Ich habe dich im Auge - Ramona Paul - E-Book

Ich habe dich im Auge E-Book

Ramona Paul

0,0

Beschreibung

Ein Blick, der sich förmlich in den Körper drängt, sodass wir ihn spüren können, ohne ihn zu sehen. Allein dieses Kribbeln lässt uns instinktiv wissen, dass wir in diesem Moment beobachtet werden. Alessa Ahrens ist eine attraktive junge Frau, die ein Vorzeigeleben führt. Dieses wird eines Tages auf den Kopf gestellt. Denn Nachstellung plagt von nun an ihren Alltag. Gleichzeitig erfrischt eine angehende Romanze ihr Leben und lässt sie sicher fühlen. Doch Alessa wird nicht die einzige Zielscheibe des Stalkers bleiben. Wem kann man noch vertrauen, wenn man nicht einmal sich selbst trauen kann? Dinge kommen ans Licht, die tiefe Abgründe aufreißen. Der Feind ist manchmal näher, als man denkt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Ramona Paul
Ich habe dich im Auge
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
Danksagung

Ramona Paul

Ich habe dich im Auge

Ramona Paul wurde im Jahr 1995 im schönen Bayern geboren. Sie ist gelernte Einzelhandelskauffrau und Modedesignerin, doch nichts davon hat ihr die Erfüllung geboten, die sie sich gewünscht hat. Im Jahr 2021 hat sie ihren ersten Roman beendet und veröffentlicht. Seitdem ist sie Autorin und hat darin ihre Leidenschaft gefunden.

Webseite: www.ramona-paul.de

Ramona Paul

Ich habe dich im Auge

Thriller

Impressum

Copyright © 2021 by Ramona Paul

Lektorat und Korrektorat Jonas Westhoff

Covergestaltung Copyright © 2021 by Premiumsolns von der Plattform fiverr

Verantwortlich

für den Inhalt: Ramona Paul

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

www.ramona-paul.de

[email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin, www.epubli.de

Alle Rechte vorbehalten.

1

Ein Blick, der sich förmlich in den Körper drängt, sodass wir ihn spüren können, ohne ihn zu sehen. Allein dieses Kribbeln lässt uns instinktiv wissen, dass wir in diesem Moment beobachtet werden.

Während meine Beine sich der erhöhten Geschwindigkeit des Laufbandes anpassten, spürte ich, dass jemandes Augen auf mir haften blieben. Ich drehte den Kopf etwas nach links. Ein paar Geräte weiter saß ein Mann strampelnd auf dem Fahrrad, während mich seine Augen fixierten.

Sein Drei-Tage-Bart spiegelte die dunkle Farbe seiner Haare. Die Augenbrauen waren etwas zusammengezogen und leicht angehoben, sodass sich ein paar Falten auf seiner Stirn bildeten. Er hätte ein attraktives Gesicht, wenn er nicht so finster dreinblicken würde.

Ich hatte ihn hier schon öfters gesehen; allerdings nie mit einer freundlichen Miene. Vor sechs Monaten hatte er mich einmal angesprochen, doch viel mehr als eine flüchtige Begrüßung war das eigentlich nicht gewesen, da uns damals ein Trainer unterbrach. Auch da war nicht allzu viel Sympathie in seinem Gesicht zu sehen gewesen. Er teilte mir mit wie er hieß, doch ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Es war ein kürzerer Name und ich glaubte, er begann mit einem F. Felix? Fabian? Finn? Flo?

Innerhalb des letzten Jahres erwischte ich ihn immer wieder, wie er mich beobachtete. Mir war nicht klar, warum. Ich bekam ständig Komplimente wegen meines Aussehens, doch die Blicke der anderen Männer glichen seinem in nichts. War er schüchtern? Zu schüchtern, um zu lächeln?

Höchstens zwei Sekunden nachdem sich unsere Augen trafen, wandte er sich ab und konzentrierte sich darauf, schneller in die Pedale zu treten.

Ich erinnerte mich, dass vor wenigen Wochen mein Handy aufgeleuchtet war, weil ich eine Benachrichtigung erhalten hatte. Auf einer Social-Media-Plattform hatte jemand ein vier Jahre altes Selfie von mir mit „Gefällt mir“ markiert. Bei näherem Betrachten erkannte ich auf den Profilbildern das Gesicht des Mannes, der mich gerade gemustert hatte.

Hatte er gezielt nach mir gesucht? Oder war er zufällig über mein Profil gestolpert und hat es dann durchforstet?

Durch dieses Ereignis schien er mir noch unheimlicher als ohnehin schon. Wobei ich mir selbst an die Nase fassen musste und zugab, dass auch ich bereits öfters in den sozialen Medien nach jemandem gesucht hatte, den ich interessant fand. Also sollte ich wohl nicht zu skeptisch sein. In der jetzigen Zeit war das vermutlich normal.

Ein paar der Fotos hatten ihn mit einem breiten Lächeln gezeigt, das zugleich seine Augen warm und herzlich aussehen ließ. Dieser Ausdruck weckte sogar ein wenig Interesse in mir. Auf zwei weiteren Bildern war er gemeinsam mit einem Mann abgebildet, der schulterlange dunkelblonde Haare hatte und ein größeres Tattoo auf seinem Unterarm trug.

Sein Profilname bestand aus wahllos zusammenhängenden Buchstaben und Zahlen, die keinen Hinweis auf seinen richtigen Namen zuließen.

Meinen Blick richtete ich wieder geradeaus. Die Wand vor den Geräten war mit einem riesigen Spiegel versehen. Ich beobachtete mich darin. Meine langen blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Zopf schwang von der einen Seite zur anderen, mit einer Schnelligkeit als würde ich gleich abheben.

Ich versuchte nicht weiter an den Mann zu denken. Stattdessen lenkte ich mich mit anderweitigen Gedanken ab.

Da fiel mir wieder ein, wie ich vor knapp einer Stunde am Marienplatz, im Zentrum Münchens, auf meine Freundin gewartet hatte. Wir hatten uns dort um achtzehn Uhr verabredet, mit etwa zehn Minuten Verspätung war ich am Treffpunkt angekommen, doch von Fio war nichts zu sehen gewesen. Was unüblich war, denn für gewöhnlich war ich die Unpünktliche von uns beiden.

Fünf Minuten später war sie noch immer nicht da. Auch eine Nachricht hatte sie nicht gesendet. Also rief ich sie an.

