Al-Kam-Hara - Angelika Haidinger - E-Book

Al-Kam-Hara E-Book

Angelika Haidinger

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Beschreibung

In einer Welt, die durch die grausame Herrschaft des Bastards Raban zerrissen ist, erheben sich zwei mutige Jugendliche. Ihr Aufstand während einer Versammlung zwingt sie vor den Schergen des Tyrannen zu fliehen und Zuflucht im Zwergenreich zu suchen. In den beeindruckenden Städten der Zwerge erfahren sie von einer geheimen Widerstandsgruppe, die laut Legenden in den gnadenlosen Sanddünen der Al-Kam-Hara Wüste Unterschlupf gefunden hat. Die Jugendlichen machen sich nun auf eine gefährliche Reise. Dabei stoßen sie nicht nur auf magische Herausforderungen und unvorhergesehene Begegnungen, sondern auch auf Connor, einen aufstrebenden Magier, der seine eigenen Geheimnisse verbirgt und eine wichtige Rolle in ihrem Schicksal spielt. Doch ihre größte Gefahr sind die Soldaten Rabans, die ihnen unerbittlich auf den Fersen bleiben. Die Geschichte dieser beiden Helden entwickelt sich zu einem epischen Kampf, der das Schicksal einer ganzen Welt beeinflussen wird - ein Kampf für Hoffnung, Freiheit und Liebe.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Epilog

Prolog

In den Wäldern zogen sich die Tiere in ihre warmen Unterschlüpfe zurück, während die verwelkten Pflanzen im schwachen Licht der Wintersonne aushaarten.

Stille war eingekehrt. Es wirkte, als wollte die Kälte das Leben aus dem Reich verdrängen.

Aber sie war auch Zeichen dafür, dass die Wintersonnenwende bevorstand. Wie jedes Jahr würde der Reichsrat zu einer Besprechung im Königspalast einberufen werden, um über innenpolitische Themen zu befinden. Und wie es das Schicksal so wollte, war es heute wieder so weit. Von jedem der drei Völker - Menschen, Zwerge und Elfen - begaben sich jeweils zwei Vertreter zur Versammlung.

Von der Elfenhauptstadt San-Lunar entfernten sich der Vorstand Abnar mit seinem Stellvertreter Aaron. Die Hufe ihrer stattlichen Schimmel donnerten über die knarrenden Hölzer der Jahrhunderte von Jahren alten Brücke. Aus dem nordöstlich gelegenen Drasbarben näherten sich der Zwergenvorstand Iwo und sein Stellvertreter Norick. Das Besteigen der steilen Klippe erwies sich für ihre Reittiere, von den Zwergen Abubakar genannt, als Leichtigkeit.

Und zu guter Letzt waren aus dem westlichen Deldarur bereits der Vorstand der Menschen Ramon und Damian, seine rechte Hand, eingetroffen.

Die Ankömmlinge wurden von den Dienern des Königs höflich in Empfang genommen und zu den entsprechenden Räumlichkeiten geleitet.

„So möge die Versammlung beginnen!“

Mit einer einladenden Handbewegung begrüßte sie König Kyran, eine Elfe, die vom hohen Alter gezeichnet war und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Zu seiner Linken setzte sich der Bastard und rechtmäßige Stellvertreter Raban - die Eingefundenen mit einer abwertenden Haltung musternd. Als Halbblut geboren unterschied er sich physisch deutlich von den anderen. Seine geringe Körpergröße und sein plumper Körperbau zeugten von zwergischer Herkunft, während die Gesichtszüge denen eines Menschen glichen. Rabans ungepflegtes, verfilztes Haar bedeckte seine leicht spitz zulaufenden Ohren und seine von Falten zerfurchte Stirn.

„Meine Freunde“, Kyrans tiefe und kräftige Stimme hallte durch den Raum.

„Wir haben uns hier eingefunden, um das zweite Mal in diesem Jahr innenpolitische Angelegenheiten auszutauschen. Kraft meines Amtes erbitte ich eure Zusammenarbeit, um den Frieden in unserem Reich zu erhalten.“

Zustimmendes Raunen folgte.

„Ramon, mein alter Freund, berichte uns von den Geschehnissen im Westen.“

Der Vorstand der Menschen erhob sich, wobei sein Kettenhemd leise klirrte, und mit rauer Stimme begann er zu erzählen: „Unsere Bauern sind mit reichlicher Ernte gesegnet, selbst die Kälte des Winters hat ihre Ausbeute nur spärlich verringert. Einzig und allein die Dörfer Apisruha und Jasketan haben von vermehrten Angriffen durch Trolle berichtet.“

Mit ernsten Mienen lauschten die Versammelten. Am Ende äußerte der Vertreter der Elfen, dass auch sein Volk in Vandur und Lurentur mit dieser Problematik zu kämpfen habe.

Kyrans Fingerkuppen durchfuhren seinen vom Alter verfärbten Bart und er starrte mit nachdenklicher Miene in die Ferne.

„Bei der Ehre meiner Vorgänger, auch die Zwerge aus Olborgan schilderten ähnliche Ereignisse. Zahlreiche unserer Abubakars fielen diesen dämonischen Biestern zum Opfer.“ Iwos Gesichtsfarbe wandelte sich in ein anschauliches Rot - die aufgestaute Wut überhandnehmend. Eine Hand zur Faust geballt und mit der anderen nach dem Weinglas greifend, befahl er einem Diener: „Und jetzt brauche ich einen Wein, um meinen Zorn hinunterzuspülen.“

Als sich dieser, unklar seiner Befehlsmacht nicht wagte zu gehorchen, sprach der König: „Du hast meinen Freund gehört. Man bringe uns allen Wein.“

Mit einer entschuldigenden Geste tat er, wie ihm geheißen wurde. Er verließ die Halle, nur um gleich darauf mit einem Krug rötlicher Flüssigkeit wiederzukehren.

Ohne auf die anderen zu warten, leerte Iwo sein Trinkgefäß in nur wenigen Zügen, wodurch die rötliche Färbung in seinem Gesicht nur noch verstärkt wurde. Die Stimmung lockerte sich durch den belustigenden Anblick.

„Nun denn“, der König hob mit einer ausschweifenden Geste sein volles Weinglas, „wollen wir es Iwo gleichtun.“

Ruhe kehrte ein, als sie alle die beruhigende Wirkung des Weines genossen, die Bedrohung durch die Trolle kurzzeitig vergessend.

Doch dann.

Ein schrilles Klirren.

Zersprungenes Glas.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen mussten die Ratsmitglieder mit ansehen, wie Kyran an Ort und Stelle in sich zusammensackte. Als wäre ihm der Boden unter seinen Füßen weggezogen worden. Abnar, der dem König am nächsten war, sprang von seinem Stuhl auf - so rasch, dass dieser mit einem lauten Knall nach hinten krachte.

"Abarron Kyran!" Mit einer Schnelligkeit, die für Zwerge oder Menschen undenkbar wäre, stürmte die Elfe an die Seite des Königs.

"Herr, was fehlt euch?"

Doch anstatt zu antworten, kam nur ein krächzender Laut über seine Lippen und Blut floss aus seinen Mundwinkeln – seinen Bart in dunkles Rot tränkend.

"Was ist passiert?"

Nun erhoben sich auch die Stimmen der anderen.

Abnar antwortete nicht. Stattdessen breitete er die Hände über seinen Herrn aus und begann für die anderen Anwesenden fremdartige Worte zu sprechen. Der Rest des Rates konnte nur hilflos und mit wachsender Panik zusehen.

„So tut doch etwas, euer Herr liegt im Sterben, ihr unnützes Pack!“ Die Stimme von Iwo donnerte durch die Halle, als er sich den Dienern zuwandte.

Es war ein hoffnungsloser Versuch.

Dem König konnte niemand mehr helfen.

Ein Schaudern durchfuhr Kyrans Köper, bevor sich seine Glieder krampfartig versteiften. „R…aban“, brachte Kyran heiser hervor und ein erneuter Blutschwall drohte ihn zu übermahnen.

„Ja, Herr.“ Die Antwort des Halbblutes glich eher einer Frage. Sein Gesicht war zu einer starren, undefinierbaren Fratze verzogen.

Kyrans eisblaue Augen fixierten seinen Nachfolger und seine Lippen bewegten sich - beinahe so, als wollte er den Anwesenden noch etwas mitteilen. Doch bevor dies geschehen konnte, wurde er von einem Krampfanfall unterbrochen.

Er rang nach Luft.

Er hustete Blut.

Dann, ganz plötzlich, erschlaffte sein Körper.

Abarron Kyran war tot.

Kapitel 1

Durch das spärliche Blattwerk drangen die schwachen Strahlen der Morgensonne. Sie sorgten für eine mystische Atmosphäre in dem sonst so belebten Waldgebiet. Doch heute schien es ungewöhnlich ausgestorben. Nur die Ruhe vor dem Sturm oder hatte die Kälte auch die zähesten Gestalten vertrieben?

Wartet.

Ein Knistern in der Ferne.

Es schienen doch noch Lebewesen vor Ort zu sein.

Zwischen den dunklen, vom Alter gezeichneten Baumstämmen - mit einem Durchmesser, dass sich mindestens vier ausgewachsene Männer an den Armen fassen mussten, um den dünnsten umfassen zu können - wurden die Umrisse der anwesenden Tiere sichtbar.

Eine Herde Maschk-Wild.

Sie durchbrachen das Dickicht, an deren Spitze ein gewaltiger Bock mit einem stark verzweigten Geweih lief.

