Die Germanen von Piowar - Dagmar Bulmann - E-Book
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Die Germanen von Piowar E-Book

Dagmar Bulmann

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Beschreibung

Im Jahr 18 unserer Zeitrechnung muss Aldemar in einem kleinen germanischen Dorf die Kriegerweihe abbrechen, weil er fast erstickt wäre. Er ahnt lange nicht, welche Rolle sein Bruder Ekwin dabei gespielt hat. Seit diesem Tag wird er nicht nur von seinem Vater, sondern vom ganzen Dorf verachtet. Weil seine Ehre beschmutzt ist, will er nicht mehr in Piowar leben. Aldemar flieht gemeinsam mit seinen Freunden, die sich ebenfalls nicht von ihren Vätern verstanden fühlen und das Abenteuer suchen. Ihr Ziel ist Rom, weil ein Händler ihnen von dieser Stadt vorgeschwärmt hat. Im von den Römern besetzten Germanien trennen sich die Wege der Freunde. Aldemar erreicht als Einziger Rom und lebt dort über zehn Jahre. In dieser Stadt erlebt er Verrat und Intrigen, aber auch die Freundschaft mit dem jungen Seneca. Doch dann verliebt er sich in eine außergewöhnliche Frau, bis er auch von dort wieder fliehen muss. Zur selben Zeit passieren in dem kleinen Dorf Piowar merkwürdige Dinge. Der Roman folgt weitestgehend den historischen Tatsachen und zeichnet ein interessantes Bild über das Leben der einfachen Menschen im freien Germanien.

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Seitenzahl: 503

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

Die Freunde - Im Jahr 18 n. d. Z.

Die Flucht

Nerthus

Rom, im Frühsommer 20 n. d. Z.

Erntezeit

Wintersonnenwende – 20. n. d. Z.

Tag- und Nachtgleiche – 21 n. d. Z.

Rom im Jahre 30 n d. Z.

Die Nornen – 32 n. d. Z.

Abschied – Herbst 33.n.d.Z.

Tanka 33 n.d.Z.

Heimkehr – Frühjahr 34 n. d. Z.

Nachwort

Sachwortregister

Dagmar Bulmann

Impressum

Dagmar Bulmann

Die Germanen von Piowar

ISBN 978-3-95655-987-7 (Buch)

ISBN 978-3-95655-988-4 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Gcomic

Foto der Autorin: Reimond Weding

© 2019 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Gudewar Alte Dorfstraße 2 b 19065 Piowar Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: https://www.edition-digital.de

Prolog

Dort, wo es unendliche Wälder und undurchdringliche Moore gibt und der Himmel so weit ist, wie Walhall, dort, wo viele kleine und große Seen eingebettet zwischen sanften Hügeln ruhen, befindet sich das kleine Dorf Piowar, mitten in der Germania magna, dem freien Germanien.

In grauer Vorzeit, als in Rom Kaiser Tiberius regierte

war Piowar, ein Ort, wo die Bäume im Wasser standen,

die Menschen die Götter fürchteten und glaubten, dass

an den Wurzeln der bemoosten Eichen, tief im Innern des kahlen Berges

die Zwerge das Eisen schmieden,

ein Lindwurm sein Unwesen treibt,

die Wassermuhme die Bietnitz bewacht

und die weiße Frau vom See in ihrem Zauber gefangen ist.

Hier lebte zu jener Zeit das Volk der Langobarden, ein Stamm, so rau und unbezwungen wie die Natur.

Die Freunde - Im Jahr 18 n. d. Z.

Schrill hallte der Klang der Trommeln aus dem stillen Wald wider. Die Nachmittagssonne blinzelte verschlafen durch die Lücken im Blätterdach der Bäume, denn die nächsten dicken Regenwolken zogen bereits heran. In einem mit Speeren abgesteckten Halbkreis tanzten die Jungmänner. Die an Armen und Beinen befestigten Klappern und Rasseln erklangen im Rhythmus der Bewegungen. Mit dem zunehmenden Tempo der Trommeln beschleunigte sich auch der Tanz der Jungmänner. Immer schneller stampften und drehten sie sich im Kreis und immer unheimlicher klangen die Töne, die sie erzeugten. Nach einer ganzen Weile war der Tanz so laut und so schnell, dass er sich nicht weiter steigern ließ. Über die nackten Oberkörper perlte der Schweiß und glänzte in der Sonne.

Mit einer Handbewegung gebot der Oberpriester den Spielern aufzuhören. Schlagartig verstummten die Trommeln und die Jungmänner verharrten in der Position, in der sie sich gerade befanden. Mit einem Mal war es gespenstisch still auf der Waldlichtung. Die erwachsenen Krieger knieten hinter den Speeren nieder und baten um das Wohlwollen ihres obersten Gottes.

„Wodan, Gott der Krieger und der Ekstase, die hier versammelten Jungmänner sind bereit für die Kriegerweihe“, begann der Priester seine Beschwörung. „Sie werden jetzt an Donars Baum hängen, so wie du einst neun Nächte am Weltenbaum gehangen hast, vom Speer verwundet, dir selbst geweiht ohne Speise und Trank, um die unendliche Weisheit zu erlangen. Oh, Wodan, gib ihnen die Kraft, den Schmerzen zu widerstehen und sich deiner würdig zu erweisen.“

Jeder Jüngling wurde von einem Mentor zu einem Baum geführt, von dem bereits ein Seil herabhing. Einige waren vom Tanz noch so weit entrückt, dass sie keine Gefühlsregung zeigten. Trotzdem gab jetzt jeder Mentor seinem Schützling einen Trank, von dem niemand verriet, was er wirklich enthielt. Doch wurden die Jungmänner dadurch ruhiger und schmerzunempfindlicher. Beim Anblick des Seiles und der im Feuer liegenden Spitzen der Framen, die bereits zu glühen begannen, durchlief Aldemar ein Schauer. Er begann zu zittern und je mehr Mühe er sich auch gab, es zu verbergen, umso heftiger wurde es. Er versuchte einen Blick auf seine Freunde Roland und Isbert zu erhaschen, doch die schienen nicht wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Er versuchte sich zu beruhigen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Dann kam sein älterer Bruder Ekwin, der sein Fürsprecher und Mentor war und legte ihm die Schlinge um den Hals. Verwundert blickte Aldemar seinen Bruder an. Warum gab der ihm nicht auch endlich den Trank, den seine Mutter extra für dieses Ereignis gebraut hatte? Da es den Jungmännern verboten war zu reden, stupste Aldemar seinen Bruder mit dem Fuß an. Doch der wich seinem Blick aus, was Aldemars aufkeimende Panik noch vergrößerte. Schließlich gab es jedes Jahr junge Männer, die das Ritual nicht überlebten! Gerade wollte Aldemar seinen Bruder noch einmal anstoßen, als der Priester das Zeichen gab, mit dem Hängen zu beginnen.

„Ich bin noch nicht so weit“, wollte er schreien, aber das wäre das Ende für ihn gewesen. Es kam natürlich nicht in Frage, diese heilige Handlung zu stören. Er musste sich endlich zusammenreißen, dann würde er es schon überstehen.

Die Schlinge um seinen Hals wurde enger und enger. Manch einer wurde bewusstlos, während er in die Höhe gezogen wurde. Aldemar merkte noch, dass seine Beine nicht mehr die Erde berührten. In dieser Position mussten die Jungmänner die Speermarkung über sich ergehen lassen. Dabei wurde ihnen mit einer im Feuer erhitzten Frame ein Schnitt von der Größe einer Hand in die Brust geritzt, bis das Blut zu Boden tropfte. Isbert und Roland stöhnten leise. Aldemar konnte nicht mehr atmen und nicht mehr schlucken. Die Beklemmung ergriff den ganzen Körper. Im Kopf begann es erst zu summen und dann zu hämmern. Er konnte nicht mehr klar denken, wollte nur noch Luft holen, aber das ging nicht mehr. Gierig riss er den Mund auf, aber keine Luft strömte in die Lungen. Als der Druck unerträglich wurde, glaubte er, seinen Körper zu verlassen, wobei er sich selbst am Baum baumeln sah. Die Anspannung wich einer fernen Leichtigkeit, bis der brennende Schmerz und der Gestank von verbranntem Fleisch, den der glühende Speer in seinem Körper hinterließ, ihn wieder zurückholte. Aldemar wurde von Panik ergriffen, denn jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass er keine Luft bekam. Ich sterbe, dachte er, die lassen mich einfach sterben. Die Angst ließ ihn alle Vorsätze vergessen, er wollte nicht sterben. Wild zappelnd befreite er seine gefesselten Hände, um die Schlinge um seinen Hals zu lockern. In diesem Moment ließ sein Bruder Ekwin das Seil los, bis er zu Boden stürzte. Er hatte die Probe nicht bestanden.

Die beiden Freunde saßen schweigend am Ufer des Piowaer Sees. Aldemar und Roland hatten sich von zu Hause fortgeschlichen, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. Nun warteten sie auf Isbert, der immer etwas ängstlich war und sich vermutlich nicht traute, so einfach von zu Hause zu verschwinden. Dabei war die Erntezeit vorbei und auf den Höfen war die schwerste Arbeit verrichtet. Die Tage wurden schon merklich kürzer und empfindlich kühl.

Die Glitzerstunde war hereingebrochen und tausend Sterne schienen auf dem Wasser zu tanzen. Die Jungen saßen auf einer umgestürzten Weide und ließen die Beine herunterbaumeln, ohne dass sie nass wurden. Sie beobachteten die Fische, die unbeschwert durch das glasklare Wasser glitten. Der Wind kräuselte die Wellen, die in goldenen Schlangenlinien den Seegrund streichelten. Ein Entenpaar schwamm vorbei, änderte den Kurs und steuerte auf sie zu, um dann doch im Schilf zu verschwinden. Sie hielten inne und lauschten, ob in der Stille der herannahende Freund zu hören war.

Unberührt dehnte sich die vom Wald eingerahmte Lichtung vor ihnen aus. Der Tau perlte noch immer in den Spinnweben über dem Gras und an den Büschen, deren Blätter sich langsam zu verfärben begannen. Von weit aus den Tiefen des heiligen Haines hörte man Hundegekläff und den Brunftschrei eines Hirsches.