„Fio, wo bist du denn?“, hatte ich sie gefragt, als sie nach dem dritten Klingeln den Anruf entgegennahm.

„Alessa?“ Sie klang verwirrt. „Wir hatten es doch auf morgen verschoben!“

„Was? Wann?“

„Als ich am Dienstag bei dir war. Weißt du das nicht mehr? Ich hab dir geholfen den Kuchen für deine Arbeit zu backen. Hatte dir gesagt, dass mir Freitag etwas dazwischengekommen ist und ob wir die Verabredung auf Samstag verschieben können. Du meintest: Ja klar!“

Jetzt war ich verwirrt.

Fio hatte mir am Dienstag geholfen, einen Marmorkuchen für das Büro zu backen. Meine Chefin, Frau Dollmann, hatte am Mittwoch Geburtstag und dieses Jahr war ich an der Reihe gewesen, einen Kuchen mitzubringen. Doch ich erinnerte mich nicht an die Worte von meiner Freundin. Wobei ich zugeben musste, dass ich bei unserem Treffen teils in Gedanken vertieft war. Ich hatte es wohl überhört und die Information nicht abgespeichert.

Was war aktuell nur los mit mir? In letzter Zeit war ich öfters durcheinander.

Ich schob es auf den Stress, den es in der vergangenen Zeit auf der Arbeit gab.

„Oh, das habe ich ja ganz vergessen. Tut mir leid“, sagte ich. „Dann sehen wir uns morgen.“

„Bis dann.“ Dann hatte sie aufgelegt.

Kopfschüttelnd versuchte ich mich an das Gespräch zu erinnern. Vergeblich.

„Ich verliere noch meinen Verstand“, flüsterte ich zu mir selbst und spazierte zur U-Bahn-Station. Ich beschloss nach Hause zu fahren und gleich weiter ins Fitnessstudio - den Kopf ein wenig frei bekommen.

Nach einer halben Stunde stellte ich die Schnelligkeit von dem Laufband herunter, um langsam zum Ende zu gelangen.

Als ich mich im Spiegel betrachtete, bemerkte ich, dass mein Gesicht eine etwas rötliche Farbe angenommen hatte. Der Atem ging schneller und mein Puls wurde durch die Anstrengung nach oben getrieben. Bei niedrigerer Geschwindigkeit versuchte ich ihn wieder nach unten zu bekommen.

Da registrierte ich im Spiegel, wie der Mann von vorhin Richtung Ausgang schlenderte. Wie es aussah, war er fertig mit seinem Training für heute. Ich dachte, aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, dass er sich nochmals umdrehte und zu mir spähte, bevor er aus dem Raum huschte. Doch ich war mir nicht sicher, ob er das wirklich tat.

Bei nur fünf Kilometer die Stunde lief ich auf dem Band, bis auch ich kurze Zeit später die Halle verließ und zu meinem Spind marschierte. Als ich meine Sachen holte, begab ich mich auf den Heimweg. Von dem Fitnessstudio bis zu meiner Wohnung waren es nur zehn Minuten zu Fuß. Meistens duschte ich erst zu Hause, da die Duschen im Studio oft unhygienisch waren.

Als ich die Straße entlang spazierte, überkam mich das unwohle Gefühl verfolgt zu werden. Ich spürte Blicke, die sich in meinen Rücken bohrten und ein großes Unbehagen in mir auslösten. Ich drehte mich um. Eine alte Frau - konzentriert darauf ihren Rollator vor sich herzuschieben. Eine Mutter mit ihrem Kind, die gemeinsam über einen Zebrastreifen schlenderten. Die schienen mir wenig verdächtig. Doch ich sah noch jemanden und bekam schlagartig ein mulmiges Gefühl in der Bauchregion. Jemand lief circa zehn Meter hinter mir. Der Kopf unter der Kapuze war gesenkt, wodurch ich das Gesicht nicht erkennen konnte. Die schwarzen Sportshorts gaben kräftige Waden zu erkennen, die eindeutig zu der Statur eines Mannes gehörten. Darüber trug er eine schwarze Kapuzenjacke.

Wurde ich verfolgt?

Ich werde schon paranoid.

Es war vermutlich nur jemand, der in dieselbe Richtung lief.

Ich bog in die nächste Querstraße ein und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die auf meiner Haut prickelten wie Brausestäbchen auf der Zunge, bevor die Sonne am Horizont verschwand.

Ein paar Meter weiter warf ich automatisch einen Blick nach hinten, um mich zu vergewissern, dass ich nicht verfolgt wurde. Aber der Mann bog ebenfalls ab. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Was, wenn er sich doch an mich drangehängt hatte?

Jedes Mal, wenn ich über die Schulter blickte, hatte ich das Gefühl, dass der Abstand zwischen uns kleiner wurde. Noch immer mit gesenktem Kopf schlenderte er hinter mir her. Sein durchbohrender Blick saß mir tief in den Knochen. Aber das Gesicht war zu sehr im Schatten der Kapuze verborgen, um etwas zu erkennen.

Ich versuchte mich zu beruhigen. Die Panik zu ersticken. Was sollte er mir schon tun? Was für einen Grund sollte er haben? Es war gerade mal Viertel vor acht und etliche Menschen waren auf den Straßen Münchens unterwegs.

Sicherlich steigerte ich mich da in etwas hinein. Aus Angst davor, dass mir so etwas erneut widerfahren würde. Denn vor zwei Jahren war ich schon einmal verfolgt und bedroht worden.

In der Hoffnung, ihn nicht mehr im Rücken haben zu müssen, wechselte ich die Straßenseite. Doch als ich den gegenüberliegenden Gehweg erreichte, begab auch er sich auf dieselbe Seite. Ich beschleunigte meine Schritte. Anschließend tat auch er es.

Nur noch eine Minute, dann bin ich zu Hause.

Als der Mann mich so weit eingeholt hatte, dass er nur noch ein paar Schritte hinter mir war, blieb er auf einmal ruckartig stehen. Durch den Schatten über seinem Gesicht spürte ich das kribblige Gefühl seines Blickes auf mir. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken.

Da entdeckte ich meine Straße und bog ein. Endlich! Auf den letzten Metern wurde mein schneller Gang zu einem leichten Joggen. Als ich vor der Haustür ankam, wagte ich einen Blick zurück. Er war nicht zu sehen.