Leichtfüßig und anmutig suchten sie sich ihren Weg über die am Boden liegenden Baumstämme und durch das dichte Gestrüpp.

Warum sie so in Eile waren?

In der Ferne war das Grollen ihres Verfolgers, eines drei Mann hohen Ungetüms mit gräulich lederner Haut und einem drachenartig zerfurchten Schädel, zu vernehmen.

Sein bestialischer Geruch breitete sich über das Waldgebiet bis zur angrenzenden Lichtung aus und ließ alle Lebewesen in unmittelbarer Umgebung die Flucht ergreifen. Mit seinen riesigen Füßen zerstörte er auf seinem Weg das Pflanzenreich und mit seinen muskulösen Armen riss er junge Bäume, deren Wurzeln noch nicht den geeigneten Halt in der Erde gefunden hatten und ihn behinderten, aus dem Boden.

Als er näherkam, konnte man einen Blick auf seinen monströsen Schädel erhaschen. Dieser war kahl, aber auf seinem Haupt saßen zwei nach oben geschwungene, steinerne Hörner, die mit dornenartigen Stacheln besetzt waren.

„Bist du dir sicher, dass er es ist?“

Eine Stimme drang aus dem nahe gelegenen Buschwerk - so leise, dass das Untier dieser keine Beachtung beimaß - nicht wissend, dass dort sein Verderben lauerte.

Das Mädchen, das sich neben dem Jungen auf die Lauer gelegt hatte, nickte.

Der Junge fuhr durch sein schwarzes Haar, bevor seine Hand automatisch zu dem Gürtel, an dem ein messerscharfes Langschwert in einer Scheide steckte, wanderte. Doch bevor er sein Vorhaben umsetzen konnte, legte sich eine zarte Hand auf seine und das Mädchen neben ihm erklärte im Flüsterton: „Warte Cayden, lass mich das machen! Er befindet sich gleich in meiner Schussweite.“

Sie nahm sich einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte diesen an die Sehne ihres gespannten Bogens. Die beiden beobachteten, wie das Maschk-Wild und damit auch das jagende Ungeheuer plötzlich eine andere Richtung einschlugen und dadurch ihren Plan durchkreuzten.

„Verdammt!“, zischte das Mädchen. „Wir müssen anders vorgehen.“

Ein schriller Pfeifton schallte durch den Wald.

„Ich rufe Kitaro. Er soll ihn wieder zu uns locken. Wir sind zu langsam, um ihn zu verfolgen.“

Zwei gelbe Augen leuchteten in der Dunkelheit des Waldes auf und im selben Moment schoss ein schwarzes Wesen hinter den Büschen hervor und nahm die Verfolgung auf. Die Schritte des Wildes, des Ungeheuers und des Wolfes wurden mit zunehmender Entfernung leiser, bis sich eine wartende Stille über das Gebiet legte.

Cayden merkte, wie sich die Anspannung mit jeder Sekunde bis ins Unerträgliche steigerte und Eulalia sich neben ihm nervös nach ihrem Wolf umblickte.

Kitaros schwarze Gestalt brach aus dem Dickicht zu ihnen hervor, das Wild vor sich hertreibend, dicht gefolgt vom feindlichen Geschöpf.

Eulalias Pfeil richtete sich auf den Kopf des Ungetüms, genau zwischen seine roten Augen. Doch bevor sie das Ziel treffen konnte, wandte er seinen Schädel und der Pfeil surrte in einen nahestehenden Baum.

Kitaro tänzelte um den Troll herum und hielt ihn so weiterhin in Schussweite.

Das Maschk- Wild hatte in der Zwischenzeit schon längst die Flucht ergriffen.

Der nächste Pfeil traf die Schulter des Biests.

Mit schmerzerfülltem Gebrüll wandte es sich in ihre Richtung.

Cayden nutzte diesen Moment, zog sein Schwert und stürzte sich auf den verwundeten Troll. Seine Klinge drang durch die lederne Haut und ließ dunkelrotes, zähflüssiges Blut aus der Wunde quellen. Geschickt wich er seiner riesigen, geballten Faust aus und versenkte sein Schwert abermals in sein graues Fleisch. Mit einem Schnitt durch die Kehle beendete Cayden den Kampf.

„Du wirst jetzt kein Unheil mehr über unser Dorf bringen.“

Eulalia lächelte in stiller Zustimmung und, ohne den Blick vom toten Troll abzuwenden, tätschelte sie den massigen Hals ihres Wolfes.

„Guter Schuss, Eulalia!“ Cayden grinste schelmisch, als er sein Schwert an seinem Wams vom Blut des Trolls befreite. Nur um gleich darauf festzustellen, dass seine Freundin bereits ihren Bogen gespannt und einen ihrer Pfeile auf ihn gerichtet hatte.

„Du weißt, dass du mich so nicht nennen sollst. Solltest du es noch einmal wagen meinen vollen Namen in den Mund zu nehmen, landet mein nächster Pfeil in deiner Brust!“

„Wie du wünscht, Alea.“ Mit erheiterter Stimme verneigte er sich, woraufhin sie zufrieden ihren Bogen senkte.

„Jetzt lass uns zum Dorf zurückkehren.“ Mit einem Blick auf ihren Wolf erweichte ihre Stimme. „Danke für deine Hilfe, Kitaro.“

Der schwarze Wolf schnaubte und trabte wieder tiefer in den Wald hinein.

Schnellen Schrittes folgten die beiden Jugendlichen dem Pfad, auf dem sie gekommen waren, ohne dabei ihre Umgebung aus den Augen zu lassen. Auch wenn sie den Troll besiegt hatten, bedeutete das nicht, dass keine weiteren Gefahren auf sie lauern würden.

Als sie die Tiefen des Waldes hinter sich ließen, wurde der Baumbestand spärlicher und es konnte nun mehr Licht durch das Blätterdach dringen. Die Flora war in diesem Teil viel artenreicher und bunter: von zarten, hellrosaroten Blütenblättern zu giftgrünen Strauchgewächsen war hier alles vertreten.

„Wir sind fast da!“, keuchte Alea und blickte sich nach Cayden um, der in einiger Entfernung hinter ihr lief. Vor ihnen kam ein robuster, hölzerner Zaun in Sicht, der sich hunderte Meter lang über eine Lichtung erstreckte und das Dorf vom angrenzenden Wald trennte.

Cayden beschleunigte und überholte seine Freundin, noch bevor sie das Tor erreicht hatte. Alea sah sein Verhalten als Provokation für einen Wettlauf und mit einem leisen Knurren sprintete sie ihm hinterher. In ungeheurem Tempo jagten die beiden durch die kniehohen Wiesensträucher, die in der leichten Brise des Windes tanzten. Alea grinste neckisch, als sie schließlich auf gleicher Höhe mit Cayden war.

„Name und Herkunft!“ Die Stimme des stämmigen Torwächters, der mit einer Lanze und einem hölzernen Schild ausgerüstet war, beendete ihr Vergnügen.

„Ach komm schon, Baldor, du solltest uns doch mittlerweile kennen!“ Cayden wollte sich an ihm vorbei durch das Tor drängen, als ihm die Lanze des Wächters den Weg versperrte.

„Ich verrichte nur meine Arbeit, Cayden. Name und Herkunft.“

Alea verdrehte die Augen und unterdrückte ein Schmunzeln. An Cayden vorbeidrängend sagte sie mit einem Blick zum Torwächter: „Ich muss mich für das Benehmen meines Freundes entschuldigen. Der Troll muss ihn vorhin am Kopf erwischt haben.“

Baldor hob eine Braue.

„Ihr habt den Troll tatsächlich erledigt?“ In seiner Stimme schwang eine Spur von Anerkennung mit.

„Natürlich haben wir das!“, brummte Cayden und warf Alea einen genervten Blick zu, dem sie mit einem Lächeln begegnete.

„Nun, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich bin Eulalia vom Hause Damians in Apisruha und dieser unverschämte Trottel hier kommt vom Hause Ramons in Deldarur.“

Auch wenn Baldor es versuchte zu unterdrücken, erkannte man das Lächeln, das seine wulstigen Lippen umspielte.

Er hob seine Lanze und gab ihnen somit den Weg zur Siedlung Apisruha frei.

Vor ihnen ersteckte sich eine Lichtung, auf der eine überschaubare Zahl kleiner, robuster Holzhütten errichtet worden war. Heute wirkte das Dorf unnatürlich ausgestorben.

Die beiden Freunde konnten nur eine kleine Gruppe von Kindern ausmachen, die im Schatten einer großen Weide spielten.

Als sie sich ihnen näherten, blickte eines der Kinder plötzlich in ihre Richtung und schrie freudig: „Cayden und Alea sind zurück!“

Sofort unterbrachen sie ihr Spiel und stürmten ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Cayden verlor fast das Gleichgewicht, als ein kleiner Bub versuchte, von hinten auf seine Schultern zu springen und ein anderer sein Bein umklammerte. Nicht anders erging es Alea, an deren langen roten Haaren kleine Mädchenhände zogen und sie kurz vor Überraschung und Schmerz aufstöhnen ließen.

„Na gut ihr Kleinen, nehmt uns nicht schon jetzt auseinander. Wenn ihr von uns Geschichten hören wollt, solltet ihr uns lieber am Leben lassen.“

Sofort ließen die Jungen und Mädchen von ihnen ab und hockten sich gebannt vor ihnen auf den Boden.

„Habt ihr es dem Troll gezeigt?“, fragte der Junge, der sich gerade noch zuvor an Caydens Bein geklammert hatte.

„Und wie!“ Cayden bäumte sich auf, als er versuchte die Szene nachzuspielen.