Am Himmel bildete sich eine Wolkenformation, die aussah wie eine Bärentatze.

„Sieh mal“, ängstlich zeigte Roland mit dem Finger in Richtung Himmel. „Das ist ein schlechtes Omen, wir sollten uns das alles noch einmal überlegen.“

„Quatsch, das sind nur Wolken, sonst nichts!“, entgegnete Aldemar. „Wenn wir uns davon schon abschrecken lassen wollen, brauchen wir gar nicht erst aufbrechen. Auf uns warten noch ganz andere Abenteuer.“

„Ich weiß nicht recht, vielleicht senden uns die Götter ein Zeichen, eine Warnung“, antwortete Roland und seine Stimme klang besorgt.

Im Dickicht, hinter der Lichtung, raschelte es und man hörte das Knacken von kleinen Ästen, die unter den Fußtritten einer sich eilig fortbewegenden Person zerbrachen.

„Na endlich, das wird Isbert sein, der alte Hasenfuß.“ Aldemar war froh, von dem Thema abgelenkt zu werden.

Doch zum Vorschein kam Gotmar, ein hochgewachsener, etwas schlaksig wirkender Jüngling, der genauso scharfsinnig war, wie er anmaßend auftrat, weil er sich etwas darauf einbildete, dass sein Vater der reichste Bauer im Dorf war. Schon sein Name, der „bei den Göttern Berühmte“ bedeutete, sollte auf die Stellung der Familie im Dorf hinweisen. Während die beiden anderen jungen Männer um diese Jahreszeit noch barfuß liefen, um die Stiefel für den Winter zu schonen, bedeckten Gotmars Füße nicht nur lederne Schuhe, die mit Riemen über der enganliegenden Hose um die Waden gebunden waren, sondern er trug über seinem Kittel auch noch eine Weste und einen Gürtel aus Schweinsleder, an dem ein mächtiger Dolch hing. Um zu zeigen, wie erfolgreich er bereits bei der Jagd gewesen war, trug er protzig den Zahn eines Ebers an einem Band um den Hals. Gotmar war zwei Winter älter als die Jungmänner und fühlte sich ihnen gegenüber überlegen.

Aldemar und Roland sahen sich entgeistert an und sagten wie aus einem Mund: „Du?“ Aldemar fuhr fort: „Was machst du denn hier und woher wusstest du, dass wir uns hier treffen?“

„Man muss schon der Dorftrottel sein, um nicht zu bemerken, dass ihr drei was vorhabt“, antwortete Gotmar.

„Schon seit dem letzten Vollmond, als ihr durch das heilige Ritual zu den Kriegern Wodans geworden seid und endlich in den Männerbund aufgenommen wurdet, war mir klar, dass ihr nicht, wie eure Väter, brave Bauern werden wollt. Da unsere Sippe schon seit unzähligen Monden keinen Krieg mehr geführt hat, ist nicht davon auszugehen, dass es in nächster Zeit für uns eine Möglichkeit geben wird, uns im Kampf zu erproben. Deshalb wollt ihr fortgehen, stimmt´s?“

„Ja!“

„Nein!“

„Na, was denn nun?“, erkundigte sich Gotmar mit einem Ton, der die beiden Freunde aufhorchen ließ.

Sie wussten, dass Gotmar ein Hitzkopf war, und deshalb hatten sie ihn auch nicht in ihre Pläne eingeweiht. Jemand brauchte nur ein falsches Wort zu sagen und schon schlug er zu. Seine Nase war von den vielen Raufereien schief zusammengewachsen und gab seinem Gesicht ein markantes Aussehen, was durch seine wilden, struppigen Haare noch verstärkt wurde.

Bevor Aldemar und Roland antworten konnten, war ganz leise, und von allen unbemerkt, Isbert aufgetaucht.

„T-tu-tu-ut m-mi-ir l-lei-eid“, stotterte Isbert. Er war nur mit knielangen Hosen und einem Hemd aus grobgewebtem Stoff bekleidet, unter dem sich ein leichter Rundrücken abzeichnete. Da stand er mit herabhängenden Schultern und mit zu einem Schwanz gebundenem Haar, aber mit einer aufrichtigen Seele. Wegen seines Sprachfehlers traute er sich kaum, an den hitzigen Diskussionen seiner Freunde teilzunehmen. Weil es ewig dauerte, bis er in der Lage war, einen Satz zu vollenden, antworteten die anderen schon, bevor sich die Worte von seiner holprigen Zunge in den Raum bewegten. Aldemar war der einzige, der geduldig wartete, bis seine Worte bei ihm angekommen waren.

Isbert schien etwas zu beunruhigen und das war nicht die unerwartete Gegenwart von Gotmar. Aufgeregt zeigte auch er zum Himmel, an dem die Bärentatze noch deutlich zu erkennen war, obwohl sie sich allmählich zu verzerren begann.

„W-Wo-da-an d-dr-o-oht u-un-ns, g-gl-lau-bt m-mi-ir!“

„Für unser Unternehmen brauchen wir Männer und keine Memmen. Geh zu deiner Mama und versteck dich hinter ihren Röcken“, ergriff Gotmar das Wort und verzog dabei den Mund zu einem spöttischen Grinsen.

„Was heißt hier unser Unternehmen“, fauchte Aldemar ihn an und begann vom Baumstamm zu klettern. Roland folgte ihm und wechselte einen besorgten Blick mit Isbert, dann sagte er:

„Isbert hat Recht, ich halte es auch für eine Vorwarnung. Wir dürfen nicht gegen die Sitten unseres Stammes verstoßen und gegen den Willen unserer Väter handeln. Wir müssen die Alten achten, weil sie heute sind, was wir morgen sein werden. Deshalb dürfen wir uns nicht heimlich davonschleichen. Die Götter haben uns eindeutige Zeichen gesandt.“

„Welcher Dämon hat denn deinen Verstand verwirrt“, konterte Gotmar in einem aggressiven Ton. Er hatte in seinem kurzen Leben bereits die Erfahrung gemacht, dass man mit Stärke alles erreichen kann. Die Mutproben, die die Jungmänner vor Kurzem bestehen mussten, um in den Kreis der Krieger aufgenommen zu werden, hatte er als Bester bestanden.

Genau dieses Ritual war Aldemar zum Verhängnis geworden. Aldemar zählte fünfzehn Winter und war der Sohn des Sippenältesten Notker, ein gut gewachsener junger Mann, mit blondem Haar. Die ersten Bartstoppeln wucherten bei ihm, im Gegensatz zu Roland, wie Unkraut, was ihm auch den Spitznamen Krautgesicht einbrachte. Doch darauf war Aldemar eher stolz, als dass es ihn ärgerte.

Durch Gotmars Auftreten wurde Aldemar das Zerwürfnis mit seinem Vater wieder vor Augen gehalten. Früher hatte er sich mit seinem Vater stets gut verstanden. Stundenlang tauschten sie sich über Geschehnisse im Dorf aus und darüber, wie Recht zu sprechen war, während sein älterer Bruder Ekwin scheinbar kein Interesse an diesen Dingen hatte. Aldemar glaubte, dass sein Vater ihn für den geeigneteren Nachfolger hielt und er irgendwann einmal der neue Sippenälteste werden würde. Doch dann geschah die Katastrophe. Als die acht Jünglinge des Dorfes, die die Geschlechtsreife erreicht hatten, ihre Waffenfähigkeit beweisen mussten, war er gescheitert. Er war der Versager, der, der es nicht schaffte durchzuhalten, was vor ihm Generationen von Jungmännern durchlebt hatten, und das konnte ihm sein Vater nicht verzeihen. Und er verstand bis heute nicht, warum ausgerechnet er gescheitert war, während selbst der ängstliche Isbert die Probe bestanden hatte.

Doch dann folgte etwas, was für Aldemar noch schlimmer war als die Jungmännerprobe. Sein Vater verachtete ihn, konnte die Enttäuschung nicht verkraften und so entschied er, dass Ekwin nach seinem Tod neuer Sippenältester werden sollte. Aldemar versuchte mit seinem Vater zu reden, doch es half nichts, der blieb hart.

„Du hast große Schmach über unsere Familie gebracht und unsere Ehre beschmutzt. Jeder andere hätte die Probe abbrechen können, aber nicht du. Wie konntest du mir so etwas antun?“, warf Notker seinem Sohn an den Kopf.

„Aber Vater, ich wäre erstickt, so wie Albin vor ein paar Jahren, ich hatte keine Wahl!“, rief Aldemar verzweifelt.

„Das wäre wenigstens ein ehrenvoller Tod gewesen. Sogar deine beiden Freunde Roland und Isbert, diese Schlappschwänze, diese winselnden Ratten, haben es durchgehalten. Du warst der einzige Versager von acht Jungmännern.“

„Meine Freunde hatten zu große Angst vor den Folgen, sie wären lieber in den Tod gegangen.“

„Das hättest du auch tun sollen, statt dich vor dem ganzen Dorf zu bepissen. Alle haben deine nasse Hose gesehen. Wie konntest du es wagen, nicht nach Wodans Gesetz zu handeln? So kannst du nicht mein Nachfolger werden, du kannst nicht einmal mehr mein Sohn sein.“

„Aber Vater, du bist doch immer stolz auf mich gewesen, ich habe doch nur dieses eine Mal versagt. Beim nächsten Mal halte ich es durch, ich verspreche es.“

Doch Notker beachtete ihn nicht mehr, nicht an diesem und nicht an den folgenden Tagen. Aldemar konnte den Gesichtsausdruck seines Vaters nicht mehr ertragen, diesen Blick, der durch ihn hindurch ging und nichts als Verachtung beherbergte. Egal, was Aldemar seinen Vater fragte oder zu ihm sagte, er erhielt keine Antwort von ihm. Aldemar existierte für ihn nicht mehr.

Nun gab es für Aldemar kein erstrebenswertes Ziel mehr, in seinem Dorf zu bleiben. Die Verachtung der Männer aus dem Dorf lastete auf ihm wie ein Haus auf seinen Pfählen. Seine Zukunft war gestorben und er bereute schon, nicht mit ihr gestorben zu sein. Ein ehrloses Leben war schlimmer als Schimmel auf dem letzten Stück Brot, deshalb musste er fortgehen.

