Ajay und die Tintenhelden - Varsha Shah - E-Book

Ajay und die Tintenhelden E-Book

Varsha Shah

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Beschreibung

Ajay hat einen großen Traum: Er will später einmal ein bekannter Journalist werden. Als Straßenjunge in Mumbai hat er es bisher allerdings nur zum Zeitungsverkäufer gebracht. Doch Ajay ist sich sicher: Nichts ist unmöglich! Als eine Kleidungsfabrik in der Nachbarschaft bei einem heftigen Monsunregen unter mysteriösen Umständen einstürzt, schwört er sich, der Sache nachzugehen. Zusammen mit seinen Freunden gründet er eine eigene Zeitung, in der er die Wahrheit ans Licht bringen will. Dabei legen sich die fünf mit einigen der einflussreichsten Menschen Mumbais an, die es gar nicht gerne sehen, wenn eine Bande Straßenkinder ihnen einen Strich durch die Rechnung machen will ...

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Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Varsha Shah

Ajay und die Tintenhelden

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

© Arche Atrium AG, Zürich, 2022

(Imprint Atrium Kinderbuch)

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Ajay and the Mumbai Sun bei Chicken House.

Text © Varsha Shah, 2022

Cover und Illustrationen © Sònia Albert, 2022

Published by Arrangement with CHICKEN HOUSE PUBLISHING LTD., 2 Palmer Street, FROME, SOMERSET BA11 1DS, United Kingdom

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-208-8

 

www.atrium-verlag.com

www.instagram.com/atrium_kinderbuch_verlag

Für Lou Kuenzler

 

Für die derzeitige und ehemalige Belegschaft und die Schüler der Kurayoshi Sogo Sangyo Kyogo Koko

 

Für die Klasse 7–10L & 10E1 und für »Die Wombats«

1

Der Nachmittagszug tuckerte langsam in den Bahnhof von Mumbai.

Ajay lächelte, obwohl sein Magen knurrte. Er nahm die neueste Zeitung und wedelte damit wie mit einer Zielflagge beim Motorsport herum. Dabei schrie er aus vollem Hals: »Zehn Rupien. Nur zehn Rupien für die neuesten Nachrichten. Lesen Sie alle Neuigkeiten!«

Ein Geschäftsmann mit einem kahlen, eiförmigen Kopf und gezwirbeltem Schnurrbart blieb stehen. »Wie viel?«

Ein Käufer! Ajay wedelte die Zeitung noch einmal hin und her. »Nur zehn Rupien!«

Der Mann sah ihn mit einem listigen Glitzern in den Augen an. »Und woher soll ich wissen, ob die Nachrichten es wert sind, gelesen zu werden?«

»Heute ist eine Menge passiert«, antwortete Ajay.

»Was denn alles?«

Ajay erinnerte sich an den frühen Morgen am Bahnhof, als er die Zeitung von vorn bis hinten durchgelesen hatte, ganz vorsichtig, um sie nicht zu zerknittern oder die frisch gedruckten Seiten zu beflecken. »Es gab ein Erdbeben in Hyderabad.«

Der Geschäftsmann zuckte die Achseln. »Und das ist alles?«

»Zehn Rupien!«, sagte Ajay mit fester Stimme und streckte die Hand aus.

Hämisch grinsend beugte sich der Mann herunter, bis sein Gesicht ganz nah vor Ajays war. »Dann sag mir mal, warum ich diese Zeitung kaufen soll, wenn du mir schon die Hauptnachricht erzählt hast? Ich gebe dir einen Ratschlag, Kleiner, und zwar umsonst: Wenn du in dieser Welt Erfolg haben willst, solltest du nie etwas hergeben, ohne dafür Geld zu verlangen!«

Damit drehte er sich lachend um und wollte weitergehen.

»Aber mein Herr«, sagte Ajay. »Das ist nicht die wichtigste Neuigkeit in der Zeitung.«

Der Mann hielt inne und wandte sich dann wieder dem Jungen zu. »Ach nein? Was gibt es denn noch?«

»Es wurde ein neues Mittel gegen Haarausfall erfunden.«

»Zeig mal her!« Der Geschäftsmann schnappte sich die Zeitung, wobei er sie einriss, und blätterte sie hastig durch. »Wo?«

»Im Anzeigenteil.«

»Ich bezahle doch keine zehn Rupien für eine Anzeige, du Bengel!«

Empört richtete Ajay sich zu seiner vollen Größe auf, was zugegebenermaßen trotzdem nicht besonders groß war. Mit seinen zwölf Jahren – oder ungefähr zwölf Jahren – war er immer noch deutlich kleiner als die anderen Kinder, die hier am Bahnhof herumlungerten. Er baute sich vor dem Mann auf und versuchte genauso würdevoll zu sprechen wie Niresh, der Bahnhofsvorsteher, wenn er mit seinen Angestellten redete.