„Er hat gewimmert wie ein kleines Kind, als ich ihn erledigt habe.“

Er zog sein Schwert, stieß es theatralisch in den Boden und mit einer Handbewegung zu Alea sagte er: „Sie hat natürlich auch ein wenig geholfen.“

Alea hob eine Braue, erwiderte jedoch nichts. Die Kinder hatten so gespannt und aufmerksam gelauscht, da wollte sie die Illusion vom heldenhaften Cayden natürlich nicht zerstören.

Mit einem aufgesetzten Lächeln fügte sie hinzu: „Oh ja, ihr hättet ihn sehen sollen.“

Cayden verneigte sich elegant, woraufhin seine Zuhörer begeistert applaudierten.

Als sich die Gruppe etwas aufgelöst hatte, schnappte sich Alea eines der älter wirkenden Mädchen.

„Wie heißt du denn?“

Diese drehte sich um, offensichtlich erstaunt von der unerwartenden Ehre, mit Alea persönlich sprechen zu dürfen, und antwortete hastig: „Ana.“

Alea hockte sich auf die Knie, damit sie auf gleicher Augenhöhe war.

„Na gut, Ana. Darf ich dich etwas fragen?“

Sie nickte.

„Kannst du mir vielleicht sagen, wo alle hin verschwunden sind? Es wirkt wie ausgestorben im Dorf.“

„Die sind alle zum Palast gegangen“, antwortete sie schnell und fügte nach kurzem Überlegen trotzig hinzu:

„Aber wir wissen nicht wieso, wir durften ja nicht mit.“

„Danke für deine Hilfe.“ Alea lächelte sie an und strich ihr kurz über das lockige, braune Haar, bevor sie aufstand und sich nach Cayden umsah, der gerade in einem Stockkampf mit zwei Jungen verwickelt war.

Lachend rief sie ihm zu: „Ich möchte euch nur ungern unterbrechen, aber ich weiß jetzt, wo alle anderen sind.

Wir sollten aufbrechen und nachsehen, was los ist.“

„Einen Moment!“, kam als Antwort und Alea musste zusehen, wie Cayden, völlig seiner Deckung nachlässig und daraufhin getroffen von dem Stock des Jungen, spielerisch zu Boden ging.

„Ich gebe auf, ihr habt mich besiegt.“

Am Boden hockend klopfte sich Cayden den Schmutz von seiner Kleidung und war dann schnell wieder auf den Beinen und an Aleas Seite.

„Na dann lass uns keine Zeit verlieren.“

Die beiden durchquerten das Dorf, bis sie zu den riesigen Äckern gelangten, die Apisruha von Deldarur trennten.

Der schnellste Weg war ein schmaler Pfad, der zwischen den Feldern angelegt war.

„Warum die Versammlung bloß einberufen wurde?“

Caydens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber Alea hatte ihn trotzdem verstanden.

„Wir werden es bald herausfinden.“

Der Junge warf ihr einen nachdenklichen Seitenblick zu.

„Ich hasse Überraschungen.“

Alea musste schmunzeln. „Ich weiß.“

Bald schon kamen die Häuser von Deldarur in Sicht. Aleas und Caydens Heimatstädte waren nicht miteinander vergleichbar, denn nur reichere Leute konnten sich das Privileg leisten, in der Hauptstadt zu wohnen. Der Junge konnte sich glücklich schätzen, an Mercurios Seite aufgewachsen zu sein. Einem alten, aber herzlichen und stets mit Rat zur Seite stehenden Griesgram.

Mercurio hatte ihn damals, als er als kleiner Weise zurückgelassen worden war, bei sich aufgenommen und großgezogen. Wahrscheinlich hatte er es mit ihm sowieso besser getroffen. Caydens Gedanken schweiften immer wieder um seinen Vater, als sie quer durch Deldarur liefen.

Ganz anders als in Apisruha waren die Hütten nicht aus Holz, sondern aus Stein gefertigt und weitaus größer und prächtiger gebaut. Aber auch hier schien es wie ausgestorben.

Nach einigen Minuten auf der Hauptstraße folgten sie einer Seitenstraße, die sie direkt zu Mercurios Haus führte.

„Lass mich nur kurz nachsehen, ob er auch bei der Versammlung ist.“

Cayden öffnete die schwere Holztüre, die bei der Bewegung laut knarrte und rief nach seinem Ziehvater.

Als niemand antwortete, sah er sich sicherheitshalber noch im restlichen Haus um, doch ohne Erfolg.

Schließlich stieß er wieder nach draußen zu Alea, welche ihn sofort zu beruhigen versuchte: „Lass uns einfach zur Versammlung gehen und nachsehen, was los ist. Dort finden wir ihn bestimmt.“

Aber als sie schließlich die große Menschenmenge, die sich vor der Brücke zum Palast gebildet hatte und sichtlich nur langsam voranzukommen schien, erkannten, stöhnten die beiden auf.

„Das ist doch nicht möglich!“, fluchte Cayden.

„Wenigstens kommen wir noch nicht zu spät“. Alea versuchte optimistisch zu bleiben.

Ein pummeliger, kleiner Mann tauchte plötzlich vor ihnen auf, seinen fluchenden Worten nach zu urteilen offensichtlich genauso verärgert über die vielen Menschen.

„Warten Sie! “

Cayden packte ihn an der Schulter, woraufhin er sich erschrocken zu ihnen umdrehte.

„Wissen Sie vielleicht, wofür diese Versammlung einberufen wurde?“

Nachdem sich der Mann wieder gefasst hatte, fragte er erstaunt: „Ihr wisst es gar nicht?“

Nach einem kurzen Schweigen ihrerseits fuhr er mit belegter Stimme fort: "Unser König, Abarron Kyran, ist tot.“

„Er ist was?“ Aleas Stimme hob sich.

Der kleine Mann nickte.

„Gerüchten zufolge wurde er bei der Ratssitzung ermordet, doch kein Täter konnte gefunden werden. Sein Stellvertreter Raban ließ daraufhin alle Ratsmitglieder, auch Ramon und Damian, in Ketten legen und einsperren.“

Alea spürte eine aufkommende Übelkeit.

Wie konnte so etwas nur passieren?

Der kleine Mann wirkte gestresst und bemerkte nüchtern:

„So, ich muss jetzt aber los, sonst komme ich vor heute Abend nicht mehr am Palast an.“

„Entschuldigen Sie, dass wir Sie aufgehalten haben“,

brachte Cayden noch hervor, als sich der Mann schon mit einer kurzen Handbewegung verabschiedete und wieder Richtung Brücke aufbrach.

„Alea, alles in Ordnung?“

Caydens Hand streifte kurz über den Rücken seiner Freundin. Über ihrer dicken Lederjacke hing zerzaust ihr leuchtend rotes Haar und sie wirkte sehr mitgenommen.

„Nein.“ Ihre Stimme zitterte.

Tief Luft holend versuchte sie sich wieder zu fassen.

„Wie kann man nur so etwas tun? Abarron Kyran war ein guter König, vermutlich der Beste, den dieses Land je zu Gesicht bekommen hat.“

Cayden konnte ihr darauf keine Antwort geben.

„Wir sollten zumindest zu seiner Bestattung gehen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.“

Alea, den Kopf immer noch gesenkt, nickte zustimmend.

Sie kämpften sich durch die Massen vorbei bis zur massiven Holzbrücke, die die Anhöhe, auf der der Palast stand, mit Deldarur verband. Cayden beäugte sie misstrauisch. Wenn es etwas gab, was ihm nicht geheuer war, dann waren es unsichere Übergänge in großer Höhe.

„Na komm.“ Alea umklammerte mit beiden Händen seinen Arm und gemeinsam überquerten sie das knarrende Holz.

"Ich kann das auch alleine!", brummte Cayden, machte aber keine Anstalten sich aus ihrem Griff zu befreien.

Der Königspalast erstreckte sich nun endlich vor ihnen. Er glich einem riesigen Tempel, gebaut aus Marmor und Stein. Mindestens hundert Stufen mussten es sein, die zu seinem Eingang führten. Vor ihnen hatte bereits Kyrans Stellvertreter, Raban seinen Platz eingenommen. Zu seiner linken und rechten standen jeweils zwei schwer bewaffnete Soldaten. Weitere patrouillierten um den Versammlungsplatz, der sich direkt vor den Stufen des Palastes erstreckte.

Hier hatten sich die Menschen, Zwerge und Elfen eingefunden. Alle waren gekommen, um ihren König ein letztes Mal zu sehen.

Cayden und Alea fanden eine Stelle, von der aus sie einen guten Blick auf den Bestattungsplatz hatten. In der Mitte, auf einem mit Stroh unterlegten Holzpodest liegend, war der Leichnam Abarron Kyrans gebettet. Der König sah friedlich aus, fast so, als würde er schlafen und nicht ermordet auf seine Bestattung warten.

Aleas Hand wanderte zu Caydens Ellenbogen, als Raban das Wort erhob. Sofort wurde es rund um den Königspalast still.

„Menschen, Zwerge und Elfen.“ Der Halbmensch breitete als Willkommensgeste seine Arme aus. „Wir alle haben uns heute versammelt, um unseren geschätzten König, Abarron Kyran die letzte Ehre zu erweisen. Viel zu früh ist er eines tragischen Todes verstorben. Aber ich kann euch versichern meine Freunde: Die Verräter wurden gefasst und werden für ihre Taten büßen.“

Teilweise konnte man zustimmendes Raunen aus der Menge vernehmen, doch die meisten Blicke wirkten verwirrt und andere waren von Abscheu gezeichnet.