Obwohl Roland die Probe bestanden hatte, war sein Vater ständig unzufrieden mit ihm. Roland war ein kluger, einfallsreicher Mensch mit vielen guten Ideen. Stundenlang tüftelte er, bis er für einige Tätigkeiten oder Gebäude eine Verbesserung gefunden hatte. Aber die Männer des Dorfes und allen voran sein Vater besaßen die Entschlusskraft eines Esels und waren ähnlich störrisch. Mit ihren langen Bärten und ihrem strubbligen Haar wirkten sie ohnehin respekteinflößend. Oft machte sich Roland Gedanken darüber, wie er seinem Vater Uland das Leben auf dem Bauernhof erleichtern könnte. Eines Tages konstruierte er für einen Pflug ein Geschirr, so dass er von Ochsen gezogen werden konnte, damit sein Vater nicht mehr selbst den schweren Pflug per Hand durch die Erde schieben musste. Doch für seinen Vater war das alles Schnick-Schnack, der ihn nur von der Arbeit abhielt. Statt sich die kleine Konstruktion anzusehen, die Roland gebaut hatte, beschimpfte er ihn, nahm die Lederriemen, die für das Ochsengespann gedacht waren, und schlug auf seinen Sohn ein: „Dir werde ich deine Flausen schon austreiben. Von wegen stundenlang im Stall hocken und irgendwelchen Hirngespinsten nachjagen, während dein Vater sich auf dem Feld abrackert.“

Dabei war er derart in Rage geraten, dass er wie besessen auf seinen Sohn einschlug, bis dieser reglos am Boden lag und fast das Bewusstsein verloren hatte. Von dem Tag an stand für Roland fest, dass er mit Aldemar fortgehen würde. Sein Vater verstand ihn nicht, engstirnig hing er an allen alten Gebräuchen fest.

Vom Händler Rufus, der jedes Frühjahr das Dorf aufsuchte, hatte er erfahren, dass man in Rom mit Bernstein ein Vermögen machen konnte. Er erzählte ihm, dass eine geschnitzte Bernsteinfigur in Rom mehr kostete als ein Sklave. Die beiden Jünglinge beschlossen daher, mit einem Boot die Warnow hinabzurudern und am Aestenmeer das Gold des Nordens zu sammeln, um so als wohlhabende Leute nach Rom zu ziehen. Diese Stadt war eine Verheißung, sie sollte so groß sein, dass man sie an einem Tag nicht zu Fuß durchqueren konnte, mit Steinhäusern, in denen es beheizte Bäder und Fußböden gab und wo die Frauen, in durchsichtige Kleider gehüllt, mehr von sich preisgaben, als sie verbargen. Von diesen Geschichten waren die beiden neugierig geworden. Diese Stadt wollten sie sehen, sie verhieß ihnen ein völlig neues Leben und wenn Rufus es bis dorthin schaffte, würde es ihnen auch gelingen. Sie hofften, an der Küste auf ein Schiff zu stoßen, das sie mit nach Rom nehmen würde, ein Schiff so groß wie ihre Häuser. Während Roland davon träumte, in Rom als wohlhabender Händler oder Straßenbauer in einem Steinhaus zu wohnen, wollte Aldemar lesen und schreiben lernen und ein Gelehrter, vielleicht auch ein Staatsmann werden, so ganz genau wusste er das nicht. Zu vage waren ihre Vorstellungen und bei jedem Treffen malten sie sich ihre Zukunft in neuen Farben.

Bei Isbert lag die Sache etwas anders, er wollte sein Dorf eigentlich nicht verlassen. Sein größter Wunsch war es, Schmied zu werden. Doch da seine Familie so arm war und so wenig Land besaß, dass sie sich kaum davon ernähren konnten, musste er oft auf den Feldern von Gotmars Vater Folkwart arbeiten, um seinen Beitrag für den Lebensunterhalt seiner Familie zu leisten. Da der Schmied Bernulf selbst einen Sohn hatte, der von ihm das Handwerk erlernte, gab es für Isbert keine Möglichkeit ebenfalls Schmied zu werden. Die Aufträge reichten nicht aus, um zwei Lehrjungen durchzufüttern. Nun, da er mit seinen Freunden in den Männerbund aufgenommen worden war, musste er für sich selbst sorgen. Am Morgen nach dem Ritual erklärte ihm sein Vater Gandolf mit schwerem Herzen: „Mein Sohn, unser Hof ernährt unsere Familie schon lange nicht mehr, ich habe daher entschieden, dass du dich als Unfreier bei Folkwart verdingst. Glaube mir, es fällt mir nicht leicht, so etwas von dir zu verlangen, aber deine Mutter erwartet wieder ein Kind und das kann ich schließlich nicht verhungern lassen.“

Doch diesem Los wollte Isbert entgehen, dabei fürchtete er nichts mehr als die Fremde und den Zorn Wodans. Wieder sandte er einen verstohlenen Blick in den Himmel. Aus der Bärentatze war ein undefinierbares Wolkengebilde geworden, ein rosa schimmerndes Zerrbild, welches ihm immer noch Furcht einflößte, aber er schwieg.

Aldemar hatte sich inzwischen vor seinem Gegner aufgebaut und blickte ihm entschlossen in die Augen. Obwohl Gotmar ihn um Haupteslänge überragte, fürchtete er sich nicht vor einer Rangelei mit diesem Großmaul, sondern vielmehr vor seinem Spott.

Doch Gotmar wollte dieses Mal weder eine Schlägerei noch goss er seinen Hohn über Aldemars Versagen aus. Er sah sich allein den drei Freunden gegenüber und versuchte nun, Krautgesicht für sich zu gewinnen.

Zu Aldemars Überraschung holte er einen Kanten Brot und einen Zipfel Wurst aus der Hosentasche und reichte sie Isbert zusammen mit seinem Dolch. Dann setzte er sich ins Gras, klopfte mit der Hand neben sich und lud die anderen ein, ebenfalls Platz zu nehmen.

„Mit hungrigem Magen redet es sich nicht gut. Schneidet euch alle etwas ab und hört mir zu.“

Beschwichtigt durch diese Geste setzten sie sich im letzten fahlen Licht des Tages auf die Wiese.

„Hört zu! Ich werde euch nicht verraten und damit ihr seht, dass ihr mir vertrauen könnt, erzähle ich euch zuerst von meinen Plänen, bevor ihr mich in eure einweiht. Ihr müsst nicht glauben, dass ihr die Einzigen seid, die Probleme mit ihren Vätern haben. Meiner ist ein Tyrann und ein Dummkopf dazu. Er glaubt, weil er hier in diesem lausigen Nest der reichste Bauer ist, dass mir das auch genügen soll. Die alten Männer unseres Dorfes sind träge und faul geworden und bekommen bereits dicke Bäuche. Ist es vielleicht besonders ehrenhaft, durch Schweiß zu verdienen, was man durch Blut erkämpfen kann? Ich sage euch, wahren Reichtum und vor allem Ehre kann man nur durch Krieg erlangen. Unsere Alten leben alle selbstherrlich vor sich hin, reden sich auf dem Thing die Köpfe heiß und schließen lieber faule Kompromisse, anstatt ihre Rechte mit dem Schwert durchzusetzen. Ich will hier nicht versauern, sondern der Gefolgsmann eines mächtigen Fürsten werden. Sicher habt ihr auch schon vom dem großen Erfolg des Stammesfürsten der Cherusker gehört, der den Namen Arminius trägt. Er hat viele Stämme vereint und unter seinem Kommando haben sie den Römern gezeigt, was wir für gute Krieger sein können. Das sind große Kämpfer, nur dort kann ich das richtige Kriegshandwerk erlernen. Ich will mich daher in das Gebiet der Römer durchschlagen und in Arminius Truppen kämpfen. Ihr wisst selbst, dass es zu gefährlich ist, sich alleine durch die Wälder zu wagen, aber zu viert könnten wir es schaffen. Ich würde für ausreichend Proviant und Bewaffnung sorgen.“

Er machte eine kleine Pause und ließ seine Worte auf die Jungs wirken, dann hakte er nach: „Na, was sagt ihr dazu?“

Von seinen leuchtenden Augen und der Begeisterung, mit der er gesprochen hatte, waren die Jungmänner beeindruckt.

Der Tag neigte sich dem Ende zu und der Wald, der die kleine Lichtung umschloss, wirkte bedrohlich und düster. Die drei Freunde hockten nachdenklich beieinander, zunächst sagte niemand ein Wort. Sie waren überrascht von Gotmars Äußerungen und sie wussten, dass er Recht hatte, seine Anwesenheit konnte für ihr Unternehmen nur ein Gewinn sein.

„Also gut, wir brechen zusammen auf, aber wir brauchen ein Boot“, erklang Aldemars Stimme in der anbrechenden Dunkelheit. Es ist zu gefährlich, durchs Land zu ziehen. Wir kennen nicht die Wege, die sich durch die Moore und die Wälder schlängeln.

Sie besiegelten ihr Abkommen mit einem Hammerschlag auf einen Pfahl, den sie am Ufer in die Erde rammten, und einem Schwur an der heiligen Buche, die am Rand der Lichtung stand. Isbert wickelte ein farbiges Band um den Baum und Roland legte die Reste von seinem Brot und ein winziges Stück Wurst als Opfer für Wodan und die Asen nieder, dazu sprach er die Worte: „Wodan, Gott der Weisheit und der Krieger, sei mit uns und verleihe unserem Vorhaben Erfolg. Zürne uns nicht, weil wir gegen den Willen unserer Väter handeln müssen, sondern statte uns mit der Stärke eines Bären und der Schlauheit eines Fuchses aus.“

Danach machten sich Isbert und Roland auf den Heimweg. Gotmar hielt Aldemar zurück.

