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Stell dir vor, du bekommst übernatürliche Kräfte, wenn du dich tötest … -1001- Seit Jahren kursiert das Gerücht über eine mysteriöse App, die die Realität verändern kann. Chiara hält das für Unsinn, bis sie ihrem totgeglaubten Bruder begegnet. Sie verschafft sich Zugang zur App, um zu erfahren, was real ist und was nicht. Dabei stößt sie auf Wissen von ungeheurer Macht, die einen alles vernichtenden Krieg auslösen könnte, wenn sie in falsche Hände gelangt. -1003- Ryan wacht mit Erinnerungslücken und voller Erde in seiner Wohnung auf. Schnell wird ihm klar: Er hat übernatürliche Fähigkeiten und Forscher im Nacken sitzen, die an ihm experimentieren wollen. In der Hoffnung auf einen Ausweg will er herausfinden, was die Senatorin mit den Wissenschaftlern zu tun hat, und sucht ihre Tochter, Ella, auf. Auf der Suche nach Antworten geraten beide in einen Kampf jenseits aller Vorstellungskraft. Wo liegen die Grenzen von Menschlichkeit und Realität? Akaras – eine neue Interpretation von Parallelwelten.
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Seitenzahl: 622
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ramona Paul
Akaras
Eine neue Realität
Band 1
Text / Inhalt: © 2025 by:
Ramona Paul
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
www.ramona-paul.de
Lektorat: Raphaela Schöttler-Potempa vom Zeilenfeuerlektorat
Korrektorat & Buchsatz: Sophie Obwexer
Umschlaggestaltung & Zierden: © 2025 by Nina Hirschlehner
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Hierbei handelt es sich um eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ramona Paul wurde im Jahr 1995 im schönen Bayern geboren. Sie ist gelernte Einzelhandelskauffrau und Modedesignerin, doch nichts davon hat ihr die Erfüllung geboten, die sie sich gewünscht hat. Im Jahr 2021 hat sie ihren ersten Roman beendet und veröffentlicht. Seitdem ist sie Autorin und hat darin ihre Leidenschaft gefunden.
Webseite: www.ramona-paul.de
1
Ryan, 25. April 2024
Der widerliche Geschmack von Galle und Säure stieg mir in die Kehle. Ich schlug die Augen auf. Meine Umgebung drehte sich wie ein Karussell. Das war zu viel für meinen Magen.
Hastig richtete ich mich auf und taumelte ins Badezimmer. Gerade so schaffte ich es, den Toilettendeckel hochzuklappen, bevor mein Mageninhalt den Weg nach oben nahm. Dunkle Klumpen fielen in die Kloschüssel. Ein ekelerregender Geruch von Erbrochenem erfüllte den Raum und meine Kehle brannte.
Stöhnend setzte ich mich neben das Klo und lehnte mich gegen eine Wand.
Ich fühlte mich, als wäre ich im Schleudergang gewaschen worden und hätte anschließend tagelang in einem Trockner verbracht.
Fuck, was ist passiert?
So beschissen hatte ich mich seit Ewigkeiten nicht gefühlt.
Ich versuchte mich zu erinnern, doch da war nichts. Nur ein großes dunkles Loch.
Aber ich wusste, dass ich in meiner Wohnung war.
Zur Absicherung ließ ich meinen Blick in dem kleinen Badezimmer umhergleiten. Der rechte Griff des Schränkchens unter dem Waschbecken war abgebrochen und auf dem weißen Möbelstück standen ein paar Deodosen.
Ja, definitiv meine Wohnung.
Immerhin eine klare Information.
Ich hatte oft einen Filmriss. Aber dass ich nicht mal mehr wusste, was ich vorgehabt und zuletzt getan hatte, war nicht normal.
Ein pochender Schmerz durchzog meine Schläfen.
Ich schluckte. Es kratzte in meiner Kehle und ich hustete.
Mit dem Waschbecken im Visier hievte ich mich in die Höhe und drehte den Wasserhahn auf. Gierig sog ich das Wasser im freien Fall zwischen meine rissigen Lippen. Ich spürte, wie es den Rachen hinunterfloss und sich im leeren Magen sammelte.
Ich spritzte mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht und rieb über die Augenlider.
Zurück ins Schlafzimmer gestolpert, hielt ich schlagartig inne. Das Bettlaken war voller brauner Krümel. Genau da, wo ich zuvor gelegen hatte.
Ich schaute an mir hinunter. Meine schwarze Jeans und das graue Shirt waren übersät mit Flecken.
Ich hastete zurück ins Bad und guckte in den runden Spiegel über dem Waschbecken. Dunkle Schlieren überzogen mein Gesicht und meinen tätowierten Hals. In meinen schwarzen Haaren hingen braune Klumpen wie Kugeln an einem Weihnachtsbaum.
Automatisch griff ich in die rechte Tasche meiner Jeans. Neben meinem Handy kam weiterer Dreck heraus und rieselte zu Boden. War das Erde?
Was zur Hölle? Hatte ich irgendwo im Wald ein Nickerchen gemacht oder ein Grab ausgehoben?
Mein Handy gab keinerlei Lebenszeichen von sich, also steckte ich es ans Netz. Ich schaltete es ein und …
Fuck! Was?
Ich erstarrte.
Donnerstag, 25. April.
April? Wie zum Teufel war es April geworden? Standen wir nicht erst kurz vor Weihnachten? – Nein, Moment. Ich erinnerte mich an ein paar vereinzelte Situationen und Treffen. Eines davon war im Februar gewesen, da war ich mir sicher, denn es war die Geburtstagsfeier eines Bekannten. Aber so vieles drumherum war weg.
Die Zeit um Halloween hatte ich noch genau vor Augen. Der Verlust meines Onkels und der meiner Arbeit hatten mich zu der Zeit in eine tiefe Kluft gezogen. Aber dann verschwammen meine Erinnerungen in großen Lücken. Was war in den vergangenen Monaten passiert?
Mein Telefon zeigte mir unzählige, noch ungelesene Mitteilungen an. Sie waren alle aus den letzten drei Wochen. Alles davor hatte ich laut Handy schon gelesen.
Eine der neuen Benachrichtigungen erinnerte mich an eine bevorstehende Veranstaltung. Es war ein Klassentreffen meines Jahrgangs aus der Highschool hier in St. Louis in zwei Tagen.
Alles andere waren Text- oder Sprachnachrichten von Freunden und Bekannten.
Sag mal, ist alles in Ordnung bei dir?, war die letzte der fünf Nachrichten von Greg, einem alten Freund.
Ich setzte mich auf die Bettkante. Hektisch tippte ich auf das Display und mein Herz hämmerte gegen die Rippen.
Bin komplett durch. Weißt du zufällig, was ich die letzten Wochen getrieben hab? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.
Ich schickte die Nachricht ab und sah mein Handy durch. Es gab einige Bilder, die laut Datum in den vergangenen Monaten entstanden waren. Ein paar davon waren mir bekannt, andere völlig fremd. Von den letzten drei Wochen waren weder Bilder vorhanden, noch gaben die Chatverläufe Hinweise auf diese Zeit.
Ich legte das Telefon neben mir ab und strich mir mit den Händen über das Gesicht. Mein Puls pochte mir in den Ohren. Ich sprang auf und steuerte die Kommode an. Nach und nach durchwühlte ich die Schubladen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, die Ordnung der schief gestapelten Shirts zu wahren. Ein Teil des Inhalts landete auf dem Boden. Auch hier kamen mir einige der Klamotten bekannt vor, ein paar andere hatte ich noch nie gesehen.
Anschließend durchkämmte ich jedes Eck meiner kleinen Einzimmerwohnung.
Nach ein paar Minuten ertastete ich ein Päckchen unter der Spüle. Ich riss die festgeklebte Plastiktüte ab. Sie war gefüllt mit blauen Pillen.
Ich schüttelte den Kopf.
Ein Vibrieren drang an meine Ohren.
Mit der Tüte in der Hand lief ich zurück ins Schlafzimmer, nahm mein Handy vom Bett und las die eingegangene Nachricht von Greg.
Das fragst du mich? Du warst seit über drei Wochen weder zu erreichen noch aufzufinden. Ich hab mir erst keine Gedanken gemacht. Dass du mal für eine Weile abtauchst, ist ja nichts Neues. Aber was hast du dir denn eingeschmissen, dass du dich an eine so lange Zeit nicht mehr erinnern kannst? Und noch wichtiger, hast du noch was übrig und kannst es mir verticken?
Mein Atem ging schnell. Ich senkte meinen Blick auf den Beutel voll Drogen.
Eilig stolperte ich in das Badezimmer und kippte den Inhalt der Tüte ins Klo. Pille für Pille rieselte hinein. Wieder und wieder drückte ich die Spülung, bis auch die letzte weg war.
Ich stützte mich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und schaute in den Spiegel.
Fuck, was ist nur passiert?
2
Chiara, 27. April 2024
Mit schwarzer Kleidung von Kopf bis Fuß wollte ich mich in der hereingebrochenen Nacht tarnen. Ich verharrte im Schatten eines Baumes mit prächtiger grüner Krone. Vorsichtig lugte ich hinter dem Stamm hervor.
Eine kleine Gruppe von Menschen Anfang dreißig hatte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einem flachen Haus aus rotbraunen Backsteinen versammelt. Über ihren Köpfen hing ein farbloses Schild mit nur drei Buchstaben darauf. Ad’s.