2

Ich flitzte die Treppen hoch in den zweiten Stock, in dem sich meine Wohnung befand. Darin angekommen, schlug ich die Tür, etwas fester als nötig, zu und sperrte sie doppelt ab.

Bevor ich unter die Dusche sprang, spähte ich hastig durch das Badezimmerfenster auf die Straße hinunter. Niemand zu sehen.

Beim Duschen prasselte das Wasser auf mich nieder. Noch immer leicht zitternd, versuchte ich die Panik den Abfluss hinunterzuspülen. Im Hintergrund hatte ich Musik angemacht, um mich zu beruhigen. Gerade so laut, dass ich sie unter dem Plätschern des Wassers hören konnte.

Ein schrilles Geräusch ließ mich zusammenzucken. Die Klingel für die Wohnung. Erstarrt und mit pochendem Herzen stand ich da, während sich das warme Wasser um meinen Körper schlängelte. Ich erwartete keinen Besuch. Wer war das also? Der Mann, der mir offensichtlich gefolgt war?

Schnell drehte ich das Wasser ab, blieb aber wie angewurzelt in der Dusche stehen. Zitternd und mit Schaum in den Haaren lauschte ich auf ein weiteres Klingeln.

Als es einige Sekunden später ruhig blieb, atmete ich mehrmals tief durch. Die Anspannung löste sich langsam. Ich drehte das Wasser wieder auf und spülte mir den restlichen Schaum aus den Haaren.

Wenige Minuten später stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und schlüpfte in meinen flauschigen hellrosa Bademantel. Die nassen Haare klebten mir im Nacken.

Das Fenster öffnete ich, um dem Dampf, der sich durch das warme Wasser im Bad angesammelt hatte, die Freiheit zu gewähren. Ich lehnte mich etwas hinaus und frische Luft durchflutete meine Nase. Ich kuschelte mich noch mehr in den Bademantel ein.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Vereinzelt waren Sterne am Himmel zu erkennen.

Ein dumpfer Knall ließ mich hinunter auf die Straße blicken. Das Geräusch kam von der zufallenden Haustür unseres Gebäudes. Da registrierte ich einen Mann mit dunklen Haaren, der genau in dem Moment seinen Kopf wegdrehte, als ich ihn bemerkte. Adrenalin schoss erneut durch meinen Körper. Ich hatte den Drang, von dem Fenster wegzugehen und mich zu verstecken. Doch ich war wie versteinert. Stattdessen starrte ich weiterhin auf ihn hinab. War das derselbe Mann? Hatte er meine Wohnung beobachtet? War er es, der geklingelt hatte?

Dieser Mann kam mir aus der Entfernung nicht bekannt vor. Wobei ich sein Gesicht in dem Bruchteil der Sekunde, als er nach oben gesehen hatte, nicht deutlich erkennen konnte.

Er stand unmittelbar vor der Haustür und lief anschließend hastig die Straße hinunter.

Während ich ihm nachsah, bis er in der Dunkelheit verschwunden war, knabberte ich an meinen Fingernägeln. Eine Angewohnheit, die ich seit meiner Kindheit nicht losgeworden war. Mit ein paar tiefen Atemzügen versuchte ich die Angespanntheit loszuwerden.

Das war sicherlich alles nur ein Zufall. Dich hat niemand verfolgt. Sei nicht so paranoid!, dachte ich mir.

Der Dampf im Bad war mittlerweile verzogen. Nachdem ich meine Haare durchgebürstet hatte, schlenderte ich in die Küche. Dort schlug ich zwei Eier in die Pfanne und belegte eine Scheibe Brot mit Avocado. Die Ablenkung entspannte mich ein wenig.

Nach dem Essen ließ ich mich auf das Sofa sinken.

Die letzten Tage erwiesen sich als die stressigsten meiner bisherigen beruflichen Laufbahn. Die Werbeagentur hatte eine Anfrage für einen Auftrag von einem angesehenen Autohersteller bekommen. Wir sollten uns um die Werbemaßnahmen des neuesten Modells kümmern. Falls wir den Kunden mit unserem Konzept zufriedenstellten, würden wir damit den größten Auftraggeber an Land ziehen, den die Agentur je gehabt hatte. Und er würde auch bei zukünftigen Projekten mit uns zusammenarbeiten wollen.

Meine Chefin hatte darauf bestanden, dass ich für dieses Projekt zuständig war. Ob wir den Auftrag und den Kunden für unsere Agentur gewinnen konnten oder ihn verlieren würden, hing nun an der Präsentation, die ich nächsten Montag halten würde.

Wegen des Auftrags war ich die letzten Tage kaum zur Ruhe gekommen und hatte fast nur gearbeitet. Deshalb freute ich mich auf dieses Wochenende.

Während ich Filme und Serien durchsah, kam mir das schrille Geräusch der Klingel in Erinnerung und ließ mich erneut zusammenzucken. Ob es tatsächlich dieser Mann gewesen war?

Nicht wieder paranoid werden!

Vielleicht war es nur eine Freundin. Fio, die doch Zeit gefunden hatte und vorbeischauen wollte. Oder Noemi, die nicht nur eine Arbeitskollegin war. Sie kam öfters spontan vorbei, nachdem sie sich mit einer Nachricht ankündigte.

Ich blickte auf mein Handy.

Keine Nachricht.

Nach fünf Minuten, noch immer unschlüssig, was ich mir ansehen wollte, ließ mich der Gedanke, wer geklingelt hatte, nicht los.

Mein Bauchgefühl ließ mich aufstehen und zur Wohnungstür laufen. Ich spähte mit steigendem Puls durch den Türspion. Dunkelheit. Dort wo eigentlich der kleine Flur und wenige Meter gegenüber die Tür meines Nachbarn sein sollte, war nur Finsternis zu sehen. Auch wenn es zwischenzeitlich dunkel geworden war, sollte vom Treppenhaus noch etwas erkennbar sein. Denn vor dem kleinen Fenster im Flur stand eine Laterne, die immer für einen dezenten Lichtschimmer sorgte.

Erstarrt blieb ich stehen. Stand jemand unmittelbar davor oder hielt sogar von außen den Türspion zu? Sekunden oder Minuten verstrichen, in denen meine Gedanken sich nicht zuordnen ließen. Zugleich überkam mich Panik - was meine Handflächen feucht werden ließ.

Auf Zehenspitzen drehte ich mich um und schlich zur Küche auf der linken Seite. Ich griff mir eines der Messer aus dem Block. So leise es mir möglich war, begab ich mich zurück zur Wohnungstür.