„Warte einen Augenblick!“

„Was willst du noch, mich wieder verspotten? Dass wir zusammen fortgehen, bedeutet noch lange nicht, dass wir Freunde sind, oder glaubst du, ich habe vergessen, wie du dich über mich lustig gemacht hast, als ich nach dem Hängen am Boden lag. Ich habe genau gesehen, wie du vor mir ausgespuckt hast.“

„Genau darüber will ich mit dir reden. Höre zu, es tut mir leid, aber in dem Moment wusste ich noch nicht, was ich jetzt weiß und das will ich dir nicht verheimlichen. Als sich nach der Speermarkung alle Männer bereits an die Festtafel begeben hatten und schon kräftig dem Met zusprachen, bin ich unbemerkt zu den Bäumen gegangen und habe mir deine Schlinge genauer angesehen.“ Dabei wiegte Gotmar den Kopf vielsagend hin und her. Jeder wusste, dass derjenige, der als Mentor eines Jungmannes auftrat, aufpassen musste, dass er die Schlinge richtig knotete, denn wenn sie sich zu fest zog, konnte der junge Mann ersticken.

„Ja und, red schon!“, forderte Aldemar ungeduldig.

„Ich weiß zwar nicht genau, wie man die Schlinge richtig knotet, aber eins war mir sofort klar, deine Schlinge sah anders aus als die anderen. Als ich sie gerade genauer untersuchen wollte, hörte ich ein Geräusch und habe mich hinter einem Busch versteckt. Da tauchte dein Bruder auf, holte das Seil vom Baum und verschwand damit. Findest du das nicht auch merkwürdig. Und so viel ich mitbekommen habe, hat dein Bruder dir auch vor dem Hängen keinen Trank gereicht. Jeder weiß, dass dieser Trank die Angst und die Schmerzen unterdrückt.

Alle Jungmänner haben ihn von ihren Mentoren bekommen, nur du nicht. Hast du dich mal gefragt, warum er ihn dir nicht gegeben hat? Weißt du, Krautgesicht, ich glaube, dein Bruder wollte dich loswerden und das hat er nun ja auch geschafft. Entweder wärst du beim Hängen draufgegangen oder in Unehre gefallen. So oder so kommst du als Nachfolger für deinen Vater als Sippenältester nicht mehr in Frage.“

Aldemar war bestürzt, er wollte den anderen anschreien, zu so etwas bist du vielleicht fähig, aber doch nicht mein Bruder. Aldemar machte den Mund auf, wollte protestieren, doch die Worte saßen fest in der Beklemmung, die ihn befallen hatte. Bisher war er so sehr damit beschäftigt, die Schmach zu ertragen, die er angerichtet hatte. Er glaubte, dass er der Versager war und versuchte vorsichtig, sich zu verteidigen. Da aber niemand für ihn Verständnis zeigte, glaubte er selbst an seine Unfähigkeit. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass jemand sein Scheitern wollte und schon gar nicht sein eigener Bruder. Doch Gotmars Worte machten ihn nachdenklich. Ihm wurde bewusst, wie merkwürdig sich sein Bruder seit jenem Zwischenfall verhalten hatte. Ekwin ging ihm aus dem Weg und redete kaum mit ihm. Einmal hatte Aldemar versucht, ihn zur Rede zu stellen, warum er ihm keinen Trank verabreicht hatte. Doch Ekwin winkte nur ab und ließ ihn einfach stehen. Aldemar war verunsichert, wusste nicht mehr, was er glauben sollte und was schwerer wog, seine eigene Schmach oder der Verrat seines Bruders. Zu beweisen war das jedenfalls nicht mehr und sein Vater würde ihm auch nicht glauben. Im Gegenteil, er würde ihn noch mehr verachten, weil er denken würde, dass Aldemar seinen Bruder nur beschuldigt, um von sich abzulenken. Nein, das brauchte er gar nicht erst versuchen. Für ihn blieb nur die Flucht. Selbst wenn er im nächsten Jahr das Einweihungsritual bestehen sollte, würde er in diesem Dorf bis an sein Lebensende der bleiben, der die Kriegerweihe nicht bestanden hat, ein Schlappschwanz, der seiner Familie Schande gebracht hat. Man würde ihn im Dorf wie den letzten Schweinehirten behandeln und niemand würde ihm je Achtung entgegenbringen. Trotzdem war er Gotmar dankbar, dass er ihm seine Entdeckung mitgeteilt hat. Er war sich nicht sicher, ob Gotmar plötzlich anständig geworden war oder ob er es nur getan hatte, weil sie zusammen fliehen wollten. Auf jeden Fall fühlte sich Aldemar etwas besser, das Gesagte gab ihm ein Stück Selbstachtung zurück, die er seit dem Vorfall verloren hatte. Er war erleichtert, dass es doch nicht seine Schuld war, dass er versagt hatte.

Aldemar saß noch eine Weile am See und starrte auf das Wasser, dann begann er zu frösteln. Inzwischen war es dunkel geworden, ein sternenklarer Himmel breitete sich über ihm aus und er war allein. Gotmar hatte ihn seinen Grübeleien überlassen und sich leise davongeschlichen. Eine große Stille umgab ihn, die nicht einmal durch die Tiere des Waldes gestört wurde. Dann hörte er ein leises Knacken und blickte in die Richtung des Geräusches. Im kalten Mondlicht huschte eine Figur im hellen Gewand über die Lichtung und legte etwas an der heiligen Buche ab. Erschrocken fuhr Aldemar zusammen, er glaubte, die weiße Frau vom See wäre gekommen, um ihn mit einem Zauber zu belegen. Blitzschnell sprang er auf und rannte nach Hause, als wäre der Werwolf hinter ihm her.

Den Winter über trafen sich die Jungmänner regelmäßig und arbeiteten an ihrem Boot und im Frühling, als die Sonne anfing, ihre wärmenden Strahlen auf die Erde zu senden, waren sie mit ihren Vorbereitungen fertig. An dem Tag, als sich der Bootsbau dem Ende näherte, kreisten zwei Raben über der Warnow, um sich auf die Reste der abgeernteten Felder zu stürzen. Isbert bemerkte als Einziger die beiden Schutztiere des Göttervaters Wodan. Dieses neue Zeichen der Götter konnte er nicht übersehen. Schließlich wusste jeder, dass die Raben Hugin und Munin Wodan alles ins Ohr raunen, was sie auf ihrem Flug durch die Welt gesehen haben. Sie werden Wodan auch berichten, dass vier Jungmänner gegen den Willen der Väter ihr Dorf verlassen wollen. Wodan hat als Vater aller Götter genug Möglichkeiten, sie zu bestrafen und ins Verderben zu stürzen. Davor fürchtete sich Isbert noch mehr als vor einem Leben als Unfreier. Da wusste er wenigstens, was ihn erwartete. So ein Leben war allemal besser, als in der Fremde zu sterben oder sonst welchen Gefahren ausgesetzt zu sein.

Seit Wochen hatten die jungen Männer heimlich zu Hause Proviant abgezweigt. Isbert´s Familie war ohnehin so arm, dass er von den knappen Vorräten nichts beiseite schaffen konnte. Er versuchte es gar nicht erst. Für ihn war die Entscheidung längst gefallen. Er wusste nur nicht, wie er es seinen Freunden beibringen sollte. Den ganzen Winter über arbeitete er mit ihnen gemeinsam am Boot und sein schlechtes Gewissen wuchs ebenso, wie das Boot Formen annahm.

Nun war der Tag gekommen, um von der Heimat Abschied zu nehmen, alles was ihnen vertraut war, hinter sich zu lassen. Sie beluden das Boot mit ihren Habseligkeiten, während Isbert nervös von einem Bein aufs andere trat. Da bemerkten die Freunde, dass Isbert im Gesicht aschfahl aussah. Schuldbewusst schaute er von einem zum anderen. Er versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Es waren auch keine Worte mehr nötig, seine Freunde kannten ihn gut und ahnten schon lange, was mit Isbert los war. Aldemar konnte ihn sogar etwas verstehen, auch er hatte Angst, schließlich wussten sie ja nicht, was sie wirklich erwartete.

Anschließend machten sich nur drei Jungmänner auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Isbert stieg nicht ins Boot.

Am nächsten Tag geriet das ganze Dorf in Aufruhr. Schnell hatte sich herumgesprochen, dass drei Jungmänner sich mit einem Boot davongemacht hatten. Notker, der Sippenälteste, war außer sich. Nicht genug, dass Aldemar die Mutprobe abbrechen musste, nun hatte er sich auch noch wie ein Dieb davongeschlichen. Sicher waren die Götter erzürnt über so viel Ungehorsam und Respektlosigkeit, das musste durch ein Opfer gesühnt werden. Er bebte vor Zorn, dass ausgerechnet sein Sohn zu so etwas fähig war. Am meisten schmerzte ihn, dass er sich so in Aldemar getäuscht hatte. Vor Wut zerschlug er einen Krug. Seine Frau Adelgard und die kleineren Kinder gingen ihm lieber aus dem Weg. Ihr Kummer war zu groß, hatte sie doch einen Sohn verloren. Sie brauchte jetzt ihre ganze Kraft, um die Familie zusammenzuhalten. Nach Aldemars Flucht wird ihr Zusammenleben nicht mehr sein wie früher. Sie gab sich auch eine Schuld an seinem Verschwinden, denn schon lange wusste sie, wie ihr Sohn litt. Warum hatte sie ihn nicht vor ihrem Mann in Schutz genommen? Sie hätte es zumindest versuchen können. Jetzt war ihr Sohn fort und sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Entschlossen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und widmete sich wieder ihren häuslichen Pflichten.

Während Notker sich noch das Hirn darüber zermarterte, wie das Opfer aussehen sollte, schleppten fünf seiner Gefolgsleute unter dem Gejohle einer Kinderschar drei gefesselte, zerlumpte Kreaturen zu seinem Gehöft. Es war neben Folkwarts Haus das größte der zwölf Hütten und lag am Rand der Siedlung, umgeben von einem großen Garten und Weideland. Einen Augenblick lang glaubte er, dass die Ausreißer aufgegriffen worden waren. Doch dann erkannte er, dass sich unter den Gefangenen eine Frau befand. Zunächst fühlte er sich gestört bei seinen Überlegungen, doch dann kam ihm eine Idee.