»Mein Herr, ich bin kein Bengel. Die Zeitung kostet zehn Rupien. Bitte geben Sie mir das Geld sofort, sonst sehe ich mich gezwungen …« An dieser Stelle holte Ajay Luft, um seine Worte wie Zuckerwürfel in heißen Chai-Tee einsinken zu lassen. »… die zuständigen Behörden zu alarmieren.«

Der Geschäftsmann sah kurz erschrocken aus, doch dann begann sich sein Gesicht aufzublähen wie die Wangen eines Fisches.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Ajay ernsthaft besorgt.

Der Mund des Mannes öffnete und schloss sich wieder, und sein Gesicht lief rot an. »Du schmutziger kleiner …«

»Gibt es ein Problem?« Niresh trat vom Bahnsteig auf sie zu.

»Dieser schmutzige kleine Dieb …«, brachte der Geschäftsmann heraus, doch Ajay unterbrach ihn.

»Dieser Mann hat meine Zeitung genommen und gelesen, und jetzt will er mir meine zehn Rupien nicht geben.«

Niresh blickte von Ajay zu dem Geschäftsmann, der immer noch die angerissene Zeitung in der Hand hielt, und sagte dann sanft: »Es tut mir schrecklich leid, Sahib, aber ich fürchte, der Junge hat recht.«

»Wie können Sie es wagen?«, schrie der Geschäftsmann.

»Sie halten den Beweis doch in der Hand«, sagte Niresh. »Die Zeitung wurde eindeutig gelesen. Das lässt sich nicht abstreiten. Sie müssen dem Jungen zehn Rupien bezahlen.«

Der Mann schäumte vor Wut. »Ich bezahle hier gar nichts. Das ist doch Betrug!«

Niresh warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr und sagte mit der für ihn typischen Geduld: »Wie Sie meinen. Dann müssten wir allerdings Ihre Aussage aufnehmen, was ein paar Stunden dauert. Und ich glaube, Ihr Zug fährt in … drei Minuten?«

Der Geschäftsmann schaute hektisch zum Zug, dessen schwerer Motor gurgelte und der gerade eine schwarze Rußwolke in die Luft ausstieß. Dutzende Leute drängten sich hinein, einige hingen bereits an seinen Seiten und aus den Fenstern. Händler rannten eilig herbei, sodass die metallenen Armreife in ihren Körben klimperten und die Kisten mit kaltem Zitronenwasser zischten. Dem Geschäftsmann rann der Schweiß über das Gesicht.

»Zwei Minuten«, sagte Ajay zuvorkommend.

»Du hinterlistige kleine Eisenbahnratte!«

»Ich glaube, Sie müssen sich ein bisschen beeilen«, griff Niresh noch einmal ein und zwinkerte Ajay heimlich zu.

Der Mann gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Knurren und einem Brummen lag, holte seine lederne Brieftasche hervor und fischte zehn Rupien heraus.

»Danke«, sagte Ajay und strahlte ihn an.

Der Geschäftsmann sah aus, als hätte er Ajay mit seiner Brieftasche am liebsten eins übergezogen.

»Gehen Sie lieber!«, sagte Niresh. »Sie wollen den Zug doch nicht noch verpassen.«

Mit einem letzten Schnauben drehte der Mann sich um und begann zu rennen. Er war sofort außer Atem.

»Der Gesundheitsteil ist auf Seite fünf!«, rief Ajay ihm winkend hinterher.

2

In diesem Moment strömte ein köstlicher Duft nach gebratenen Tomaten, zerdrücktem Knoblauch und Ingwer durch die Luft. Ajay lief zum Bahnsteig und sog ihn tief ein. Heute war sein Glückstag! Etwas abseits der hin und her laufenden Passagiere stand Vinod, einer der älteren Eisenbahnjungs, und kochte auf einem kleinen Herd. Vinod war schlaksig und sanftmütig und, nach Ajays Meinung, der beste Koch in ganz Mumbai.

»Hey! Vinod!«, rief Ajay und lief zu seinem Freund hinüber.