Mach dich doch nicht lächerlich! Die Laterne ist vermutlich einfach nur ausgegangen.

In einem Ruck drehte ich den Schlüssel im Schloss. Unbewusst hielt ich den Atem an. Mit dem Messer in der rechten Hand drückte ich die Türklinke nach unten und zog sie auf.

Schwer ausatmend erkannte ich den Flur im leichten Lichtschimmer der Laterne. Aber niemanden, der vor meiner Tür stand.

Ich schaute auf den Boden. Dort lag nur meine olivfarbene Fußmatte mit der Aufschrift Willkommen.

Mit schnellem Atem blickte ich die Tür hinauf, um herauszufinden, warum ich nur Dunkelheit gesehen hatte. Ich bemerkte, dass etwas an der Wohnungstür klebte. Ein Briefumschlag, auf dem mit Computer geschrieben mein Name stand. Über dem Türspion war er mit einem durchsichtigen Tesastreifen befestigt.

Ich nahm den Umschlag, riss ihn von der Tür und schlich in den Flur hinaus. Auch auf den Treppen war niemand zu sehen.

Als ich vorhin nach Hause kam, klebte der Brief noch nicht dort. Hatte derjenige, der kürzlich geklingelt hatte, mir auf diesem Weg eine Nachricht hinterlassen?

Voller Ungeduld, Neugier und etwas Unbehagen öffnete ich den Briefumschlag. Währenddessen lief ich in meine Wohnung zurück und schloss hinter mir ab.

Ein Blatt, DIN-A4-Größe, befand sich in dem Umschlag. Mit Computer geschrieben waren nur ein paar Wörter mittig darauf zu finden:

Das nächste Mal lasse ich dich nicht entkommen!

Mir lief es kalt den Rücken hinunter und meine Hände wurden schwitzig.

Sicher wusste ich jetzt, dass diese Nachricht von dem Mann kam, der mich vorhin verfolgt hatte. Was konnte dieser Kerl von mir wollen? Wer war das?

Ein Déjà-vu überkam mich.

Durch die hervorkommenden Erinnerungen schoss mir ein Name in den Kopf. Chris. Christian Lange. Mein Ex-Freund.

Vor zwei Jahren hatte ich die Beziehung mit Chris beendet. Damals war er neunundzwanzig gewesen. Wir waren fast vier Jahre ein Paar. Die ersten drei Jahre waren wundervoll. Er war charmant, attraktiv und ein toller Mensch. Wir hatten sogar schon übers Heiraten gesprochen. Ich konnte mir keinen anderen Mann an meiner Seite vorstellen und wollte die Zukunft mit ihm verbringen. Doch als er seinen Job verlor, fing er an, sich zu verändern. Er wurde immer eifersüchtiger. Zuerst fand ich es süß, aber mit der Zeit wurde es schlimmer. Irgendwann wollte er nicht einmal mehr, dass ich mich außerhalb mit Freunden traf.

In eine Bar mit Freundinnen? Willst du jemanden aufreißen? Einen tiefen Ausschnitt tragen? Wem willst du dich denn so präsentieren?

Wir waren nur noch am Streiten gewesen. Selbst nachdem er wieder einen Job gefunden hatte, änderte es nichts an unserer Situation. Als ich mich immer weiter von ihm distanzierte, wurde sein Verhalten nur noch extremer. Dadurch wurde der Sex weniger, was ihm umso mehr Grund zur Annahme gab, dass ich ihn betrügen könnte. Er fing an, mich zu kontrollieren, durchsuchte mein Handy vergeblich nach Nachrichten von anderen Männern. Das Vertrauen war verloren. Er nahm mir die Luft zum Atmen. Von dem Mann, in den ich mich verliebt hatte, war kaum noch etwas übrig. Trotz allem hoffte ich vergeblich, dass ich den Chris von damals irgendwann wieder zurückbekommen würde. Ich war immer treu gewesen und hatte ihm keinen Grund für sein Benehmen gegeben.

Letztlich musste ich den Schlussstrich ziehen, als ich begann, mich vor ihm zu fürchten. Er war nie gewalttätig, weder mir noch sonst jemandem gegenüber, doch plötzlich gehörte Aggressivität zu seiner neuen Persönlichkeit. So hatte eine Beziehung keinen Sinn mehr. Jedenfalls für mich nicht. Ich war niemand, der sich so behandeln ließ. Das hatte ich lang genug mit mir machen lassen. Doch er wollte es nicht akzeptieren.

Ständig anonyme Anrufe und Nachrichten, von denen ich wusste, dass er es war. Ich werde dich niemals aufgeben!, war der Inhalt sämtlicher Mitteilungen. Auch Drohungen waren dabei: Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich keiner haben. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Er verfolgte mich auch hin und wieder. Einmal, auf dem Heimweg von der Arbeit, erkannte ich ihn deutlich.

Die Polizei konnte mir dennoch nicht helfen. Chris hatte alles abgestritten und sogar falsche Alibis von Freunden. Ich sollte mir alles notieren. Wann ich Anrufe und Nachrichten erhielt, den Inhalt der Mitteilungen, die ich bekam und wann ich meinte, verfolgt worden zu sein.

Ich hatte Angst vor ihm. Angst davor, was er noch vorhatte. Ob er mir noch etwas antun würde. Zu was war dieser Mann in der Lage, den ich einst für so harmlos gehalten hatte?

Nach unendlich langen zwei Wochen und vier Tagen hörte es auf. Chris entschuldigte sich in einem handgeschriebenen Brief. Als er seine Arbeit verlor, hätte er Angst gehabt, auch mich zu verlieren. Das nagte an seiner Männlichkeit und er hatte keine Kontrolle darüber. Ihm sei nun klar geworden, dass sein Verhalten nicht in Ordnung war und er kündigte an in Therapie zu gehen.

Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben konnte. Doch ich hatte seitdem nie wieder etwas von ihm gehört. Keine Anrufe, keine Nachrichten und niemanden, der mich verfolgte. Zwei Jahre war es ruhig gewesen.

Bis jetzt.

Irgendjemand wollte dasselbe Spiel mit mir spielen. So sehr ich mich anstrengte, fiel mir niemand ein, der einen Grund dafür haben könnte. Weder wissentliche Feinde noch abgeblitzte Verehrer, denen ich so etwas zutrauen würde.