Er zog sich einen sauberen Kittel an und präsentierte sich mit einer ehrgebietenden Pose vor der Tür. Als die kleine Schar vor ihm zum Stehen kam, verstummten die Kinder. Die Gefolgsleute gaben ihren Gefangenen einen Stoß, so dass sie in den Dreck fielen.

„Was sind das für Leute?“, erkundigte sich Notker.

„Wir haben sie in der Nähe der heiligen Quelle aufgegriffen. Sie haben davon getrunken und mit ihren dreckigen Körpern das Heiligtum besudelt“, berichtete Gunter, der Anführer der kleinen Truppe. Über sein sonst düster dreinblickendes Gesicht huschte ein vielsagendes Lächeln, welches nur Notker wahrnahm.

Dieser Gunter war doch ein schlaues Köpfchen, wusste ganz genau, was das Dorf in dieser Situation brauchte. Die Götter verlangten ein Opfer für den Ungehorsam der Jungmänner und angesichts der Schwere des Vergehens konnte man sich nicht mit ein paar Tierkadavern begnügen.

Inzwischen waren mehrere Dorfbewohner zusammengelaufen um zu sehen, was vor dem Haus ihres Sippenältesten geschah.

„Ein schwerwiegender Vorwurf, den du da vorbringst, und verübt vermutlich von Ausgestoßenen. Das verlangt nach einer Sühne, was meint ihr?“ Notker richtete diese Worte an die vor ihm stehenden Leute. Doch die redeten alle durcheinander.

Der Sippenälteste brachte die Dorfbewohner zum Schweigen. „Ich sehe, so kommen wir zu keinem Ergebnis. Wir brauchen einen Beschluss des Ältestenrates, er soll darüber entscheiden, was aus diesen da werden soll.“ Dabei zeigte er mit vorwurfsvoller Miene auf die drei Aufgegriffenen.

Die Frau erhob sich und wollte protestieren. Sie wusste, dass sie als Fremde in jeder fremden Sippe wie Gesetzlose behandelt werden würden, hoffte aber auf die Mildtätigkeit der Leute. Doch dafür war ausgerechnet an diesem Tag der falsche Zeitpunkt. Die Frau erhob das Wort und wollte etwas zu ihrer Rechtfertigung sagen. Doch Notker ließ sie nicht ausreden: „Schweig, du vorlautes Weib, du kannst dich heute Abend verteidigen.“

Dann wandte er sich an seine Gefolgsleute:

„Sperrt sie in das Erdloch hinterm Haus und ruft alle ehrbaren Männer zusammen, damit wir über ihre Vergehen richten können.“

Die Gefangenen saßen in dem dunklen Loch und von der feuchten Erde kroch die Kälte in ihre Knochen. Wisgard zog die Decke enger um ihre Schultern und schmiegte sich an ihren Geliebten Trautwin, an dessen anderer Seite sein schwachsinniger Bruder hockte, den er unbedingt mitnehmen wollte. Weil ihre Eltern gegen diese Verbindung gewesen waren und Wisgard einen vierschrötigen Gefolgsmann ihres Vaters heiraten sollte, waren die drei vor zwei Tagen aus ihrem Dorf geflohen. Sie wussten, dass es gefährlich ist, wenn man den Schutz der eigenen Sippe verlässt. Frauen verließen manchmal das heimatliche Dorf, wenn sie in ein anderes Dorf verheiratet werden sollten, ohne Genehmigung durch die Munt wagte dies jedoch kaum jemand. Wisgard und Trautwin rechneten zwar damit, dass man sie bestrafen würde, hofften aber auf ein mildes Urteil. Sie wollten um die Aufnahme in die Dorfgemeinschaft bitten. Sie konnten beide nicht ahnen, wie schlecht ihre Chancen hierfür durch die Flucht der Jungmänner standen.

Den ganzen Tag über ließ sich niemand blicken. Man gab ihnen weder zu essen noch zu trinken. Wisgard und Trautwin grübelten, wie man sie bestrafen würde, aber sie kamen zu keinem endgültigen Ergebnis. Dass man sie in diesem Erdloch ohne Verpflegung schmoren ließ, war kein gutes Zeichen. Vielleicht würden sie eine gewisse Zeit als Unfreie im Haushalt des Sippenoberhauptes arbeiten müssen oder man versuchte, sie gegen ein Lösegeld einzutauschen. Doch was ihnen wirklich bevorstand, übertraf alle ihre Befürchtungen.

Am späten Nachmittag, es begann bereits zu dämmern, wurden sie aus ihrem Verließ gezerrt. Das Sippenoberhaupt trug jetzt ein Priestergewand. Es war nichts Besonderes, wenn in kleinen Dörfern eine Person beide Ämter ausführte. An einem roh gezimmerten Holztisch saßen unter der Dorflinde neben Notker seine Gefolgsmänner Gunter, Folkwart, dessen Sohn ebenfalls verschwunden war, und Bernulf, der Schmied.

Notker erhob sich und sah in seinem weißen Priesterwand Ehrfurcht gebietend aus. Er hob die Hände zum Himmel und flehte Wodan an, ihnen die Weisheit für ein gerechtes Urteil zu verleihen.

„Ihr dürft euch jetzt zu dem Vorwurf von heute Morgen äußern und sagt uns auch, woher ihr kommt und was ihr hier wollt“, eröffnete Notker die Verhandlung, zu der das ganze Dorf erschienen war.

„Ich bin Trautwin, der Sohn des Bauern Ratmar, das sind meine Frau Wisgard und mein Bruder Swidger. Wir sind in friedlicher Absicht gekommen und würden gern in eurem Dorf bleiben und hier arbeiten.“

„Erklärt uns, warum ihr euer Dorf verlassen habt und ob ihr rechtmäßig mit dem Segen eurer Sippe vermählt seid?“

Schuldbewusst senkte das junge Paar den Kopf.

„Na, das habe ich mir doch gleich gedacht, dann habt ihr euch also auch klammheimlich von zu Hause fortgestohlen, genau wie unsere Jungmänner“, polterte Gunter dazwischen, ohne auf Notker zu achten.

Notker machte eine kurze Pause und warf ihm einen strafenden Blick zu. Als von den beiden kein Protest kam, fuhr er fort: „Wenn ihr nicht mehr zu eurer Verteidigung zu sagen habt, besteht für mich kein Zweifel an eurer Schuld. Ihr habt gegen die Gesetze Wodans verstoßen, als ihr unerlaubt euer Dorf verlassen habt und ihr habt unsere heilige Quelle entweiht, dafür werdet ihr eure Strafe empfangen. Ich bin dafür, dass ihr die Götter mit eurem Leben um Vergebung bittet.“

Den beiden jungen Leuten stand das Entsetzen im Gesicht, aus dem augenblicklich alle Farbe verschwand, fahl, wie Novembernebel. Nur der schwachsinnige Swidger lächelte dümmlich.

Unter den Dorfbewohnern machte sich ein erschrockenes Gemurmel breit. Niemand konnte sich daran erinnern, wann es zum letzten Mal ein Menschenopfer gegeben hatte.

Notker erhob sich von seinem Platz und gebot der Masse mit einer Handbewegung, still zu sein.

„Außerdem“, fuhr er fort, „verlangen die Götter ein Opfer für den Frevel, den mein Sohn Aldemar, Folkwarts Sohn Gotmar und Ulands Sohn Roland begangen haben, als sie unsere Sippe verließen, genau den gleichen Frevel, den diese hier begangen haben.“ Dabei zeigte er, genau wie am Morgen, mit dem Finger auf die Gefangenen.

Das Gemurmel setzte wieder ein. Man sah einige zustimmend nicken, andere waren entsetzt, trauten sich aber nicht, die Gefangenen zu verteidigen. Der Einzige, der einen Einwand erhob, war der Schmied Bernulf: „Ich bin dagegen“, sagte er mit fester Stimme.

„Und wenn schon, wir brauchen deine Zustimmung nicht, meine Getreuen und ich haben heute Nachmittag extra ein Lamm geschlachtet und in seinen Därmen haben wir eindeutige Hinweise gefunden, welches Urteil die Götter verlangen. Zweifelst du etwa an den Prophezeiungen, die uns die Götter gesandt haben? Wenn wir sie ignorieren, könnte es sein, dass uns die Götter zürnen und unsere Ernte verfault oder uns Unwetter heimsuchen. Nein, ich sage euch als euer Priester, wir müssen diese drei Kreaturen opfern, um uns selbst zu schützen.“

Die Bauern reagierten noch immer zurückhaltend. So ganz sicher waren sie sich nicht, was sie von dem Ganzen halten sollten. Andererseits, was gingen sie diese Fremden an, wenn Notker Recht hat, sollte man lieber auf Nummer sicher gehen.

Als keiner der Dorfbewohner mehr das Wort ergriff, war die Sache besiegelt. Die Gefolgsleute machten bereits Anstalten, die Gefangenen zur Opferstätte zu treiben, als Trautwin, sich unter den festen Griffen windend, schrie: „Halt, wartet, ihr könnt Wisgard nicht hinrichten, sie ist eine Seherin und eine Heilkundige!“

Plötzlich war es ganz still geworden. Die Gefolgsleute standen wie erstarrt, alle Blicke waren erwartungsvoll auf Notker gerichtet.

Auch Notker war so verblüfft, dass er seine Verunsicherung nicht verbergen konnte. Er zögerte. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet, das brachte seinen ganzen Plan durcheinander. Seherinnen wurden bei den verschiedenen Stämmen wie Göttinnen verehrt und ein Dorf konnte sich glücklich schätzen, wenn eine Seherin unter ihnen weilte. Andererseits könnte sie seine Macht als Priester untergraben. Wem würden die Dorfbewohner künftig glauben, wenn sie zu unterschiedlichen Vorhersagen kamen? Außerdem gab es seit dem letzten Winter keine Heilkundige mehr im Dorf und das war in der Tat ein großes Übel, denn wenn jemand krank war oder Beistand bei einer Geburt benötigte, musste die weise Frau aus dem Nachbardorf geholt werden. Besonders im Winter, wenn die Wege tief verschneit waren, kam manchmal die Hilfe zu spät. Wenn diese Frau wirklich eine Seherin war, konnte man sie auf gar keinen Fall hinrichten. Er musste sich Gewissheit verschaffen, deshalb richtete er das Wort an sie: „Ist das wahr, Weib?“

Wisgard begann aus ihrer Erstarrung zu erwachen. Endlich fing sie an zu begreifen, was hier passierte. Wenn sie jetzt nicht reagierte und die Menge nicht überzeugen konnte, würde man sie töten. Doch wie sollte sie sich in dieser Situation konzentrieren? Glücklicherweise hatten sie am letzten Tag die Jungmänner belauscht, bevor die mit ihrem Boot davon gefahren waren. Dieses Wissen musste sie jetzt einsetzen, vielleicht konnte sie damit ihr Leben retten. Alle Augen waren jetzt auf Wisgard gerichtet. Selbst Notker sah sie erwartungsvoll an.