Mein Blick huschte über die Gruppe, doch das Gesicht, nach dem ich suchte, war nicht dabei.
Ein Teil der Versammlung verabschiedete sich und ging die Straße hinab, der andere Teil verschwand durch die knarzende Tür des Lokals.
Ich stand mir die Beine in den Bauch und kaute an meinen Nägeln. Minuten verstrichen.
Aus dem Lokal und aus den umliegenden Häusern drangen lautstarke Musik und etliche Stimmen. Schallendes Lachen und Grölen machten es mir schwer, eine bestimmte Stimme herauszufiltern.
Erneut ertönte das Knarzen. Die Geräusche wurden lauter. Ich hörte Schritte und eine Frau trat auf den Gehweg hinaus. Sie sah die Straße hinauf und hinunter, während die Tür mit einem dumpfen Knall die Geräuschkulisse im Inneren wieder erstickte.
Mein Herz raste und ich spürte, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.
Sie war es. Antonella.
Ich zog mir die Kapuze des Hoodies etwas ins Gesicht und obwohl es dunkel war, erkannte ich beinahe alles bis ins kleinste Detail. Die gelben Kleckse in ihren grünen Augen schimmerten im schwachen Licht einer Laterne. Zarte Sommersprossen zierten ihre Nase sowie die Wangen und lange dunkelbraune Haare fielen wellig über ihren Rücken.
Antonella tippte auf ihr Smartphone und hielt es sich ans Ohr. »Hallo, ich brauche ein Taxi. St. Louis, Soulard, Bar Ad’s.«
Ich schloss die Augen und fokussierte mein Gehör auf das Telefonat.
»Dauert dreißig Minuten«, drang eine raue Stimme aus dem Gerät.
»Dreißig Minuten? Geht das nicht ein bisschen schneller?«, fragte Antonella.
»Tut mir leid, heute ist Chaos. Ein Unfall, dann noch eine Sperrung, wir sind gerade voll ausgelastet«, sagte der Mann.
Sie seufzte und ich öffnete meine Augen. »Ok.« Sie steckte das Smartphone in die Hosentasche ihrer Jeans, verschränkte die Arme vor der Brust und ging den Gehweg auf und ab.
In kurzer Entfernung sprang ein Motor an. Von Sekunde zu Sekunde wurde er lauter und ein Motorrad bog um die nächste Straßenecke.
Das mattschwarze Bike wurde langsamer und hielt vor Antonella. Sie wandte sich ihm zu.
Der Fahrer nahm seinen Helm ab. »Alles okay?« Er fuhr sich durch die zerzausten schwarzen Haare.
Ich scannte den Mann von Kopf bis Fuß. Er hatte blasse Haut, kantige Gesichtszüge und leichte Falten auf der Stirn. Seine Hände und sein Hals waren voller Tätowierungen, die unter der schwarzen Lederjacke und dem dunklen Shirt verschwanden.
»Ja, ich warte auf ein Taxi«, antwortete Antonella.
»Wenn du willst, kann ich dich fahren.«
»Nein, danke. Nicht nötig.« Ein leichtes Kopfschütteln unterstrich ihren abweisenden Tonfall.
»Hast du Angst?« Der Mann klopfte auf die Maschine. »Du kannst meinen Helm haben.«
»Nein. Aber ich lasse mich lieber von jemandem nach Hause fahren, der nichts getrunken hat.«
»Ich hab nichts getrunken. Ehrlich. Keinen Schluck.«
Antonella legte ihren Kopf schräg. »Ach wirklich?«
»Ja«, beteuerte der Motorradfahrer. »Ich wollte mir ein paar Tage Pause gönnen, nachdem ich vor wenigen Tagen einen kompletten Filmriss hatte. Dachte, das tut mir mal ganz gut.«
Antonella atmete scharf ein und sah auf ihr Smartphone.
»Wenn du nicht willst, ist das auch ok. Ich wollte es nur anbieten, damit du nicht nachts allein hier warten musst.«
Antonella sah die Straße hinauf und hinunter. Ihr Blick blieb an dem Baum hängen, hinter dem ich hervorspähte.
Ruckartig zog ich mich hinter den dicken Baumstamm zurück.
»Ok.« Antonella seufzte.
»Wohin?«, fragte der Mann.
»Central West End. Lindell Boulevard. Von da aus leite ich dich weiter.«
Ich lugte vorsichtig hervor. Antonella stülpte sich den Helm über, setzte sich mit auf den Ledersitz und schlang die Arme um den Oberkörper des Fahrers.
»Halt dich gut fest«, sagte der Mann.
Das Motorrad schoss los und bretterte über den rissigen Asphalt.
Ich sah mich um. Niemand in unmittelbarer Nähe. Ich rannte los und konzentrierte mich darauf, das Brummen des Motors nicht zu verlieren.
3
Ryan, 29. April 2024
Vier Tage waren vergangen und die Erinnerungslücken wollten immer noch nicht Leine ziehen.
Ich trat zur Wohnungstür hinaus, wusste aber noch nicht, wohin ich wollte. Vielleicht würde ich spontan Greg besuchen oder einkaufen gehen, um meinen leeren Kühlschrank zu füllen. Denn abgesehen vom Klassentreffen, war ich nicht unterwegs gewesen.
Als ich den Schlüssel im Türschloss drehte, trat mein Nachbar aus seiner Wohnung.
Ich seufzte innerlich. Auf dieses Plappermaul hatte ich gar keine Lust.
»Ryan«, sagte er und ein dickes Grinsen legte sich auf seine kugelrunde Visage. »Lange nicht gesehen. Warst du verreist?«
»Ähm. Ja.« Vielleicht war ich ja wirklich verreist gewesen.
»Oh, wie schön. Wo warst du denn? Ich war über Weihnachten auf Hawaii. Das war wirklich schön. Na ja, bis auf die Tatsache, dass …«
»Können wir die Teeparty verschieben?«, unterbrach ich ihn mit ironischem Unterton. »Ich muss los.«
»Oh, ok, na klar. Viel zu erledigen heute?«, fragte er immer noch mit fröhlicher Miene.
»Ja«, log ich und ging zum Ausgang des Hauses. Mein Nachbar folgte mir wie ein Schatten. Wenn er auch nur so schweigsam wäre.
»Ich habe auch noch viel zu tun. Einkaufen gehen, die Eltern besuchen, dann muss ich noch ein paar Sachen von meiner Ex-Freundin holen. Ach ja, da fällt mir ein, dass in den letzten Wochen zweimal eine Frau hier war und nach dir gesucht hat.«
Ich blieb stehen und mein Nachbar rannte in mich hinein. »Was für eine Frau?«
Er wich einen Schritt zurück und blinzelte. »Ähm … Sie sagte, sie heißt Michelle. Genau, und sie hat mich darum gebeten, dir zu sagen, dass du dich bei ihr melden sollst. Schien wichtig zu sein.«
Michelle. Ich durchforstete mein Gehirn nach diesem Namen. Nach allen Frauen, die wussten, wo ich wohnte, einen Grund haben könnten, nach mir zu suchen, oder einfach nur flüchtige Bekanntschaften waren. Aber ich konnte mich an keine Michelle erinnern.
Ich nahm mein Handy aus der Hosentasche und guckte meine Kontakte durch. Auch hier keine Michelle.
»Wie sah sie aus?«, fragte ich und steckte das Telefon zurück.
»Sie hatte kurze braune Haare und eine stämmige Figur«, antwortete mein Nachbar.
Ich presste meine Lippen aufeinander. Die Beschreibung sagte mir nichts. »Ok, danke fürs Weitergeben.«
Wenn es so wichtig war, würde sie noch mal kommen oder mir einfach eine Nachricht schreiben, wie jeder normale Mensch.
»Nichts zu danken. Dafür sind Nachbarn da.«
Ich deutete ein Nicken an und ging zügig weiter. »Bis dann.«
»Bis dann. Schönen Tag noch«, rief er mir nach.
Fünfzehn Minuten später lief ich auf offener Straße einem jungen Kerl entgegen. Sein Körper war dürr, sein Kopf unproportional groß und seine aschblonden Haare zu einem Undercut frisiert.
Sein Blick fiel unter dem eckigen Brillengestell auf mich und es war so, als wäre er mit einem Fluch belegt worden und zu Stein erstarrt. Einzig die geweiteten Augen verfolgten mich mit jedem Schritt.
Ich starrte mit zusammengezogenen Brauen zurück und ging an ihm vorbei.
Was für ein Freak!
»Ryan Carter?«
Woher kennt dieser Kerl meinen Namen?
Und seine Stimme, ich kannte sie. Aber ich wusste nicht woher.
Ich stoppte und drehte mich um. Die Brillenschlange glotzte mich immer noch an.
»Ja«, antwortete ich vorsichtig.
»Das gibt es nicht. Wie ist das möglich?« Er schüttelte ungläubig den Kopf, ohne seinen Blick von mir zu nehmen.
»Wer bist du?«
»Ich heiße Logan McBride und arbeite …«, er hielt inne, zog die Augenbrauen fest zusammen und fuhr in leisem Ton fort, »im Forschungszentrum.«
Bilder flackerten vor meinem inneren Auge auf.
McBride stand mit einem weißen Kittel bekleidet vor mir, während ich auf einer Untersuchungsliege saß.
»Sind Sie bereit?«, fragte er mich und präsentierte mir eine Spritze mit einer außerordentlich dicken Nadel.
