehrt sein müsse. Mein liebes Kind, du machst dir ja keine Vorstellung davon, was er damit anrichtete. Das Ganze ist inzwischen fast zwanzig Jahre her, die Zeit war einfach noch nicht reif für solche Theorien, die übrigens bis heute nicht bewiesen wurden. Die Gelehrten am Museion stritten fürchterlich, sie wurden in zwei entgegengesetzte Lager gespalten, in Befürworter und in Gegner seiner Hypothese. Es herrschte große Unruhe, die durch die Priesterschaft noch geschürt wurde.“
„Das ist in der Tat eine unglaubliche Geschichte, wie ist sie ausgegangen?“
„Es sollte einen Prozess geben, der hat aber nicht stattgefunden, weil Aristachos verschwunden war. Damals regierte noch der Vater von Ptolemaios III. Ich habe mich sehr darüber geärgert, dass er seinen Gelehrten nicht vor einem Prozess bewahren wollte, deshalb bin ich aus Protest abgereist.“
„Das ist lange her, ob es auch heute noch so turbulent am Museion zugeht?“
„Nun, ich will doch hoffen, dass sich dort nicht nur Langweiler aufhalten, freue ich mich doch auf die Dispute mit den übrigen Gelehrten. Außerdem hoffe ich, dass ich in Alexandria meine Studien in Geometrie und Geografie vollenden kann.“
Doch Agnodike beschäftigte noch eine andere Frage. Wie wird es sein in dieser fremden Stadt, würde Eratosthenes sie mit ins Museion nehmen können? In den Wochen ihrer langen Schiffsreise hatte sie oft versucht, mit ihm darüber zu reden, doch er hatte jedes Mal ausweichend geantwortet. Nun stellte sie ihm also erneut die für sie wichtigste Frage.
„Mein liebes Kind, habe ein wenig Geduld. Zuerst muss ich mich mit den Gegebenheiten vertraut machen. Es wäre falsch, wenn ich dir jetzt etwas versprechen würde. Ich glaube nicht, dass Frauen inzwischen in Alexandria studieren dürfen.“
Eratosthenes sah ihre Enttäuschung und hatte sofort das Bedürfnis, sie zu trösten. „Wir werden schon eine Möglichkeit finden. Auf alle Fälle werde ich dir Bücher aus der Bibliothek mitbringen, die kannst du dann studieren.“
Das entsprach zwar nicht unbedingt Agnodikes Vorstellung von einem Studium am Museion, aber es war erst einmal ein Anfang.
Das Schiff schwankte. Agnodike, die sich wieder erhoben hatte, wurde gegen die Reling gedrückt. Hier hörte sie den Wind besonders unheilvoll heulen. Besorgt suchte sie erneut den Horizont ab. Die dicken Wolken hatten sich etwas verzogen, sodass sie in der Ferne ein Leuchten sah. Jubelnd rief sie: „Sieh nur Eratosthenes, das muss er sein, der Leuchtturm von Alexandria!“
Eratosthenes fasste sie an die Hand: „Mein liebes Kind, bevor wir in den Hafen einlaufen, muss ich noch etwas mit dir besprechen. Wir werden bald von vielen Menschen umgeben sein und ich finde, dass wir ihnen keine unnützen Rätsel aufgeben sollten, deshalb halte ich es für das Beste, wenn du von nun an meine Nichte bist.“
Das leuchtete Agnodike ein und sie hatte auch nichts dagegen, schon lange war Erathostenes zu ihrer Familie geworden.
Weil es dem Gelehrten an Deck zu kühl geworden war, hatte er sich zurückgezogen, während sie erwartungsvoll in die Richtung starrte, wo sich ganz allmählich die Silhouette der mächtigsten Stadt der Erde ins Bild schob. Türme und die Umrisse von Gebäuden schälten sich aus dem Horizont, und Agnodike fragte sich nun, ob sich dort ihre Träume erfüllen würden.