Nach einer kurzen Pause fuhr Raban fort: „Nun denn, schicken wir unseren König auf seine letzte Reise.“

Raban nickte dem Soldaten zu seiner Rechten zu, der sich daraufhin mit einer Fackel auf dem Weg zu dem Leichnam machte.

„Abarron Kyran mögest du Ruhe und Frieden finden und mögen die Götter deine Seele gnädig in ihren Reihen aufnehmen. Deine Wacht ist hiermit zu Ende und nach deinem Vorbild soll weiterhin mit Weisheit und Güte geherrscht werden. Wir werden uns eines Tages wiedersehen.“

Daraufhin entzündete der Soldat die Grabstätte.

„Aberron Kyran“, war vom Volk im Einklang zu hören.

Eine große, hell leuchtende Flamme erhob sich und der Griff um Caydens Ellenbogen verstärkte sich abermals. Er meinte aus den Augenwinkeln eine Träne in Aleas Augenwinkeln erkennen zu können. Auch er fühlte sich merkwürdig.

Kyran war ein gerechter und weiser König gewesen, aber er hatte nie verstanden, warum er Raban als seinen Stellvertreter und im Falle seines Todes, als neuen König auserkoren hatte. Cayden hatte ihn von Anfang an nicht zu leiden vermocht und Rabans nächste Worte verstärkten nur seine Missgunst.

„Ich werde die Tage der Trauer auf zwei Tage verkürzen, denn unser Land hat nun höchste Priorität. Es werden viele Angelegenheiten auf mich zukommen, und in zwei Tagen, wenn die Sonne am höchsten steht, werden wir uns wieder hier versammeln und ich werde, als neuer König, zu euch sprechen.“

Rabans zwergenhafte Gestalt verschwand mit diesen Worten im Palast, gefolgt von seinen Soldaten, und den ungläubigen Blicken seiner zukünftigen Untergebenen.

Fassungslosigkeit erfasste das Volk. Manche mochten gutheißen, dass er sich anscheinend um sein Land kümmern wollte, aber noch nie zuvor hatte es jemand gewagt, die Tage, die einzig und allein der Trauer dienen sollten, zu verkürzen.

„Cayden!“

Eine raue Hand packte ihn von hinten an der Schulter.

Trotz seiner anfänglichen Überraschung erkannte er die Stimme sofort.

„Mercurio, ich bin froh, dass ich dich hier treffe.“

Er drehte sich zu dem alten weißhaarigen Mann um.

Mercurio schlug ihm auf die Schulter und wandte sich dann an Caydens rothaarige Freundin.

„Eulalia, wie schön dich wieder zu sehen, lass dich anschauen Kind.“

„Die Freude ist ganz meinerseits.“

Die Trauer kroch langsam aus ihrem Gesicht, als sie Mercurio, der sie als einzige Person bei ihrem vollen Namen nennen durfte, umarmte.

„Habt ihr diesen Taugenichts von Halbmenschen gehört?

Ich bin mir sicher, dass er nichts Gutes im Schilde führt.“

Mercurios weiße Brauen waren zusammengekniffen und auf seinem Gesicht zeichneten sich mehr Falten ab als sonst.

„Ich bin auch nicht begeistert von diesem Kerl, aber uns bleibt nichts anders übrig, als abzuwarten.“

Der Greis verzog bei Caydens laut ausgesprochenen Gedanken keine Miene. Stattdessen wandte er sich mit einem breiten Grinsen wieder an Eulalia.

„Meine Liebe, wie geht es dir? Wir haben uns schon einige Tage nicht gesehen. Nach Caydens vielen Erzählungen seid ihr in den letzten Tagen sehr erfolgreich gegen die Bestien im Wald vorgegangen.“

„Ach, Caydens viele Erzählungen?“ Sie warf ihrem Freund einen belustigenden Blick zu, während Mercurio einen Arm um sie schwang und sie mit sich Richtung Heimweg zog.

Cayden musste sich zusammenreisen, um Mercurio für sein neckisches Grinsen nicht eine zu verpassen.

Stattdessen konzentrierte er sich auf den Weg und versuchte mit ihnen mitzuhalten, was sich nicht als einfach erwies, da er immer wieder von Menschengruppen abgedrängt wurde.

An der Brücke angekommen stoppte er. Mercurio, der dies bemerkte rief ihm spöttisch zu: „Na komm, Junge. Das wirst du doch ohne Hilfe schaffen.“

Während Mercurios weißes Haar und Aleas rote Mähne in der Menge verschwanden, kämpfte sich Cayden auf der Brücke langsam voran. Am Ende angelangt war er froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

„Na siehst du, geht doch.“ Mercurio, der zusammen mit Alea am Fuße der Brücke gewartet hatte, grinste ihn zufrieden an. Cayden brummte etwas Unverständliches und gesellte sich den restlichen Weg zu ihnen. Kurz vor der Kreuzung zur Seitengasse zu Mercurios Haus stoppte Alea. Cayden war so überrascht, dass er sie dabei fast überrannt hätte.

„Kommst du denn gar nicht mit? Du kannst die zwei Tage bei uns bleiben und musst nicht extra den Weg nach Hause gehen.“

„Danke, aber du weißt, dass ich zu meiner Familie muss.“

In ihrer Stimme schwang Sarkasmus mit, und Cayden war ihrer Antwort wegen nicht zufrieden.

Mercurio tippte auf seine Schulter.

„Wie ich sehe, wird das hier noch länger dauern. Ich gehe schon einmal vor. Eulalia, du bist natürlich jederzeit herzlich willkommen.“

„Vielen Dank, Mercurio.“ Sie lächelte ihn an und verabschiedete sich von dem alten Mann. Als er verschwunden war, versuchte Cayden sie noch einmal zum Bleiben zu überreden.

„Ich habe bei der ganzen Sache mit Raban ein ungutes Gefühl. Mir wäre es lieber, du bleibst hier.“

Alea grinste ihn neckend an.

„Ach komm schon. Mittlerweile müsstest du mich doch gut genug kennen. Du weißt, dass ich gut auf mich allein aufpassen kann.“

Zur Bestärkung ihrer Aussage zeigte sie auf den Köcher mit den Pfeilen und den Bogen. „Außerdem habe ich Kitaro immer in meiner Nähe.“

Als Cayden noch immer nicht überzeugt schien, fügte sie bestimmend hinzu: „Es passiert schon nichts, glaub mir.“

Er atmete zischend aus. „Na gut, ich kann dich ja doch nicht umstimmen. Dann sehen wir uns in zwei Tagen?

Treffen wir uns wieder hier?“

Sie machte spielerisch einen kleinen Knicks. „Darauf kannst du wetten.“

Zum Abschied umarmten sie sich, wobei ihre kleine Gestalt nur bis zu seinem Kinn reichte. Cayden nahm ihren wunderbaren Duft nach Wald wahr. Er atmete tief ein, und als sie schon längst zwischen den Menschen verschwunden war, überkam ihn erneut ein schreckliches Gefühl.

Kapitel 2

Die Kälte kroch unter ihre Bettdecke und ließ sie frösteln.

Sie fester um sich ziehend versuchte Eulalia wieder einzuschlafen. Vergebens.

Fluchend stemmte sie sich aus dem Bett und öffnete die Türen des uralten Kleiderschrankes.

Wärmere Kleidung wäre jetzt wünschenswert. Viel Auswahl gab es nicht, da das meiste bereits abgetragen war.

Ein paar Teile konnten aber dennoch als alltagstauglich eingestuft werden.

Sie langte nach einem schwarzen Pullover und zog ihn über. Schon viel besser.

Missmutiger Miene verließ sie ihr Zimmer.

Der Gang war vom einfallenden Licht der Morgensonne bereits hell erleuchtet.

Automatisch wanderte ihr Blick zu der hölzernen Truhe, deren Inhalt ihr nur allzu gut bekannt war.

Der Waffenbesitz ihrer Familie.

Obwohl man von friedlichen Zeiten sprechen konnte, bevorzugte es ihr Vater, eine Möglichkeit zur Verteidigung im Hause zu haben.

Wie jeden Morgen öffnete sie den schweren Deckel und griff nach einem kleinen, filigran verarbeiteten Messer.

Die silberne, scharfe Schneide reflektierte ihr müdes, von rotem Haar umspieltes Gesicht. Sie sah schrecklich aus.

Ohne lange zu überlegen, steckte sie es seitlich in ihren Stiefel, sodass es für die Blicke der anderen verborgen blieb. Sicher war sicher.

Dann betrat sie die spärlich möblierte Küche, in der ihr Bruder halb weggetreten döste. Seine dunklen Augenringe zeugten von einer langen Nacht und auch sein sonst so ordentlich gekämmtes, braunes Haar stand heute in alle Richtungen ab.

„Morgen, Schwester.“, bemerkte er knapp und gähnte.

Das Knarren der Dielen hat ihn vermutlich in die bittere Realität zurückgeholt.

„Du siehst ziemlich mitgenommen aus, Tristan.“

Alea stellte sich an die Arbeitsfläche, langte nach dem Wasserkrug und füllte sich einen Becher.

Tristan machte sich gar nicht die Mühe in ihre Richtung zu blicken.

„Ach ja? Nur damit du´s weißt: Unser heutiges Training bleibt trotzdem nicht aus!“

Er machte Anstalten aufzustehen, schien es sich aber im letzten Moment anders zu überlegen.

„Gut.“

„Vielleicht hast du ja heute eine Chance, bei meinem Zustand nicht zu verdenken...“

Bevor er aussprechen konnte, wurde er von seiner Schwester unterbrochen: „Ich lasse dich doch nur immer gewinnen, damit du dich nicht in den Schlaf weinen musst, mein Lieber.“

Tristans Augenbrauen hoben sich. Dann lachte er.