„Ich weiß, warum die Jungmänner euer Dorf verlassen haben. Ihr schreit nach Rache, nach Beschwichtigung der Götter, dabei habt ihr sie doch selbst von hier fortgetrieben.“

Bei diesen Worten begann ein lautes Gemurmel und ein Aufbegehren, so dass Notker erneut für Ruhe sorgen musste.

„Du bist unverschämt mit deinen Äußerungen. Wir wissen selbst am besten, was hier vorgefallen ist. Deine Äußerungen sind kein Beweis dafür, dass du eine Seherin bist.“

Wisgard stellte besorgt fest, dass sie durch ihre Worte den Priester noch mehr gegen sich aufgebracht hatte. Sie musste vorsichtiger sein und sie musste etwas tun, um alle von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.

„Ihr müsst mir Zeit geben. In dieser Situation kann ich mich nicht konzentrieren“, erwiderte Wisgard.

„Schluss mit dem Geschwafel!“ Notkers Entschluss stand fest, er wollte endlich sein Werk vollenden. Die Götter brauchen ein angemessenes Opfer, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Zu sehr fürchtete er den Zorn Wodans.

Isbert zitterte am ganzen Körper. Wenn seine Freunde geahnt hätten, dass wegen ihrer Flucht Menschen geopfert werden sollen, wären sie sicher zu Hause geblieben. Seit mehreren Monden waren keine Fremden ins Dorf gekommen. Welche unglückliche Fügung, dass die drei ausgerechnet heute in ihrem Dorf auftauchten. Er dachte an die Bärentatze, die er damals am Himmel gesehen hatte und an die Raben. Schon damals befürchtete er, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Er war verzweifelt. Doch wenn diese Frau eine Seherin war, musste er sie retten. Vorsichtig drängte er sich durch die Massen. Er versuchte, Bernulf zu erreichen. Der Schmied hatte seinen Platz am Tisch verlassen und sich unter die Menge gemischt. Er machte bereits Anstalten, die Versammlung zu verlassen. Was hier geschah, konnte er nicht gutheißen, damit wollte er nichts zu tun haben. Im letzten Moment bekam Isbert ihn am Ärmel zu fassen.

„Ber-nu-u-lf, du-u mu-usst etwaa-s u-un-terne-ehm-en, du-u bii-st de-er Eein-zige, de-er de-en Muut da-a-zu be-e-si-itzt.“

Isbert kannte Bernulf gut, die beiden mochten sich. Oft hatte er sich in der Schmiede herumgetrieben, wenn Bernulf seinen Sohn Markwart im Schmiedehandwerk unterwies.

Bernulf dachte einen Moment nach, dann nickte er unmerklich: „Ja, du hast Recht, mein Junge.“

Er drehte sich wieder zu Notker um und sprach mit seiner kräftigen Stimme:

„Ich als Mitglied des Rates der Ältesten verlange, dass das Urteil ausgesetzt wird und diese Frau Gelegenheit erhält, uns von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.“

Die allgemeine Zustimmung, die jetzt losbrach, war so groß, dass Notker sich notgedrungen fügen musste.

„Also gut“, sagte er zu seinen Gefolgsmännern. „gebt der Frau, was sie benötigt. Wenn der Mond aufgegangen ist und über der Dorflinde steht, will ich hören, was sie über die Flucht der Jungmänner und über die Zukunft unseres Dorfes weiß. Danach entscheidet der Rat der Ältesten. Das Urteil wird morgen bei Sonnenaufgang vollstreckt, mit oder ohne sie. Das ist mein letztes Wort.“

Während die beiden Männer wieder in das Erdloch gesperrt wurden, zündete der Gefolgsmann Gunter für Wisgard ein Feuer an und reichte ihr die Losstäbchen.

Wisgard ließ sich am Feuer nieder und starrte hinein. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Ständig wanderten ihre Gedanken zu ihrem Liebsten. Für ihn und seinen Bruder konnte sie nichts mehr tun. Nun konnte sie nur noch versuchen, ihr eigenes Leben zu retten. Mühsam bekämpfte sie die aufkommende Panik. Das Feuer knisterte in einem von Steinen umgebenen Ring. Aus einem kleinen Lederbeutel kramte sie ein paar Kräuter. Ich muss mich konzentrieren, ermahnte sie sich. Ihr Leben hing davon ab, ob es ihr gelingen würde, einen Blick auf die Zukunft zu erhaschen. Sie warf die Kräuter in die Flammen, die sie gierig verschlangen und einen würzigen Duft freiließen. Wisgard begann leise zu singen, den Blick auf die züngelnden Flammen gerichtet. Ganz allmählich vergaß sie, was um sie herum geschah, die Wirklichkeit hörte auf zu existieren. Bilder entstanden, anfangs diffus, dann klarer. Doch wie passten diese Bilder zusammen?

Die versammelten Dörfler erwarteten auf dem Dorfplatz das Erscheinen des Mondes. Als dieser endlich die Position hinter der Dorflinde erreicht hatte, schob sich eine große schwarze Wolke davor. Ein Raunen ging durch die Menge und Notker fühlte sich sichtlich unwohl. War das ein weiteres Omen? Lief denn an diesem Tag alles quer?

Notker hob den Arm und gebot Ruhe. Wisgard wurde nach vorne geführt. „Das Weib möge sprechen, was es gesehen hat.“

Wisgard verbeugte sich und begann zu sprechen: „Ich habe die weiße Frau vom See gesehen, ihr durchscheinendes Gewand wehte im Wind und sie sagte, dass sie von einem Zauber gefangen ist, von dem sie erst erlöst werden kann, wenn einer von denen, die dieses Dorf verlassen haben, zurückkehrt. Diesem einen wurde ein Unrecht zuteil und daher wird sie die Bewohner mit Missernten und Feuersbrünsten strafen.“

„Was heißt hier Unrecht“, schrie Notker. „die Jungmänner sind es, die ein Unrecht begangen haben.“

„Bevor du urteilst, solltest du dir erst bis zum Schluss anhören, was ich gesehen habe“, antwortete Wisgard mit ruhiger Stimme. „Die weiße Frau verschwand im Nebel der Sümpfe und kaum war sie verschwunden, tauchten drei junge Männer auf, deren Gesichter ich nicht sehen konnte. Etwas später erschien Wodans Sohn Donar in seinem von den Böcken gezogenen Wagen und warf seinen Hammer Miölnir in die Richtung eines Jungmannes aus diesem Dorf. Er hatte blondes lockiges Haar. Mehr konnte ich nicht erkennen, auch sein Gesicht blieb mir verborgen.“

Doch das ganze Dorf wusste, wer gemeint war, nur Aldemar hatte blondes Haar.

Ekwin wurde nervös, niemand konnte wissen, was er getan hatte. Schweißperlen traten auf seine Stirn und unruhig rieb er abwechselnd eine Hand in der anderen. Wie konnte diese Frau ein solches Misstrauen säen?

Zunächst war es still auf dem Dorfplatz, doch dann begannen alle durcheinander zu reden. Die Leute wurden unruhig. Was hatte das zu bedeuten?

Notker strich gedankenversunken über seinen Bart, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Doch dann stieß ihn Ekwin an und sagte: „Vater, du wirst doch diesem dahergelaufenen Weib nicht glauben.“

Doch zu seinem eigenen Entsetzen tat sein Vater genau das. Die Zweifel, die sie gesät hatte, begannen zu wachsen wie das Unkraut auf dem Feld. Notker warf einen prüfenden Blick auf seinen ältesten Sohn, der sich sichtlich unwohl fühlte. Dann betrachtete er lange und eindringlich diese fremde Frau. Er spürte, dass von dieser Frau etwas ausging, das er nicht beschreiben konnte und er wusste nicht warum, aber er glaubte ihr.

Notker baute sich mit der Größe seiner Gestalt vor den Dorfbewohnern auf: „Beruhigt euch, Leute! Wir werden die weiße Frau vom See mit Opfern beruhigen, damit sie ihre Drohungen nicht wahrmacht. Was die zweite Aussage betrifft, so können wir sie heute nicht genau entschlüsseln. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass diese Frau seherische Fähigkeiten besitzt.“

Erneut ging ein Raunen durch die Menge. Notker achtete nicht darauf. Er begnadigte die Frau. Er konnte nicht anders.

Die Gefangenen wurden zum Heiligen See geführt. In der Nähe des Ufers ragte aus dem flachen Wasser ein blutverkrusteter Stein.

„Zieht sie aus!“, befahl der Priester seinen Gehilfen. „Und beginnt mit dem heiligen Ritual der Reinigung.“

Während die Gehilfen damit begannen, die Delinquenten zu waschen, schärfte der Priester sein Eisenmesser an einem Stein, ohne die Augen von den Verurteilten zu lassen. Es sah aus, als hätten sich die beiden Männer dem Schicksal ergeben.

Am Ufer standen die Dorfbewohner in einem Halbkreis um die Opferstätte. Der erste Gefangene war der schwachsinnige Swidger. Selbst er spürte jetzt, dass ihm Gefahr drohte und begann zu zappeln und zu strampeln. Doch dem festen Griff der Gefolgsmänner konnte er nicht entweichen.