Mein Herz rutschte mir in die Hose. Das Riesending hätte sogar einem Elefanten Angst eingejagt.
»Sie haben doch in den letzten Wochen an einer Studie teilgenommen? Oder nicht?« Die letzten beiden Worte hatten einen vorsichtigen Unterton. Minimal weiteten sich seine Lider.
»Doch, ich glaube schon.« Ich blinzelte mehrmals.
»Wie fühlst du dich?«, fragte mich eine Frau mit schulterlangen, blonden Haaren und einem weißen Kittel.
»Mir ist kotzübel und ich hab höllische Kopfschmerzen«, sagte ich und versuchte, einen säuerlichen Geschmack runterzuschlucken.
Sie tastete nach meinem Puls. »Wenn es schlimmer wird, gebe ich dir Schmerzmittel.«
Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus und meine Muskeln spannten sich an. »Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Was ist denn passiert?«
McBride verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. »An was können Sie sich denn erinnern?«
»Dass du mit einer Riesenspritze vor mir standest«, zischte ich. »Kannst du mir jetzt sagen, was passiert ist?«
»Das ist … Das kann Ihnen der Forschungsleiter vor Ort erzählen. Ich bin nicht befugt … Es wäre wichtig, dass Sie mitkommen, dann werden auch all Ihre Fragen beantwortet.«
Ich verzog das Gesicht. »Mitkommen? Jetzt gleich?«
»Ja.« McBride nickte so kräftig, dass ich kurz das Gefühl bekam, er könnte mit seinem Riesenschädel vornüberkippen. »Nur für ein kurzes Gespräch. Ich ruf uns ein Taxi.« Er zückte sein Handy.
Ich presste die Zähne aufeinander und schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit. Das kannst du vergessen.«
»Aber …«
Ich wandte ihm den Rücken zu und ging los.
Einige Schritte später guckte ich zurück. McBride drückte ein Telefon gegen sein Ohr und schaute mir nach. Ich schnaubte und lief schneller.
Minuten vergingen. Meine Muskeln blieben weiterhin unter Spannung. Wieder guckte ich über die Schulter. Fuck. Der Kerl verfolgte mich und fixierte mich mit seinem Blick. Das Telefon klebte immer noch an seinem Ohr.
Ich bog in die nächste Straße ab, stoppte hinter der ersten Hauswand und wartete, bis McBride ebenfalls um die Ecke kam.
»Was willst du von mir?«, knurrte ich.
Er riss die Augen so weit auf, dass ich Angst bekam, seine Augäpfel würden aus den Augenhöhlen fallen. Das wäre sicherlich kein schönes Bild.
Mit offenem Mund versuchte er Worte zu formen, aber es kam kein Ton heraus.
»Fuck, was willst du von mir?«, brüllte ich. »Warum verfolgst du mich?«
»Es … Es … Es wäre wirklich besser, wenn Sie mitkommen würden.«
»Tu ich aber nicht. Also lass mich in Ruhe!« Ich ging weiter und guckte hinter mich. Er war stehen geblieben, auch wenn er mir immer noch hinterherschaute und das Handy ans Ohr presste.
Reifen quietschten. Ein Auto fuhr an mir vorbei, gefolgt von einem Lieferwagen, der ruckartig bremste.
Jemand sprang aus dem Transporter auf mich zu.
Ich spürte Hände, die meine Arme packten, und einen Piks im Nacken.
Mir wurde schwummrig und ich fiel auf die Knie. Ich wollte mich gerade drehen, als mich die Kraft verließ und ich zu Boden glitt.
Verfluchte Scheiße. Was ist hier los?
Jemand kniete sich neben mich. Mit immer schwerer werdenden Augenlidern erkannte ich, dass es die Frau mit den schulterlangen blonden Haaren war.
»Wir brauchen dich noch«, sagte sie und lächelte unschuldig auf mich herab.
»We…« Mehr brachte ich nicht über die Lippen und alles um mich herum wurde schwarz.
4
Ryan, 29. April 2024
Ich öffnete die Augen. Blinzelte einige Male. Helles Licht blendete mich. Unter mir spürte ich eine weiche Matratze, in die mein Körper hineingesunken war. Meine Jeans drückte mir in den Schritt und die Lederjacke spannte an den Schultern.
Nicht das bequemste Outfit für ein Nickerchen.
Gegenüber von mir stand ein leeres Regal an einer weißen Wand. Ein Regal, das nicht meins war.
Mein Puls schoss in die Höhe.
Ruckartig sprang ich auf. Sterne tanzten vor meinen Augen und ich schwankte. Ich atmete tief durch und die Sterne verzogen sich.
Ich befand mich in einem Raum mit einem kleinen Bett und einem Durchgang zu einem winzigen Badezimmer.
Ich kam ins Schwitzen.
Jemand räusperte sich.
Hinter der verschlossenen Glastür stand ein Kerl mit einer auffällig breiten Nase und starrte zu mir herein.
Er drückte mit dem Zeigefinger gegen sein Ohr. »Er ist wach.« Die Worte drangen durch einen Lautsprecher zu mir hinein.
Ich ging zur Tür und rüttelte am Türknauf. Vergeblich. »Lass mich hier raus!«
Statt zu gehorchen, wandte er sich ab und verschwand den Flur hinunter.
Ich schlug von innen gegen die Tür. »Verdammt, lass mich hier raus!«
Hektisch guckte ich mich um.
Wo bin ich hier reingeraten?
Ich hörte Schritte. Sie verstummten, als ein anderer Kerl vor der Glastür zum Stehen kam. Er trug einen weißen Kittel und war schätzungsweise Ende dreißig. Die kurzen blonden Locken standen strubbelig von seinem Kopf ab, was mich an ein Vogelnest erinnerte.
»Mr. Carter«, sagte er in einem überraschten Ton und fixierte mich eindringlich mit seinen kristallblauen Augen.
»Fuck, was soll das hier?«, brüllte ich und schlug wieder gegen die Tür. »Lass mich raus!«
Er hob sein Kinn. »Mr. Carter, bitte beruhigen Sie sich.«
»Ihr kidnappt mich und ich soll mich beruhigen?« Ich tippte mit dem Zeigefinger gegen meine Stirn.
»Dass Sie deswegen aufgebracht sind, kann ich verstehen, aber lassen Sie uns ruhig miteinander reden.« Er lächelte schmal und ich schnaubte. »Können Sie sich an mich erinnern?« Seine Stimme war ruhig.
»Sollte ich das?« Ich stand so dicht vor der Tür, dass durch meinen Atem das Glas beschlug.
Der Kittelträger kniff seine Augen zusammen. »Ich bin Dr. Cabell und leite diese Forschung.«
»Welche Forschung?«, zischte ich.
»An was können Sie sich erinnern?«, fragte Cabell.
»Warum sollte ich das beantworten?«
»Sie haben meinem Kollegen gesagt, dass sie sich an kaum etwas erinnern können. Demnach haben Sie Erinnerungslücken.« Er hob die Schultern. »Wollen Sie nicht wissen, was passiert ist?«
»Erzählen Sie es mir«, sagte ich schnippisch.
»An was können Sie sich erinnern?«, wiederholte er.
Ich zögerte. »Ihr Kollege hat mir etwas gespritzt.« Ich hielt einen Moment inne. »Hab ich deswegen den Gedächtnisverlust?« Ich dachte an die blauen Pillen.
»Das weiß ich nicht.«
»Was wissen Sie dann?« Ich betonte jedes einzelne Wort.
»Sie haben ab dem zweiten April als Proband an unserer Studie teilgenommen.«
Anfang April. Jetzt war es Ende April.
Meine Schultern spannten sich an. »Ok, und weiter?«
Cabell rieb sich mit der Hand über sein spitzes Kinn. »Es ist sehr wichtig, dass wir Sie genauestens untersuchen, um herauszufinden, was mit Ihnen passiert ist.«
»Sollten Sie das nicht wissen?«
Er schürzte die Lippen. »Sie waren plötzlich verschwunden.«
Ich blinzelte und versuchte mich an mehr zu erinnern. Doch da war nichts. »Und deswegen kidnappt ihr mich?« Meine Stimme war laut. Ich deutete mit dem Finger auf den Türknauf. »Aufmachen!«
Sein Blick blieb standhaft auf mir. »Haben Sie in der letzten Zeit Veränderungen an sich festgestellt? Fähigkeiten, die«, er fuhr mit den Händen durch die Luft, »ungewöhnlich sind?«
Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Was erforschen Sie hier noch mal genau?«
Cabell setzte ein unschuldiges Lächeln auf. »Wir arbeiten an der Entwicklung einer neuartigen Immunzelle. Wir möchten eine Stärkung des menschlichen Immunsystems erzielen.«
Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus, als würde alles Gewicht aus meinem Körper herausfließen. Ich verspürte ein leichtes Kribbeln, das sich über meine ganze Haut zog.
»Oh mein Gott! Was …? Wie …?« Mit weit aufgerissenen Augen glotzte er mich an.
Ich schaute an mir hinunter, in der Erwartung etwas Außergewöhnliches zu sehen. Aber da war nichts Außergewöhnliches. Nur mein Körper und der Boden.
»Wie haben Sie das gemacht?« Die Worte sprudelten so schnell aus seinem Mund, dass sie miteinander verschmolzen. »Das ist unmöglich.«
»Was meinen Sie?« Hatte er eine Art Anfall oder war er ein Fall für die Klapse?