Das Unwetter hatte sich verzogen, als würde es sich nicht an Land trauen. Der Himmel klarte allmählich auf und die Sonne, halb verdeckt von einer dichten Wolke, sandte kegelförmig ihre Strahlen auf die Erde. Die Einfahrt in den Hafen war für Agnodike ein erhebender Eindruck, unsichtbare Hände öffneten das Tor zu einer neuen Welt. Sie war so aufgeregt wie ein kleines Mädchen, das es an seinem Geburtstag nicht erwarten kann, seine Geschenke zu erhalten. Als erstes gewahrte sie den Leuchtturm, den Pharos, der auf einer kleinen Insel erbaut worden war, die diesen Namen trug und die an der Nordspitze von Alexandria lag. Die Insel war über einen langen Damm mit dem Festland verbunden und teilte dadurch den Hafen in einen Ost- und einen Westhafen. Am Ende der Insel, auf einem Felsen, rund gewaschen vom Meer, ragte majestätisch der Leuchtturm in die Höhe, der auf einem mächtigen Sockel thronte. Seine weiße Marmorfassade schimmerte im Sonnenlicht. Er bestand aus mehreren Stockwerken und an seiner Spitze brannte ständig ein Holzstoß, dessen Wirkung durch Linsen verstärkt wurde, deshalb hatte Agnodike sein Leuchten schon weit draußen auf dem Meer gesehen. Das Schiff fuhr auf der linken Seite am Leuchtturm vorbei und steuerte auf den kleineren Osthafen zu, der immer angelaufen wurde, wenn sich besondere Gäste an Bord eines Schiffes befanden. Agnodike starrte ehrfurchtsvoll zum Leuchtturm hinüber. Selbst Eratosthenes war fast so beeindruckt wie das Mädchen, denn als er das letzte Mal in Alexandria weilte, hatte man gerade erst mit dem Bau begonnen und nun stand dieser Gigant in voller Größe vor ihm.
Als sie das Schiff verließen, schlug ihnen eine merkwürdige Mischung von Wohlgerüchen und Gestank entgegen, es roch nach Teer, Öl, Schlamm, Exkrementen, Schweiß, nach verschiedenen Gewürzen und Weihrauch. Das Schiff war inzwischen mit schweren Tauen befestigt, und die Ruder waren eingeholt. Die wenigen Mitreisenden gingen von Bord.
Noch während Agnodike darauf wartete, dass ihr Gepäck entladen wurde, beobachtete sie das quirlige Treiben im Hafen. Sie schlenderte die Mole entlang. Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Kleidung drängten an ihr vorbei. Die einen mochten vornehme Schiffseigner sein, andere Matrosen, Händler, Reisende. In dem Sprachengewirr konnte Agnodike kein Wort verstehen.
Etwas abseits entdeckte sie auf dem großen Platz vor sich zwei riesige Standbilder, neugierig betrachtete sie die Inschriften, die in griechischer und demotischer Sprache von dem göttlichen Geschwisterpaar Ptolemaios II und Arsinoe II kündeten. Von Eratosthenes wusste sie, dass der verstorbene König seine Schwester geheiratet hatte, was bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht auf Gegenliebe gestoßen war. Noch vor seinem Tod hatte Ptolemaios II Arsinoe zur gemeinsamen Göttin über Ober- und Unterägypten gemacht und mehrere Tempel für sie errichten lassen.
Gemächlichen Schrittes kehrte Agnodike zu ihrem Anlegesteg zurück. Ein Schiff, welches geradewegs vor ihnen lag, wurde von einem ganzen Heer schwarzer Sklaven entladen. Sie schleppten, gebeugt unter der Last der schweren Säcke, Getreide in die nahe gelegenen Kornspeicher. Einer der Männer strauchelte, fiel zu Boden, sodass der Sack aufplatzte und sich das Getreide im Sand ergoss. Wütend schlug ein Aufseher auf den Mann ein. Agnodike wollte zu dem Mann hinüberlaufen, aber Eratosthenes konnte sie gerade noch rechtzeitig zurückhalten: „Bist du denn noch zu retten, wir sind noch gar nicht ganz angekommen, da bringst du uns mit deinem überschäumenden Temperament auch schon in Schwierigkeiten. Wir können uns hier nicht einmischen, so sehr ich selbst Gewalt verabscheue. Alexandria besteht nicht nur aus Gelehrten, es gibt hier, wie überall auf der Welt, auch noch ein anderes Leben. Glaubst du etwa, im Hafen von Piräus würde es friedlicher zugehen? Mein liebes Kind, du solltest in Zukunft nicht mehr so unbedacht sein.“
Kurze Zeit später bahnte sich eine vornehme Sänfte, die von acht nur mit einem Lendentuch bekleideten muskulösen Männern getragen wurde, den Weg durch das Gedränge. Nachdem die Träger die Sänfte abgesetzt hatten, wurden sie von einem elegant gekleideten Herrn angesprochen. Eratosthenes musste zweimal hinsehen, dann erkannte er seinen ehemaligen Mitstudenten Apollonios.
„Sei gegrüßt, Eratosthenes, wie ich sehe, bist du in Begleitung.“
Eratosthenes stellte seine Nichte vor, dann fuhr er fort: „Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, waren wir noch Studenten, heute sind wir die Gelehrten, die den anderen etwas beibringen sollen. Und wie ich hörte, hast du es noch weiter gebracht, der König hat dich sogar zu seinem ersten Minister gemacht.“
„Das sollte uns aber nicht daran hindern, uns angemessen zu begrüßen. Ich freue mich jedenfalls, dass du hier bist.“
Sein alter Weggefährte schien ebenso zu empfinden, denn auf einmal lagen sich die beiden Männer in den Armen und Tränen der Rührung schimmerten in ihren Augen.