»Ajay.« Vinod schaute hoch. Er hatte einen dunklen Fleck auf der Wange.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«

Vinod drehte den Kopf weg. »Ach, nichts.«

Ajay fragte nicht weiter, spürte aber, wie sich seine Hände unwillkürlich zu Fäusten ballten. Vinod wusste nicht, dass Ajay ihm einmal gefolgt war, um herauszufinden, woher die vielen blauen Flecken auf dem Körper seines Freundes kamen. Durch das Fenster des Restaurants, in dem Vinod als Tellerwäscher arbeitete, hatte er beobachtet, wie Mahesh, der Besitzer, Vinod mitten ins Gesicht geschlagen hatte, weil dieser eine unsaubere Stelle übersehen hatte. Ajay hatte hilflos dabei zugesehen und sich geschworen, dass er Mahesh eines Tages zur Rede stellen würde. Jetzt wiederholte er in Gedanken sein Versprechen.

»Bedien dich«, sagte Vinod leise.

Ajay gab ihm fünf Rupien – ein Betrag, für den er sonst nicht mal die Zutaten für dieses Essen bekommen hätte – und nahm sich einen Teller. Das Curry schmeckte rauchig und warm und einfach nur köstlich.

Vinod beobachtete ihn mit besorgtem Blick. »Ist es in Ordnung? Nicht zu viel Salz? Oder zu viel Chili?«

Ajay schlürfte genüsslich. »Es ist perfekt, Vinod! Eines Tages wirst du ein berühmter Chefkoch sein.« Doch er bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte.

Vinod war ein Dalit, und obwohl das Gesetz sagte, dass er nicht diskriminiert werden durfte, tat Mahesh genau das. Er nannte ihn einen »Unberührbaren aus der untersten Kaste« und ließ es nicht zu, dass Vinod auch nur in die Nähe von Lebensmitteln kam.

All das machte Ajay unglaublich wütend und traurig. Er überlegte, wie er seine Worte zurücknehmen könnte. Aber Vinod schüttelte nur den Kopf und wechselte das Thema. »Du erzählst doch immer von diesem Mr Gupta, richtig?«

Ajays Augen begannen zu glänzen. Das tat er tatsächlich. Mr Gupta war der Herausgeber der größten Tageszeitung in ganz Mumbai und Ajays großer Held. Denn Journalist zu werden, war sein größter Traum.

Vinod schob seine Brille hoch. »Mr Gupta wird heute Abend im Restaurant sein.«

Ajay ließ beinahe den Teller fallen. »Bist du sicher?«

Vinod lächelte. »Natürlich bin ich mir sicher. Er hat einen Tisch reserviert.« Er sah Ajay prüfend an. »Geht es dir gut?«

Ajay nickte, doch er hörte kaum noch zu. Wenn das seine Chance war, Mr Gupta endlich persönlich kennenzulernen, musste er sie ergreifen.

3

Ajay rannte über den Markt. Hier war es heiß und stickig und voller Menschen, die Besorgungen machten, plauderten und Karten spielten. Er achtete nicht auf die Gewürzhändler mit ihren Zimtstangen, nieste nur einmal kurz, als er an den Fässern voll rotem Chilipulver vorbeikam, und verhedderte sich bei den Sari-Verkäufern beinahe in einer langen gelben Stoffbahn.

Dann hatte er es endlich geschafft. Vor ihm lag sein Lieblingsplatz: der Gang mit den Papierwaren und Büchern. Am Anfang der Gasse stand ein knorriger Feigenbaum, der Schatten spendete und die Straße mit sonnigen Flecken übersäte. Die Sonnenflecken bewegten sich mit dem Laub, aber dafür hatte Ajay jetzt keine Zeit. Es waren nur noch ein paar Stunden, bis Mr Gupta im Restaurant erscheinen würde.

»Mr Sandhu!«, rief Ajay. »Mr Sandhu! Ich will etwas kaufen!«

Hinter einem Stand tauchte der bunte Turban von Mr Sandhu auf. »Ajay. Heute ist aber nicht dein Geburtstag, wenn ich mich nicht irre, oder?«

Ajay schüttelte den Kopf. Er kam ständig zu Mr Sandhus Stand. Der alte Verkäufer schenkte ihm immer alles, was er ansonsten wegwerfen musste: beflecktes Papier, halb zerbrochene Tintenfläschchen, zerrissene Zeitschriftenseiten. Nur an seinem Geburtstag kaufte sich Ajay etwas Neues. Dafür sparte er das ganze Jahr. Heute war zwar nicht sein Geburtstag, aber es fühlte sich beinahe so an, denn vielleicht würde endlich Ajays größter Traum wahr werden!