»Sie waren kurz … weg.« Er schien nach Worten zu suchen. »Das klingt unmöglich, aber … Sie waren in einer Art unsichtbarem Zustand.«
Das klang nicht nur unmöglich, sondern geistesgestört.
Seine Mundwinkel zuckten. »Können Sie das wiederholen?«
»Ja, klar«, spottete ich und schnaubte. »Und als Nächstes schnappe ich mir mein Batmobil. Oder noch besser: Ich flieg durch die Luft wie Superman.« Ich schlug gegen die Tür. »Lass mich jetzt endlich hier raus!«
Wieder überkam mich das bizarre Gefühl der Schwerelosigkeit, als würde mein Körper nicht mehr existieren und meine Seele durch die Luft schweben. Und wieder kribbelte meine Haut.
»Das gibt es doch nicht!« Die Augen des Forschers funkelten fasziniert auf. »Wie machen Sie das? Wie fühlt sich das an?«
»Was meinen Sie?«, fragte ich mit gereizter Stimme.
Er deutete mit seinen Händen auf mich. »Sehen Sie sich an.«
Ich guckte an mir hinunter. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Wo zur Hölle waren meine Hände, meine Arme und die restlichen Teile meines Körpers?
Wie wild fuchtelte ich mit den Händen vor mir herum. Ich spürte die Bewegung, aber zu sehen war nichts davon. Auf einen Schlag kamen die Arme und auch die schwarze Lederjacke darüber zum Vorschein.
Ich geriet ins Schwitzen. »Was verfickt noch mal habt ihr mit mir gemacht?«
»Das ist unglaublich«, sagte Cabell und lächelte dreckig. »Können Sie das kontrollieren?«
Ich biss meine Zähne zusammen und mein Kiefer spannte sich an. »Woher soll ich das wissen? Ich wusste bis jetzt nicht mal, dass ich das kann. Dass es so etwas überhaupt gibt.«
Ok, ich glaube, ich flippe gleich aus!
»Wir müssen Sie dringend ein paar Tests unterziehen.« Das dreckige Lächeln setzte sich immer mehr auf seiner Visage fest.
Ich schüttelte den Kopf und wich zurück. »Das könnt ihr vergessen.«
»Wir werden gut auf Sie aufpassen. Glauben Sie mir, ich persönlich werde gut auf Sie achten.« Er legte sich eine flache Hand auf die Brust. »Vertrauen Sie mir.«
Ich lachte auf. »Sie wollen mich doch verarschen? Ihr kidnappt mich und ich soll euch vertrauen?«
Cabell guckte mich einen Moment lang an. Ein gieriges Funkeln trat in seine Augen. »Sie sind dazu verpflichtet.«
»Einen Scheiß bin ich!«, zischte ich.
»Sie haben unterschrieben.«
Schritte näherten sich. Ein Glatzkopf blieb neben Cabell stehen.
Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf.
Der glatzköpfige Kerl hinter dem Schreibtisch schob mir ein Stück Papier samt Kugelschreiber hin.
Ich las das Wort Einverständniserklärung.
Darin war vermerkt, dass ich mich für alle nötigen Untersuchungen zur Verfügung stellen musste und dass ich für diesen Zeitraum unter ihrer Aufsicht stehen musste. Ebenso, dass ein erhöhtes Risiko an Nebenwirkungen bestand und dass ich mich für jegliche Nachuntersuchungen verpflichtete.
Auf der Rückseite fand ich einen langgezogenen Strich, unter dem Datum und Unterschrift des Probanden stand.
Ich setzte in einer flüssigen Bewegung den 02. April 2024 und meine Unterschrift darauf.
Der Glatzkopf starrte mich an, als wären wir in einem Museum und ich wäre das neue verblüffende Ausstellungsobjekt. Er blinzelte ein paarmal und konnte sich schließlich aus seiner Trance befreien. »Hallo, mein Name ist Mr. Brown. Ich würde Sie gern untersuchen, wenn das für Sie in Ordnung ist.«
»Nein!«, knurrte ich.
Cabell und Brown wechselten einen Blick.
Pochender Schmerz durchfuhr meinen Körper und drohte ihn auseinanderzubrechen. Schreiend hielt ich die zitternden Hände gegen die Schläfen und krümmte mich.
Wieder flackerten Bilder vor meinen Augen auf.
Der säuerliche Geschmack saß wie ein ungebetener Gast seit drei Tagen in meiner Mundhöhle.
Ich musste aufstoßen. Schnell drehte ich mich zur Seite und kotzte auf den Boden.
»Das fünfte Mal heute.« Eine weibliche Stimme ertönte hinter mir. Kurz darauf erschien die blonde Frau im weißen Kittel in meinem Sichtfeld. Ich wusste, dass sie Reyna hieß.
»Was habt ihr fucking Arschlöcher mit mir gemacht?« Ich wollte die Worte brüllen, aber ich brachte nur ein Flüstern zustande.
»Du bist ja zornig heute. Als du noch mit mir geflirtet hast, hast du mir besser gefallen. Ich biete nicht jedem das Du an, weißt du?« Sie nahm meine Hand und tastete nach meinem Puls.
Ich riss meinen Arm zurück. »Ihr könnt mich mal!« Ich richtete mich auf. Eine starke Welle von stechenden Schmerzen brannte sich in jede einzelne Faser meines Körpers. Ich schrie und fiel zurück auf die Liege.
»Nimm das, das lindert die Schmerzen.« Reyna hielt mir eine Tablette und einen Becher Wasser hin.
Ich wollte auflachen, heraus kam aber nur ein Stöhnen. Die letzten Tabletten hatten schon nicht geholfen. Was unter anderem daran liegen könnte, dass ich sie größtenteils wieder ausgekotzt hatte.
Ich war schweißnass und zuckte am laufenden Band. Schmerzen zogen sich wie ein glühendes Messer durch meinen ganzen Körper. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien.
Dunkelheit. Von der einen auf die andere Sekunde.
Ich war in einer großen schwarzen Leere, die mich gefangen hielt und nicht wieder freigeben wollte.
Die Bilder verschwanden und die Schmerzen zogen sich zurück.
»Was habt ihr mir gespritzt?«, brüllte ich und näherte mich wieder der Glastür.
»Was ist gerade passiert?« Mehr Neugier als Fürsorge lag in Cabells Miene.
»Ich hab mich erinnert.« Ich fasste mir an die Schläfen. »Die höllischen Schmerzen. Was für ein Zeug habt ihr mir gespritzt?«
Cabell brummte genervt und guckte zu seinem Kollegen. »Wir benötigen eine Gewebeprobe seiner Haut. Bereite alles für die Biopsie vor.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Da mache ich nicht mit!«
»Das haben Sie nicht zu entscheiden.« Cabell drückte einen Knopf neben der Tür.
Ein pfeifendes Geräusch ertönte und kurze Zeit später lag ein beißender chemischer Geruch in der Luft.
Ich hielt mir die Hand vor die Nase.
Meine Lider wurden schwer, als würden Gewichte daran hängen. Meine Beine waren wie Wackelpudding. Sie gaben nach und ich fiel zu Boden.
Nicht schon wieder.
Ich nahm all meine Kraft zusammen und hievte mich zurück auf die Beine. Bevor ich einen sicheren Halt finden konnte, klappten sie wieder weg.
Ich riss die Augen immer wieder auf, aber ich verlor den Kampf.
Dunkelheit und Stille übermannten mich.
5
Ryan, 02. Mai 2024
Unklare Stimmen drangen in mein Bewusstsein. Erst verstand ich nicht, was sie sagten, doch nach und nach wurde der Klang klarer.
»Wie geht es ihm?«, fragte eine männliche Stimme.
Kalte Finger berührten mein rechtes Handgelenk. »Er hat einen starken Puls. Sieht soweit alles gut aus«, antwortete eine Frauenstimme. Die Finger verschwanden.
»Sehr schön.« Ich hörte Schritte von mehreren Paar Füßen, die sich entfernten. »Wir müssen ihm heute Nachmittag dringend weitere Gewebeproben entnehmen.« Die Stimme und die Schritte wurden immer leiser, bis die Stille sie verschluckte.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich die Stimmen Cabell und dieser Reyna zuordnen konnte.
Verdammte Scheiße, ich bin immer noch hier.
Ich schlug die Augen auf und blinzelte ein paar Mal. Meine Sicht schärfte sich und ich erkannte einen Untersuchungsraum um mich herum.
Mit einem Satz wollte ich aufstehen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht einen Zentimeter bewegen.
Ich wollte schreien, doch der Laut blieb mir im Hals stecken. Ein Schweißfilm bedeckte meine Haut.
Mit steifem Nacken neigte ich langsam den Kopf zur rechten Seite. Anschließend zur Linken. Ich war allein.
Wieder wollte ich mich aufraffen und wieder scheiterte ich, als würde mich ein unsichtbares Band an die Liege schnallen.
Ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen, und ließ die Tür zu meiner Rechten nicht aus den Augen.
Stimmen und Schritte drangen von außen herein und wurden von Sekunde zu Sekunde lauter.
Durch das Glasfenster im oberen Teil der Tür erkannte ich zwei Gestalten. Einen Moment lang verharrten sie dort. Ein lautes Klick ertönte und die Geräusche sowie die Gestalten verschwanden.
Ich atmete schwer aus.