Notker hob die Hände zum Himmel und verkündete mit lauter Stimme: „Wodan, du Gott unserer Väter, Schirmherr der Helden, Vater der Toten, nimm unser Opfer an, so wie du selbst Opfer erbracht hast und zürne nicht dieser Sippe und verschone uns vor Missernten und Unwettern.“

Während dieser Worte wirkte Notker wie entrückt. Dann ließ er langsam die Arme sinken und wandte sich wieder den Sterblichen zu. Die Dorfbewohner verharrten andächtig berührt und erwarteten das grausame Ritual, außer Bernulf und seiner Familie, die waren der Veranstaltung ferngeblieben. Zwei weitere Männer fühlten sich unwohl. Der eine war Isbert, der betete, dass nie jemand erfahren möge, dass auch er das Dorf verlassen wollte und sich erst in letzter Minute fürs Hierbleiben entschieden hatte. Der andere war Ekwin, der Bruder von Aldemar. Er hatte nur seinen Bruder loswerden wollen. Das hier ging ihm zu weit. So etwas hatte er nie gewollt. Wie konnte sein Vater sich nur zu solcher Härte hinreißen lassen.

„Knie nieder, du Unwürdiger.“ Notker nickte seinem Gefolgsmann zu. Gunter wusste, was zu tun war und er tat es gerne. Ihm war bei der langen Zeit ohne kriegerische Auseinandersetzungen langweilig geworden. Auch wenn das hier kein richtiger Kampf war, so würde doch endlich mal wieder Blut fließen. Mit einem geübten Griff packte er den Haarschopf des Jungen und zog den Kopf nach hinten. Blitzschnell schnitt er dem vor ihm Knieenden die Kehle durch, so dass das Blut auf den Opferstein spritzte. Bevor sich die Augen des Gefangenen vor Schreck weiten konnten, waren sie von ungläubigem Entsetzen erstarrt. Dabei murmelte der Priester unverständliche Worte. Bevor sich das grausige Schauspiel beim zweiten Gefangenen wiederholte, sahen sich die beiden Liebenden noch einmal in die Augen. Wahrscheinlich war es dieser bestürzte, verletzte Blick, der sie so tief traf und der sich in ihr Gedächtnis brannte. Diesen Blick würde sie in ihrem Innern bewahren. Die Frau erwachte aus ihrer Erstarrung und schrie: „Notker, ich verfluche dich, Krankheiten und Seuchen sollen über dich und die deinen kommen, dein Körper soll dahin siechen und die Gesichter dieser beiden Unschuldigen sollen dich als Alben in deinen Träumen heimsuchen.“

„Worauf wartet ihr!“, schrie Notker, „Bringt das Weib zum Schweigen.“

Jetzt war Notker blass geworden. Vor den Verwünschungen dieser Frau fürchtete er sich ebenso wie vor dem Zorn der Götter. Man konnte nie so genau wissen, welche Macht diese Kräuterweiber besaßen. Diesen Fluch musste man auf alle Fälle ernst nehmen. Er musste sie dazu bringen, ihn zurückzunehmen.

Die Flucht

Nach ihrer Flucht aus Piowar brauchten die drei Freunde Wochen, bis sie auf ihrem selbst gebauten Boot über die Warnow das große Wasser, das Aestenmeer, erreichten. Anfangs ging die Fahrt gut voran und die Jungmänner machten Späße über ihr altes Leben und schmiedeten Pläne für ihr neues. Streckenweise ruderten sie, manchmal ließen sie sich einfach von der Strömung treiben. Die Sonne schickte ihre ersten wärmenden Strahlen auf die Erde und die Vögel begannen zu zwitschern. Besonders in der Zeit, wenn der Himmel die Grenzen zur Finsternis durchbrach, erfüllten sie die erwachende Natur mit ihrem Konzert aus vielstimmigen Kehlen. Doch als die Jungmänner immer weiter in unbekannte Gegenden vorstießen, flößte ihnen der hohe Wall aus zartem Frühlingsgrün, das üppig wuchernde Dickicht aus Ästen, Blättern und Ranken Furcht ein. Ein schier undurchdringlich erscheinender Urwald hielt sie in seinen Klauen gefangen. Auch wenn sie es untereinander nicht zugeben wollten, so lauschten sie doch ängstlich den vielen unbekannten Geräuschen, die aus den Tiefen des Waldes zu ihnen drangen, wenn ihre Ruder verstummten. In der Ferne hörten sie Wölfe heulen, die nach dem langen Winter auf Beutezug gingen. Anfangs beobachteten sie voller Neugierde alles, was sie umgab. Aus den Resten eines winterbraunen Uferdickichts ragte ein umgestürzter Baum bis in die Mitte des Flusses. Dort sammelte sich allerhand Treibgut an, welches die Vögel für ihren Nestbau nutzten.

Der zahllosen Sümpfe wegen, die sich entlang der Warnow ausdehnten, waren sie zwar vor Angriffen durch wilde Tiere und andere Sippen sicher, fanden aber keine Lagerplätze für die Nacht. Die Fahrt auf diesem Fluss erschien ihnen zunehmend wie eine Reise, die geradewegs in die Heimat der Dämonen und Naturgeister führte. Hörten sie ein lautes Knacken im Unterholz, meinte Roland, der Ängstlichste der drei Jungmänner, dass sich ihnen ein Riese näherte, der sie alle in die Sümpfe stampfen wird. Am schlimmsten war es nachts. Der Verstand sagte ihnen, dass die Finsternis nichts Bedrohliches enthielt, doch gleichzeitig meinten sie, unheimliche Gestalten zu sehen, die sich aus dem Dickicht auf sie stürzten und sie zu verschlingen drohten. Aus dem heimatlichen Dorf zu fliehen war die eine Sache, aber in der Wildnis zu überleben, war etwas ganz anderes. Es war bei weitem nicht so abenteuerlich, wie sie es sich während der langen Zeit des Bootsbaus vorgestellt hatten. Das schöne Wetter hielt nicht lange an, es war umgeschlagen. Als tagelanger Regen ihre Kleidung durchnässte und sie bibbernd ohne Schutz versuchten, das Boot voranzubringen, sehnten sie sich nach einem wärmenden Feuer und einer heißen Suppe. Doch wegen des schilfumsäumten Ufers und der modrigen, von Mückenschwärmen bevölkerten Sümpfe konnten sie nirgends anlegen und ein Feuer entfachen.

Der mitgebrachte Proviant neigte sich dem Ende entgegen. Der Regen, der sich zeitweise mit Hagel mischte, setzte ihnen weiterhin zu. Die Stimmung war gedrückt. Rolands Verzweiflung wurde immer schlimmer: „Wenn wir nicht bald einen Rastplatz finden, können wir uns aussuchen, ob wir verhungern oder erfrieren. Eigentlich kann ich auch gleich in die Warnow springen, dann brauche ich mich nicht mehr zu quälen.“

Aldemar und Gotmar fehlte ebenfalls die Kraft, den Freund zu trösten. Inzwischen waren sie abgestumpft gegen den Hunger, die Kälte und den Urwald, der sie gefangen hielt. Eine dumpfe Trägheit war in ihre Körper gekrochen, nur die Angst breitete sich immer weiter aus, bis jeder Raum gefüllt war.

Die Hoffnung verließ sie genauso wie ihre Kräfte. Roland sprach aus, was die beiden anderen inzwischen auch glaubten. Die Bärentatze aus Wolken und die beiden Raben vor ihrer Abfahrt waren Warnungen der Götter gewesen. Isbert hatte vermutlich recht gehabt und gut daran getan, zu Hause zu bleiben. Aber sie in ihrem jugendlichen Größenwahn glaubten ja, dass ihnen nichts etwas anhaben konnte. Doch sie hatten Wodan erzürnt und nun mussten sie für ihren Ungehorsam bezahlen. Vermutlich würden sie sterben, bevor sie das große Meer erreichten, geschweige denn, dass sie jemals nach Rom kämen.

In den Nächten türmten sich die Baumriesen an den Ufern auf. In die Stille fuhr eine Brise, ließ Schilf und Äste erzittern, und ihr Wispern klang wie das Flüstern der Nachtgeister. Hin und wieder lugte der Mond hinter einer Wolke hervor und in dem Spiel aus Licht und Dunkelheit schienen die knorrigen Bäume zum Leben zu erwachen.

Das Rudern hatten die Jungmänner inzwischen aufgegeben, sie ließen sich nur noch von der Strömung treiben. Sie fingen an, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Triefend vor Feuchtigkeit hockten oder lagen sie eng aneinander gelehnt unter den nassen Schafsfellen, die Gotmar von zu Hause mitgebracht hatte und versuchten, sich mit ihren Körpern ein wenig Wärme zu spenden. So dämmerten sie dahin, bis sich die Wirklichkeit mit der Traumwelt vereinigte, während der Fluss sie immer weiter nordwärts trug. In dieser Welt schien die Sonne und wärmte ihre unterkühlten Körper, die Vögel zwitscherten fröhlich ein Lied und es roch nach Braten. Ein verführerischer Duft, der immer intensiver wurde, stieg ihnen in die Nase und bahnte sich auf verschlungenen Pfaden den Weg in ihr Bewusstsein. Waren sie schon in Walhall oder war es doch nur ein Traum? Jetzt nur nicht aufwachen, die Welt war gerade so angenehm warm und friedlich.

„Aufwachen!“

Nein, jetzt bloß nicht die Augen öffnen und in den erdrückend grauen Himmel und den bedrohlich, mit seinen Fangarmen nach ihnen greifenden Urwald schauen.

„He Jungs, das Essen ist fertig oder habt ihr keinen Hunger.“

Die Jungmänner öffneten einer nach dem anderen die Augen und erblickten zwei Männer, die schon in einem Alter waren, in dem das Gesicht von Falten zerfurcht ist und das Haar von Silberfäden durchzogen wird. Der eine war hager, mit spitzbübisch dreinschauenden Augen. In der einen Hand hielt er eine Frame, in der anderen ein auf ein Messer aufgespießtes Stück Fleisch, mit dem er vor den Nasen der Jungen herumfuchtelte. Der andere war das ganze Gegenteil, er trug seinen, einem Bierfass ähnelnden Bauch prahlerisch vor sich her und machte einen verschlagenen Eindruck. er hieß Rango.

„Na endlich, ich dachte schon, ihr wollt gar nicht mehr zu uns zurückkehren, wäre jammerschade, denn ihr würdet diesen ausgezeichneten Hasenbraten verpassen“, gab der Dünne von sich und stellte sich als Farold vor.