„Du hast graues Haar bekommen, mein Lieber“, stellte Eratosthenes fest.
„Dafür schleppst du einen gewaltigen Bauch mit dir herum“, scherzte Apollonios und begrüßte Agnodike mit vornehmer Zurückhaltung. Dann richtete er das Wort erneut an seinen alten Freund.
„Weißt du noch, wie wir damals gemeinsam dem Unterricht von Kallimachos gelauscht haben?“
„Ja, es war eine unbeschwerte Zeit. Leider haben wir uns nicht so oft gesehen, wie ich es mir gewünscht hätte, denn ich habe mich ja mehr für die Vorlesungen von Aristachos über Astronomie und Mathematik interessiert, als für die Dichtkunst. Dadurch habe ich mich häufig mit Archimedes ausgetauscht. Ich hoffe sehr, dass wir uns bei meinem jetzigen Aufenthalt öfter sehen werden.“
Zwei Sklaven nahmen das Gepäck und dann stiegen die drei in eine Sänfte. Direkt am Hafen drängten sich viele Lagerhäuser, Schenken und Freudenhäuser eng aneinander, doch die ließen sie bald hinter sich. Sie passierten eine Festungsmauer und dann ging es weiter in Richtung Osten die breite mit Palmen besäumte Prachtstraße entlang. Noch nie zuvor hatte Agnodike eine so breite Straße gesehen: „Hier könnten sich ja mindestes drei Gespanne auf jeder Seite begegnen“, rief sie voller Begeisterung, während die beiden Herren vergnügt lächelten.
Sie wurden an wunderschönen Stadtvillen, Palästen und Tempeln vorbei getragen, die in herrlichen Gärten mit großen Palmen und kunstvoll angelegten Teichen standen, in denen Lotosblumen blühten. Es duftete nach Blumen, statt nach Abfall wie in manchen Gassen Athens.
Agnodike war begeistert, sie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. Bisher kannte sie nur Athen und hatte geglaubt, in der wundervollsten Stadt der Welt zu leben. Aber was sie hier zu sehen bekam, übertraf alle ihre Erwartungen. Gerne hätte sie gewusst, wer in den Palästen wohnte und welchem Gott die Tempel geweiht waren, an denen sie vorüberkamen, aber das wäre wohl alles ein wenig viel geworden.
„Kommen wir auch am Museion vorbei, ich bin so gespannt, es zu sehen?“; richtete Agnodike die Frage an Apollonios.
„Deine Nichte ist ja eine sehr aufgeweckte junge Dame“, stellte Apollonios fest, dem es aber offensichtlich Spaß machte, den Stadtführer zu spielen.
„Das Museion liegt zwar auch in diesem Stadtteil, den wir Brucheion nennen, aber in einer Seitenstraße. Das gesamte Viertel ist von einer wehrhaften Mauer umgeben. Du wirst dich hier leicht zurecht finden, da alle Straßenzüge rechtwinklig zueinander verlaufen. Alexander der Große ließ diese Stadt von seinem Baumeister Dinokrates erbauen. Er nutzte das Wissen der Pyramidenerbauer und verband es mit dem von Aristoteles vermittelten Wissen von Vernunft und Logik, und diese Genialität kannst du heute bewundern. Leider haben weder Alexander noch sein Lehrer Aristoteles die Vollendung dieser prächtigen Stadt erlebt.“
Alle drei wurden einen Moment lang nachdenklich. Dann tauchte vor ihnen ein Palast auf, den Agnodike anfangs für den des Königs hielt. Apollonios erklärte ihr, dass sich an der Hauptstraße die Gebäude der Palastwache und verschiedene Amtsstuben befanden. Hier durchquerten sie ein riesiges Säulenportal, durch das sie nun in einen herrlich schattigen Park gelangten, dessen Ausmaße nicht abzusehen waren. Eingebettet von hohen Palmen versteckten sich dort irgendwo die königlichen Paläste hinter einer Wand aus Grün.
Dann zeigte Apollonios auf einen Palast direkt vor ihnen, der von Ptolemaios Euergetes und seiner Frau Berenike II bewohnt wird.