„Natürlich, Schwesterherz.“

Alea murmelte noch ein „Darauf kannst du wetten“, bevor sie zu ihrer eigentlichen Frage überging: „Wie auch immer, wo ist Vater heute?“

Tristan lehnte sich zurück und schloss zur Hälfte seine Lider. Das mit dem Training konnte er aber sowas von vergessen.

„Er trifft sich mit irgendwelchen Bekannten und meinte, er komme erst zu Mittag wieder.“

Dann fügte er noch grinsend hinzu: „Ach ja, könntest du heute vielleicht auf die Jagd gehen? Ich habe noch Arbeit zu verrichten, die nicht bis Nachmittag warten kann.“

Seine Gesichtszüge nahmen einen bittenden Ausdruck an.

„Wenn es weiter nichts ist, Bruderherz!“

Alea schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln, griff sich ihren Köcher und Bogen und machte Anstalten zu gehen.

„Danke, du bist die Beste!“, brüllte ihr Tristan noch nach, als sie bereits über die Eingangstreppe zur Wiese hinter dem Haus sprintete.

Erst, als sie die vorderste Baumreihe erreicht hatte, verfiel sie wieder in einen lockeren Gang.

Unter Eulalias Stiefeln knisterten die tauüberzogenen Pflanzen und Gräser. Der moschusartige Duft des Waldes war mit der Kälte schwächer geworden und eine unheimliche Stille hatte sich über die Baumlandschaft gelegt.

Eine kühle Brise fegte über das Tal und schlug Eulalia entgegen. Sie hinterließ einen brennenden Schmerz auf ihren Wangen und ihre Haare wurden durch den Windstoß nach hinten gerissen. Mit ihrer freien Hand zog sie die Kapuze ihrer Jacke tiefer in die Stirn und verschränkte die Arme schützend vor der Brust. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis die ersten Schneeflocken das Tal weiß färbten.

Sie wanderte eine Zeit lang durch den Wald, bis sie ein leises Rascheln vernahm, das aus einem gegenüberliegenden Dornbusch drang.

Leise legte sie einen der Pfeile an die Sehne ihres Bogens und wartete gespannt. Das versteckte Tier schien die Anwesenheit des Mädchens wahrzunehmen und ihm behagte diese Tatsache ganz und gar nicht.

Verängstigt stürzte es aus den Ästen des Busches und machte Anstalten in die Weiten des Himmels zu fliehen.

Alea zögerte keine Sekunde.

Sie visierte.

Der Pfeil zischte Richtung Buschwerk.

Ein panischer Laut entkam dem Vogel.

Treffer

Der schlaffe Körper stürzte leblos zu Boden.

Damit war ihre Arbeit getan.

Mit ihrer Jagdbeute in der Hand machte sich Eulalia auf den Weg nach Hause.

Die Sonne stand bereits im Zenit und brannte, wie ein gelber Feuerball, vom Himmel.

Ihre Wärme sorgte dafür, dass die eisigen Temperaturen ertragbar waren.

Kleine Holzhütten, die von Witterung und Alter teils morsch und verfallen waren, kamen in Sichtweite.

Undeutlich konnte Alea die Stimmen der Dorfkinder vernehmen, die der Wind in ihre Richtung trug.

Ihr eigenes Haus lag, etwas abseits, am Rande der Siedlung und war von wildwachsenden Büschen und Sträuchern umgeben.

Sie kämpfte sich an den Pflanzen vorbei zum Eingang, der dem Wald abgekehrt war.

Schnellen Schrittes wollte sie die Stufen zur Haustüre erklimmen, als Stimmen im Vorraum ihre Aufmerksamkeit erregten.

Angestrengt lauschte sie der Konversation, die verdächtig leise abgehalten wurde.

„Ich werde mich auf keinem Fall seinen Befehlen beugen“, flüsterte ihr Bruder bestimmt und Alea stellte sich vor, wie sich tiefe Furchen auf seine Stirn legten.

„Sohn, du hast ja keine Ahnung! Wenn Raban erstmals an der Macht ist, wird nur jenen der Vorzug gelten, denen er vertraut. Deshalb möchte ich, dass du dich seinem Heer anschließt...“

Bevor ihr Vater den Satz zu Ende gesprochen hatte, war Eulalia bereits außer Hörweite. Sie lief so schnell über den zugefrorenen Boden, dass sie ein paar Mal beinahe ausgerutscht wäre. Tränen glänzten in ihren Augen und trübten ihre Sicht.

Ihr Atem ging stoßweise, aber nicht vor Anstrengung, sondern vor schäumender Wut.

Blindlings stürmte sie weiter, immer tiefer unter das schützende Blätterdach des Waldes und vorbei am erstaunten Zaunwächter.

Wie konnte ihr Vater nur so blind sein? Wie konnte er verlangen, dass sich Tristan diesem Bastard und Tunichtgut unterwirft?

Erst spät in der Nacht, als sie sich wieder gefasst hatte, wagte sie es nach Hause zurückzukehren.

„Mädchen, was hast du zu dieser Zeit noch draußen zu suchen?“ fragte der stämmige Torwächter.

Auf seiner Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab.

„Es tut mir leid, ich habe die Zeit ganz übersehen.“,

murmelte Alea verlegen, die nicht recht wusste, wie sie mit der Fürsorge des Mannes umgehen sollte.

Schließlich fügte sie noch eilig hinzu: „Ich bin Eulalia vom Hause Damians in Apisruha.“

„Sieh zu, dass das nicht noch einmal vorkommt, Fräulein.

Bei Nacht ist der Wald kein sicherer Zufluchtsort mehr, selbst für dich nicht!“

Mit einem raschen Nicken verabschiedete sich Alea und lief das letzte Stück zu ihrem Haus. Dort angekommen bemerkte sie die Erschöpfung in ihren Gliedern und der Drang, sich auszuruhen, drohte sie zu überwältigen.

Mühsam und mit der Beute in einer Hand schleppte sie sich die Treppe zum Eingang hoch und wollte gerade die Tür öffnen, als jemand ihr vom Hausinneren zuvorkam.

Mit einem dumpfen Knall prallte sie auf den Holzboden des Ganges, wobei sie sich mit Sicherheit zahlreiche blaue Flecken und Schürfwunden holte.

Als nächstes wurde sie von einer Hand gepackt und auf die Füße gezogen.

Ein erschrockener Aufschrei entfuhr ihren Lippen.

Man riss an ihren Haaren und ein stechender Schmerz breitete sich auf ihrer Kopfhaut aus.

„Warum hat das so lange gedauert?“, schrie ihr Vater aufgebracht, ohne dabei seinen eisernen Griff zu lösen.

Eulalia biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien.

Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

„Wofür bist du zu eigentlich zu Nutze? Du kannst weder deine Familie pünktlich bekochen, noch bist du in der Lage die Felder zu bestellen! Du bist nicht besser als deine Mutter!“

"Wenigstens gerate ich nicht nach dir!", presste sie hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. "Mutter hätte es nie zugelassen, dass Tristan Rabans Wehrmacht beitritt. Sie hätte genug Verständnis gehabt, um zu erkennen, dass er nichts als Unheil über unser Land bringen wird!"

Aleas Qualen wurden im nächsten Moment ins Unerträgliche gesteigert, als der Vater ihr mit der Faust ins Gesicht schlug.

"Hüte deine Zunge Kind! Wenn wir nicht die Gunst des Königs gewinnen, werden wir die nächsten Jahre dafür bezahlen!"

Eulalia wollte etwas erwidern, doch die Stimme ihres Bruders, die wie Donner durch den Gang dröhnte, ließ sie verstummen.

"Vater, ich glaube, wir haben dieses Belangen bereits geklärt!"

Dieser warf ihm einen prüfenden Blick zu, bevor er mit einer mürrischen Miene von Alea abließ und ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken in sein Schlafzimmer torkelte.

"Du wirst es nicht tun oder, Tristan?"

In Eulalias Stimme spiegelte sich Ungläubigkeit und Sorge wider. Doch anstatt zu antworten, wandte sich ihr Bruder ab.

"Ich werde meine Entscheidung zum Wohle der Familie treffen!"

Daraufhin ließ er seine bestürzte Schwester allein im Gang zurück.

Kapitel 3

Cayden erwachte schon früh an diesem Morgen, denn Mercurio wollte vor der heutigen Versammlung unbedingt ein paar Besorgungen machen und er sollte ihm dabei helfen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass er Alea wiedersehen würde.

Verzweifelt versuchte er seine schwarzen, dichten Haare zu bändigen und schaffte es irgendwie zu seiner Zufriedenheit.

„Wo bleibst du denn, Junge?“ Mercurios Stimme dröhnte verärgert aus dem Flur.

„Ich komme ja!“

Da Mercurio zu den reicheren Leuten in Deldarur gehörte, war das Haus, in dem sie wohnten, auch dementsprechend vornehm gebaut – ganz im Gegensatz zu Aleas.

Über den Geschmack des alten Griesgrams konnte man allerdings streiten, denn trotz seines Vermögens, wollte er sich keine prunkvollen Möbel kaufen und hauste lieber bescheiden.

„Solange es seinen Zweck erfüllt, bleibt es hier!“, predigte Mercurio andauernd.

Das Haus selbst war riesig und bot Platz für mindestens fünf Leute - auch wenn sie hier nur zu zweit lebten.