Die beiden Männer hatten ihr Dorf ebenfalls verlassen und wollten wie die Jungmänner ans große Wasser. Sie gehörten zum Stamm der Warnen, deren Gebiet sich entlang der Warnow bis ans Aestenmeer erstreckte. Daher kannten sie sich in der Gegend so gut aus. Sie erzählten den Jungmännern, dass in den letzten Jahren immer zwei Monde nach dem Frühlingsvollmond ein fremdartiges Schiff auftauchte und die Besatzung den Einheimischen Bernstein und Felle und das begehrte blonde Haar der Frauen gegen allerhand interessante Dinge eintauschte. Sie kannten genau die Stelle, an der das Schiff ankern würde.

„Es ist nicht mehr weit bis zum großen Meer, wenn ihr wollt, könnt ihr euch uns anschließen, zu fünft können wir uns besser verteidigen als zu zweit und lustiger ist es auch.“

Die beiden Männer hatten ihnen das Leben gerettet und sie wussten, wann und wo das Schiff der Fremden auftauchen würde. Man konnte meinen, dass die Götter den Jungmännern verziehen hatten, indem sie sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatten. Trotzdem waren die Fremden Aldemar und Roland nicht ganz geheuer. Irgendetwas an der Art der Männer machte sie misstrauisch, auch wenn sie nicht genau sagen konnten, was es war. So nahmen sie sich vor, wachsam zu bleiben.

Gotmar hingegen war ganz gefesselt von den Geschichten, die die beiden Männer zu erzählen wussten. Farold und Rango wollten nichts tauschen, sondern mit dem Schiff in die Nähe der Siedlung des Cheruskerfürsten Arminius reisen. Zu ihm wollten sie sich durchschlagen und sich als seine Gefolgsleute verdingen. Um diese Überfahrt bezahlen zu können, hatten sie den Winter über Fallen gestellt, um die Felle als Gegenwert für die Überfahrt anzubieten. Bei diesen Worten wurde Gotmar hellhörig, denn das war auch sein Traum. Endlich richtig kämpfen und Ruhm und Ehre erlangen. Endlich ein richtiger Krieger werden. Vermutlich langweilte Farold und Rango das friedfertige Leben in ihrem eigenen Stamm ebenso wie ihn. Für ihn stand fest, dass er sich den beiden Männern anschließen würde. Die waren nach seinem Geschmack. Mit diesem Entschluss kehrte auch seine alte Großmäuligkeit zurück. Nun fühlte er sich seinen alten Freunden wieder überlegen. Diese Memmen, die nicht mal richtig kämpfen konnten, würde er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen. Sie hatten ohnehin andere Ziele als er.

Die Jungmänner legten den Rest des Weges gemeinsam mit Farold und Rango zurück. Während dieser Zeit hockte Gotmar ständig mit ihnen zusammen und ließ sich Geschichten über den ruhmreichen Arminius erzählen.

„Armin, den die Römer Arminius nennen, ist der Sohn des cheruskischen Fürsten Sigimer. Ein Pfundskerl, sage ich euch. Der kennt die Römer und weiß genau, wie man sie bekämpfen muss. Schon als Kind wurde er zusammen mit seinem Bruder Flavus nach Rom geschickt und dort erzogen. Später kämpfte er auch in der römischen Armee, deshalb kennt er ihre Kriegsführung. Als er wieder in seine Heimat, in das Land der Cherusker, zurückkehrte, wurde er der Vertraute des römischen Statthalters Publius Quinctilius Varus. Doch dieser Mann hatte keine Ahnung von unserer Ehre und wie wichtig, ja alles entscheidend, sie für unser Leben ist. Er wusste nicht, dass sich ein Mann ohne Ehre auch gleich in sein Schwert stürzen kann. Mit seiner Rechtsprechung hat er das Ehrgefühl zahlloser Krieger verletzt. Stellt euch nur vor, er hat doch tatsächlich Krieger mit Stockhieben und Auspeitschen bestraft. Das brachte natürlich die Stammesangehörigen gegen ihn auf. Irgendwann konnte Arminius die Augen nicht mehr vor dieser Ungerechtigkeit verschließen, die sein Volk ertragen musste. Er erdachte einen raffinierten Plan gegen den übermächtigen Feind, der sich im Cheruskerland breitgemacht hatte. Im Herbst des Jahres 9 nach römischer Zeitrechnung waren die Vorbereitungen für den Aufstand beendet. Unter dem Vorwand, einige Aufständische zu bestrafen, lockte Arminius den Varus in eine Falle. In einem unwegsamen Gelände, in dem die riesige Armee leicht anzugreifen war, überfiel Arminius das Heer des Varus. Inzwischen hatten sich ihm Krieger aus verschiedenen Stämmen angeschlossen. Sogar einige Warnen sind schon vor Jahren in das Cheruskerland gezogen, um mit ihm zu kämpfen. Nur deshalb konnte er siegen, weil Krieger aus den unterschiedlichsten Stämmen an seiner Seite gekämpft hatten. Deshalb wollen wir in seinen Dienst treten.“

Als Rango seine Erzählung beendet hatte, machte sich ein Stolz auf seinem Gesicht breit, als hätte er selbst den großen Sieg errungen.

Diese Geschichte war so unglaublich, dass sie von Mund zu Mund weitergetragen wurde, und hatte sogar ihren Weg in das freie Germanien gefunden. Sie wurde an den langen Winterabenden an den Feuern immer wieder erzählt.

Als die Gefährten endlich das Aestenmeer erreichten, waren sie überwältigt von den Ausmaßen dieses Gewässers, das selbst hinter dem Horizont noch weiterzugehen schien. Von Siedlungen hielten sie sich fern, ernährten sich von Grünzeug, von Fischen und Wild. Gotmar, der bereits Jagderfahrung besaß, kam oft mit einem Hasen oder einem Reh zurück. In der Zwischenzeit sammelten Roland und Aldemar Bernstein. Nach einigen Wochen waren ihre Hosentaschen so schwer, dass nichts mehr hineinpasste. Sie ahnten nicht, welche Reichtümer sie bei sich trugen und welche Begehrlichkeiten sie damit wecken konnten.

Das Jahr ging bereits auf Mittsommer zu und sie erwarteten täglich die Ankunft des Schiffes. Eines Tages bemerkten sie in einiger Entfernung am Strand mehrere Feuer, die Tag und Nacht brannten, und eine aufgeregte Stimmung unter den Bewohnern. Die kümmerten sich nicht weiter um die Fremden, denn um diese Zeit tauchten immer mal Männer auf, die hinter dem Bernstein her waren. Einige von ihnen fuhren auch mit dem fremden Schiff fort.

Nach einigen Tagen näherte sich ein Segelschiff der Küste. Es war eine römische Trireme mit einem Rammsporn, die sowohl gerudert als auch gesegelt werden konnte. Die Besatzung bestand aus vier Matrosen und vierzig Rojern, die vor Regen und Wind geschützt unter Deck saßen. Als das Schiff dicht genug herangekommen war, wurden Boote zu Wasser gelassen, die in Richtung der Feuer ruderten.

Rango und Farold meinten, dass es besser wäre, wenn sie zunächst allein mit dem Kapitän verhandeln würden, denn sie würden ihn schon vom Vorjahr kennen, als sie mit ihm schon einmal Geschäfte gemacht hatten. Aldemar und Roland gefiel das nicht. Aber die Art, wie die beiden Männer ihnen das mitgeteilt hatten, ließ keinen Widerspruch aufkommen. Also blieb ihnen nichts weiter übrig als zu warten. Gotmar war voller Zuversicht und ging in der Zwischenzeit baden. Das herrliche Sommerwetter lud gerade dazu ein. Er war sich sicher, dass für ihn jetzt das Leben begann, nach dem er sich immer gesehnt hatte.

Der Kapitän Vallerius Aulus hatte ein kantiges, wettergegerbtes Gesicht und auf dem Kopf eine ausgeblichene Mütze, die aber noch immer seinen Rang verriet. Er fuhr diese Route schon viele Jahre und hatte die Sprache der Barbaren so gut gelernt, dass er sich mit vielen verschiedenen Stammesangehörigen einigermaßen unterhalten konnte.

Rango und Farold verhandelten mit dem Kapitän darüber, ob er sie mitnehmen könnte und zu welchem Preis. Die Anzahl ihrer Felle würde für sie beide als Gegenwert genügen. Dann erkundigten sie sich nach der Route des Schiffes und bis wo es sie mitnehmen könnte. Das Schiff würde um die Kimbrische Halbinsel und dann über die Nordsee in die Wesermündung fahren und sie ins Cheruskerland mitnehmen, also genau, wie sie es sich vorgestellt hatten. An der Römerfestung Hameln an der Weser würde die Fahrt enden. Sie vermieden es allerdings, dem Kapitän von ihrem Vorhaben zu erzählen, sich dem Cheruskerfürsten Arminius anzuschließen. Man musste diesem Römer ja nicht auf die Nase binden, dass man sich mit seinen Feinden verbünden wollte. Dann kamen sie auf die Jungmänner zu sprechen.

Doch der Kapitän wollte nicht mehr als zwei von den Barbaren an Bord nehmen. Seine Mannschaft war ohnehin schon ein bunter Haufen aus Römern und Barbaren, die den unterschiedlichsten Stämmen angehörten. Unter ihnen waren Ubier, Bataver und Cherusker. Da entstanden schnell mal Zwistigkeiten, die häufig mit den Fäusten oder dem Dolch beendet wurden. Gerade hatte der Kapitän auf diese Weise zwei Ruderer verloren. Doch auf die Ruderbank konnte er jeden setzen, daher passte es ihm sogar in den Kram, die beiden Warnen mitzunehmen. Doch die wollten ihm noch drei weitere Männer aufschwatzen und das war ihm zu viel.

„Ich kann mein Schiff nicht überladen. Wir könnten auf offener See Probleme bekommen. Ich habe keine Lust, euretwegen zu kentern“, waren die letzten Worte des Kapitäns und er wollte sich schon abwenden, als Farold ihn zurückhielt.

„Du solltest dir das noch einmal überlegen, Kapitän Aulus