»Nein, heute ist nicht mein Geburtstag. Aber ich habe einen sehr wichtigen Auftrag«, rief er strahlend. Dann schaute er sich vorsichtig um und flüsterte Mr Sandhu hastig zu: »Ich schreibe einen Zeitungsartikel, den der großartige Mr Gupta höchstpersönlich lesen wird.« Und mit lauter Stimme fuhr er fort: »Und daher, Mr Sandhu, brauche ich die allerbeste Tinte, die Sie haben.«

»Die allerbeste?«

»Die allerbeste«, bestätigte Ajay.

»Und, sag mal.« Mr Sandhu hüstelte leicht. »Hast du denn auch genug Geld dafür? Für die allerbeste Tinte?«

Ajay nickte eifrig. »Na klar! Ich habe sieben ganze Rupien.« Stolz hielt er dem Händler seine gesamten Ersparnisse hin.

»Sieben Rupien?«, wiederholte Mr Sandhu schwach.

Ajay nickte.

»Na dann, lass mich mal nachschauen, was ich für dich habe.« Mit einem Seufzer verschwand Mr Sandhu hinter seinem Stand.

Ajay schaute sich voller Begeisterung um. Im vorderen Teil des Standes stapelte sich weißes Zeichenpapier, das mit perlweiß schimmernden Muschelhörnern beschwert war. An der Seite lagen unzählige Stifte – Kugelschreiber, Füllfederhalter, Stifte aus Indien, aus Deutschland und aus der Schweiz. Einige waren in Plastik eingeschweißt, andere lagen in offenen, mit Samt ausgelegten Schachteln, die Ajay nur zu gern berührt hätte. Und im hinteren Teil des Standes gab es Papier aus der ganzen Welt – hauchdünnes Reispapier aus Japan, seidiges, mit Muscheln geglättetes Papier aus dem Iran und dickes, marmoriertes Papier aus Venedig. Ajay riss sich nur ungern von diesem herrlichen Anblick los, doch die Zeit lief ihm davon.

»Mr Sandhu!«, rief er. »Es tut mir sehr leid, aber ich habe es etwas eilig. Könnten Sie bitte schnell suchen?«

Mr Sandhu kam zurück und reichte ihm ein Glasfläschchen mit schwarzer Tinte.

»Ist diese Tinte zu deiner Zufriedenheit?«, fragte er.

Ajay hielt sich das Fläschchen wie ein Monokel vor die Augen. Die Tinte darin wirbelte in dunklen, schimmernden Regenbogenfarben umher. Er nickte zufrieden und reichte Mr Sandhu feierlich die sieben Rupien. »Danke, Mr Sandhu. Damit werde ich wunderbar den sehr wichtigen Artikel für Mr Gupta schreiben können.«

Er winkte dem Händler zu und wirbelte herum, um zurück zum Bahnhof zu laufen.

Doch im gleichen Augenblick stieß er so heftig mit jemandem zusammen, dass er von den Füßen gerissen wurde und ihm das Tintenfässchen aus der Hand flog.

Ajay rappelte sich auf und schaute hoch. Vor ihm stand ein ungefähr vierzigjähriger Mann, der wie ein Bollywood-Schauspieler aussah, mit lockigem schwarzem Haar, dunkelgrünen Augen und messerscharf ausgeprägten Wangenknochen. Er trug einen offenbar sehr teuren weißen Anzug.

Nur dass dieser weiße Anzug nicht länger weiß war. Der Verschluss auf dem Tintenfläschchen hatte sich gelöst, und die schwarze Tinte hatte den Mann von oben bis unten bekleckert, sodass er jetzt aussah wie einer der 101 Dalmatiner, die Ajay vor langer Zeit in einem Zeichentrickfilm gesehen hatte.

Hinter ihm hauchte Mr Sandhu mit schwacher Stimme: »Mr Raz.«

4

Ajay tat dieser Mr Raz in seinem beklecksten Anzug leid, aber sich selbst tat er noch viel mehr leid. Die schöne Tinte war komplett verschüttet! Was sollte er denn jetzt tun?

Vorwurfsvoll sah er zu Mr Raz hoch und sagte bitter: »Warum passen Sie nicht auf, wo Sie hingehen?«

»Ajay!« Mr Sandhu klang ein wenig atemlos.