Als sie es verließen war es bereits später Vormittag, weswegen Mercurio eilig durch die Straßen hetzte. In seinem, wie Cayden empfand muffigen Stammbuchladen aber verweilte er genüsslich. Der Junge hatte sich in eine Ecke gehockt und wartete auf den alten Mann. Er selbst hatte noch nie viel mit Büchern anfangen können, außerdem schweiften seine Gedanken immer wieder ab zu der heutigen Versammlung. Sie würde in wenigen Stunden beginnen, bis dahin musste er zu Hause sein, denn Alea würde dort auf ihn warten.

„Und? Schon etwas gefunden?“, versuchte Cayden Mercurio daran zu erinnern, dass sie nicht den ganzen Tag Zeit hatten.

Der alte Mann, der mit aufgesetzter Brille in einem Buch stöberte, sah nicht auf.

„Ich weiß nicht Junge, was meinst du?“ Er hob zwei der Bücher.

„Soll ich lieber dieses hier nehmen, es berichtet über allerlei Heilkünste der ganzen Welt, oder vielleicht das hier: Sagen und Geschichten des alten Reiches.“

Cayden konnte seinen Ohren nicht trauen. Genervt schloss er kurz die Augen, um nicht vor Wut zu explodieren.

„Du hast dich doch noch nie für Heilkünste interessiert, Mercurio.“

Der alte Mann überlegte kurz und widersprach ihm dann;

„Das stimmt doch gar nicht und vor allem in letzter Zeit finde ich sie äußerst interessant…“

„Dann nimm doch einfach beide“, schlug Cayden vor.

Mercurios weiße, buschige Augenbrauen wanderten nach oben, als er ihn über seine Brille hinweg anblinzelte. In diesem Moment schaltete sich der Verkäufer, ein hagerer, groß gewachsener Mann, ebenfalls mit Brille, dazu:

„Wenn ich mich einmischen dürfte, Herr. Diese Bücher waren in den letzten Tagen ein richtiger Verkaufshit. Ich persönlich kann ihnen alle beide empfehlen.“

Mercurio schien mit einem Mal überzeugt. Er bezahlte die Bücher, insgesamt hatte er sich sieben neue gekauft, und übergab den Korb an Cayden, der durch das plötzliche Gewicht strauchelte.

„Brauchst du die wirklich alle, Mercurio?“

Der alte Mann antwortete ihm schnippisch: „Natürlich.

Sonst wird mir ja langweilig ganz allein im großen Haus, du bist ja die meiste Zeit mit deiner Freundin unterwegs.“

Zum Ende hin klang seine Stimme immer trotziger.

„Zuallererst Mercurio, sie ist nicht meine Freundin und zweitens kann ich ja schließlich nicht den ganzen Tag bei dir hocken. Ich möchte auch Dinge erleben, genau wie du früher.“

Mercurios Augen begegneten Caydens und er lächelte ihn freundlich an. „Und das sollst du auch. Aber das mit Eulalia würde ich mir noch einmal überlegen, mein Junge, sie wäre…“

„Mercurio, hör auf.“ Cayden hob eine Hand zur Abwehr seiner Worte.

„Lass uns lieber über deine dummen Bücher reden.“

Der alte Mann lachte.

„Du wolltest es so.“

Den restlichen Weg zur Bäckerei musste Cayden alle möglichen Geschichten über sich ergehen lassen. Dort angekommen stöhnten beide auf – die lange Schlange davor erblickend. Selbst der Duft von frischgebackenem Brot konnte ihre Laune nicht heben.

Cayden kam es vor, als wären Stunden vergangen, bis sie schließlich an der Reihe waren, aber Mercurio konnte seine Einkäufe tätigen und er war sichtlich zufrieden.

„So, jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Laden“, murmelte er vor sich hin und folgte der Straße, bis er ohne Vorwarnung in eine Seitengasse einbog und Cayden, mit dem schweren Korb in einer Hand, Mühe hatte, ihm zu folgen.

Vor einem schäbigen und weniger einladenden Geschäft blieben sie stehen.

„Ein Waffenladen?“ Cayden war verblüfft und musste zweimal hinsehen, wo Mercurio ihn hingeführt hatte.

„Ja, ein alter Freund arbeitet hier.“

Er öffnete die schwere Eisentür und rief nach einem Geret.

Ein Mann, etwa in Mercurios Alter, dürr, aber dennoch muskulös, kam ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen.

Seine Glatze verriet nicht, dass auch ihm bereits weiße Haare wachsen mussten.

„Mercurio, mein alter Freund!“ Seine Stimme war dunkel und tief und passte nicht ganz zu seinem Äußeren.

Er umarmte Mercurio und klopfte auf seinen Rücken.

Geret tat es ihm gleich. Nach dieser Geste zeigte Mercurio sichtlich stolz auf den Jugendlichen.

„Du wirst ihn nicht mehr erkennen Geret. Das letzte Mal, als ihr euch gesehen habt, ist nun mehr als zehn Jahre her, aber Cayden begleitet mich heute.“

„Cayden?“ Dieser Geret schien mehr als überrascht, aber freute sich sichtlich, ihn zu sehen. Er reichte ihm die Hand.

„Du bist ja zu einem richtig stattlichen jungen Mann geworden!“

Cayden wusste nicht ganz, was er erwidern sollte und lächelte ihn an.

„Freut mich, dich kennen zu lernen.“

Nach einer kurzen Pause wandte sich Mercurio an den Jungen.

„Cayden, ich möchte, dass du dir heute eines der besten Schwerter aussuchst. Du sollst es bekommen!“

„Ich, … Was?“

„Du hast schon richtig gehört, Junge. Geret fertigt die besten Schwerter im gesamten Menschenreich und ich möchte, dass du etwas Nützliches bekommst. Dein altes ist außerdem schon ganz stumpf.“

„Mercurio, … vielen Dank, aber das ist nicht nötig, ich…“

„Nun sei schon still und suche dir eines aus. Geret wird dir seine Werke zeigen.“

Mercurio wirkte zufrieden, damit war es Cayden auch. Mit einem neuen Schwert hätte er sicher nicht gerechnet.

Geret, der kurz verschwunden war, kam mit einem großen Stoffbeutel wieder, dessen Inhalt er über einen massiven Holztisch ausbreitete. Dutzende Schwerter klirrten aneinander, als sie auf die Oberfläche fielen. Mercurios alter Freund sortierte sie sorgfältig und behutsam, als wären sie das Kostbarste auf der Welt.

„Na, habe ich dir zu viel versprochen?“ Mercurio trat mit begeistertem Gesichtsausdruck heran. Cayden stellte den Korb mit den Büchern ab und ließ seinen Blick langsam über die Schwerter schweifen. Keines ähnelte dem anderen, jedes einzelne von ihnen war ein Unikat. Zu seinem Bedauern waren viele kleine Schwerter und Dolche dabei, die er weniger bevorzugte. Eines erregte aber letztendlich doch Caydens Aufmerksamkeit. Von der Länge her hatte es Ähnlichkeit mit seinem Alten und die silberne, messerscharfe Schneide blitzte im Licht, das durch das Fenster fiel. In der Nähe des Schwertgriffes waren zwei widerhakenähnliche Vertiefungen in das Metall eingearbeitet. Der Griff selbst bestand aus schwarzem Metall, in dem einzelne Runen geritzt waren.

„Was bedeuten sie?“ Caydens Blick wanderte vom Schwert zu Geret, der ihn beobachtet hatte.

„Ich weiß es leider nicht“, gab dieser mit Bedauern zu.

„Einer meiner Mitarbeiter hatte es im Wald der Elfen nahe Doruna gefunden. Ich fand es passend für einen Schwertgriff.“

Cayden berührte die kalte Klinge. „Darf ich es ausprobieren?“

„Nur zu.“ Gerets Lächeln wurde breiter.

Der Junge nahm den Griff in seine rechte Hand und hob das Schwert mit Leichtigkeit hoch. Es war einfacher handzuhaben als gedacht.

„Sehr schön!“ Mercurios Stimme klang begeistert.

„Und jetzt…“ Der alte Mann schnappte sich eines der anderen Schwerter und ließ die Klingen aufeinander prallen - ein helles Klirren war zu hören.

„Du weißt, ich duelliere mich nicht mit alten Männern“,

scherzte Cayden, woraufhin Mercurio blitzartig zustieß und der Junge den Schlag gerade noch parieren konnte.

„Bei deiner Deckung würdest du auch keinen Kampf überleben. Achte mehr darauf, mein Junge.“ Cayden zog sich beleidigt zurück und machte stattdessen eigene Übungen. Er zog das Schwert in die eine, dann plötzlich in die andere Richtung und kämpfte mit einem unsichtbaren Gegenüber. Nach einigen Probehieben war er sichtlich zufrieden.

„Ich nehme es.“

Mercurio klopfte ihm auf die Schulter.

„Eine gute Wahl, mein Junge.“

Er bezahlte den Preis für das Schwert und vertiefte sich währenddessen mit Geret in ein Gespräch. Es handelte sich offensichtlich um Kyrans plötzlichen Tod, aber sie hielten ihre Stimmen gedämpft, sodass Cayden nicht viel mitbekam. Genervt von dieser Heimlichtuerei beschloss er, schon einmal vorzugehen und verabschiedete sich von dem Schmied. Mit dem Korb voller Bücher und dem Schwert hatte er schwer zu tragen, aber wenigstens waren die Straßen nicht mehr so überfüllt wie am Vormittag.

Die Zeit war schnell vergangen und Cayden wählte alle möglichen Abkürzungen, um Alea nicht an seinem Haus zu verpassen.