Erneut betrachtete ich den Brief in meinen zittrigen Händen. Was würde denn passieren, wenn ich das nächste Mal nicht entkommen sollte?

Als ich mich wieder auf das Sofa sinken ließ, überlegte ich, ob ich diesen Zwischenfall bei der Polizei melden sollte. Doch was würde das bringen? Sie würden ohnehin nichts unternehmen können. Nicht einmal einen Verdächtigen könnte ich ihnen nennen. Sie würden mich höchstens dazu auffordern, für den Fall, dass weitere Drohungen folgten, alles zu dokumentieren. So wie damals. Mehr würden sie nicht unternehmen können, es war ja nichts Schlimmeres passiert. So wie damals.

3

Am nächsten Tag fuhr ich in den Nachmittagsstunden nach Starnberg, um meine Eltern zu besuchen. Der Stadtteil Sendlingen, in dem ich wohnte, war nur circa eine dreiviertel Stunde mit der Bahn entfernt.

Vor zehn Jahren hatten meine Eltern sich dort ein Haus gekauft. Nachdem ich auszog, war ihnen das alte Heim zu groß. Außerdem wollten sie der Großstadt entfliehen und hatten schon immer eine Schwäche für den Starnberger See.

Nachdem meine Oma verstorben war, erbten sie eine Menge Geld – nicht, dass sie davor wenig gehabt hätten. Sie besaßen einige Immobilien. Das Wissen meines Vaters als Immobilienmakler war daher von Vorteil. Finanziell hatte meine Familie nie Probleme gehabt.

„Du hast heute aber Augenringe, Kind! Und wie sehen nur deine Haare aus?“, bemäkelte meine Mutter, als wir Richtung Esstisch liefen.

Auf dem Sideboard, das neben der Tür zur Küche stand, waren zwei Fotos aufgestellt. Das Rechte war ein Porträtfoto von mir in einem weißen Bilderrahmen, der hochkant stand. Es war fast acht Jahre her, als ich von meinen Eltern einen Gutschein für ein Fotoshooting geschenkt bekommen hatte. Meine Haare waren damals so lang, dass sie die Taille erreichten - zehn Zentimeter länger als heute. Das Bild daneben hatte einen goldenen Bilderrahmen und beinhaltete ein Foto im Querformat. Es war am ersten Weihnachtsfeiertag 2017 in einem Nobelrestaurant aufgenommen worden. Links meine Mutter, rechts mein Vater und in der Mitte saß ich. Alle hatten mit einem Lächeln, welches die Zähne zeigte, den Blick auf die Kamera gerichtet. Ich erinnerte mich daran, wie der Kellner das Bild von uns geschossen hatte.

„Hab schlecht geschlafen.“ Ich wollte ihr von den gestrigen Ereignissen nichts erzählen, um sie nicht zu beunruhigen. Den Kommentar über meine Haare ließ ich unbeantwortet. Der Wind, der heute durch die Straßen zog, hatte sie durcheinandergebracht.

Während meine Mutter Wasser aufkochten ließ, huschte sie in das Badezimmer und reichte mir daraufhin eine Bürste. Kommentarlos nahm ich sie entgegen und glitt damit durch mein feines Haar.

Kurz darauf stellte sie mir einen Tee vor die Nase. Kräutermischung, stand auf dem Schildchen, welches neben der Tasse baumelte.

„Wie läuft es in der Arbeit?“, fragte sie und ihre blauen Augen, die den meinen sehr ähnlich waren, musterten mich.

„Am Montag habe ich eine wichtige Präsentation vor einem möglichen Großkunden. Ein ziemlich großes Ding für die Agentur. Ich bin ehrlich gesagt extrem nervös. So ein großes und vor allem wichtiges Projekt hatte ich noch nie.“

„Ich bin mir sicher, dass du das hinbekommst! Schließlich bist du ein kluges Mädchen. So haben wir dich erzogen.“ Sie steckte ihre schulterlangen grauen Haare mit einem leichten Blondstich hinter die Ohren.

„Und ein Wunderschönes noch dazu.“ Eine tiefere Stimme tauchte hinter mir auf.

„Papa.“ Ich stand auf und umarmte den hochgewachsenen Mann.

„Was habe ich da gerade gehört? Einen Großauftrag? Wir sind ja so stolz auf dich. Du hast es wirklich schon weit gebracht.“

„Danke. Aber noch ist es zu früh zum Feiern. Ich muss den Kunden erst einmal überzeugen“, versuchte ich ihn in seiner Euphorie zu bremsen.

„Glaubst du etwa nicht an dich?“ Er lächelte, doch seine braunen Augen sahen mich streng an. Der Bart, der sein Lächeln umrahmte, war wie seine kurzen Haare größtenteils ergraut.

Ich atmete tief durch. „Doch klar. Die werde ich vom Hocker hauen“, gab ich grinsend zurück.

„Das ist meine Tochter. Du musst immer fest an dich glauben, dann kannst du alles schaffen. Und das wirst du auch, Liebes!“

Meine Eltern waren schon immer erfolgsorientiert und daher streng mit mir gewesen. Ihnen war wichtig, dass ich es zu etwas brachte und sie stolz auf mich sein konnten. Sie forderten mich, so viel es ihnen möglich war. Dennoch waren sie stets fürsorgliche und liebevolle Eltern. Ich könnte mir keine Besseren vorstellen. Dank ihnen war ich heute die Person, die ich war.

Ich nahm einen Schluck aus der Tasse und bereute es sofort. Es fühlte sich an wie glühende Lava, die auf der Zunge tanzte und langsam die Kehle hinunterfloss. Rasch zog ich kühle Luft hinterher, um den Schmerz etwas zu lindern.

„Ich bin jedenfalls sehr stolz auf dich.“ Ein Strahlen breitete sich auf dem Gesicht meiner Mutter aus. „Aus dir ist eine so anständige, erfolgreiche und wunderschöne Frau geworden. Meine Tochter ist so ein toller Mensch, genau wie wir es uns immer gewünscht haben. Das würde ich für nichts auf der Welt wieder hergeben wollen.“

„Wir haben eben die beste Tochter, die man sich vorstellen kann“, entgegnete mein Vater und wandte sich zu meiner Mutter. „Kein Wunder bei den Eltern.“ Er zwinkerte ihr zu und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Ich fand es toll, dass sie sich nach so vielen Ehejahren noch so zueinander hingezogen fühlten.