Mr Raz zog die Brauen hoch und schaute Ajay verwundert an. Dann atmete er tief durch, nahm die Taschentücher, die Mr Sandhu ihm reichte, und sagte mit ruhiger, tiefer Stimme: »Findest du nicht, dass du derjenige bist, der sich bei mir entschuldigen sollte? Schließlich hast du gerade meinen Anzug ruiniert.«

Ajay starrte ihn an. »Nein, Sie verstehen mich nicht. Es geht um Mr Gupta. Ich brauche ihn, und Mr Gupta braucht einen Artikel. Und für diesen Artikel brauche ich Tinte.« Er atmete tief durch, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. »Und diese Tinte ist jetzt auf Ihrem Anzug.Deshalb brauche ich neue, und dabei habe ich nur noch ein paar Stunden! Ich muss jetzt los.«

»Nicht so schnell!«, sagte Mr Raz und packte ihn an der Schulter.

Ajay durchzuckte eine plötzliche Angst. Der Anzug sah tatsächlich sehr teuer aus. Würde der Mann fordern, dass Ajay ihm die Reinigung bezahlte? Er versuchte sich loszureißen, aber Mr Raz’ Griff war erstaunlich fest. Ajay wollte gerade um Hilfe rufen, als Mr Raz fragte: »Meinst du Mr Gupta, den Herausgeber vom City Paper?«

Ajay hielt inne und nickte.

Mr Raz sah ihn prüfend an. Seine grünen Augen glitzerten amüsiert. »Du schreibst für die angesehenste Zeitung in Mumbai?«

Ajay nickte erneut, doch dann siegte seine Ehrlichkeit. »Ich werde für sie schreiben. Aber damit Mr Gupta weiß, dass er mich anstellen muss, muss er erst meinen Artikel lesen.«

Doch wie sollte er diesen Artikel ohne Tinte schreiben?

Das amüsierte Glitzern verschwand aus Mr Raz’ Augen, und er ließ Ajays Schulter los. Sein Blick wirkte jetzt abwesend, als dachte er an eine frühere Zeit. »Dein Ehrgeiz erinnert mich an mich selbst, als ich jung war.« Er schaute an seinem Anzug herab, von dem die Tinte tropfte, und seufzte. »Ich hoffe, dass ich das hier nicht bereuen werde. Mr Sandhu, bitte geben Sie diesem Jungen alles, was er braucht, um seinen Artikel zu schreiben, und setzen Sie es auf meine Rechnung.«

»Alles, was ich brauche?«, fragte Ajay atemlos.

»Alles, was du brauchst«, sagte Mr Raz und lachte. »Manchmal geht das Schicksal verschlungene Wege, Junge. Ein kleines Samenkorn kann selbst unter den schwierigsten Umständen zu einem Baum heranwachsen. Und wir können nie genügend Bäume haben.« Mit einem Lächeln zeigte er auf den Feigenbaum. »So, wenn es dir nichts ausmacht, werde ich jetzt nach Hause gehen und mich umziehen.« Er schaute über Ajays Kopf hinweg den Besitzer des Standes an. »Mr Sandhu.«

Dieser nickte. »Mr Raz.«

Dann schauten er und Ajay Mr Raz nach, wie er in der Menge verschwand. Viele Leute machten hastig Fotos von ihm, als er an ihnen vorbeikam.

Mr Sandhu sah Ajay voller Ehrfurcht an. »Weißt du eigentlich, wer das gerade war?«

Ajay zuckte mit den Schultern. »Mr Raz?«

Der Verkäufer schüttelte entgeistert den Kopf. »Ja, genau. Das war Mr Raz. Der einzigartige Mr Raz. Der große Umweltschützer und eine Inspiration für uns alle.« Mit einem Lachen wandte er sich Ajay zu und sagte mit veränderter Stimme: »Also gut, mein Herr, was möchten Sie denn gern kaufen?«

Ajay riss begeistert die Augen auf und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Jetzt hatte er wieder Hoffnung.

5

Ajay rannte die gewundene Treppe des Bahnhofstürmchens hinauf, wobei er das Kristallfläschchen mit der Tinte und die fünf Blätter Papier, die er von Mr Sandhu bekommen hatte, fest umklammerte. Er duckte sich unter einem Absperrband und dem Schild mit der Aufschrift »Kein Eingang! Sehr gefährlich! Großes Loch!!!!!« hindurch (wobei ihm auffiel, dass er es bald mal erneuern musste) und krabbelte durch eine offene Tür, die gerade so hoch war wie er selbst, in das kleine Zimmer dahinter.