In einer Seitengasse fielen ihm zwei schwer bewaffnete Soldaten auf. Bevor sie ihn sehen konnten, versteckte er sich in einer Nische am Anfang der Gasse. Cayden konnte sie von dieser Position aus nicht beobachten, verstand aber jedes Wort, das sie sagten.

„Wie viele Truppen wurden für die Aktion gebraucht?“

Die Stimme des einen war tief und rau und es klang, als würde ihm jedes einzelne Wort Mühe bereiten.

Dagegen war die andere nicht nur dunkel, sondern auch ohne jegliche Emotionen: „Raban hat angeblich mehrere hundert Mann zur Al-Kam-Hara Wüste geschickt. Ein Bote wurde Tage später gesandt, um nach dem Rechten zu sehen, aber niemand ist je von dort zurückgekehrt. Eine Bestätigung, dass die Widerstandskämpfer noch existieren.“

Einer der Soldaten bewegte sich, woraufhin sein Kettenhemd laut klirrte. Cayden wurde kurz nervös und hoffte, dass sie nicht in seine Richtung spazieren würden.

Er beruhigte sich aber schnell wieder, als das Gespräch fortgesetzt wurde.

„Na lange werden die da unten wohl nicht existieren, da Raban nun Gewissheit hat, dass es sie gibt.“

Beide Männer lachten ein kehliges, heiseres Lachen, das Cayden anwiderte.

„Jetzt müssen wir nur noch ihren Aufenthaltsort ausmachen und dann schlagen wir mit aller Macht zu!“

Es hörte sich so an, als würde sich einer der Soldaten mit der Faust auf die Handfläche schlagen.

„Dann wird jeglicher Widerstand gegen unseren König niedergeschlagen sein und er kann seine Pläne in Ruhe verwirklichen.“

Cayden fragte sich, was er genau mit „Rabans Plänen“

meinte, aber viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, denn er nahm wahr, dass sich die Soldaten in seine Richtung bewegten. Cayden schlich aus seinem Versteck und mischte sich schnell unter die Menschen.

Das Gespräch beschäftigte ihn noch bis zu Mercurios Haus.

Alea war noch nicht angekommen, und so stellte Cayden die Bücher in Mercurios Arbeitszimmer und betrachtete noch einmal sein neues Schwert. Die Klinge war eiskalt.

Abgelenkt von seinen Gedanken machte Cayden den Fehler, über die Schneide zu streifen. Ein unangenehmer Schmerz durchfuhr seinen Zeigefinger und ließ ihn frösteln.

Dann - zu seinem Erstaunen - fiel ein einzelner Blutstropfen auf das Metall und verschwand augenblicklich. Es war, als würde die Klinge das Blut wie durch Zauberhand aufnehmen. Bevor ihn das Geschehene weiter beunruhigen konnte, klopfte es an der Tür und ein Rotschopf streckte den Kopf herein.

„Können wir gehen?“ Aleas Stimme war sanft, klang aber bedrückt.

Der Junge sprang vom Küchentisch auf, steckte das Schwert in die Scheide an seinem Gürtel und begegnete ihr im Flur.

Ein blau- rotes Veilchen in ihrem Gesicht war das erste, das seine Aufmerksamkeit erregte. Sofortige Wut stieg in ihm hoch.

„Wer hat dir das angetan?“, fragte er mit gepresster Stimme.

Er musste sich zusammenreisen, um nicht laut zu werden.

Als er mit dem Daumen ihre Wunde berührte, zuckte Alea zurück und senkte den Blick peinlich berührt zu Boden.

„Das ist nichts. Ehrlich, Cayden. Kitaro war heute einfach zu stürmisch und hat mich mit seiner Schnauze voll erwischt.“

Der Junge war nicht überzeugt.

„Alea, wenn du irgendwelche Probleme hast, dann sag es mir. Ich kann und werde dir helfen. Jederzeit.“

„Das weiß ich doch, du Dummkopf. Aber vertrau mir, Kitaro ist eben ein ausgewachsener, wilder Wolf. Er mag mir zwar gehorchen, aber auch er hat seinen eigenen Kopf.“

Cayden gab auf und atmete hörbar die angestaute Atemluft aus.

„Na gut, wenn du es sagst. Ich fand es sowieso schon immer seltsam, dass du gerade einen Wolf als Haustier hältst.“

Alea lachte nun und es klang echt. Cayden lächelte zufrieden zurück.

Sie standen kurz peinlich berührt im Flur, bis Alea auf sein Schwert deutete. Auf ihre Frage hin, ob es neu sei, zog es Cayden kurz aus seiner Scheide,

„Mercurio hat es mir heute geschenkt“, bemerkte er kurz, steckte es aber gleich wieder zurück, bevor seine Freundin auf die Idee kommen konnte, es zu berühren. Seit dem Vorfall von vorhin wusste er nicht recht, was er von dem Schwert halten sollte.

Vielleicht aber hatten ihm seine Augen auch nur einen Streich gespielt.

Kapitel 4

Cayden blickte stumm auf die schwarzen, sich im Wind wendenden Banner und fühlte das Elend, das die gesamte Bevölkerung nach dem Tod Kyrans heimgesucht hatte.

„So viele Leute waren nicht einmal bei der Beerdigung des Königs zugegen.“, flüsterte Cayden Alea zu, die sich nach den Bewohnern ihres Dorfes umsah. Bevor jene antworten konnte, wurden sie von einer Familie, die sich auf der Suche nach ihren Kindern durch die Menge drängte, getrennt. Cayden fluchte leise, als er vom Menschenstrom umgeben wurde. Um sich blickend setzte er den Marsch fort.

Unter sich vernahm er schließlich das Knarren von Holzbrettern und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch wurde ihm bewusst, dass er sich nun am Anfang der meterlangen Hängeleiter befand. Auch wenn sie dafür gedacht war, eine ganze Kolonne von Menschen zu tragen, konnte er sein Unbehagen nicht verleugnen.

Die aufsteigende Übelkeit bekämpfend folgte er den Menschen an den Rand der Klippe, von wo aus man einen unglaublichen Ausblick auf das umliegende Tal hatte.

„Cayden.“

Eine tiefe, grummelnde Stimme riss ihn von seinem Anblick los. Noch bevor er sich umdrehen konnte, hatte sich eine kräftige, mit Äderchen durchzogene Hand auf seine Schulter gelegt.

„Herr?“ Cayden strahlte dem Mann, der sich in sein Gesichtsfeld schob, entgegen.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich beim Vornamen nennen sollst, Junge!“

Der Alte versetzte dem Jungen mit seinem Stab einen Hieb gegen das linke Ohr.

„Herr dies, Herr das. Da fühlt man sich ja gleich um 10 Jahre älter! Willst du etwa, dass ich mich wie ein Greis fühle?“

Stöhnend rieb sich Cayden das linke Ohr und konnte sich trotz der Schmerzen ein Lachen nicht verkneifen.

„Nein, natürlich nicht, Mercurio. Es scheint mir, du weißt oft nicht wohin mit all deiner jugendlichen Kraft!“

„Was habe ich bei deiner Erziehung nur falsch gemacht!“

Mit gespielter Verzweiflung zog Mercurio Cayden in die Arme und klopfte ihm väterlich auf den Rücken.

In der Zwischenzeit hatte sich ihnen eine vertraute Person genähert. Geret, wie der Junge sofort feststellte.

„Ich gehe schon einmal vor!", erklärte Cayden, der keine Lust hatte, auf die beiden Männer, die sich bereits in ein Gespräch vertieft hatten, zu warten.

Auf dem Platz, wo der königliche Stellvertreter Raban seine Ansprache halten sollte, hatten sich bereits die anderen Völker des Königreichs eingefunden. Wie immer raubte der Anblick der Zwerge und Elfen, die so andersartig und dennoch so vertraut erschienen, Cayden den Atem. Während die Elfen Anmut und Stärke ausstrahlten und durch ihre spitzen Ohren und weiße Haut auffielen, strotzen die Zwerge vor Mut und Tapferkeit und besaßen kennzeichnend eine geringe Körpergröße und einen unmenschlich starken Haarwuchs.

Cayden versuchte, sich so weit wie möglich nach vorne zu drängen, um später auch alles zu verstehen, was Raban zu sagen hatte. Schließlich fand er einen guten Platz, im Schatten der Statue eines verstorbenen Königs.

Im nächsten Moment kündigte ein Chor aus Trompetenklängen die Ankunft des Stellvertreters an. Bei dem Geräusch sanken die Völker auf ihre Knie und legten ihr Haupt in stiller Hingabe zu Boden. Cayden musste sich beherrschen, um nicht sofort aufzuspringen und sich dieser Demütigung zu entreißen. Noch nie zuvor hatte er das Verbeugungsritual so ungerechtfertigt empfunden, wie heute.

„Beugt euch dem neuen König, der im Namen Kyrans erkoren wurde, um der Gemeinschaft zu dienen und die Einheit zu erhalten!“

Einer der Trompetenbläser hatte seine Stimme erhoben.

„Niemals werden wir uns einem Mann unterwerfen, der unseren Stammvätern Abnar und Aaron Unrecht getan hat und sie in den Kerkern seines Palastes verrotten lässt!“,

war plötzlich aus der Menge zu vernehmen.

Erst da versuchte Cayden in seiner knieenden Stellung einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Ihm stockte der Atem, als er erkannte, wie viele von den Versammelten sich geweigert hatten, dem König Unterwürfigkeit zu zeigen.