Ich trank den Tee leer und aß ein Stück von dem Mandelkuchen, den meine Mutter gebacken hatte.

Als ich die Wohnungstür aufschließen wollte, bemerkte ich hinter mir eine Tür aufgehen. Mein Nachbar von gegenüber betrat den Flur. Linder stand auf der Klingel. Er wohnte seit drei Monaten hier, mehr wusste ich nicht über diesen Mann. Ich hatte ihn, bis jetzt, nicht einmal gesehen. Wobei mir das Gesicht gar nicht so unbekannt vorkam.

Er war schlaksig und sah aus wie Ende zwanzig. Seine dunklen und durchwurschtelten Haare ließen ihn aussehen, als ob er frisch aus dem Bett kam.

Erschrocken sah er mich an. Als wäre ich ein Ufo und er konnte nicht glauben, was er sah.

„Hallo“, begrüßte ich ihn mit einem Lächeln. Ich legte viel Wert auf gute Nachbarschaft. Meine Wohnung hatte ich mir vor sechs Jahren gekauft. Kurz bevor ich Chris kennengelernt hatte. Vor drei Jahren, als wir planten zusammenzuziehen, wollte ich meine Wohnung vermieten. Nachdem es allerdings genau zu dieser Zeit anfing Konflikte zwischen uns zu geben, war es nie dazu gekommen. Ich plante auch nicht in nächster Zeit auszuziehen, deshalb war ein angenehmes Verhältnis zu den Nachbarn nur von Vorteil.

Um seine Lippen zuckte es. „Ha… Hallo“, stotterte er und sah durch seine Brille verlegen weg. Ich dachte gesehen zu haben, dass er rot wurde - konnte mich aber auch getäuscht haben.

Er schloss seine Tür und huschte schnell sowie leicht ungeschickt die Treppen hinunter.

„Schönen Tag noch“, rief ich ihm nach, bevor er aus Sichtweite verschwand. Doch darauf antwortete er nicht und stolperte weiter die Stufen hinab.

Komischer Kauz, dachte ich mir.

In dem Moment, als ich durch meine Wohnungstür schlüpfte und sie hinter mir schloss, wusste ich, warum sein Gesicht etwas in mir aufblitzen ließ. Es war dasselbe Gesicht, welches ich am Abend zuvor für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, als ich aus dem Badezimmerfenster nach unten sah.

Die Erkenntnis ließ mich beunruhigen. Allerdings wohnte er hier und verließ dadurch regelmäßig das Haus, wie ich gestern beobachtet hatte. Da war nichts Außergewöhnliches dabei.

Ich beschloss, mich nicht weiter verrückt zu machen und mich abzulenken. Bis ich mich mit meiner Freundin treffen würde, hatte ich noch Zeit. Deshalb füllte ich die kleine grüne Gießkanne mit Wasser und goss nach und nach die Pflanzen. Da meine Wohnung einem halben Gewächshaus glich, beschäftigte mich das eine Weile. Meine Lieblinge waren die Yucca-Palmen. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer stand die Kleine davon und die Große hatte ihren Platz rechts neben dem Sofa gefunden.

Meine Wohnung war modern eingerichtet. Weiß, grau, schwarz und grün. Das Grün hatten hauptsächlich die Pflanzen zu verantworten.

Als ich die Kräuter in der Küche goss, hörte ich mein Handy vibrieren. Es lag auf dem Esstisch im Wohnzimmer.

Nummer unterdrückt.

Ich starrte es an, während meine Gedanken darum kreisten, wer es sein konnte. Mir fiel niemand ein und bei unterdrückter Nummer ging ich generell ungern dran. Ich legte das Handy, noch immer vibrierend, beiseite. Kurz danach verstummte es.

Kaum in der Küche angekommen, vibrierte es erneut.

Nummer unterdrückt.

Widerwillig nahm ich den Anruf entgegen.

Ich zögerte. „Hallo?“

Keine Antwort.

„Wer ist da?“, fragte ich ein paar Sekunden später mit fester Stimme.

Noch immer keine Rückmeldung. Doch ich nahm einen tiefen Atemzug in der anderen Leitung wahr.

„Hallo?“ Leichte Wut lag in meiner Stimme.

Weitere Atemzüge drangen durch das Telefon. Ruhig und gleichmäßig.

Ich wollte bereits auflegen. Doch ohne nur eine Sekunde darüber nachzudenken, verließen folgende Wörter meinen Mund: „Chris? Bist du das?“

Die Leitung wurde unterbrochen.

4

„Verfolgt? Bist du dir sicher?“, fragte meine Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen zwei Stunden später, als wir in der Bar saßen und auf unsere Getränke warteten.

Fiona Weigel - man nannte sie Fio - kannte ich seit über eineinhalb Jahren. Wir hatten uns auf einer Silvesterparty kennengelernt und angefreundet. Seitdem waren wir unzertrennlich. Sie war nicht nur meine beste Freundin geworden, sondern auch die Schwester, die ich nie hatte.

„Ja, es war ziemlich offensichtlich.“ Ich nahm den Umschlag aus meiner Tasche und legte den darin befindlichen Brief aufgeschlagen vor meine Freundin, damit sie ihn lesen konnte.

„Das nächste Mal lasse ich dich nicht entkommen!“, murmelte sie vor sich hin. „Ok, das ist wirklich offensichtlich. Der hing an deiner Wohnungstür hast du gesagt?“

„Ja, ich frage mich, wie er unten zur Tür hereingekommen ist.“ Nachdenklich packte ich den Brief weg.

„Ey, so schwer ist das bestimmt nicht. Er hat vielleicht alles durchgeklingelt, bis jemand aufgemacht hat. Oder so lange gewartet, bis jemand herauskam, um dann reinzuschlüpfen“, überlegte sie laut und spielte anschließend mit ihrer Zunge an dem kreisförmigen Piercing auf der unteren rechten Seite ihrer Lippe.

Das Lippenpiercing war nicht ihr einziger Körperschmuck. An beiden Ohren entlang waren etliche Löcher gestochen, in denen Stecker sie schmückten. Auch ihre Nase war mittig durchstochen worden. Das Piercing war nicht nur ein Kreis, wie bei einem Ochsen, sondern breitete sich mit weiteren Halbkreisen auf die äußeren Nasenflügel aus. Man könnte meinen, etwas würde versuchen, aus der Nase zu krabbeln.