In meinen Händen kribbelte es, als wären sie eingeschlafen. Ich hob den Zeigefinger an. Es funktionierte.
Das Flattern breitete sich nach und nach in meinem ganzen Körper aus und ich bekam Gefühl in meine Gliedmaßen zurück.
Zittrig und langsam richtete ich mich auf.
Mir fiel ein weißer Verband auf. Er umhüllte meinen linken Unterarm. Ich wickelte ihn ab und eine kleine runde Wunde kam zum Vorschein. Sie fiel kaum auf, da sich bereits dunkler Schorf gebildet hatte und sie neben den Tattoos unterging.
Eine Nadel steckte in meinem linken Handrücken inmitten des tätowierten Totenkopfs. Sie war mit Klebestreifen fixiert und ein schmaler Schlauch verband sie mit einem Beutel Flüssigkeit, der neben der Liege hing.
Ich zog sie heraus und schmiss sie neben mich. Dann stellte ich die Füße auf den kalten Fliesenboden und stand mit wackligen Beinen auf.
Abgesehen von meiner Unterhose war ich nackt. Moment mal, das waren nicht meine Boxershorts, die ich trug. Was für eine Opa-Unterhose hatten sie mir denn da angezogen? War das etwa eine Art Windel?
Hektisch streifte ich das Ding ab.
Mein Blick flog pingpongartig durch den Raum, bis meine Aufmerksamkeit an einem Stuhl hängen blieb. Darauf lagen meine Klamotten und darunter standen meine Schuhe.
Mit zügigen Schritten ging ich darauf zu. Schnell zog ich mir ein Teil nach dem anderen über.
Ich marschierte zur Tür und hielt abrupt inne.
Auf einem Tisch neben der Untersuchungsliege lag eine Akte. Sie war gekennzeichnet mit: Proband Nummer 19.
Wieder hörte ich Schritte von draußen.
Schnell schnappte ich mir die Akte, schob sie mir hinten in den Hosenbund und stülpte das Shirt darüber.
Ich suchte nach dem Gefühl der Schwerelosigkeit, das tief in meinem Inneren schlummerte. Aber es wollte mich nicht einnehmen. Es weigerte sich.
Die Schritte wurden lauter.
Fuck! Ich musste hier weg und zwar schnell!
Mit einem Mal floss das Gewicht aus meinem Körper und meine Haut kribbelte, als würden tausend Ameisen darüber rennen.
An der Stelle, an der meine Beine sein sollten, war nur der Boden zu sehen.
Die Schritte verstummten. Stattdessen hörte ich undeutliche Stimmen.
Ich trat an die Tür und schielte durch das Glasfenster hinaus. Der Flur war leer, soweit mein Sichtfeld reichte. Da war nur eine geschlossene Tür an der Wand gegenüber.
Ich legte meine Hand auf die Türklinke. Ich spürte die Klinke unter meinen Fingern, aber sehen konnte ich sie nicht mehr. Das musste ein kranker Traum sein.
Langsam öffnete ich die Tür und huschte auf den Flur hinaus.
Ein paar Schritte vor mir standen Cabell und McBride und redeten miteinander.
Ich ging auf sie zu. An ihnen vorbei.
»Was ist bei Ryan Carter anders gelaufen?« Cabell sprach meinen Namen aus, als handelte es sich um eine nervige Krankheit wie Herpes.
»Ich weiß es nicht.« McBride schwieg einen Moment. »Was ist denn, wenn das gar nicht …?« Seine Stimme brach ab.
»Daran habe ich auch schon gedacht.« Cabell atmete hörbar durch und nickte. »Aber er scheint sich ja doch an etwas erinnern zu können und seine Überreste sind nirgends zu finden.«
Schlagartig hielt ich an.
Überreste?
»Er ist weg!«, schrie jemand aus dem Raum, in dem ich gelegen hatte.
Cabell und McBride rissen die Augen auf und rannten los.
Ich hastete in die entgegengesetzte Richtung, das Treppenhaus im Visier.
Jemand schoss aus einem der vor mir liegenden Räume heraus und sprintete den Flur entlang, direkt auf mich zu. Es war Brown.
Ich presste mich seitlich an die Wand. Mein Puls hämmerte in meinen Ohren.
Kaum war er an mir vorbei, lief ich weiter. Die Leichtigkeit schwand und die Schwere meines Gewichts legte sich zurück auf meine Glieder.
Ich guckte an mir herunter.
Fuck.
Mein Körper war wieder sichtbar.
Zu meiner Rechten war gerade eine Tür dabei zuzufallen.
Schnell schlüpfte ich durch die Lücke und die Tür klickte hinter mir ins Schloss.
Ich schaute mich um. Ich war allein. Das musste der Raum sein, aus dem Brown gekommen war. An den Wänden standen ein paar Schränke und ein Tisch mit einem leuchtenden PC-Bildschirm darauf.
Ich näherte mich.
Ein Ordner betitelt mit 2020 – 2024 war geöffnet.
Ich tippte wahllos eine der darin hinterlegten Dateien an. Es war ein Video.
Ich guckte über die Schulter und wieder auf das Display. Mein Finger schwebte über der linken Maustaste. Gerade als ich Play drücken wollte, verharrte ich. Das Datum rechts unten: Donnerstag, 02. Mai 2024. Ich schluckte.
Scheiße. Drei Tage waren vergangen. Drei Tage hatten sie mich hier festgehalten.
Mit rasendem Herzen startete ich das Video. Es stammte von einer Überwachungskamera an einer U-Bahn-Haltestelle in New York und war laut Datum vier Jahre alt.
Ein Mann stand völlig allein auf dem Bahnsteig an einem Gleis und wippte mit dem Kopf, als würde er sich zu Musik bewegen. Er hatte eine Glatze und einen dunklen Vollbart. Ein weiterer Kerl tauchte auf, der nur schräg von hinten zu sehen war. Der Mann mit dem wippenden Kopf wandte sich zu ihm um und seine Augen wurden groß. Dann bewegte sich sein Gegenüber so schnell, dass ich kaum noch folgen konnte. Der Kopf des Mannes, der zuvor noch gewippt hatte, verdrehte sich ruckartig auf unnatürliche Weise. Ich konnte das Knacken förmlich hören. Er klatschte wie ein nasser Sack zu Boden. Der Typ, der ihm gerade mit Leichtigkeit das Genick gebrochen hatte, drehte sich langsam um und guckte mit furchtlosem Blick direkt in die Kamera.
Ich riss die Augen auf.
Auch wenn die Qualität des Videos keinen Oscar verdiente: Ich erkannte, dass die Gesichtszüge, die Glatze und der dunkle Vollbart identisch waren wie bei dem Mann, der auf dem Boden lag. Der einzige Unterschied war, dass seine Statur minimal fülliger war.
Der Typ wandte den Blick ab und ging davon.
Ich klickte auf das nächste Video.
Es war von einer Überwachungskamera vor einem Geschäft aufgenommen worden. Die Aufnahmen waren erst vier Monate alt und waren in St. Louis, Missouri entstanden. Eine junge Frau Anfang zwanzig mit langen blonden Haaren blieb im Sichtfeld der Kamera stehen. Sie schaute sich um. Dann streckte sie ihren Arm mit der Handfläche nach oben aus. Über ihrer Hand bildete sich eine Projektion aus weiß-pinkem Licht.
Ihre Finger flogen über die Projektion und ein Symbol war auf dem Lichtbild zu erkennen: Ein A, dessen rechter Fuß fehlte. Sie tippte darauf. Ein grelles Licht erschien genau an der Stelle, an der sie stand. Innerhalb einer Sekunde wuchs das Licht auf Menschengröße an. Dann schrumpfte es sofort wieder und verschwand. Genauso wie die Frau.
Meine Kinnlade fiel nach unten.
Das Video stoppte.
Ich blinzelte mehrmals.
Was …?
Hinter mir ertönte ein Piepen.
Ich fuhr herum und die Tür öffnete sich.
Mein Herz setzte aus.
Ich zog an der tiefsitzenden Schwerelosigkeit. Doch sie entriss sich mir.
6
Chiara, 06. April 2024
Ich trat aus dem Toilettenhäuschen und traf auf eine beunruhigende Ruhe.
Die Band hatte aufgehört zu spielen und die Besucher standen still. Sie reckten die Köpfe in die Höhe und schauten in Richtung der Bühne.
Ich tat es ihnen gleich. Von hier aus erkannte ich aber nur das große rote Licht, das den Bandnamen formte: 208 Miles.
Ich schlängelte mich unter dem grau bedeckten Himmel durch das Publikum.
»Chiara!«, rief eine aufgebrachte Stimme aus der Menschenmenge heraus. Travis, mein bester Freund. Mit seinen großen Händen winkte er mich zu sich.
Bei ihm und seiner neuen Flamme, Oliver, angekommen, schaute ich auf den Lichtbildschirm, der von hier aus zu sehen war. Mitten auf der Bühne war ein Loch im Boden. Zwei Sicherheitsleute hasteten darauf zu. Der Schlagzeuger sprang auf und tauschte einen Blick mit den Gitarristen und dem Bassisten. Der Frontmann war verschwunden.
»Da geht man einmal kurz aufs Klo und schon verpasst man was«, sagte ich.
Ein Stimmengewirr ging von der Menge aus.
»Chiara, das musst du dir ansehen.« Travis, der seine silbergefärbten Haare locker nach hinten gestylt hatte, wies mit einer Kopfbewegung zu Oliver.