Das goldene Nachmittagslicht drang durch die runden Fenster des Türmchens und kitzelte ihn in der Nase, sodass er niesen musste. Hier war es, sein Zimmer! Es war nicht groß – man konnte sich nicht einmal ausgestreckt hinlegen –, tagsüber war es zu heiß und nachts zu kalt, aber es war der einzige Ort, an dem Ajay allein sein und in Ruhe schreiben konnte. Er hatte es eines Tages im Bahnhof entdeckt, als er die Steinstufen des Türmchens immer weiter hinaufgestiegen war. Damals war er ungefähr zehn Jahre alt gewesen und der Einzige unter den Bahnhofskindern, der keine Höhenangst hatte.

In diesem Moment hörte Ajay durch den Fußboden, wie die Bahnhofsuhr laut dröhnend zur vollen Stunde schlug. Er ließ die Blätter auf seinen selbst gebauten Schreibtisch fallen (zwei Kisten, auf denen ein Holzbrett lag), stellte das Kristallfläschchen mit der Tinte vorsichtig daneben und setzte sich vor Aufregung zitternd hin. Er hatte Papier! Er hatte Tinte! (Ein leuchtendes Violett, das man nicht so leicht vergessen konnte.) Er hatte den Füllfederhalter seiner Mutter!

Und dank Mr Raz hatte er auch seine Geschichte.

Ajay seufzte vor Glück und begann mit kratzender Feder zu schreiben. Als er bereits eine halbe Seite gefüllt hatte, runzelte er die Stirn, streckte sich kurz und holte dann ein dickes Album aus einer der Schreibtisch-Kisten.

Er liebte dieses Album. Seine Freundin Yasmin hatte es für ihn aus Papierstücken gebastelt, die sie in Mülleimern gefunden hatte. Sie musste Stunden damit verbracht haben, die Fetzen in der Fabrik, in der sie arbeitete, mit unsichtbaren Nähten zu einem Buch zusammenzufügen. Ajay sammelte darin seine Lieblingsartikel, die er vorsichtig ausgeschnitten und mit Leim aus einem Topf hineingeklebt hatte. Darunter waren alle Artikel von Mr Gupta, die Ajay in die Finger bekommen konnte, Restaurantbewertungen vom »Kanarienvogel« (der berühmtesten Restaurantkritikerin in Mumbai) und Geschichten über Indiens Kricket-Team.

Jetzt öffnete er das Album und blätterte vorsichtig die knisternden Seiten um. Plötzlich hielt er inne und stieß einen triumphierenden Laut aus. Er war sich so sicher gewesen, dass er Mr Raz schon einmal gesehen hatte, und er hatte recht gehabt! Auf der Doppelseite vor ihm klebten Bilder von Mr Raz in seinem weißen Anzug, wie er in der ganzen Welt Preise für seine Arbeit im Umweltschutz entgegennahm, und dazu Artikel mit schmeichelhaften Zitaten von Politikern, Unternehmern und Prominenten über ihn.

Ajay las sich die Seite noch einmal durch und fuhr dann mit seinem Artikel fort.

 

Die Bahnhofsuhr schlug zu jeder vollen Stunde.

Die Sonne am Himmel sank.

Beim dritten Läuten schaute Ajay auf. Sein Kopf glühte, und seine Hand schmerzte, doch es war vollbracht! Sein Artikel über Mr Raz war fertig. Er hatte sogar eine packende Überschrift: »Der Feigenbaum und der Mann im weißen Anzug!«

Ajay konnte seine Aufregung kaum noch unterdrücken und hätte am liebsten vor Freude getanzt. Stattdessen kletterte er auf eine Kiste, streckte den Kopf durch das gewölbte Fenster und schaute hinaus. Selbst die reichen Leute, die im Taj wohnten, hatten nicht so einen herrlichen Ausblick! Im Licht der tief stehenden Abendsonne erstreckte sich ganz Mumbai unter ihm – und es vibrierte vor Energie. Unzählige Menschen wimmelten wie Ameisen zwischen brummenden und hupenden Autos durch die Straßen, dazwischen leuchtete der Rasen des Kricket-Spielfelds wie eine kleine hellgrüne Briefmarke, und in der Ferne glitzerten die silbrig glänzenden Wolkenkratzer im Licht wie Millionen kleiner Spiegel.

Ajay schloss die Augen. Schon bald würde jeder in Mumbai seinen Artikel in der neusten Ausgabe des City Paper sehen! Einen Moment lang genoss er die Vorstellung, dann stieß er sich vom Fenster ab und sprang von der Kiste herunter. Er biss sich auf die Unterlippe, zog langsam den schwarzen Füllfederhalter seiner Mutter hinter dem Ohr hervor und öffnete ihn. Die goldene Feder blitzte im letzten Tageslicht auf.