„Ihr werdet ein paar Tage als Gäste des Königs im Palastgebiet wohnen, bis ihr entweder ins Museion zieht, wie viele der anderen Gelehrten, oder ihr eine eigene Unterkunft bezieht. Ich bin euch gerne bei der Suche behilflich. Es ist sicher besser, eine Stadtvilla zu mieten, solange deine Nichte bei dir wohnt, denn Frauen werden im Museion nicht geduldet.“
Bisher war Agnodike voller froher Erwartung in diese herrliche Stadt gekommen und nun schlug ihr hier die gleiche Engstirnigkeit entgegen wie in Athen. Agnodike war enttäuscht, sie holte tief Luft und wollte gerade ihre Verärgerung herausposaunen. Eratosthenes warf ihr einen Blick zu, der ihr sagte, dass sie lieber still sein solle. Das fiel ihr sehr schwer, denn ihr Temperament verleitete sie oft zu unüberlegten Handlungen. Doch sie besann sich und schluckte ihre Enttäuschung hinunter.
Endlich hielt die Sänfte vor einem kleinen Palast, den Apollonios als Gästehaus vorstellte.
„Der König erwartet uns alle zum Abendessen, welches dir zu Ehren gegeben wird, lieber Eratosthenes, bis dahin könnt ihr ein Bad nehmen und euch ausruhen. Wenn ihr etwas benötigt, braucht ihr nur zu klingeln, das Personal ist instruiert. Obst und Speisen habe ich bereits auf eure Zimmer bringen lassen. Eine Sänfte wird euch rechtzeitig abholen.“
Eratosthenes ließ sich total erschöpft auf dem weichen, mit Seidenkissen bedeckten Bett nieder und genoss diesen Komfort nach der anstrengenden Schiffsreise in einer engen Kajüte.
Agnodike war nicht müde, sie war viel zu neugierig auf ihre neue Umgebung. Wann hatte man schon mal die Gelegenheit, in dem Palast eines echten Königs zu wohnen. Schnell machte sie sich etwas frisch mit dem Wasser, welches ihr eine Dienerin in einer Schale reichte. Ein Bad wollte sie jetzt nicht nehmen, das hätte viel zu lange gedauert. Selbst bedient zu werden war für sie neu, sie war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen, schließlich hatte sie lange genug den Haushalt ihres Vaters geführt. Was würden wohl ihre Eltern sagen, wenn sie sie hier sehen könnten. Ihre Mutter würde es nicht glauben, ihre kleine Agnodike in einem Königspalast. Sicher hätte sie ständig Angst, ob sich das Mädchen auch anständig benehmen würde. „Zieh dir saubere Sachen an, mach dich nicht schmutzig, sei nicht so neugierig, vergiss nicht freundlich zu grüßen, begegne den Alten mit Achtung“, klangen ihr die Worte der Mutter im Ohr und ließen sie für einen winzigen Moment traurig werden. „Ja, Mama, ich werde schon alles richtig machen, nur das mit der Neugierde, das kann ich dir nicht versprechen.“
„Hast du einen Wunsch, Herrin?“, richtete die Dienerin das Wort an sie.
„Nein, danke, ich habe nur geträumt, sag mal, darf ich mich ein wenig im Park umsehen?“
„Aber selbstverständlich, du bist doch Gast hier, allerdings befindet sich hinter dem Badehaus, durch Hecken abgeteilt, der persönliche Garten der königlichen Familie, den Fremde nicht betreten sollten.“ Die Dienerin verneigte sich und ging.
Als Agnodike das Haus verließ, bemerkte sie erst, wie angenehm kühl es dort gewesen war. Sie schlenderte die Wege entlang, die überschattet waren von Dattel- und Dum-Palmen, von Akazien und Tamarisken. An verschiedenen Stellen befanden sich Wasserläufe, die in kunstvoll angelegte Teiche mündeten, auf denen zu Agnodikes Entzücken ebenfalls Lotosblüten schwammen. Am anderen Ende des Parks entdeckte sie sogar einen See, in dem sie am liebsten schwimmen gegangen wäre.
Auf einer Bank saß unter einer mächtigen Sykomore eine ältere Frau, die, obwohl sie zart und zerbrechlich aussah, vornehm und gebieterisch wirkte. Agnodike nickte freundlich hinüber und wollte sich zurückziehen, aber die Dame winkte sie zu sich heran. Unsicher folgte die junge Frau dieser Aufforderung. Als sie nahe genug war, kam ihr das Gesicht seltsam bekannt vor. Ach ja, auf dem mächtigen Standbild im Hafen hatte sie das Bildnis dieser Frau gesehen, allerdings war sie da erheblich jünger gewesen.