Eine weiß-grüne Lichtprojektion erschien auf Olivers Handfläche. Er tippte ein paar Mal darauf. Ein klares grünschimmerndes Standbild formte sich und zeigte die Bühne. Oliver zog das Lichtbild von seiner Hand und setzte es mit etwas Abstand vor mein Gesicht.
Ich streckte den Finger in die Richtung der Projektion und das Video startete.
Das Lied, das die Band zuletzt gespielt hatte, ertönte. Connor, der Sänger, wirbelte und hüpfte wild im Takt der Musik auf der Bühne herum. Jeden einzelnen Beat fühlte er mit jeder Faser seines Körpers. Wenig später bewegte er sich in einer solchen Geschwindigkeit, dass ich die Umrisse seiner Gestalt nicht mehr erkennen konnte. Ich nahm ihn nur noch als einen verschwommenen Schwaden wahr, der über die Bühne fegte. Er hob vom Boden ab und krachte mit voller Wucht auf diesen zurück. Das Holz gab nach, brach ein und verschluckte den Frontmann. Seine Stimme erstarb.
Das Video stoppte und das Bild vor mir verschwand.
»Das ist schon merkwürdig, oder nicht?« Oliver sah uns abwechselnd an.
Schlagartig legte sich die Unruhe des Publikums. Connor betrat unbeschadet die Bühne. Er fuhr sich über den dunklen Dreitagebart und machte eine Kopfbewegung in Richtung seiner Bandkollegen. Diese schüttelten den Kopf und schenkten ihre Aufmerksamkeit wieder den Instrumenten.
Zwei Sicherheitsmänner trugen eine Platte auf die Bühne und verschlossen damit das Loch.
»Wie hat euch der kleine Spezialeffekt gefallen?«, rief Connor in die Menge und lachte. »Ich dachte, ich liefere euch mal eine besondere Show. Aber diese dünnen Seile sind anscheinend doch nicht so reißfest, wie man mir versprochen hat. Auf jeden Fall sorry für die kleine Unterbrechung. Wie siehts aus, habt ihr noch Bock?«
Das Publikum schrie und jubelte.
Der Schlagzeuger stimmte mit seinen Sticks den nächsten Song an. Die anderen stiegen mit ein und Connor screamte in das Mikrofon, als wäre nichts geschehen.
»Was darf es sein?«, fragte mich der junge Mann hinter dem Tresen.
»Ich nehme eine Portion Pommes, danke.« Ich lächelte.
Vor mir ploppte eine gelbschimmernde Lichtprojektion auf und zeigte den offenen Betrag von fünf Dollar.
Ich tippte meine persönliche ID-Nummer ein, gefolgt von meiner PIN. Mein Gesicht wurde zur Verifizierung gescannt. Ein weißer Haken erschien auf der Projektion und sie verschwand.
»Hier, bitte schön«, sagte der Mann und reichte mir eine befüllte Pappschale über den Tresen.
»Danke.« Ich nahm meine Portion entgegen und steuerte die Plätze an der Fensterwand an. Travis und Oliver fielen bereits über ihre Pommes her.
»… nicht gedacht, dass sie live so gut sind.« Mein bester Freund rückte auf seiner Bank etwas auf und ich setzte mich neben ihn.
»Ich auch nicht. Sie werden definitiv unterschätzt«, stimmte Oliver zu und wandte seinen Blick zu mir. »Was sagst du?«
»Ich bin sehr überrascht. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, dass die Band noch existiert. Metal ist nicht unbedingt mein Genre.« Erst als Travis mir gesagt hatte, dass Oliver mit ihm auf das Konzert gehen wollte, hörte ich das erste Mal seit Jahren wieder von ihnen.
»Hast du nicht mal Connor interviewt? Ich glaube, Travis hat da letztens etwas erzählt«, sagte Oliver.
»Ja, als ich noch Journalistin war, habe ich einen Artikel über die Band geschrieben. Das ist aber schon zehn Jahre her, kurz nachdem sie 208 Miles gegründet haben. Connor hatte freundlicherweise einem Interview zugestimmt.« Meine Mundwinkel zuckten.
»Und einer gemeinsamen Nacht«, fügte Travis schmunzelnd hinzu. Er streckte mir frech die Zunge heraus und präsentierte dadurch das farblich zu seinen Haaren passende silberne Piercing.
Olivers Mund klappte auf. »Nein.« Seine sonst schmalen Augen wurden groß und auf seinen Lippen kündigte sich ein Grinsen an. Er wandte sich an Travis. »Und das erzählst du mir erst jetzt?«
Travis hob abwehrend die Hände. »Ich musste versprechen, es niemandem zu sagen.«
Damals wollte ich nicht, dass jemand von dieser Nacht erfuhr, weil es hätte heißen können, dass ich Sex gegen Informationen bot.
Ich schnappte mir eine Pommes. »Das ist lange her. Es ist einfach passiert. Wir haben seitdem auch keinen Kontakt mehr.«
»Keine Sorge, dein kleines Geheimnis ist bei mir sicher.« Oliver zwinkerte mir zu.
Ich grinste ihn an.
Wir nahmen uns gleichzeitig jeweils eine Pommes und schoben sie uns in den Mund.
Während ich aß, ließ ich meinen Blick über den Tisch hinweg aus dem Fenster gleiten.
Etliche Drohnen sausten zwischen den aneinandergereihten Hochhäusern hindurch. Die vielen farbenfrohen Lichter der umliegenden Projektionen verdrängten die Dunkelheit der angebrochenen Nacht aus Chicago. An der Außenfassade des Nachbargebäudes, eines fünfzigstöckigen Towers, stolzierte ein Model nach dem anderen den Laufsteg entlang und präsentierte die neuste Kollektion einer Luxusmodemarke.
In der Fensterwand sah ich mein Spiegelbild. Meine voluminösen dunkelbraunen Haare hingen mir bis zu den Schultern. Durch die dunkel geschminkten Augen kam die grüngelbe Farbe meiner Iris gut zur Geltung.
Eine kleine Gruppe ging an unserem Tisch vorbei. »Habt ihr das vorhin nicht gesehen? Ich wette mit euch, dass das mit Akaras stimmt«, sagte einer der Männer laut.
»Rede doch kein Müll! Das ist nur ein Gerücht und reine Fiktion«, gab daraufhin eine Frau in derselben Lautstärke zurück.
Alles, was anschließend folgte, konnte ich nicht mehr verstehen, da sie sich zu weit von unserem Tisch entfernten.
Die Existenz der App Akaras war seit Jahren ein weit verbreitetes Gerücht. Zum einen hieß es, dass man durch die App hyperphysische Fähigkeiten bekam. Es gab Leute, die gesehen haben wollen, wie übernatürlich stark oder schnell jemand war. Wunden und Verletzungen, die in Rekordzeit heilten. Zum anderen hieß es, dass man mit der App zwischen verschiedenen Welten reisen konnte. Dass es so etwas wie eine alternative Realität gab. Die einen schenkten dem Glauben, andere hielten es für Schwachsinn. Schließlich war diese App nirgends zu finden.
»Was haltet ihr davon?«, fragte ich Travis und Oliver. »Von Akaras meine ich.«
»Ich muss sagen«, erzählte Travis gemütlich, »dass ich vorhin schon etwas perplex war, aber letztendlich lässt es sich doch einfach erklären. Connor hing an diesen dünnen Seilen, die auch Magier und Illusionskünstler benutzen. Jetzt mal im Ernst, eine App, mit der man in eine andere Welt reisen kann oder Superkräfte bekommt?« Er schüttelte den Kopf und wandte sich zu Oliver. »Oder glaubst du das etwa?«
»Es könnte ein Trick gewesen sein, da stimme ich dir zu, aber komplett unlogisch finde ich das Gerücht nicht.« Oliver zeigte aus dem Fenster, an dem gerade eine Drohne mit einer 3-D-Simulation vorbeiflog. »Schaut euch nur mal unsere Technologie an. Ich bin mir sicher, dass wir nicht mehr weit davon entfernt sind, unsere Fortbewegungsmittel abzuschaffen und mittels Teleportation von A nach B zu kommen. Und warum sollten wir uns nur auf unserem Planeten hin und her beamen können und nicht auf anderen?«
»Denkst du, dass Akaras ein Testlauf für Teleportation ist?«, hakte ich nach.
»Daran habe ich bis jetzt noch nie gedacht.« Oliver zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass die Technik weit ist und ich so etwas nicht unrealistisch finde.«
»Hmm«, brummte ich. »Aber Superkräfte? Das ist doch Bullshit.«
Oliver lehnte sich nach vorn und stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab. »Wenn sich ein Gerücht verbreitet, ist es wie stille Post. Mit jedem Erzählen verändert sich die Geschichte oder es kommt etwas dazu. Das mit der App und den übernatürlichen Kräften kann von jemandem in die Welt gesetzt worden sein, dem einfach langweilig gewesen ist.«
Travis schob sich eine Pommes in den Mund und wischte sich die Finger an der Serviette ab. »Dann fakt man noch ein paar Bilder und stellt sie ins Netz, erzählt die ein oder andere Märchengeschichte und die Leute glauben alles, was man ihnen unter die Nase reibt. Irgendwelche Penner, die zu wenig Beachtung bekommen, wollen nur die Leute verrückt machen. Teleportation hin oder her, aber das, was erzählt wird, ist nicht echt.«
12. April 2024
Ich ging in die Hocke und legte die violetten Tulpen vor dem Grabstein meiner Mutter ab.