Ajay seufzte. Der Füller war alles, was er noch von seiner Mutter besaß. Sie hatte ihn in dem Tuch versteckt, in dem sie auch ihren Sohn auf dem Bahnsteig zurückgelassen hatte.

In diesem Moment fuhr der Wind herein und wehte die Blätter vom Schreibtisch. Ajay schloss eilig das Fenster, kniete sich hin und sammelte die Seiten ein. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Sein Artikel war fertig, und jetzt musste er ihn nur noch Mr Gupta bringen.

6

Ajay rannte wie der Wind, den Artikel fest in der Hand. Das hier war wahrscheinlich seine einzige Gelegenheit, Mr Gupta zu treffen, und er durfte auf keinen Fall zu spät kommen!

Die Sonne war bereits fast untergegangen, und Mumbai war erfüllt von streitenden, lachenden, plaudernden und trinkenden Menschen. Frauen in seidenen Saris, geschmückt mit glitzernden Rubinen und schimmernden Perlen, stiegen aus eleganten, von Chauffeuren gesteuerten Autos. Über einigen immer noch geöffneten Läden blinkten Neonschilder, und aus den Schnellrestaurants drang grelles Licht auf die Straßen.

Die Lichter des Restaurants, in dem Vinod arbeitete, waren anders. Sie strahlten weich und golden, um zu zeigen, wie exklusiv das Lokal war. Ajay warf einen schnellen Blick durch das Fenster und atmete tief durch. Er hatte es rechtzeitig geschafft. Dort, an einem kleinen Tisch, saß Mr Gupta. Ajay hätte das ledrige Gesicht des Herausgebers überall erkannt, so oft hatte er dessen Foto über den Leitartikeln betrachtet. Mr Gupta saß allein an seinem Tisch, abseits der anderen Gäste, und aß hastig. Schweiß rann ihm von den Brauen und den Schläfen.

Ajay rannte zum hinteren Teil des Restaurants und schlüpfte durch die eiserne Tür in die Küche. Er brauchte eine Weile, bis er Vinod unter den Köchen und Kellnern entdeckte. Sein Freund wischte gerade eine Ecke der Küche.

»Vinod!«, flüsterte Ajay.

Vinod wandte sich um und winkte Ajay zu sich rüber.

»Mr Gupta ist noch da. Du hast ungefähr eine halbe Stunde, bis Mahesh zurückkommt«, sagte er leise, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand sie beachtete.

Ajay nickte. »Du hast was bei mir gut, Vinod Bhai.«

»Schon in Ordnung. Lass dich bloß nicht erwischen.«

Ajay atmete tief durch und ging in den Speisesaal des Restaurants, wobei er darauf achtete, den Kellnern nicht in die Quere zu kommen. Plötzlich merkte er, dass der Artikel in seiner Hand ganz zerknittert war, aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Hoffentlich würde Mr Gupta sein Talent dennoch erkennen und ihn als Mitarbeiter akzeptieren. Fest entschlossen ging Ajay zu Mr Guptas Tisch. Doch dieser bemerkte ihn nicht und aß einfach weiter sein Curry.

»Mr Gupta«, sagte Ajay zaghaft, aber die Worte kamen nur als leises Quieken heraus. Er räusperte sich und versuchte es erneut. »Mr Gupta!«

Na wunderbar, diesmal hatte er so laut geschrien, dass Mr Gupta vor Schreck seinen Löffel fallen ließ und sich dann mit zusammengezogenen Brauen umschaute.

Ajay hüstelte, und Mr Gupta sah zu ihm hinunter.

Jetzt oder nie. »Mr Gupta. Ich heiße Ajay, und ich möchte für Ihre Zeitung arbeiten.« Mr Guptas Augen weiteten sich, doch er sagte kein Wort, was Ajay als gutes Zeichen nahm. »Mein größter Traum ist es, Reporter zu werden. Ich weiß, dass ich jetzt noch zu jung dafür bin, aber ich bin bereit, mit jedem anderen Job zu beginnen – ich kann putzen oder Tee machen oder Besorgungen erledigen. Lassen Sie mich nur für die Zeitung arbeiten. Ich finde schon einen Weg, mich zum Journalisten hochzuarbeiten.«

Mr Gupta starrte ihn immer noch sprachlos an. Dann fragte er: »Wer bist du? Und wie hast du mich gefunden?«

Ajay überlegte zu lügen, entschied sich aber dagegen. Mr Gupta war Journalist und würde eine Lüge sofort bemerken.