„Das stimmt.“

Eine junge Frau kam mit unseren Getränken. Fio bekam den Mojito und für mich war die Piña Colada.

„Wollen Sie auch etwas essen?“, fragte sie freundlich.

„Ja, für mich bitte den Caesar Salad mit Knoblauchbrot“, sagte ich.

„Gerne. Und bei Ihnen?“ Sie wandte sich zu Fio.

„Cheeseburger.“

„Sehr gerne.“ Die Frau verschwand.

„Shit, hat es da wirklich jemand auf dich abgesehen?“ Besorgnis war in Fios Stimme zu hören.

„Vorhin hat mich eine unterdrückte Nummer angerufen. Aber es hat sich niemand gemeldet …“ Ich zögerte kurz. „Ich habe nur einen Atem gehört.“

„Atem? Wie ein Stöhnen?“ Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und sah dabei aus, als wollte sie eine knifflige Rechenaufgabe lösen. „Was für ein krankes Schwein …“

„Nein, ein ganz normaler Atem. Gleichmäßig“, unterbrach ich sie. „Als wollte er mir damit zeigen, dass jemand auf der anderen Leitung ist. Einfach um mir Angst einzujagen.“ Ich nahm einen großzügigen Schluck meines Cocktails, wodurch ein Geschmack kombiniert aus Kokos und Ananas in meinem Mund entstand.

„Verfolgung, Anrufe, Nachrichten … Das hört sich ja an wie damals mit deinem Psycho-Ex.“ Ihre Augen weiteten sich, sodass das strahlende Blau, welches von tiefer schwarzer Schminke umgeben war, noch mehr zum Ausdruck kam. „Heilige Scheiße. Das mit dem ist doch auch schon ewig her?“

„Zwei Jahre. Und gerade fühlt es sich wie ein Déjà-vu an. Wie damals, als es mit Chris zu Ende ging.“

„Hmm“, nachdenklich sah sie ihren Drink an und nahm einen großen Schluck. „Denkst du, er könnte das gewesen sein?“

Ich zuckte mit den Schultern und musste daran denken, wie ich seinen Namen am Telefon gesagt hatte. „All die Sachen lassen mich schon an ihn erinnern, aber ihn deswegen verdächtigen? Ich weiß es nicht. Immerhin habe ich ihn seit zwei Jahren nicht mehr …“ Ein Bild drängte sich mir vor Augen, welches mich verstummen ließ. Eine Erinnerung, an die ich nicht mehr gedacht hatte.

Am Montag, als ich meinen Wocheneinkauf erledigt hatte, sah ich zwei Kassen weiter ein bekanntes Gesicht.

Chris schien mich nicht bemerkt zu haben. Allerdings wirkte er nervös. Er fuhr sich öfters durch die dunkelblonden Locken. Das hatte er immer getan, wenn er angespannt war.

Da es an seiner Kasse schnell voranging und ich mich wie immer an die Langsamste gestellt hatte, verließ Chris den Supermarkt wenige Minuten vor mir.

Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Obwohl es nicht seine Gegend war; wobei er umgezogen sein konnte. Doch jetzt nahm ich an, dass er mich sehr wohl gesehen hatte - mich nur nicht sehen wollte. War er mir dort gefolgt? Hatte er mich beobachtet?

„Alessa“, riss mich Fios Stimme aus meinen Gedanken.

„Tut mir leid.“ Ich blinzelte ein paar Mal. „Mir ist gerade eingefallen, dass ich vor einer Woche Chris im Supermarkt gesehen habe. Er hat mich aber nicht entdeckt … oder nur so getan.“

„Du läufst ihm nach zwei Jahren wieder über den Weg und eine Woche später wirst du verfolgt und bekommst unheimliche unterdrückte Anrufe …“ Fio zögerte und steckte sich ihre schwarzen Haare, welche brustlang waren, hinter die Ohren. „Also das wäre schon ein Zufall, meinst du nicht? Aber davon mal abgesehen. Nachdem, was du mir damals alles über ihn erzählt hast, könnte ich mir gut vorstellen, dass er es war.“ Sie atmete tief durch und nahm nochmal einen Schluck. „Vor knapp fünf Jahren hab ich mit meinem Ex fast dasselbe durchgemacht. Hab ich dir ja erzählt. Auch als das mit dem krassen Stalking, Monate später, aufgehört hat, meldete er sich trotzdem immer wieder. Zwischenzeitlich hörte ich fast ein Jahr nichts von ihm, bis er wieder angekrochen kam und alles ging von vorn los. Teilweise schlimmer als beim ersten Mal.“ Sie schüttelte leicht ihren Kopf und versuchte ihre Miene zu kontrollieren, doch es gelang ihr nicht und ich sah Verletzlichkeit als auch Wut darin.

Eines der Dinge, die uns zusammenschweißen ließ, war die gleiche Art von Mann, die wir als unsere Ex-Freunde bezeichneten.

Die Bedienung brachte unser Essen an den Tisch.

„Danke“, sagte ich zu der jungen Frau, bevor sie kehrtmachte.

„Ich glaube, diese kranken Stalker sind wie Betrüger. Macht man es einmal, macht man es immer“, fuhr Fio fort. „Die können gar nicht anders.“

Nickend stocherte ich in meinem Salat.

„Wenn ich den in die Finger bekomme, mache ich ihn fertig. Wer etwas gegen dich hat, bekommt gleichzeitig ein Problem mit mir.“ Sie zwinkerte mir zu und wir mussten beide lachen.

„Dann will ich nicht in seiner Haut stecken“, gab ich zurück und biss von dem Knoblauchbrot ab.

„Egal was ist, du kannst dich immer melden. Und wenn du wieder verfolgt wirst, dann ruf mich sofort an!“ Warnend hob sie ihren Zeigefinger. Wie eine Mutter, die ihr Kind ermahnte.

Da ich so in meiner eigenen Welt gefangen war, bemerkte ich erst jetzt etwas Befremdliches in Fios Gesicht. Unterhalb des Endes ihrer linken Augenbraue war eine kleine Wunde, die kaum einen Zentimeter lang war, zu sehen. Mit ihren starkgeschminkten Augen hatte sie probiert, die Verletzung zu kaschieren. Dennoch drang sie hervor.

„Was ist denn da passiert?“ Mit dem Zeigefinger tippte ich auf die besagte Stelle in meinem Gesicht.