Ich hasste diesen Ort. Nicht nur speziell diesen, sondern Friedhöfe allgemein. Es gab keine farbenfrohen Lichter, die mich sonst im Alltag begleiteten. Stattdessen diese Stille, die sich über tausende von menschlichen Überresten legte und die große Leere, die nach dem Tod zurückblieb.
Grau, leise und tot – das waren die drei Wörter, mit denen man diesen Ort am besten beschreiben konnte.
Die gesichtslosen Grabstätten unterschieden sich kaum voneinander. Nur die Gravuren in den glattgeschliffenen Steinen personalisierten sie.
Neben den farbenfrohen Lieblingsblumen meiner Mutter schenkte ich ihr für die Dauer meines Besuches ein altes Foto von uns. Eine Erinnerung an das Leben.
Ich wandte die Handfläche nach oben und eine weiß-blaue Lichtprojektion erschien darüber. Das World-Communication-System, auch WCS genannt.
Mit der freien Hand zog ich die blauschimmernde Anzeige von meiner Handfläche und vergrößerte sie.
Aus dem Archiv suchte ich ein Bild heraus und setzte die Projektion über die Blumen und vor den Grabstein, dessen Gravur sanft hindurchschien: Eleanor Morrison 03.03.1967 – 14.08.2015
Ich drehte die Sättigung des Bildes bis zum Anschlag hoch, sodass die Worte dahinter verschwanden und das Lichtbild undurchsichtig wurde. Ich erhob mich und steckte die Hände in die Taschen meiner olivfarbenen Bomberjacke.
Für die nächsten Minuten betrachtete ich das letzte gemeinsame Familienfoto.
Meine Mutter stand mit einem royalblauen Kleid in der Mitte, mein Bruder Lion zu ihrer Linken und ich zu ihrer Rechten. Ihre Haare hatten einen helleren Braunton als die von Lion und mir. Mit einem leichten lockigen Schwung fielen sie ihr bis knapp über die Schultern. Sie sah mit den gelb-gesprenkelten grünen Augen, die sie mir vererbt hatte, selbstsicher in die Kamera. Mein Bruder entblößte mit gehobenen Mundwinkeln seine Zähne. Ich dagegen hatte meine Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen, wie ich es auf Bildern immer tat.
Es war ein harmonisches Bild, wie es auch der Moment des Entstehens gewesen war. Doch wie vermutlich jede Familie hatten wir unsere Probleme gehabt.
Seit mein Vater uns unmittelbar nach der Geburt meines Bruders für eine jüngere Frau verlassen hatte, hatte meine Mutter sich mit voller Kraft in die Arbeit gestürzt.
Die gemeinsame Zeit mit ihr war daraufhin selten geworden. Im Prinzip hatte uns Zofia, unser Kindermädchen, aufgezogen. Meine Mutter hatte sich oft dafür entschuldigt, dass sie so wenig für uns da war, doch daran geändert hatte sich nie etwas.
Durch ihr Hotel und die etlichen Firmengründungen galt sie als eine der erfolgreichsten Frauen in Amerika und ich wurde deshalb oft nur als die Tochter von Eleanor Morrison abgestempelt. Als die, die durch Mami alles bekam, was sie wollte. Ganz egal ob es sich dabei um Geld handelte oder um Dinge, die durch ein Gespräch mit einflussreichen Leuten geregelt werden konnten.
Ich wollte mich nicht in ein gemachtes Nest setzen. Ich wollte etwas unabhängig von ihr erreichen. Mir meinen eigenen Namen machen. Ich wollte nicht als die Tochter von Eleanor Morrison eingeordnet werden, der alles zugeflogen kam. Wer ich sein wollte, war Chiara Morrison. Eine Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nahm und selbst für ihren Erfolg zuständig war.
Nach ihrem Tod hatte mein Bruder das Hotel übernommen. Für mich kam das nicht infrage. Auch an dem restlichen Erbe hatte ich kein Interesse. Ohne groß mit mir zu hadern, spendete ich meinen Anteil bis auf den letzten Dollar. Durch diese Aktion wollte ich mich von dem Image der stinkreichen und verwöhnten Hotelerbin lösen.
Auch wenn ich nicht in ihre Fußstapfen getreten war, hatte ich sie geliebt und es hatte verdammt weh getan, als mich die Nachricht erreicht hatte, dass sie tot war.
Ihre langjährige Freundin Susan, Travis’ Mutter, hatte mitangesehen, wie sie auf offener Straße erschossen worden war. Die Männer, die dafür verantwortlich gewesen waren, waren kurze Zeit später verhaftet worden. Sie hatten zuvor eine Bank ausgeraubt und meine Mutter schien einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.
Ich wandte mich ab und ging durch die Gräberreihen.
Ein imaginäres Seil schlängelte sich um mein Herz und zog sich mit jedem Schritt zu.
Fünf Reihen weiter stoppte ich vor einem rechteckigen Grabstein.
Lion Morrison 12.04.1993 – 09.04.2018
Mein kleiner Bruder.
Immer wieder dachte ich an den Simulationsanruf zurück, der vermutlich dafür gesorgt hatte, dass sein Schicksal diese Wendung genommen hatte, und mir die ein oder anderen Schuldgefühle verschaffte.
»Caja, ich glaube, ich werde nach Chicago ziehen«, teilte mir seine Simulation mit. Eine Falte zeichnete sich zwischen seinen buschigen Augenbrauen ab. »Vielleicht auch nach Indianapolis. Oder ganz woanders hin. Ich bin mir noch nicht sicher.«
»Was? Warum?«, fragte ich erschüttert. »Du liebst St. Louis.«
Lion zuckte mit den Schultern und senkte den Blick. »Es läuft gerade nicht so gut. Ich denke, ein Tapetenwechsel wäre keine schlechte Idee.«
Als Kinder hatten wir ein sehr enges Verhältnis gehabt. Doch durch meinen Umzug nach Chicago war es über die Jahre etwas eingestaubt. Daher fand ich die Vorstellung, dass er in Chicago wohnen würde, gar nicht so schlecht.
Ich verzog meine Lippen. »Eine meiner Kursteilnehmerinnen hat gestern gesagt, dass sie einen Nachmieter sucht.« Ich dachte an die Berge an Klamotten und Krimskrams, die Lions Freundin in der gemeinsamen Wohnung hatte. »Aber zu zweit wird es da etwas eng.«
Er kratzte sich am Bart. »Ich suche auch nur für mich.«
Kurz verschlug es mir die Sprache. »Habt ihr euch getrennt? Willst du darüber reden?«
»Nein, will ich nicht.«
Nachdem er die besagte Wohnung ein paar Tage später besichtigt hatte, hatte er entschieden, nach Chicago zu ziehen. Dort hatte er nur eine Woche gewohnt, bis er wie vom Erdboden verschluckt worden war. Auch seine ID-Nummer hatte von der Polizei nicht geortet werden können. Als hätte sie nicht existiert.
Vier Tage nach seinem Verschwinden hatten sie seine Leiche mit Strangulierungsmalen am Hals gefunden.
Ich atmete tief durch, um den Druck in meinem Herzen zu lockern.
Was mit ihm geschehen war und wer ihm das angetan hatte, war bis heute unklar. Bei meiner Mutter wusste ich, was passiert war und auch die Täter saßen ihre Strafe ab. Ich hatte Gewissheit, was mir dabei geholfen hatte, mit ihrem Tod abzuschließen und mein Leben weiterzuführen. Aber bei meinem Bruder war alles ungewiss. Lange hatte ich seinen Tod nicht akzeptiert.
Ich hatte mich immer wieder gefragt, ob es anderes gelaufen wäre, hätte ich ihm die Wohnung nicht vermittelt. Wäre er nicht nach Chicago gezogen, sondern in eine andere Stadt. Ich hatte mich so sehr in diese Fragen hineingesteigert, dass es mich innerlich zerfetzt hatte. Jahrelang hatten mich Albträume verfolgt, in denen Lion starb und ich nichts dagegen tun konnte.
Nach drei Jahren hatte ich die Hoffnung verloren, jemals Antworten zu finden. Ich hatte mich gezwungen, damit abzuschließen, wodurch die Albträume nachgelassen hatten.
Ein Knacken ertönte.
Ich fuhr herum und verharrte. Was zum …?
Zehn Meter von mir entfernt stand ein Mann. Er hatte dunkle kurze Haare, einen etwas dunkleren Bart und buschige Brauen. Mit geweiteten Augen und offenem Mund starrte er mich an.
Und ich starrte zurück. Das konnte nicht wahr sein! Das konnte einfach nicht wahr sein!
Das Blut rauschte mir in den Ohren und ich war unfähig, einen Finger zu rühren.
Nach schier unendlichen Sekunden drehte er sich um und eilte davon.
»Lion?«, flüsterte ich.
Der Mann verlangsamte seine Schritte und blieb stehen, als hätte er mich gehört. Dann rannte er los, querfeldein über den Friedhof.
Ich löste mich aus meiner Starre und hastete ihm hinterher.
Er verschwand hinter einer Statue.
»Hey, warte!«, rief ich und rannte ebenfalls um die Statue herum. »Ah, Shit!« Ein helles Licht blendete mich.
Dann war da nur noch die Stille und Einsamkeit, die der Tod mitbrachte.