„Wer bist du, Fremde, dass du dich in diesen Teil des Parkes vorwagst?“
„Bitte verzeih mir, mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich mich vom offiziellen Teil des Gartens entfernt habe. Es gibt hier so viele wundervolle Pflanzen, die ich nie zuvor gesehen habe, und da bin ich immer weiter gelaufen. Ich bin Agnodike, die Nichte von Eratosthenes.“
„Er ist also schon angekommen und man hat mich wieder einmal nicht unterrichtet. Sie halten es wohl nicht mehr für nötig, weil ich alt geworden bin.“
Agnodike konnte die Verbitterung, die aus diesen Worten klang, nicht überhören. „Wir sind gerade erst eingetroffen“, rechtfertigte sie diese Tatsache, obwohl sie gar nicht wusste warum.
„Ich glaube, ich weiß, wer du bist“, sagte Agnodike unbeschwert. „Am Hafen standen riesige steinerne Statuen mit den Bildnissen des verstorbenen Königs Ptolomaios II Philandelphos und seiner Gemahlin Arsinoe, der Mutter des neuen Königs Ptolemaios Euergetis.“
„Ja, ich bin Arsinoe II, aber Euergetis ist nicht mein Sohn. Trotzdem sind wir immer gut miteinander ausgekommen, selbst in den ersten Jahren meiner Ehe, als seine leibliche Mutter ins Exil geschickt wurde. Doch seit er aus dem Syrienfeldzug zurück ist, hat sich unser Verhältnis geändert, ich nehme an, dass sein Weib Berenike dahinter steckt.“
Die letzten Worte hatte sie fast zu sich selbst gesprochen. Agnodike verstand nicht, was die alte Königin damit meinte. Bisher hatte sie sich nicht mit der Geschichte der ptolemaiischen Herrscher beschäftigt. Schon bereute sie, Eratosthenes nicht noch mehr ausgefragt zu haben.
Arsinoes Stimme veränderte sich und nahm einen freundlichen Klang an: „Möchtest du dich nicht zu mir setzen, ich würde gerne einen Moment mit dir erzählen.“
Etwas zaghaft folgte Agnodike der Aufforderung.
„Ich schätze deinen Onkel sehr. Vor vielen Jahren hatte er es gewagt, meinen Gatten zu kritisieren. Als dieser den Prozess gegen seinen Astronomen Aristachos anstrebte, verließ Eratosthenes aus Protest Alexandria und kehrte nach Athen zurück.“
„Ja, er erzählte mir davon.“
„Von dort schrieb er an meinen Gatten, den König, Ptolemaios II: ‚Hier lassen die Regierenden den Gelehrten jede Freiheit. Sokrates Tod war ihnen eine Lehre, doch du hast Aristachos, als du ihn aus dem Museion vertriebst, den bittersten Schierlingsbecher gereicht.‘
Anfangs war mein Gemahl außer sich vor Wut, tobte tagelang und tyrannisierte die Bediensteten. Ich bat ihn, über diese Worte nachzudenken, statt den Wüterich zu spielen. Daraufhin verschwand er für mehrere Tage, vermutlich in die Abgeschiedenheit der Wüste, und als er zurückkehrte, war er wieder der Alte. Über den Vorfall wurde nicht mehr gesprochen, bis sein Sohn Ptolemaios III alt genug war, die Bedeutung dieser Worte zu verstehen. Ptolemaios II erzog seine Kinder so, wie auch er erzogen worden war, mit einer tiefen Liebe zu den Wissenschaften, und er fügte die Freiheit der Lehre hinzu, die künftig den Gelehrten am Museion gewährt werden solle. Damit war ich sehr zufrieden, ich war sogar stolz auf meinen Mann. Dieser Grundsatz gilt noch heute. Weißt du, ich war schon immer der Meinung, dass es nicht gut ist, wenn sich die Priester allzu sehr in sie Wissenschaften einmischen. Das einzige, was ich sehr bedauere ist, dass sich mein Gatte vor seinem Tod nicht mehr mit Eratosthenes ausgesöhnt hatte. Schon längst war ihm bewusst geworden, dass er damals einen Fehler begangen hatte, doch als Pharao war er ein Gott und konnte seinen Irrtum nicht eingestehen.“
Beeindruckt von dieser Offenheit erzählte ihr Agnodike nun ebenfalls ihre ganze Geschichte und verschwieg auch nicht, dass sie unbedingt Medizin studieren wollte.
Die alte Königin hatte aufmerksam zugehört. Bevor sie antwortete, vergingen ein paar Augenblicke, in denen Agnodike von einer bangen Unsicherheit befallen wurde, ob es richtig gewesen war, dieser fremden Königin ihr Herz auszuschütten.
Doch Arsinoe war angetan von dem Mädchen, welches so unverhofft in ihren Park und in ihr Leben eingedrungen war, und dessen unbeschwerte Art ihr gefiel. Sie hatte nichts von dieser verlogenen Freundlichkeit ihrer Höflinge an sich.