„Auch die Zwerge werden diesem Verräter niemals seine Untaten verzeihen. Unser Vorstand Iwo und sein Vertreter Norick sind bei der Ehre unsers Volkes unschuldig. Ihnen wurde ebenso Unrecht getan.“

Wie ein Donnern erfüllte die Stimme des Zwerges den Platz und man fühlte, wie sich die Luft auflud - beinahe so, als würde sich ein Gewitter ankündigen.

Überall brachen Tumulte und Unruhen aus. Caydens Gehör wurde mit Schreien und Schimpftriaden gefoltert und der metallische Geruch von Blut lag in der Luft.

Er wollte sich gerade erheben, als seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt wurde. Sein Herz begann zu rasen und er fühlte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

Wie gelähmt sah er zu, wie einer der Zwerge aus der Menge gezogen und an den Rand der Versammlung gedrängt wurde. Sein Gesicht war von Blutflecken bedeckt und sein ledernes Gewand hing in Fetzen hinab, dort, wo die Lanzen der Soldaten zu seinem Fleisch vorgestoßen waren. Er befand sich in einem miserablen Zustand. Dennoch wirkte seine Miene so gleichgültig, dass, wenn man seine Wunden nicht sehen würde, man nie erahnt hätte, welche Schmerzen er in diesem Moment erdulden musste. Ein gallenartiger Geschmack breitete sich auf Caydens Zunge aus. Es hatte zwar bereits des Öfteren Aufstände gegeben, doch niemals war die Situation derart eskaliert. Es war unverkennbar, wie sich Raban am Anblick des Verwundeten ergötzte und sich seine Lippen zu einem kalten Lächeln formten.

„Und nun, liebes Volk, meine Untertanten, sollt ihr sehen, was mit denjenigen geschieht, die sich mir widersetzen und damit die Einheit des Reiches gefährden.“

Seine raue Stimme breitete sich wie eine todbringende Krankheit über den Platz aus und mit ihr folgte eine verängstigte Stille, die selbst den trotzigsten Zwerg ergriff.

Wild gestikulierend gab Raban den Soldaten den nächsten Befehl und auch wenn Cayden wusste, was ihn nun erwarten würde, konnte er nicht verhindern, dass seine Füße weicher wurden. Mit Entsetzen verfolgte er, wie man den Zwerg vor den Augen aller Anwesenden enthauptete.

Totenstille.

Schockierte Gesichter.

Cayden konnte nur mehr das Pochen seines Herzens und einen einzelnen, hohen Schrei, der ihm aus unerklärlichen Gründen sehr vertraut vorkam, vernehmen. Aus zusammengekniffenen Augen machte er ein rothaariges Mädchen aus, das sich zum Todesschauplatz begeben hatte. In einer Hand hielt sie ein Messer.

Unwillkürlich begannen Caydens Hände zu zittern, während sich seine Füße wie von selbst einen Weg durch die Versammelten bannten. Auf halber Distanz - das Schwert gerade aus seiner Scheide ziehend - wurde er plötzlich von etwas Schwerem am Kopf getroffen.

Durch die Wucht kam er ins Taumeln und wäre beinahe gestürzt, hätte ihn nicht eine kräftige Hand von hinten gepackt. Doch mit einem Blick zurück stellte er fest, dass es sich hierbei um keine hilfsbereite Geste handelte, sondern um einen Soldaten, der ihm Einhalt gebieten wollte. Wütend begann Cayden nach dem Mann zu treten - darauf hoffend, sich aus seinem eisernen Griff befreien zu können... doch vergebens.

Bevor er weitere Unternehmungen wagen oder etwas sagen konnte, wurde er mit dem nächsten Hieb zum Schweigen gebracht.

Kapitel 5

Während Cayden in betäubende Finsternis gehüllt wurde, formten Aleas Lippen einen stummen Fluch.

Die Klinge ihres Messers hatte sich im Kettenhemd ihres Gegners verfangen.

Seine ohrenbetäubenden Schmerzensschreie bestätigten ihren Verdacht, in sein Fleisch vorgestoßen zu sein.

Langsam begann sein dunkelrotes Blut ihre verkrampften Finger, die noch immer versuchten, die Waffe aus seinem Leib zu ziehen, zu benetzen.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich die anderen Soldaten aus ihrer Schockstarre lösten und ihrem Gefährten zur Hilfe stürmten. Sie würde nicht gegen jene ankommen und sie konnte auch nicht auf die Hilfe der Versammelten hoffen.

Mit einem metallischen Geschmack auf ihre Zunge und rasendem Puls ging sie hinter dem Henker in Deckung.

Gerade noch rechtzeitig, um nicht von der Lanze, die nach ihr geworfen wurde, getroffen zu werden.

Ein hässliches Klirren folgte.

Die Spitze hatte sich zum Entsetzen der Soldaten durch die Rüstung des Verletzten, ihres Kameraden, gebohrt. Auch, wenn Alea seinen Tod zuvor noch gewünscht hatte, konnte sie keine Genugtuung empfinden.

Am Rande ihrer Wahrnehmung vernahm sie die sich nähernden Schritte der Soldaten und ein Gewirr aus einer Vielzahl von Stimmen.

Sie glaubte, eine Frau zu hören, die die anderen davon zu überzeugen versuchte, das rothaarige Mädchen am Leben zu lassen.

Doch sie wurde schließlich von dem Gebrüll einer Männergruppe übertönt und mit ihr schien Eulalias Hoffnung langsam zu schwinden.

„Ich will noch nicht sterben. Ich darf noch nicht sterben.“

Die Worte hallten in ihrem Geist wider, als wären sie der Schlüssel zu ihrer Freiheit.

Im selben Moment legte sich eine kräftige Hand über ihr Gesicht.

Das Atmen wurde schwerer.

Ihr Blickfeld, das sich zusehends verengte, ließ sie die Orientierung über das Geschehen verlieren.

Als schließlich die letzten Unruhestifter aus dem Weg geräumt waren, begann Raban seine Ansprache.

Doch die Menschen, Elfen und Zwerge, die sich noch immer in einem Zustand des Schocks befanden, konnten seinen Worten nur zum Teil Gehör schenken.

Wie Statuen standen sie vor ihrem neuen König, den Blick starr zu ihm erhoben, unfähig zu sprechen, als hätte man sie mit einem Zauber belegt.

„In den nächsten Tagen werden sich alle volljährigen Männer einer Soldatenausbildung unterziehen.“

Und so leise, dass es nur er hören konnte, fügte er hinzu:

„Die Aufständischen sollen meinen Zorn zu spüren bekommen.“

„Und auch Jahre später wird man sich an mich als jenen erinnern, der euch von den Unwürdigen befreit und das stärkste Königreich seit jeher hervorgebracht hat.“

Seine Stimme wurde zwar von einem Windzug abgeschwächt, doch das Unheil seiner Worte war eindeutig und erfüllte die Menge mit großer Furcht.

Raban ließ seinen Blick ein letztes Mal über die Menge schweifen, bevor er wieder - sichtlich zufrieden - in seinen Palast zurückkehrte. Die Ansprache war hiermit beendet.

Ein Mann mit weißen, kurzen Haaren und einem hölzernen Stab wandte sich als erster zum Gehen und nahm auf seinem Weg einen bewusstlosen Jungen, dessen Haar schwarz wie die Nacht war und der einen unnatürlich hellen Hautteint besaß, mit.

So lichtete sich die Versammlung, bis eine gähnende Leere zurückblieb und alles so befremdlich erschienen ließ, dass sich selbst die Ältesten fragten, ob dies einst der Ort war, an dem die Völker geeint worden waren und Frieden Einkehr im Reich gefunden hatte.

Cayden wollte weder schlafen noch wachen.

Im Traum verfolgten ihn die Szenen von der Hinrichtung des Zwerges und von Eulalia, wie sie sich auf den Soldaten stürzte und sie schließlich das gleiche Schicksal ereilte.

Aber auch die Realität versprach kein Erbarmen.

Im Gegenteil: Im schlimmsten Fall würden sich seine Träume nur bewahrheiten.

Unruhig wälzte er sich im Bett und verfluchte die Gedanken, die ihn nachts heimsuchten und am Tag zur Wirklichkeit wurden.

Nichts wäre ihm nun lieber, als alles zu vergessen und die Dinge ungeschehen zu machen.

„Ich hätte sie zurückhalten müssen. Ich hätte an ihrer Seite kämpfen müssen."

Seine Wangenmuskeln vor Zorn und Verzweiflung anspannend und sich selbst für sein Unvermögen bei der Versammlung tadelnd, biss er die Zähne zusammen.

Am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeschlagen, um sich von der ungezähmten Wut und Trauer zu befreien.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen.

„Cayden, wie fühlst du dich?“

In Mercurios Stimme schwang eine Spur Besorgnis mit, was für ihn - zumindest Cayden gegenüber - sehr untypisch war.

Der Junge brummte etwas Unverständliches.

Er wollte, dass der Greis so schnell wie möglich wieder verschwand.

Leider war dem nicht so.

Die Tür öffnete sich und Mercurio lugte verstohlen durch den Spalt.

„Es ist unhöflich einen älteren und damit weiseren Mann abzuwimmeln.“

Und mit dem Anflug eines leichten Lächelns fügte er hinzu: „Außerdem wäre es vergeblich.“

Cayden seufzte genervt, als das Holz unter Mercurios Schritten verräterisch knarrte.

„Du siehst überhaupt nicht gut aus.“

Ohne Vorwarnung zog Mercurio dem Jungen die Decke, in die er sich verkrochen hatte, vom Leib.

„Bist du gekommen, um mich zu beleidigen?“

Caydens Stimme war so rau, dass er sich für einen Moment fragte, ob die Worte wirklich aus seinem Mund gekommen waren.