7
Chiara, 12. April 2024
Sie kam direkt auf mich zu. Mit der Faust voran.
Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig. Dann drehte ich mich ihr entgegen und holte mit meiner geballten Hand aus. Mit gezielten Schlägen drängte ich sie immer weiter zurück. Ich war blitzschnell und ließ ihr keine Möglichkeit zu kontern.
Mit einem schwungvollen Tritt in die Magengrube schleuderte ich sie rücklings zu Boden.
Die Lichtprojektion brach auseinander. Von hinten schlangen sich Arme um meinen Hals.
Ich ging in die Hocke, umfasste mit einer Hand den Arm und schaffte dadurch eine Lücke zwischen dem drückenden Arm und meiner Kehle. Mit der anderen Hand fasste ich über meine Schultern nach der meines Angreifers. Mit Schwung warf ich meinen Gegner über mich hinweg. Er prallte mit voller Wucht auf den Boden, zerbrach in etliche weiß-rote Teile und löste sich in Luft auf.
Alle Simulationen waren verschwunden. Ich hatte den Kampf gewonnen.
Ich strich meinen Overall zurecht und nickte zufrieden. Dieser Trainingsraum meiner Kampfsportschule war mir der liebste, um abzuschalten.
Die Tür öffnete sich mit einem kräftigen Ruck.
Ich fuhr herum.
»Oh, entschuldige, Chiara«, sagte Max, einer der Trainer und mein erster Angestellter. »Ich wusste nicht, dass jemand hier drin ist.« Er strich sich durch die rostbraunen Locken und machte kehrt.
»Schon gut«, murmelte ich und schnappte mir die Wasserflasche vom Boden. »Ich bin fertig.«
Er stoppte mitten im Türrahmen und drehte sich um. Einen Moment war es still und sein Blick ruhte auf mir. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine Sorgenfalte. »Alles in Ordnung?«
Ich räusperte mich. »Wieso?«
»Du bist ganz schön blass.«
»Ähm. Ja …« Ich sah zu Boden und mein Magen krampfte. »Lion wäre heute einunddreißig Jahre alt geworden.«
Max atmete hörbar aus. »Das habe ich total vergessen.« In seiner Stimme schwang ein entschuldigender Unterton mit. Er kam zu mir und legte sanft eine Hand auf meinen Oberarm. »Kann ich irgendwas für dich tun?«
Ich deutete ein Kopfschütteln an und legte ein schmales Lächeln auf, doch dann hielt ich inne. »Gleich ist die Stunde mit den beiden Miller-Kindern. Könntest du die heute vielleicht übernehmen?«
»Ja, natürlich«, sagte er sofort und ließ seine Hand sinken. »Ich mache das.«
»Danke.«
»Nichts zu danken!«
Mit der Wasserflasche in der Hand schritt ich aus dem Simulationsraum und betrat den angrenzenden Haupttrainingsraum. Ich setzte mich auf eine Sitzbank neben der Tür und lehnte mich an die Wand.
Vor den aneinandergereihten Boxsäcken hatte sich jeweils ein Teilnehmer postiert. Sie teilten mal mehr und mal weniger gut sitzende Schläge aus. Dabei behielt sie John, einer meiner Trainer, gut im Auge.
Nebenan im Boxring hatte Maureen, ebenfalls eine Trainerin, einen Einzelkurs mit einer jungen Frau. Maureens Schützling täuschte mit einer Hand zum Schlag an und verpasste ihn dann mit der anderen.
Ich schloss die Lider und Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf.
Auf dem Bahnsteig der Untergrundbahn wandten sich zwei Männer in meine Richtung.
»Hey Süße, willst du ein bisschen mit uns abhängen?«, fragte einer der beiden mit kratziger Stimme.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah auf die Lichtprojektion, die die nächsten Bahnen auflistete. Noch drei Minuten bis die nächste einfuhr.
Sieben weitere Passanten standen mit mir auf dem Bahnsteig. Auf dem Gegenüberliegenden zählte ich drei.
»Komm schon. Sei nicht so.« Die Männer kamen auf mich zu und machten unmittelbar vor mir halt.
Ich spannte all meine Muskeln an. »Ich habe kein Interesse.«
»Bist du sicher?« Einer der Männer fasste nach meinen Haaren. Er ließ sie los und streichelte mir über den Oberarm.
»Fasst mich nicht an!«, schrie ich laut genug, dass alle Umstehenden es hören mussten, und setzte einen Schritt nach hinten.
»Stell dich doch nicht so an«, sagte der andere mit der kratzigen Stimme. Er baute sich vor mir auf und strich über meinen Oberschenkel.
»Ich habe gesagt, fasst mich nicht an!« Ich schlug ihm gegen die Brust.
Er torkelte, fing sich aber schnell wieder. »Die Kleine ist kratzbürstig.«
Der andere legte ein dreckiges Grinsen auf. »Denkst du, wir können sie zähmen?«
Sie lehnten sich zu mir.
Ich wich weiter zurück. Schritt für Schritt.
Sie folgten mir.
Mein Herz raste.
Ich sah mich hilfesuchend um, aber die Menschen starrten entweder auf die Lichtprojektion ihres WCS’ oder geradeaus und taten so, als würden sie nichts davon mitbekommen. Ein Mann mittleren Alters machte sogar kehrt und lief Richtung Ausgang.
Mit dem nächsten Schritt stieß ich mit dem Rücken gegen die Wand.
Einer der beiden Männer packte mich an meinen Handgelenken und der andere fasste unter mein Shirt.
Ich zappelte und versuchte mit aller Kraft, mich dem Griff zu entziehen. Doch ich schaffte es nicht und war ihnen wehrlos ausgeliefert.
Ich schlug die Augen auf und atmete tief durch.
Während ich den Trainern und deren Schützlingen zusah, sollte ich eigentlich stolz sein, das alles auf die Beine gestellt zu haben. Nun ja, stolz war ich auch, aber nicht direkt glücklich. Ich hatte das Gefühl, dass ich erreicht hatte, was ich erreichen musste. Als mir damals niemand geholfen hatte, hatte ich mich dazu verpflichtet gefühlt, anderen zu helfen, sich selbst zu helfen. Natürlich liebte ich den Kampfsport. Er gab mir, was mir einst gefehlt hatte: Stärke und Selbstvertrauen. Aber war diese Schule das, was ich wirklich für mich wollte?
Max klatschte in die Hände und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Vor ihm standen die Miller-Kinder. Das Mädchen war elf, der Junge neun.
Mein Brustkorb zog sich zusammen und meine Gedanken waren sofort wieder bei Lion.
Ich wollte mich da nicht wieder reinsteigern. Lange hatte ich mich in Hoffnungen verloren, eine Erklärung für seinen Tod zu finden. Doch letztlich endete es in Hoffnungslosigkeit. Fakt war aber, dass ich ihn gesehen hatte. Erst heute Vormittag. In der Nähe seines eigentlichen Grabes.
Lebte er etwa noch?
Nein, das konnte nicht sein. Ich hatte seine Leiche mit eigenen Augen gesehen. Ich hatte ihn identifizieren müssen. Die blasse Haut, den starren Körper, die leblose Hülle.
Mir wurde schlecht.
Hatte ich mir heute alles nur eingebildet? Hatte ich das meinem trauernden Verstand zu verdanken?
Ich schüttelte den Kopf und wollte mich von den Gedanken befreien.
Der Miller-Junge hatte in seiner Drehung zu viel Schwung und fiel auf die Knie. Seine Schwester war sofort an seiner Seite und half ihm wieder auf die Beine. Sie zeigte ihm die genaue Ausführung, bevor Max es tun konnte. Der Junge versuchte es erneut und hielt sich standhaft auf den Beinen. Er grinste und jubelte seiner Schwester zu.
Mein Sichtfeld verschwamm und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
Nein, nein, nein.
Ich schluckte und atmete tief durch.
Ich ging zu Fuß nach Hause, statt mit der Untergrundbahn zu fahren oder mir ein Auto zu bestellen. Vielleicht würde mich die farbenfrohe und lebhafte Stadt auf andere Gedanken bringen.
Ich lief auf eine 3-D-Simulation zu. Sie stand neben dem Eingang einer Bar, die mit einem orangeleuchtenden Cocktailglasbild gekennzeichnet war. »Nur heute! Trinken Sie zwei und zahlen Sie eins«, trällerte die junge Frau mit einem freizügig ausgeschnittenen Top in aufgenommener Dauerschleife. Die Simulation war so genau, dass ich sogar die kleinen Lachfältchen um Mund und Augen erkannte.
Etliche Drohnen sausten durch die Luft und gaben ein Summen von sich. Die nächste Drohne, die einen Meter über mir flog, projizierte ein Lichtbild in die Luft über sich. Es war eine Werbeanzeige für die neue Single der Band 208 Miles.
Schlagartig blieb ich stehen.
Das Konzert. Connor. Wie er sich bewegt hatte und einfach im Boden verschwunden war. Auch Lion war heute einfach verschwunden. Nur hatte er kein Loch im Boden hinterlassen. Stattdessen war da dieses grelle Licht gewesen.
Hing das auf irgendeine Weise zusammen? Gab es doch noch Hoffnung, Antworten zu finden?
Ich öffnete das WCS und zog es von meiner Handfläche aus auf Augenhöhe.
Auf einer Social-Media-Plattform suchte ich nach Connor Ward