„Mein liebes Kind“, begann sie schließlich und Agnodike musste insgeheim lächeln, weil auch Eratosthenes sie immer so nannte, „du bist von einer unschlagbaren Ehrlichkeit und von einem Ehrgeiz besessen, der dir großen Schaden zufügen kann, wenn die falschen Leute etwas davon erfahren. Versprich mir, dass du in Zukunft deine Pläne für dich behältst, denn ich will nicht, dass dir oder Eratosthenes etwas zustößt. Es ist schwer, an diesem Hof überhaupt jemandem zu vertrauen, mir selbst ist nur noch mein alter Freund und Berater Pariteas geblieben. Selbst meine Kinder behandeln mich oft wie ein seniles Weib, aber mein Kopf funktioniert noch recht gut, und etwas Lebenserfahrung kann manchmal ganz nützlich sein.“
Arsinoe besaß die Gabe, die Dinge von der humorvollen Seite zu betrachten und doch waren ihre Worte erneut mit einer großen Portion Zynismus gewürzt.
Entsetzt starrte Agnodike die Königin an, an so etwas hatte sie bisher überhaupt nicht gedacht, sie war sich auch nicht sicher, ob sie dieser Frau trauen konnte, jedenfalls würde sie künftig vorsichtiger sein.
Als hätte Arsinoe Agnodikes Gedanken erraten, versuchte sie, sie zu beruhigen: „Du hast nichts zu befürchten, dieses Gespräch wird unser Geheimnis bleiben, und ich will sehen, ob ich etwas für dich tun kann. Du erinnerst mich daran, wie ich in meiner Jugend war, auch ich hatte einmal ehrgeizige Pläne. Allerdings musste ich dafür bezahlen. Davon erzähle ich dir ein anderes Mal, ich bin jetzt müde. Doch du musst mich unbedingt besuchen kommen, ich werde entsprechende Anweisungen erteilen, dich vorzulassen.“
Ein Sklave führte Eratosthenes und Agnodike in einen großen Saal, dessen Fußboden mit feinen Mosaiken verziert war, und dessen hohes Gewölbe von Säulen aus grünem Marmor getragen wurde. Menschen in festlicher Kleidung standen in kleinen Gruppen beieinander und unterhielten sich. Mehrere Damen waren in farbenfrohe Seide gehüllt. Etwas beschämt betrachtete Agnodike ihre eigene Garderobe. Sie trug ihr bestes Kleid, ein kurzes Oberteil aus Leinen, welches an den Rändern von zwei übereinander liegenden orange bis rot schimmernden Streifen verziert war, welches einen schönen Kontrast zu dem schlichten langen weißen Rock bildete und dazu trug sie die Perlenkette ihrer Mutter. Früher liebte sie dieses Kleid, hier wirkte sie damit eher wie eine Bedienstete, als ein Gast. Sie wusste zwar, dass Eratosthenes beim König ein- und ausgehen würde, denn wenn er gemeinsam mit Apollonios die Bibliothek leiten sollte, würde er auch großes Ansehen genießen. Über ihre eigene Rolle hatte sie sich bisher keine großen Gedanken gemacht, denn das einzige, was sie hier wollte, war Medizin studieren.
Ein Gongschlag riss sie aus ihren Überlegungen, es folgte ein zweiter und dann begannen alle Umherstehenden sich tief zu verbeugen. Der König betrat gemeinsam mit seiner Frau Berenike II den Saal. Agnodike hatte nur Augen für die Königin. Sie war etwa fünfzehn Jahre älter als sie selbst und noch immer eine schöne Frau. Jetzt verstand sie, warum Kallimachos sein Gedicht „Die Locke der Berenike“ geschrieben hatte. Die Melonenfrisur wurde von einem Diadem überspannt, dabei war das Haar in locker gedrehten Wülsten nach hinten genommen, wobei es am Hinterkopf kunstvoll zu einem Kranz geformt war, der sich unter dem türkisfarbenen Seidenschleier abzeichnete. In regelmäßigen Abständen fielen feine blonde Locken aus dem Haarkranz in die Stirn. Dazu trug Berenike hängende, kunstvoll zu einem Falken geschmiedete Ohrringe und eine breite Halskette aus blauem Lapislazuli nach altägyptischem Vorbild. Das Kleid war nach griechischer Mode unter der Brust zusammengerafft und fiel in langen Falten zu Boden. Agnodike hatte die Königin so lange angestarrt, dass sie ganz vergaß, sich zu verneigen. Deshalb trafen sich ihre Blicke mit denen von Berenike, dabei fielen ihr die großen hervorstechenden Augen auf, die selbstbewusst und skrupellos wirkten. Beschämt senkte Agnodike den Blick und verneigte sich tief. Ptolemaios und seine Frau standen nun direkt vor ihnen. Während Apollonios dem Königspaar Eratosthenes und seine Nichte vorstellte, hielt Agnodike den Blick ehrfurchtsvoll gesenkt, bis ihr Name genannt wurde. Erst jetzt traute sie sich, Berenike erneut anzusehen.