»Mein Freund arbeitet hier. Er hat Ihren Namen auf der Reservierungsliste gesehen.«

»Und du willst für meine Zeitung arbeiten?«, wiederholte Mr Gupta.

Ajay nickte heftig. Das war es, was er schon immer gewollt hatte, der einzige Traum, den er je gehabt hatte. Wie konnte er Mr Gupta das nur erklären? In seinen ersten Jahren auf der Straße hatte er auf dem Bahnsteig unter Zeitungen geschlafen, um sich warm zu halten. Er hatte mithilfe von Zeitungen lesen gelernt und jedes neue Wort wie ein Juwel gehütet. In der Nacht, wenn die Kindesentführer unterwegs waren, hatte sich Ajay wach gehalten, indem er sich die Schlagzeilen immer wieder vorgesagt hatte. Und jetzt wollte er nichts mehr als ein Reporter sein. Und er würde es schaffen, wenn Mr Gupta ihm nur eine Chance gab.

Mr Gupta trank einen Schluck Limettenwasser und beobachtete Ajay über den Rand seines Glases hinweg. Dann beugte er sich mit zusammengezogenen Brauen nach vorn. »Tut mir leid, Junge, aber ich kann dir nicht helfen.«

Ajays Herz setzte kurz aus. »Bitte! Sir … ich …«

Doch Mr Gupta schüttelte den Kopf. »Wie alt bist du eigentlich? Zehn? Du solltest zur Schule gehen.«

Verzweifelt hob Ajay die Hände. Wie konnte er Mr Gupta nur klarmachen, dass er arbeiten musste, dass er bereits Zeitungen verkaufte, um zu überleben?

»Ich bin vierzehn«, log er.

»Nein, ich will nichts mehr davon hören«, fuhr Mr Gupta ihn an. »Ich soll dir eine Arbeit bei der Zeitung anbieten? Ha! Weißt du nicht, was mit den Zeitungen gerade passiert? Ich habe womöglich bald selbst keinen Job mehr. Niemand will mehr Zeitungen lesen, alle schauen nur noch auf ihr Handy. Und jetzt lass mich in Ruhe! Ich will zu Ende essen.«

Ajay biss die Zähne zusammen. Er musste Mr Gupta unbedingt dazu bringen, dass er ihn verstand. »Bitte, Sir. Geben Sie mir eine Chance. Lesen Sie das hier. Das ist ein Artikel von mir über den großen Umweltschützer Mr Raz, den ich heute getroffen habe.« Er hielt die zerknitterten Blätter in die Höhe.

Mr Gupta sah ihn durchdringlich an. Aber bevor er etwas sagen konnte, spürte Ajay, wie ihm der Artikel aus der Hand gerissen wurde. Als er sich umdrehte, schaute er in das wütende Gesicht von Mahesh, dem Besitzer des Restaurants. Er war früher als geplant zurückgekommen!

»Was ist das?«, fragte Mahesh mit einem hässlichen, höhnischen Unterton. »Eine Straßenratte stört in meinem Restaurant die Gäste? Meine aufrichtige Entschuldigung, Mr Gupta.« Er warf einen Blick auf den Artikel, den er Ajay entrissen hatte, und begann zu lachen. »Unsinniges Gekritzel auf einem Fetzen Papier? Und dann tust du auch noch so, als hättest du Mr Raz kennengelernt!«

Ajay spürte, wie er vor Scham rot wurde. »Das gehört mir. Geben Sie es mir wieder!«

Plötzlich hörte Mahesh auf zu lachen. Er starrte Ajay direkt in die Augen und zerriss den Artikel dann langsam und genüsslich in kleine Stücke.

»Hören Sie auf!«, schrie Ajay und versuchte, die Schnipsel aufzufangen.

»Ist das wirklich nötig, Mahesh?!«, rief Mr Gupta, der verärgert aufgesprungen war.

»Was glaubt dieser Bengel, wer er ist?«, knurrte Mahesh. »Journalisten kommen aus dem Elphinstone College oder der Churchill School, nicht aus den Slums!« Er packte Ajays Arm so fest, dass es wehtat. »Und jetzt raus mit dir!«

Mr Guptas Stimme war im ganzen Restaurant zu hören. »Genug, Mahesh. Lassen Sie den Jungen los – sofort!«