„Ach das.“ Sie zögerte und lachte anschließend auf. „Ich bin zu dumm eine Tür aufzumachen. Das ist alles und dazu echt peinlich.“ Fio verdrehte ihre Augen und winkte dieses Thema ab.

Nach dem Essen bestellten wir beide noch einen Cocktail. Anschließend verabschiedeten wir uns und machten uns auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen, freute ich mich auf das Sofa und einen Film, um den Abend ausklingen zu lassen.

Im Wohnzimmer spazierte ich zum Fenster und öffnete es, damit frische Luft in die Wohnung strömen konnte. Als ich mich wieder umdrehen wollte, bemerkte ich, dass etwas anders war. Etwas fehlte. Meine kleine Yucca-Palme auf der anderen Seite der Fensterbank. Sie war weg.

Ich sah mich im Raum um - entdeckte sie aber nirgendwo anders. Dann huschte ich ins Schlafzimmer und sah sofort auf dem Fensterbrett die kleine Yucca-Palme. Ich konnte es mir nicht erklären. Die Pflanze stand, seit ich sie hatte, immer am selben Platz. Vorhin hatte ich sie gegossen, aber nicht umgestellt.

Jemand musste hier gewesen sein. Ein Einbrecher? Aber warum sollte ein Einbrecher eine Pflanze umstellen?

Instinktiv sah ich nach meinem Schmuck. Doch es fehlte nichts. Selbst das Collier mit Diamanten meiner verstorbenen Großmutter war noch da. Bestohlen wurde ich also nicht.

Die kleine Yucca-Palme stellte ich wieder an ihren gewohnten Platz im Wohnzimmer.

Total paranoid marschierte ich danach zur Wohnungstür, schloss auf und begutachtete das Türschloss. Kein abgesplittertes Holz oder ähnliche Anzeichen dafür, die auf einen möglichen Einbruch hindeuten können. Niemand sonst hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Den Zweitschlüssel bewahrte ich in dem Schränkchen im Flur auf. Darauf stand eine Zamioculcas, deren Blätter in die Höhe ragten.

Der Schlüssel war an seinem Platz.

Es konnte also niemand hier gewesen sein. Wer würde auch einbrechen, ohne etwas zu stehlen?

Wenn ich das der Polizei schildern würde, würden sie es nicht ernstnehmen.

Wie es schien, hatte ich sie selbst umplatziert. Auch wenn ich mir sicher war, nichts dergleichen getan zu haben. Doch es gab keine andere Erklärung. Ich begann an mir selbst zu zweifeln. In letzter Zeit vergaß ich öfters etwas oder brachte Dinge durcheinander. Nun verlegte ich schon meine Sachen, ohne mich daran erinnern zu können. Verließ mich langsam mein Verstand? Teilweise fühlte ich mich wie eine an Demenz erkrankte Frau im Frühstadium. Dabei war ich doch gerade mal dreißig!

5

Montag, fünf Minuten nach elf Uhr. Ich saß im Konferenzraum der Werbeagentur Dollmann & Bichler am ovalen Glastisch. Vor mir stand der aufgeklappte Laptop und der Bildschirm über mir war bereit, dem Kunden die Präsentation vorzustellen. Drei Plätze neben mir saß meine Chefin, Frau Dollmann. Gegenüber zwei Herren und eine Dame des Autoherstellers Trian. Erwartungsvoll richteten sich alle Augen in meine Richtung.

Frau Kiefer war Mitte vierzig, hatte dunkle lockige Haare und trug eine weiße Bluse mit einem schwarzen Blazer. Die Männer waren beide im Anzug. Auf der linken Seite saß Herr Arnold, der im selben Alter wie ich war. Herr Huber, der aussah wie fünfzig, hatte seinen Platz in der Mitte gefunden.

Mein Herz raste. Schlagartig wurde mir warm, sodass sich Schweiß unter meinen Armen bildete. Ich sah voller Entsetzen auf den Laptop. Die Präsentation; sie war verschwunden.

Herr Huber räusperte sich und nahm einen Schluck Wasser.

„Es geht gleich los. Einen kleinen Moment bitte noch.“ Ich versuchte in die kleine Runde zu lächeln, was mir nur schwer gelang. Mein Blick schweifte kurz zu Frau Dollmann, die mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah; was mich nur noch mehr ins Schwitzen kommen ließ.

Vorhin musste ich mich um ein Problem eines anderen Auftrags kümmern, dadurch war ich für das Meeting etwas knapp dran gewesen. Und somit hatte ich nicht die Zeit, die Präsentation nochmals zu überfliegen beziehungsweise zu prüfen, ob sie da war, wo sie hingehörte. Ich hatte nicht einmal die Zeit gehabt, meinen Laptop hochzufahren, bevor ich im Konferenzraum war.

Ich durchforstete alle möglichen Ordner. Selbst im Papierkorb sah ich nach, für den Fall, dass ich sie versehentlich dort hineingeschoben hatte. Aber die Präsentation war nirgends aufzufinden. Auch der Ordner Trian, in dem ich die Datei nochmals gesichert hatte und alle wichtigen Dokumente lagen, war verschwunden.

Ruhig bleiben!, ermahnte ich mich.

Natürlich hatte ich eine Sicherheitskopie. Doch diese war auf dem Ersatzlaptop, der zu Hause lag.

Konzentriert darauf, mir meine Hilflosigkeit nicht anmerken zu lassen, tat ich weiter so, als hätte ich alles unter Kontrolle.

Wo war die verdammte Präsentation? Freitag hatte ich an ihr gearbeitet und sie auf den Desktop gespeichert. Ich hatte sie an diesem Laptop ausgearbeitet. Sie musste hier irgendwo sein.

„Wir müssen den Kunden für uns gewinnen!“, hatte Frau Dollmann kurz vor dem Meeting nochmals zu mir gesagt. „Dieser Auftrag ist außerordentlich wichtig für die Agentur. Also geben Sie alles!“

Ich schauderte. Ein Tropfen glitt an meiner Wirbelsäule hinunter. Darauf folgte ein Weiterer und sie flossen um die Wette.

„Frau Dollmann, ich müsste kurz noch etwas mit Ihnen besprechen“, sagte ich zu meiner Chefin gewandt, als ich die Suche aufgab.

Der ältere Herr stöhnte leicht auf. „Gibt es Probleme?“

„Entschuldigen Sie uns nur einen kurzen Augenblick“, sagte Frau Dollmann in freundlichem Ton.

Wir marschierten zur Glastür hinaus.