Der König war ein kräftiger, eindrucksvoller Mann in Kleidern, die immer ein wenig eng saßen, weil er schneller zunahm, als seine Schneider neue anfertigen konnten. Außerdem weigerte er sich beharrlich, größere zu tragen, weil er so daran erinnert wurde, maßvoller zu essen.
Jetzt warf er einen Seitenblick auf seine Frau und wünschte, sie würde den großen Gelehrten freundlich begrüßen. Kurz vor dem festlichen Empfang musste sie unbedingt noch ein paar Sticheleien loswerden. Vermutlich befürchtete sie, dass Eratosthenes, den der König noch aus seiner Kindheit kannte, zu großen Einfluss auf ihn gewinnen könnte. Gerne hätte er Berenike erklärt, warum er ausgerechnet ihn zum neuen Bibliothekar berufen wollte, nämlich, weil er dessen unbestechliche Ehrlichkeit und seine liberalen Ansichten achtete. Aber er spürte ihren Widerstand und fürchtete ihre scharfe Zunge. Er wollte kein neuerliches Wortgefecht. An zu vielen Fronten musste er kämpfen. Da sehnte er sich zu Hause nach Frieden, den sie ihm allzu oft raubte. Also schwieg er, ertrug ihre Vorwürfe, dann war es schneller vorüber. Er hasste diese ewigen Zankereien. Sie erschöpften ihn und machten ihn müde, während ihr das gar nichts auszumachen schien.
Der König atmete erleichtert auf, als seine Gemahlin Eratosthenes freundschaftlich begrüßte. Die Königin schenkte nun ihre Aufmerksamkeit der Unbekannten an seiner Seite: „Du hast schönes Haar, mit diesen roten Locken wirst du in Alexandria Aufsehen erregen, denn hier haben die meisten Menschen, anders als in Griechenland, pechschwarzes Haar. Allerdings solltest du dich in Acht nehmen, viele Ägypter glauben, dass Rothaarige schlecht sind und bösen Zauber über die Menschen bringen. In ihren Lebenslehren heißt es, dass die Frauen als Herrinnen des Hauses, wegen ihres Charakters Herrinnen des Lichtes werden sollen, denn das Gute im Haus geschieht durch die Frau. Das solltest du bedenken, solange du in Ägypten weilst, denn wer die Lebenslehren kennt, sie aber nicht beachtet, der ist wie ein Mensch, der ein Licht anzündet, aber die Augen schließt.“
Berenike hatte ihren Vorrat an Gift noch nicht versprüht. Sie hielt sich jedoch im letzten Moment zurück, als sie den vorwurfsvollen Blick ihres Gatten bemerkte.
Agnodike wusste nichts zu erwidern, sie errötete, denn mit dieser Bemerkung war sie augenblicklich zum Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft geworden und alle starrten sie an. Warum hatte die Königin sie in aller Öffentlichkeit so feindselig behandelt? Diese Frau kannte sie doch gar nicht. Am liebsten hätte Agnodike den Saal verlassen und sich irgendwo verkrochen.
Doch Eratosthenes fasste ihre Hand und verkündete für alle hörbar: „Meine Nichte Agnodike ist eine gut erzogene junge Dame, für die ich mich verbürge.“ Damit gab er ihr ein Stück Selbstsicherheit zurück und zeigte deutlich, dass er es nicht zulassen würde, wenn jemand versuchte, seine Nichte zu beleidigen, auch nicht die Königin.
Euergetes kannte seine Frau, er wusste, dass sie es nicht leiden konnte, wenn ihr jemand Konkurrenz machte. Bisher war sie mit ihrem blonden Haar etwas Besonderes gewesen und nun tauchte hier eine rothaarige Schönheit auf. Er konnte sich vorstellen, dass das der Grund für ihre aggressive Bemerkung war und fand es außerordentlich unhöflich von ihr, seine Gäste auf diese Weise zu begrüßen. Aber so war sie nun einmal, wenn sie etwas ärgerte, dann staute sich übermäßige Energie in ihrem Körper auf, die sich dann wie ein Gewitter über die Betroffenen entlud. Dabei waren ihr die Empfindungen der anderen gleichgültig.
Um die Situation zu entschärfen, lud Ptolemaios alle Gäste ein, zum Essen Platz zu nehmen und sich zu amüsieren. Agnodike war noch immer etwas verunsichert und wich Eratosthenes nicht von der Seite. Dann wurde die alte Königin Arsinoe von Sklaven auf einem prunkvoll geschnitzten Tragestuhl hereingetragen. Alle Anwesenden verneigten sich tief und erwiesen ihr die ihr zustehende Ehre. Arsinoe blickte erhaben über die Köpfe der Gäste hinweg, nur Agnodike schenkte sie ein angedeutetes Lächeln, welches außer ihr niemand wahrnahm. Die alte Königin ließ sich zu Eratosthenes Platz bringen, damit sie sich während der Mahlzeit mit ihm unterhalten konnte.
Nun wollte Arsinoe diesem Gelehrten all die Achtung zukommen lassen, die ihm gebührt. Die beiden hatten so viel zu erzählen, dass sie gar nicht bemerkten, als die syrischen Musikanten zum Tanz aufspielten. Die Speisen wurden aufgetragen und ein Duft von gebratenen Enten und Lamm zog durch den Saal. Erst jetzt fiel Agnodike auf, welch großen Appetit sie hatte. Die übrigen Gäste waren inzwischen mit ihrem Essen beschäftigt und kein Mensch schien mehr Notiz von ihr zu nehmen.
Doch während acht in bunte Seide gehüllte Tänzerinnen in den Saal schwebten, näherte sich Agnodike ein gut aussehender junger Mann, der nach ägyptischer Mode gekleidet war und nahm bei ihr Platz. Agnodike war überrascht, sie war es nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit neben einem Mann zu sitzen, eigentlich hatte sie bisher kaum Kontakte zu Männern gehabt außer zu ihrem Jugendfreund Meletos, aber das war etwas anderes, er war wie ihr Bruder.
„Ich bin Memptah, der Sohn des Kanzlers, des Verfassers der königlichen Edikte und wer du bist, habe ich ja bereits erfahren.“ Sein Gesicht war schmal und kantig mit einer schmalen Nase und mit verschmitzt dreinschauenden braunen Augen. Ohne eine Antwort zu erwarten, fuhr er fort: „Gewöhnlich langweile ich mich auf solchen Festen, aber du hast gleich an deinem ersten Tag für Unterhaltung gesorgt.“
Arsinoe unterbrach ihr Gespräch mit Eratosthenes und hielt es für nötig, Agnodike einen Rat zu erteilen.
„Nimm dich vor diesem jungen Mann in Acht, er ist ein verwöhnter Bursche, der sein Lebtag bekommen hat, wonach er trachtete. Er ist zwar ein helles Köpfchen, doch weiß man nicht so genau, in welche Richtung seine Gedanken streben.“
Memptah ärgerte sich über ihre Worte, er hasste diese Frau seit langem und wünschte, sie möge endlich sterben. Kleine Lachfältchen an den Augen ließen ihn freundlich erscheinen und doch waren da noch zwei steile Falten auf der Stirn, die sich schon tief in sein junges Gesicht eingegraben hatten. Er sprach entwaffnend ruhig weiter und ließ sich scheinbar nicht von Arsinoes Worten provozieren. Dennoch war aus seiner Stimme nicht zu überhören, dass er Arsinoe nicht mochte.
„Glaube ihr kein Wort, Agnodike, ich bin bei weitem nicht so schlecht, wie sie behauptet. Immerhin muss ich mich bei meinen Studien ganz schön anstrengen. Am Museion bekommt man nichts geschenkt.“
Arsinoe wandte sich nun wieder Eratosthenes zu, während Agnodikes Ärger über seine Dreistigkeit allmählich verrauchte. Zwar war sie der Meinung, dass er sich nicht einfach zu ihr setzen dürfte, ohne sie um Erlaubnis zu fragen, doch nun war ihr Interesse geweckt und sie ließ sich auf ein Gespräch mit Memptah ein.
„Was studierst du?“
„Astronomie und Geografie, und ich bin schon ganz gespannt auf den Unterricht bei unserem verehrten Eratosthenes.“ Dabei lächelte er sie mit seinem ganzen Charme an, was Agnodike dazu veranlasste, ihn etwas freundlicher anzusehen.
„Wie kommt es eigentlich, dass dein Vater als Ägypter ein so hohes Amt bekleidet“, erkundigte sie sich völlig unbedarft.
Memptahs Züge verfinsterten sich, unbewusst hatte Agnodike seine wunde Stelle berührt: „Ihr Griechen seid nur eine geringe Zahl Menschen im Vergleich zu meinem Volk, meinst du nicht, dass es da sinnvoll ist, wenn sich der König wenigstens von einem Ägypter beraten lässt. Ihr bekleidet doch sonst schon alle maßgeblichen Ämter im Staat.“ Seine Stimme klang unfreundlicher, als er es wollte, aber bei diesem Thema konnte er sich nur schwer beherrschen.